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blaues kreuz Für Lebensqualität. Gegen Abhängigkeit. blaueskreuzzuerich.ch Ausgabe 4 Oktober/November 2011 Agenda eines Alkoholabhängigen auf www.blaueskreuzzuerich.ch Wir sind da, wenn man uns braucht

Blaues Kreuz Quartalszeitschrift Nr. 4 2011

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blaues kreuzFür Lebensqualität. Gegen Abhängigkeit.

blaueskreuzzuerich.ch Ausgabe 4 Oktober/November 2011

Agenda eines Alkoholabhängigen auf www.blaueskreuzzuerich.ch

Wir sind da, wenn man uns braucht

Die offiziellen statistischen Meldungen zum Alkohol-konsum in der Schweiz belegen scheinbar Erfolge: Pro Kopf der Bevölkerung wird von Jahr zu Jahr wenigerreiner Alkohol konsumiert als zuvor. Schon eher verschämt wird dagegen ein geringer Anstieg beimSchnapsverbrauch verzeichnet. Wohlgemerkt pro Kopfder Bevölkerung, also vom Säugling bis zum bärtigenGreis. Von der Wiege bis zur Bahre scheinen vergoreneSäfte, Wein, Bier und Spirituosen ein unabdingbarer Bestandteil eines besonderen Anlasses zu sein. Wer möchte diese Party stören wollen? Wenig Worte

verliert man darüber, dass Alkohol zur Konsumdroge Nummer eins in unserem Landgeworden ist – und das schon vor Jahrzehnten.

Die Gesellschaft büsst dieses Schweigen mit enormen Folgeschäden für Menschund Umwelt: alkoholbedingte Unfälle, Krankheiten und Gewalt. Betroffenen leiden und sterben an Leberschäden, Krebserkrankungen an Bauchspeicheldrüseund Speiseröhre, degenerierten Blutgefässen und Tumoren. Die Liste liesse sichstark verlängern. Die Partner der Abhängigen und deren Kinder entwickeln und leiden an psychischen Störungen.

Wir vom Blauen Kreuz sprechen über den Alkoholkonsum. Wir meinen damit nichtden schmalen Champagnerkelch oder das Glas Wein, mit denen man in geselligerRunde anstösst. Wir sprechen von schwangeren Frauen, denen nicht bekannt ist, wiestark Alkohol das werdende Kind schon im Bauch schädigen kann. Wir sprechendavon, dass so viele Berufstätige überzeugt sind, sie könnten ihre Probleme ertränken.Leider ist der Alkohol ein verdammt guter Schwimmer!

Wie gut er schwimmen kann, erfahren Sie unter www.blaueskreuzzuerich.ch aus der Agenda eines berufstätigen Abhängigen. Fiktiv, aber realistisch. Wir sprechen darüber – danke, dass Sie uns zuhören.

Freundliche Grüsse

Henrik Viertel, Leiter [email protected]

Blaues Kreuz Zürich, Mattengasse 52, Postfach 1167 8031 Zürich

editorial

Alkohol ist ein guter Schwimmer

impressum

3 Alltag und AlkoholEin Betroffener berichtet.

4 Kinder und AlkoholWie Minderjährige mit der Suchtihrer Eltern umgehen.

6 Konsum und AbhängigkeitWann endet Genuss, wo beginnt die Abhängigkeit?

blaues kreuz ist die Zeitschrift des Blauen Kreuzes Kantonalverband Zürich für die Mitglieder, Spenderinnen und Spender.Die Zeitschrift erscheint 4-mal jährlich. Die Auflage beträgt 80'000 Exemplare.

Verlag Blaues Kreuz Kantonalverband Zürich, Zürich. Redaktion Henrik Viertel. Fotos photocase.com, istockphoto.com.Gestaltung werbebuero schilling, Düsseldorf. Druck Jordi Medienhaus, Belp.

