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Rechtsanwalt Dr. Reinhard Marx - Fachanwalt für
Migrationsrecht -
RA Dr. Reinhard Marx – Niddastr. 98 - 102 – 60329 Frankfurt am Main
per Telefax 07221 - 9101382
BundesverfassungsgerichtPostfach 177176006 Karlsruhe
N i d d a s t r . 9 8 - 1 0 21 . S t o c k , l i n k e S e i t e60329 Frankfurt am MainMo. -Fr . : 9 .00 - 12 .00 UhrMo. ,Di . ,Do. :14.00 - 16.30 Uhr Telefon:
0049 / 69 /24 27 17 34
Telefax: 0049 / 69 /24 27 17 35
E-Mail: [email protected]
Internet:
http://www.ramarx.de
3. Oktober 2017 M/S Bei Antwort und Zahlung bitte angeben
Im Verfahrender Verfassungsbeschwerdedes türkischen Staatsangehörigen …..2 BvR 841/17 wegen
Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verb. mit Art. 1 Abs. 1, Art. 16a Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 3 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 und 2, 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG.
wird die bereits am 21. September 2017 förmlich erhobene Verfassungsbeschwerde
abschließend begründet. Es wird zunächst auf die bereits mit dem Antrag auf Erlass einer
Schiebeanordnung sowie dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vorgelegten
Anlagen – insbesondere auf die angefochtenen behördlichen und gerichtlichen
Entscheidungen – hingewiesen. Im Blick auf den Fristablauf am 4. Oktober 2017 hinsichtlich
der Verfassungsbeschwerde gegen die ausweisungsrechtlichen Entscheidungen werden diese
diesem Schriftsatz nochmals beigefügt. Die weiteren nachfolgend zitierten Anlagen werden
1
--
auf dem Postwege übermittelt. Mit Datum vom heutigen Tat wurde gegenüber dem Beschluss
des Verwaltungsgerichtes Gießen vom 21. September 2017 Anhörungsrüge (Anlage Nr. 18)
erhoben.
I.Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verb. mit Art. 1 Abs. 1 GG
Der Beschwerdeführer wird durch die behördlichen und gerichtlichen Entscheidungen im
asylrechtlichen und ausweisungsrechtlichen Verfahren in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2
Satz 1 in Verb. mit Art. 1 Abs. 1 GG verletzt.
1. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verneint im angefochtenen Bescheid das
Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG im Blick
auf den Abschiebungszielstaat Türkei. Es begründet dies damit, dass aufgrund des
vorgebrachten Sachverhaltes nicht die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit
gerechtfertigt ist, dass dem Beschwerdeführer in der Türkei menschenrechtswidrige
Maßnahmen drohten. Zwar könne es bei seiner Einreise zu Befragungen oder auch nur
kurzzeitigen Festnahme kommen. Dem Auswärtigen Amt sei in den letzten Jahren jedoch
kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus der Bundesrepublik zurückgekehrter
Asylsuchender im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden
sei. Auch könne nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass
dem Beschwerdeführer bei einer möglichen Inhaftierung aufgrund der Anklage gegen ihn eine
Art. 3 EMRK zuwiderlaufende Behandlung drohe. Dabei werde nicht verkannt, dass die
Haftbedingungen in der Türkei im Allgemeinen „unter schwierigen Bedingungen“ ständen
(Bescheid, S. 5/6).
Das Verwaltungsgericht hat im asylrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren keine eigenen
Feststellungen zu dieser Frage, vielmehr lediglich wortwörtlich die entsprechenden
Ausführungen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes im ausweisungsrechtlichen
Verfahren wiedergegeben. Im ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren hat das
Verwaltungsgericht festgestellt, die befürchtete Gefahr von Folter in der Haft sei
unsubstantiiert und werde durch keine konkrete Gefahrenlage getragen. Weitere
2
Ausführungen wurden in dem 16 Seiten umfassenden Beschluss zur drohenden Foltergefahr
nicht gemacht. Das Verwaltungsgericht hat bezweifelt, dass den türkischen Behörden der
gegen den Antragsteller durchgeführte Prozess vor dem Kammergericht bekannt geworden
sei. Diese Frage kann jedoch nach Bekanntwerden der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft
Kayseri (s. weiter unten) dahinstehen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat im ausweisungsrechtlichen Verfahren mit Beschluss vom 31.