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Alkohol ist eine MedizinVon Alkoholikern hat man ein falsches Bild, man denkt, sie würdenverwahrlost auf Parkbänken sitzen. Bei mir merkt es niemand, ausser vielleicht die Leute im Coop. Wenn ich dort morgens auf-tauche, um Bier zu kaufen, habe ich mich auch schon an der Kasseentschuldigt. Als Alkoholiker hat man dauernd ein schlechtes Gewissen. Alkohol bekommt man überall, vierundzwanzig Stundenam Tag. Praktisch finde ich die Sixpacks, sie sind aber nicht immergut gekühlt. Dann nehme ich noch zwei gekühlte Dosen dazu,damit ich zuhause gleich trinken kann. Vom Sixpack kommen zweiins Gefrierfach, die andern stelle ich normal kühl. So kann ichdann ohne Unterbruch weiter trinken. Im Denner ist es günstiger,aber nicht gekühlt, sonst hätten die ihre Läden voller Alkoholiker.

Angefangen habe ich als TeenagerDamals habe ich mich vor dem Ausgang mit Kollegen warm ge-trunken. An den Partys gabs dann noch mehr. Aufgefallen ist dasniemandem. Auch wenn wir so viel getrunken haben, dass wir unsan nichts mehr erinnern konnten. Das nennt man «Filmriss», es isteine Vergiftung des Gehirns. Meine Eltern haben auch getrunken:Mein Vater ging in den Bastelkeller und kam beschwipst wiederhoch. Nun ist es besser, doch meine Mutter trinkt heute noch viel.Ich bringe das aber nicht als Ausrede. Mein Problem ist, dass ich zuwenig Selbstvertrauen habe, darum habe ich auch keine Ausbil-dung. Das KV habe ich abgebrochen. Seither habe ich an vielenOrten gearbeitet, zuletzt freiberuflich für Zeitungen. Seit diesemSommer habe ich keine Aufträge mehr. Den Medienhäusern geht es

schlecht. Ich bin zum Sozialfall geworden, das wäre nicht nötig ge-wesen. Nun arbeite ich Teilzeit in einem Projekt. Das tut mir gut,weil es meinem Tag eine Struktur gibt.

Ich werde älter und habe immer weniger FreundeAuch habe ich Angst vor den körperlichen Schäden. Ich habe einenentzündeten Magen und Verdauungsprobleme. Natürlich habe ichschon versucht aufzuhören, auch mit Antabus, einem Medikament,das macht, dass man den Alkohol nicht mehr verträgt. Trinkt mantrotzdem, kann es gefährlich werden. Ich habe nach einigen nüch-ternen Tagen getrunken und habe einen zündroten Kopf bekom-men. Heute bin ich bei der Beratungsstelle des Blauem Kreuzes undmache eineWeiterbildung zu digitalen Medien, was mir sehr gefällt.

Abends bin ich meist am Chatten. Ich hatte schon Trinkbekannt-schaften, da haben wir virtuell angestossen und dann Bier getrun-ken. Ich habe auch eine Frau kennen gelernt, die mich dannbesuchen kam. Ich war all die Tage nüchtern, doch als sie abreiste,bin ich abgestürzt.

Meine Bettwäsche ist kaputt. Ich konnte keine neue kaufen, weilich zuviel Geld für Alkohol ausgebe. Wenn der Lohn kommt, mussich schauen, dass ich nicht alles vertrinke. Ich gehe spät ins Bett,weil ich ohne Alkohol sowieso nicht gut einschlafen kann.

*Modelfoto. Name von der Redaktion geändert.

Alltag. Sven*, 31, arbeitet teilzeit und ist alkoholabhängig

Wenn morgens der Wecker piepst, schaffe ich es kaum aus dem Bett. Manchmal stehe ich auch auf, um zu trinken. Wenn man über Nacht langsam ausnüchtert, fühlt man sich am Morgen so leer, dass manlieber gleich wieder loslegt. Meist kommen dann auch die Entzugssymptome und ich werde sehr nervös.

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Lea ist heute eine herzige Plaudertasche. Das war nicht immer so.Bevor ihre Eltern in der Selbsthilfegruppe die Alkoholerkrankung ihresVaters thematisieren konnten, zog sie sich tagsüber oft in ihr Bett zurück und schlief sehr unruhig. Wachte sie nachts auf, rief sie dennochselten nach den Eltern. Sie hockte stundenlang tatenlos in ihrem Zimmer und sprach kein Wort. Auf Spielplätzen mied sie andere Kinder. Sie erschien wie unsichtbar.

Kinder nehmen unabhängig ihres Alters Spannungen innerhalb ihrer Familie deutlicher als vermutet war. Wie Lea entwickeln siedabei Strategien, um die kleinen und grossen Sorgen, tägliche Probleme und Krisen ihrer Eltern bewältigen zu können.

Schätzungen gehen davon aus, dass in der Schweiz bis zu 110’000Kinder und Jugendliche in einer alkoholbelasteten Familie aufwachsen.Diese Kinder und Jugendliche leben in Koabhängigkeit zur Alkoholer-krankung ihres Vaters oder ihrer Mutter. Das Risiko dieser Kinder, alsErwachsene selbst suchtkrank zu werden oder an psychischen Störungenzu leiden, ist dabei um ein Vielfaches höher als gewöhnlich.

Kinder erlernen die heimlichen Regeln ihrer belasteten Familie: Gefühle zeigt man nicht, noch spricht man über sie. Sei stark, gut und sei nicht kindisch! Da beide Elternteile, gleich ob alkohol-abhängig oder koabhängig, ihren Kindern nicht das notwendigeMass an Aufmerksamkeit und Stabilität geben können, schlüpfen die Kinder in Rollen.

Von HeldenDiese Rollen bieten ihnen scheinbar Vorteile. In der Rolle des Helden, des Leistungsträgers, erhält das Kind in der Schule durch Lehrer Aufmerksamkeit für seine ausserordentlich gutenNoten oder Bewunderung für sportliche Leistungen im Freundeskreis. Nach innen, also in der Familie, erfährt es durchden in Koabhängigkeit gefangenen Elternteil deutliche Anerken-nung als verlässliches und starkes Mitglied der Familie. Dabei übernimmt das Kind eine Verantwortung, der es wederkörperlich noch seelisch gewachsen ist. Diese Kinder organisierenin Krisensituationen einen Arzt und sorgen ganz allgemein dafür, das Bild einer harmonischen Familie zu vermitteln. Ganz selbstverständlich übernimmt es die Rolle der Ersatzmutterfür jüngere Geschwister oder wird der erste Ansprechpartner für die Sorgen der Mutter.

Von Helden, schwarzen Schafen, Clowns und unsichtbaren Kindern

Eine Kindheit ohne Lob und Schutz. So kann man zusammenfassen, wie Kinder in alkoholbelasteten Familien aufwachsen. Erhalten Väter und Mütter in Beratungsstellenund Selbsthilfegruppen Unterstützung, wird auch den Angehörigen, dem Partner, derPartnerin und vor allem den Kindern geholfen. Wir veranschaulichen, wieso Elternhilfe auch Kinderhilfe ist.

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Das schwarze SchafDieses Kind spiegelt das Chaos wider, in dem es aufwächst. Häufigist dieses Kind ein Nachzügler. Aufmerksamkeit und Beachtung solldurch Rebellion und „unangepasstes“ Verhalten gewonnen werden.Das können das Einnässen der Bettwäsche, Verhaltensauffällig- keitin der Schule oder kriminelle Handlungen sein, wie Diebstähle oderSachbeschädigungen. Es fühlt sich nirgends richtig zugehörig undsucht die Konfrontation.