August 2017, auf den das Verwaltungsgericht sich – wie ausgeführt – im asylrechtlichen
Verfahren bezogen hat, festgestellt, es fehle an jeglichen Anhaltspunkten dafür, „dass die
Strafverfolgung wegen Unterstützung oder Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung
wie Organisationen der Al Qaida oder des >Islamischen Staates< als Verfolgung kriminellen
Unrechts über die Ahndung der begangenen Straftaten hinaus die beachtliche Gefahr von
Folter oder menschenrechtswidriger Behandlung bedeutet.“ Er stützt sich dabei auf die wenig
aussagekräftigen Berichte des Auswärtigen Amtes, nicht jedoch auf andere Erkenntnisquellen.
Aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Februar 2017 ergäben sich keine
Erkenntnisse, dass „Inhaftierte systematisch oder bei derartigen Verdachtsfällen generell der
Gefahr von Folter ausgesetzt“ seien. Es hat weiter ausgeführt, die Frage, ob es generell wieder
vermehrt zu Misshandlungen im Polizeigewahrsam komme, könne „derzeit nicht
abschließend werden“ (BA, S. 10).
Damit haben Behörden und Gerichte in beiden Verfahren wegen unterlassener Aufklärung der
Gefahr von gegen den Beschwerdeführer gerichteter Folter und wegen der Art. 3 EMRK
zuwiderlaufenden Anwendung des Prognosemaßstabes der beachtlichen Wahrscheinlichkeit
bereits im summarischen Eilrechtsschutzverfahren das Grundrecht des Beschwerdeführers aus
Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verb. mit Art. 1 Abs. 1 GG verletzt.
2. a) Zur gebotenen gerichtlichen Aufklärungspflicht wird in der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichtes insbesondere die Asylrelevanz drohender Foltermaßnahmen im
Herkunftsland behandelt und werden die Verwaltungsgerichte entsprechend § 86 Abs. 1
VwGO zu erhöhter Sorgfalt bei den entsprechenden Feststellungen angehalten (z.B. BVerfG
(Kammer), InfAuslR 1992, 59; BVerfG (Kammer), InfAuslR 1991, 133; BVerfG (Kammer),
InfAuslR 1991, 18 (19); BVerfG (Kammer), InfAuslR 1992, 231; BVerfG (Kammer),
3
InfAuslR 1996, 318 (321); BVerfG (Kammer), BayVBl. 1997, 177 (178)). Auch wenn das
Begehren im Asylverfahren erfolglos geblieben ist, weil ein Verfolgungsgrund nicht dargelegt
wurde, kann dem Antragsteller die Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung
oder Bestrafung im Zielstaat drohen (BVerfG (Kammer), InfAuslR 1993, 176 (178) = NVwZ
1992, 660). Bei der Feststellung der Frage, ob tatsächlich Foltermaßnahmen drohen, haben
Behörde und Verwaltungsgericht diese Gefahr besonders sorgfältig aufzuklären. Dieser
Aufklärungspflicht kann in aller Regel nicht in einem summarisch angelegten
Eilrechtsschutzverfahren genügt werden. Vielmehr ist bei Hinweisen auf eine drohende Folter
dem Eilrechtsschutzantrag stattzugeben und sind die erforderlichen Tatsachen im
Hauptsacheverfahren aufzuklären und festzustellen. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu
in einem Verfahren, in dem es um die Anwendung von § 53 Abs. 4 AuslG 1990 in Verb. mit
Art. 3 EMRK – nach geltendem Recht § 60 Abs. 5 AufenthG in Verb. mit Art. 3 EMRK –
festgestellt, dass die Fachgerichte prüfen müssen, ob die Auskünfte des Auswärtigen Amtes
für die Beurteilung einer diesen Vorschriften zuwiderlaufenden Behandlung hinreichend
aussagekräftig sind (BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 1996, 19 = AuAS 1996, 30). Diese
Aufklärungspflicht haben sowohl das Bundesamt wie auch – im ausweisungsrechtlichen
Eilrechtsschutzverfahren – das Verwaltungsgericht und der Verwaltungsgerichtshof verletzt.
b) Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte folgt aus
der Verantwortlichkeit des Vertragsstaats nach Art. 3 EMRK, dass bei der drohenden Gefahr
von Folter im Falle der Rückkehr des Betroffenen in sein Herkunftsland besonders sorgfältige
Aufklärungspflichten bestehen. Im Hinblick auf den »absoluten Charakter« von Art. 3 EMRK
und auf die Tatsache, dass diese Norm »einen der grundlegendsten Werte der demokratischen
Gesellschaften bildet, die sich im Europarat zusammengeschlossen haben«, muss die
Prognoseprüfung besonders streng sein (EGMR, NVwZ 1992, 869 (870) Rdn. 108 –
Vilvarajah). Der Betroffene muss nach Unionsrecht die Umstände und Tatsachen, die für die
vom ihm befürchtete Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung maßgebend
sind, von sich aus konkret, in sich stimmig und erschöpfend vortragen (Art. 4 Abs. 1 Satz 1,
Abs. 5 Buchst. c) RL 2011/95/EU). Ihn trifft insoweit eine Darlegungslast (Art. 4 Abs. 1
Satz 1, Abs. 5 Buchst. c) RL 2011/95/EU), § 25 Abs. 2 AsylG). Auch der Gerichtshof betont
die Pflicht des Antragstellers, Beweise beizubringen, dass es ernsthafte Gründe für die
Annahme gibt, im Falle der Abschiebung tatsächlich der Gefahr einer Art. 3 EMRK
4
zuwiderlaufenden Behandlung ausgesetzt zu werden (EGMR, NVwZ 2008, 1330 (1331)
Rdn. 129 – Saadi). Die Darlegungspflicht begrenzt die behördliche Untersuchungspflicht. Die
Behörde hat die allgemeinen rechtlichen und politischen Verhältnisse im Herkunftsland
aufzuklären. Anschließend muss sie sich mit dem Vorbringen auseinandersetzen und
möglicherweise weitere Ermittlungen aufgrund des Sachvorbringens anstellen. Ist das
Vorbringen ausführlich, genau und folgerichtig und stützen Umstände die Glaubwürdigkeit,
geht die Beweislast auf die Behörde über (EGMR, NVwZ 2013, 631 (633) Rdn. 164 f. – El
Masri).
3. Der Beschwerdeführer ist im fachgerichtlichen – sowohl im ausweisungs- wie auch im
asylrechtlichen – Verfahren seinen ihm im Blick auf drohende Gefahren der Folterbehandlung
treffenden Darlegungspflichten gerecht geworden. Er hat in beiden Verfahren die Umstände
und Tatsachen, die für die von ihm befürchtete Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender
Behandlung maßgebend sind, von sich aus konkret, in sich stimmig und erschöpfend
vortragen. Er hat im fachgerichtlichen Verfahren mit Bezugnahme auf die obergerichtliche
Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass diese unverändert davon ausgeht, dass eine
verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung in der Türkei für Personen bestehen kann, bei
denen Besonderheiten vorliegen, etwa weil sie in das Fahndungsregister eingetragen, gegen
sie Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig sind oder sie sich in besonders exponierter
Weise exilpolitisch betätigt haben, und deshalb in das Visier der türkischen
Sicherheitsbehörden geraten sind, weil sie als potentielle Unterstützer der PKK angesehen
werden (Nieders.OVG, EZAR Nr. 62 Nr. 93, mit zahlreichen Hinweisen auf die
obergerichtliche Rechtsprechung). Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hebt
ausdrücklich hervor, dass es insoweit seine bereits 2010 entwickelte Rechtsprechung
beibehält und bezieht sich auf eine Reihe von obergerichtlichen Judikaten. Es stellt fest, dass
aufgrund der aktuellen Erkenntnismittel mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit schwerwiegende
Menschenrechtsverletzungen, insbesondere durch Anwendung physischer Gewalt sowie
diskriminierende polizeiliche und justizielle Maßnahmen drohen.