Unsichtbare oder stille KinderUnsere Lea hat den einen dritten Weg beschritten. Sie verhält sichmöglichst unauffällig und möchte ihren Eltern und ausserfamiliärenBezugspersonen durch „Pflegeleichtigkeit“ und Ruhe gefallen. Dafürwird sie dann häufig gelobt, da die Eltern bereits aufgrund ihrer un-eingestandenen Belastungen seitens der Suchterkrankung und derangestrebten Bewältigung des Alltags überbeansprucht sind.

Der ClownDieses Rollenmuster wird häufig durch das letztgeborene Kind über-nommen. Die unausgesprochenen Spannungen und die depressiveGrundstimmung innerhalb der belasteten Familie sollen durch lustigeSpässe und Geschichten verdrängt werden. Dabei können diese Kinderauch hyperaktiv werden und scheinbar dauerhaft gut gelaunt sein. Auchdiese Rolle „belohnt“ den kindlichen Schauspieler: Ihr Humor und dieLacherfolge, die sie erzielen, sichern ihnen Anerkennung und hebenihr Selbstwertgefühl. Erwachsene bleiben ihren Rollenmustern treu.

David weiss nicht, warum seine Mutter so abweisend ist. Er leidet aneinem geringen Selbstwertgefühl und stellt überhöhte Anforderungen ansich selbst. Er setzt sich unter Druck und vernachlässigt sich. Weil er gelernthat, alles unter Kontrolle zu halten, entwickelt er nur zögerlich Vertrauenund meidet enge zwischenmenschliche Beziehungen. Er ist in der Schuleunkonzentriert und leidet manchmal an Angstzuständen.

Seine Kindheit streift ein Erwachsener nicht ab. Die genetische Veranlagung definiert einen Menschen in Grundzügen, seine sozialePrägung ist aber, das zeigen wissenschaftliche Untersuchungen, fürseine Entwicklung ausschlaggebender. Menschen, die in einer alko-holabhängigen Familie aufgewachsen sind, verfügen häufig überwenig Selbstwertgefühl, sind sehr selbstkritisch und stellen hohe Anforderungen an sich selbst. Der Held bleibt ein Leben lang einPerfektionist und will jeden Kontrollverlust vermeiden. Eine Person,die in Koabhängigkeit aufgewachsen ist, wird mit hoher Wahrschein-lichkeit einen Partner wählen, der an psychischen Krankheiten oderAbhängigkeiten leidet. Die koabhängige Person führt ihre in derKindheit erworbene Rolle weiter und opfert sich für den an Alkohol

Laura fürchtet täglich, dass in ihrer Familie ein Streit ausbrechenkönnte. Irgendwie fühlt sie sich für das Alkoholproblem ihres Vaters verantwortlich und tut alles, um ihn und die Mutter zufriedenzustellen.Sie hat lernen müssen, Krisensituationen zu bewältigen und übernimmtmanchmal auch Aufgaben ihrer Eltern. Auf dem Heimweg von der Primarschule macht sie sich immer schon auf das Schlimmste gefasst.

erkrankten Partner auf. Das Netz aus Lügen, mit dem das Bild einereinfühlsamen, toleranten und normalen Partnerschaft erzeugt werdensoll, erschöpft die koabhängige Person und bestärkt leider den Ab-hängigen in seinem Verhalten. Und irgendwann wachsen in dieserPartnerschaft erneut Kinder heran. Mit der Finanzierung der Bera-tungs- und Selbsthilfeangebote des Blauen Kreuzes ermöglichen Siees Eltern, sich aus ihrer Alkoholabhängigkeit zu lösen. Jede Person,die uns aufsucht, hat Familie, Verwandtschaft, Freunde und Arbeits-kollegen, die mitleiden. Menschen, die in ihrer Stadt leben. Eltern,die ihr Problem erkannt haben, scheuen sich sehr oft, um Hilfe zubitten. Sie fürchten die Stigmatisierung oder den Entzug des Sorgerechts. Es ist daher auch die Aufgabe unserer Beratung, die betroffenen Eltern zu beruhigen und mit einem vernetzten Hilfs-angebot angemessen zu betreuen.