a) Zwar wird dem Beschwerdeführer nicht eine Zugehörigkeit zur PKK angelastet, jedoch
eine Zugehörigkeit zu Al Qaida bzw. dem IS. Im Asylverfahren wurde vorgetragen, dass der
Beschwerdeführer im Fahndungsregister eingetragen ist, er in polizeilicher Begleitung
5
abgeschoben und den türkischen Polizeibehörden übergeben werden wird. Damit liegen die
Kriterien vor, welche die Rechtsprechung für die Rückkehrgefährdung hinsichtlich von Folter
und unmenschlicher Behandlung entwickelt hat. Ob die türkischen Behörden von ihnen als
Angehörige einer islamistischen Vereinigung verdächtigte Personen diese anders als
Anhänger der PKK behandeln, wurde im fachgerichtlichen Verfahren nicht aufgeklärt,
erscheint aber auch zweifelhaft, wie weiter unten ausgeführt werden wird. Jedenfalls hätten
die Verwaltungsgerichte entsprechend ihrer Aufklärungspflicht (s. auch weiter unten) dem
Eilrechtsschutzantrag stattgeben und anschließend im Hauptsacheverfahren aufklären müssen,
ob und in welchem Umfang Rückkehrer, die der Zugehörigkeit zu einer islamistischen
Vereinigung verdächtigt werden, wie der Beschwerdeführer, der dies durch Hinweis auf die
gegen ihn gerichtete Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Kayseri (Anlage Nr. 4) belegt hat,
im gleichen Umfang wie Anhänger der PKK von Foltermaßnahmen bedroht sind. Angesichts
des absoluten Charakters des Folterverbots ist auch eine weniger schwere Folterbehandlung
als die, die gegen Anhänger der PKK angewandt wird, zu beachten.
Der Beschwerdeführer hat ferner auf den derzeitigen Auslieferungsverkehr mit der Türkei und
auf das Urteil des Oberlandesgerichtes Frankfurt am Main vom 30. Mai 2017 hinwiesen,
welches festgestellt hat, dass die Auslieferung wegen der Gefahr, dass diese gegen Art. 3
EMRK verstößt, unzulässig ist. Dies wird damit begründet, dass das Auswärtige Amt bei
Auslieferungen in die Türkei seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 grundsätzlich
Zusicherungen zu konventionskonformen Haftbedingungen, zur Beachtung von Art. 3 EMRK
und zur Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens fordere. Berichte über mangelnden Zugang zur
medizinischen Versorgung von kranken Häftlingen seien besorgniserregend. Es bestünden
darüber hinaus auch erhebliche Bedenken, ob die vom Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte für erforderlich erachteten Haftbedingungen bereits im Hinblick auf die
Quadratmeterzahl, die einem Häftling zur Verfügung stehen müsse, gegenwärtig in der Türkei
eingehalten werden könnten (OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 30. Mai 2017 – 2 Ausl
A 29/16) genutzt.
b) Der Beschwerdeführer legt darüber hinaus die Auskunft von amnesty international vom 5.
September 2017 (Anlage Nr. 5), die zur Vorbereitung auf die Einreichung der
Verfassungsbeschwerde und der Beantragung einer einstweiligen Anordnung eingeholt und
6
auch im asylrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren eingeführt wurde, vor. Die Verfasserin des
Schreibens ist seit Jahrzehnten bei amnesty international für die Länderarbeit zur Türkei
zuständig, verfügt über zahlreiche Kontakte in der Türkei und beherrscht auch die türkische
Sprache. Die zunächst von ihr vorab übermittelte Auskunft wird nunmehr als offizielle
Auskunft (Anlage Nr.5).