Sich um die Kinder zu kümmern bedeutet, in Gesprächen die Elternin ihrer Erziehungsaufgabe zu unterstützen. Die Einhaltung gewisserFamilienrituale wie gemeinsame Mahlzeiten und Ausflüge, haben erwiesenermassen eine schützende Wirkung, die die Entfaltung desKindes fördert. Eine gezielte Unterstützung der Eltern trägt dazu bei,die Rollen innerhalb der Familie zu klären, sodass jedes Mitglied wieder seinen Platz findet. Eltern lernen mit ihren Kindern über ihreErkrankung zu sprechen. Endlich verstehen die Kinder ihre Väterund Mütter. Sie vertrauen ihren Eltern wieder. Sie legen die beklem-menden Angstgefühle ab und streiten, lieben, weinen und lachen in ihrer Familie wie alle Kinder.

Ein bei uns die Beratung besuchender Vater erzählte uns kürzlich von einem berührenden Satz seines Sohnes: „Gell Papi, jetzt simmerwieder e Familie.“

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Das Bier zum Feierabend oder ein Gläschen in Ehrengenehmigen sich viele. Ab welcher Menge sind denntatsächlich gesundheitliche Schäden zu befürchten,wo beginnt die psychische Abhängigkeit?

Die Empfindlichkeit gegenüber Alkohol ist bei jedem Menschenan- ders ausgeprägt. Einen absoluten Grenzwert gibt es wohlnicht. Mit Gesundheitsschäden durch Alkohol müssen Frauen ab einem regelmässigen Konsum von 1-2 Stangen Bier oder 2 Gläsern Wein und Männer bei 3-4 Stangen Bier oder 3-4 Glä-sern Wein pro Tag rechnen.

Die körperliche Abhängigkeit würde man am Auftreten von Entzugssymptomen wie zum Beispiel Zittern oder starkem Schwitzen erkennen. Eine psychische Abhängigkeit kann sich in einer Störung der Konzentration und der Auffassungsfähigkeit, in Schlafproblemen oder Reizbarkeit äussern. Darüber hinaus existieren aber viele weitere Merkmale.

Der Weg in die psychische Abhängigkeit ist dagegen meistens ein lange unbemerkt und schleichend sich entwickelnder Prozess.

Existieren Warnzeichen?Die Klienten der Beratungsstelle sagen fast alle, dass sie, zurückblickend gesehen, oft über ihren Alkoholkonsum irritiertgewesen seien, lange bevor andere Menschen sie darauf angesprochen hätten. Wer anfängt über seinen Alkoholkonsumnachzudenken, das Gefühl hat, dass die konsumierten Mengenbedenklich sein könnten, erhält ein wichtiges Warnsignal, das ersehr ernst nehmen sollte.

Weshalb wird man psychisch abhängig?Alkohol und andere Genuss- und Suchtmittel bieten sich in gewissen Lebenssituationen, die eher als unangenehm empfundenwerden (Ärger, Stress, Beziehungsprobleme, Langeweile, Einsam-keit, Schüchternheit, Abgespanntheit, Schmerzen, Wut, Traueretc.), als Ventil an. Man fühlt sich rasch besser. Eine positive Wir-kung, die das Gedächtnis speichert. Gerät man erneut in eine Si-tuation, die eher unangenehme Gefühle auslöst, erinnert man sichan die Substanz und an den angenehmen Zustand, in den man ver-setzt wird, z. B. beim Trinken. Wird Alkohol vor allem wegen die-ser Wirkungserwartung konsumiert, verlernt man mit der Zeitnüchterne Bewältigungsstrategien für den Alltags- und Lebens-frust. Je früher man auf die „Problemlösung“ durch Alkohol setzt,desto eher und schneller entwickelt sich eine Abhängigkeit.

Alkohol wird von vielen Menschen natürlich auch konsumiert, um positive Gefühle während Erfolgs- und Glückserlebnissen,Lust, Euphorie etc. zu verstärken. Werden Alkoholkonsum undGefühlsleben immer häufiger miteinander verknüpft, dann läuftman ebenfalls Gefahr, dass sich die Verbindung von Erleben, Gefühlen und Trinken verselbstständigt.

Sind manche Personen besonders gefährdet?Gefährdeter ist man vor allem bei Lebensübergängen, also vomKind zum Adoleszenten, beim Berufseinstieg, beim Kinder- aufziehen, während einer Lebenskrise oder unmittelbar währendder Pensionierung. Auch biografische Brüche wie Scheidung, Tod, Arbeitslosigkeit, Karriereknick und Krankheit können dazuführen, dass Alkohol oder andere Substanzen und Medikamentemissbräuchlich als Bewältigungshilfe eingesetzt werden.

Alkoholkonsum und Abhängigkeit. 11 Fragen und Antworten

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Treffen kann es also praktisch jede Person. Bei unseren Klientenstelle ich aber fest, dass diese als Kinder entweder einen eher ver-wöhnenden, vielleicht sogar verzärtelnden oder einen recht stren-gen, manchmal eher zur Verwahrlosung führenden Erziehungsstilerfahren haben. Kinder aus alkoholbelasteten Familien sind zudemsehr viel stärker gefährdet, ebenfalls abhängig zu werden.

Wenn man zum Essen grundsätzlich ein bis zwei Gläser Wein trinkt; wie ist das zu werten?Das ist in den meisten Fällen völlig unproblematisch. Allerdingssind dabei wöchentlich ein oder zwei abstinente Tage sehr empfeh-lenswert. Auch ein alkoholfreier Monat im Jahr schadet bestimmtnicht! Dies ist wichtig, um bewusst eine Gewohnheit zu unterbre-chen und zu überprüfen, welche Bedeutung man diesem Konsumbeimisst. Fällt der gelegentlich Verzicht leicht oder empfinde ichbereits Frustration? Beginne ich zwanghaft nach Gründen zu suchen, die ein Glas Wein rechtfertigen könnten? Dies kann einguter Gradmesser der persönlichen Freiheit sein.

Wie oder woran erkennt man eine latente Suchtgefährdung?Sprechen mich andere Leute wegen meines Alkoholkonsums an?Trinke ich zu oft und zu viel und bei unpassenden Gelegenheiten?Trinke ich regelmässig mehr, als ich mir vorgenommen hatte?Trinke ich trotz negativer Auswirkungen am Arbeitsplatz, in derBeziehung, für die Gesundheit oder gerate ich mit dem Gesetz in Konflikt? Das sind entscheidende Fragen.

Viele bezeichnen sich als Genusstrinker. Gibt es diesen Typ überhaupt?Ja, aber viele missbräuchlich konsumierende Alkoholiker bezeichnen sich gerne als Genusstrinker und verstecken dahinterihre Abhängigkeit. Jeder Konsument und jede Konsumentin sollte sich aber ehrlich fragen, ob wirklich der Geschmack des edlenWeins, die Frische eines kühlen Biers genossen wird oder ob es eher um den berauschten Zustand danach geht?

Wie könnte man also Genusstrinken beschreiben?Der Genuss ist stark mit der Menge und der Häufigkeit verknüpft.Beim Geniessen erlebt man eine positive Sinnesempfindung, diemit körperlichem und geistigem Wohlbehagen verbunden ist. Genuss endet, wo Selbstbeschränkung und Achtsamkeit verlorengehen. Wird etwas zur unbewussten oder zwanghaften Gewohn-heit, verliert es die Genussqualität und wird zur Abhängigkeit.

Welche Gefahren lauern dem Genuss- oder Gelegenheitstrinker auf? Wann könnte man zum Alkoholkranken werden?Wenn man beginnt, heimlich zu trinken, oder wenn man die Mengen erhöhen muss, um eine gewisse Wirkung zu erzielen.Wenn man immer mehr konsumieren kann, ohne das es unmittel-bar zu Nebenwirkungen kommt.

Wie kann man die Gefahren vermeiden?Ehrlichkeit sich selbst gegenüber ist von entscheidender Bedeutung.Wer verunsichert ist, sollte ungeniert eine Fachstelle kontaktieren.

Gibt es typische Alkoholikerkarrieren?Ja und nein. Einerseits ist jede Abhängigkeitsentwicklung sehr einzigartig, andererseits existieren wiederkehrende gemeinsame Elemente: Der Ausstieg wäre immer schon früher möglich gewesen!Aber Scham und Versagensgefühle verhindern, dass sich die betroffenen Personen der Problematik stellen. Abhängigkeit ist eineschleichende Krankheit, die sich über Jahre hinweg entwickelt. Die Übergänge vom massvollen Konsum zur Abhängigkeit sindfliessend. Das Zusammenspiel von körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren vor dem Hintergrund der persönlichen Lebenssituation kann eine Suchtentwicklung eher begünstigen oder eher verhindern.

Wichtig ist aber die Erkenntnis, dass Alkohol eben nicht nur einGenussmittel, sondern auch eine hochgradig abhängig machende,direkt auf das zentrale Nervensystem wirkende Substanz ist. Die meisten der etwa 300'000 Menschen in der Schweiz, die einenproblematischen Alkoholkonsum haben, sind unauffällig und sozialintegriert, also keineswegs der Penner unter der Brücke oder derObdachlose auf der Parkbank, sondern Nachbarn und Nachbarinnen,mit denen wir täglich kommunizieren.

Das Interview wurde mit Urs Ambauen, dem Leiter des FachbereichsBeratung beim Blauen Kreuz Zürich, geführt.

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Wir sind da

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Ärzte nennen es einen «Gebrauch ohne medizinische Indikation» und sprechen von «Patienten». Auf der Strasse bezeichnet man dies als «saufen» und denkt dabei an einen«Trinker». Wir vom Blauen Kreuz nennen es «einen missbräuchlichen Alkoholkonsum»und meinen damit Familienväter, Mütter, Jugendliche und Kinder; alkoholabhängige Menschen und Angehörige, die ihre Nachbarn sein könnten.

In der Schweiz leben rund 300'000 alkoholabhängige Menschen. Etwa eine Million Familienangehörige sind von dieser Erkrankung mit betroffen.

Über 5’000 Personen sterben jährlich an den Folgen des Alkoholkonsums oder an alkoholbedingten Krankheiten. Dazu gehören Krebserkrankungen, degenerierte Blutgefässe oder Herzinfarkte.

Das Blaue Kreuz Zürich verhindert und mindert diese alkohol- und suchtmittel- bedingten Folgen. Wir wollen, dass junge Menschen in einer Gesellschaft aufwachsen,die sie stark macht und vor dem Missbrauch von Suchtmitteln schützt. Wir wollen, dass niemand mehr unter den Folgen des Alkoholmissbrauchs zu leiden hat.

Für Lebensqualität. Gegen Abhängigkeit.

Für Spenden, Beiträge und Legate sindwir stets sehr dankbar. Das Blaue Kreuz ist seit 1990 durch die ZEWO zertifiziert. Das Gütesiegel bescheinigt:_ den zweckbestimmten, wirtschaftlichen und wirkungsvollen Einsatz Ihrer Spende_ transparente Information und aussagekräftige Rechnungslegung_ unabhängige und zweckmässige Kontrollstrukturen_ aufrichtige Kommunikation und faire Mittelbeschaffung