In der Auskunft wird zunächst auf den Jahresbericht 2017 von amnesty international
hingewiesen. Danach häuften sich im Jahr 2016 „die Berichte über Folter und andere
Misshandlungen im Polizeigewahrsam aus den Regionen im Südosten, in denen eine
Ausgangssperre verhängt wurde, und unmittelbar nach dem Putschversuch verstärkt auch aus
Ankara und Istanbul. Zu den Foltervorwürfen eingeleitete Ermittlungen waren nicht
zielführend.“ In der Auskunft wird weiter ausgeführt, dass amnesty international zwar keine
eigenen Informationen über Folter und Misshandlung von Islamisten in der Türkei hat. Jedoch
wird auf ein in der türkischen Presse (T24, NTV) am 17. Januar 2017 veröffentlichtes Foto
des festgenommenen Islamisten Abdulkadir Masharipov Bezug genommen. Dieser soll in der
Silvesternacht 2016 einen Anschlag mit vielen Toten und Verletzten auf den Nachtclub Reina
in Istanbul verübt haben. Dessen Gesicht weise deutliche Spuren von Gewalt auf. Die
deutsche Sektion von amnesty international habe Ende Juli 2017 von Herrn Yasar S. aus
Bremen eine E-Mail mit dem Betreff „Lebensgefahr, Menschenrechtsverletzung, Notfall“
erhalten. In dieser habe Herr S. mitgeteilt, dass sein Sohn Adnan S. im Oktober 2016 in der
Türkei festgenommen worden sei. Er sei in ein Gefängnis in Ankara gebracht worden, wo er
zuerst gefoltert und geschlagen worden sei. Danach sei er wie auch die anderen Gefangenen
unter normalen Bedingungen inhaftiert gewesen. Vor etwa zwei Monaten sei er in das L-Typ-
Gefängnis in Corum gebracht worden. Anfangs seien er und die anderen Gefangenen zwar
normal behandelt worden, aber am 20. Juli 2017, dem Tag an dem er die E-Mail geschrieben
habe, habe er einen Anruf seines Sohnes erhalten, der gesagt habe, seit dem G 20-Gipfel in
Hamburg habe sich alles geändert. Man habe angefangen, ihn und die anderen etwa 50
Gefangenen extrem zu misshandeln und zu foltern. Jeden Morgen würden sie geschlagen und
gefoltert, bis sie in Ohnmacht fielen. Jegliche ärztliche Versorgung würde ihnen vollständig
verweigert. Nachts müssten sie in Zellen schlafen, die für Behinderte vorgesehen seien. Diese
wären voll mit menschlichen Fäkalien. Sie hätten vor drei Tagen einen Hunger-Streik
begonnen. Die ersten Streikenden seien bereits in Ohnmacht gefallen. Alle Insassen hätten die
7
Botschaften ihrer Herkunftsländern in der Türkei kontaktieren wollen, dies wäre ihnen jedoch
nicht gestattet worden.
Die Verfasserin der Auskunft habe daraufhin den Vater Herrn Yasar S. angerufen und um
weitere Informationen gebeten, z.B. den Namen des Rechtsanwaltes in der Türkei. Der Vater
habe gesagt, er könne alle zwei Wochen mit seinem Sohn sprechen. Danach habe sie den in
der Türkei arbeitenden Türkei-Researcher von amnesty international, Andrew Gardner,
informiert und ihn gebeten, der Sache nachzugehen. Herr Gardner habe mit dem Anwalt von
Herrn S. telefoniert. Der habe erklärt, er sei Pflichtverteidiger von Adnan S. in Ankara
gewesen und habe den Mandanten nur einmal gesehen. Die Verwandten in Deutschland
würden ihn nicht bezahlen, deshalb würde er ihn in Corum nicht im Gefängnis besuchen. Der
Vater Yasar S. habe ihr berichtet, dass der Anwalt sehr hohe Geldforderungen gestellt habe,
die er nicht habe bezahlen können. Der Türkei-Researcher von amnesty international habe
daraufhin einen Anwalt suchen wollen, der bereit wäre, A.S. im Gefängnis von Corum zu
besuchen. Das dürfte aber in der gegenwärtigen Situation mit weit verbreiteten schweren
Menschenrechtsverletzungen nicht einfach sein. Die Zahl der Anwälte, die sich bei
Menschenrechtsverletzungen einsetze, sei begrenzt, und sie seien überlastet. Bisher habe kein
Anwalt Herrn Adnan S. im Gefängnis von Corum besucht. Etwa drei Wochen später habe die
Familie noch einmal angerufen. Die Mutter habe mitgeteilt, dass ihr Sohn am Telefon zwar
gesagt habe, dass es ihm jetzt besser gehe. Sie habe jedoch gehört, dass jemand im
Hintergrund türkisch gesprochen habe. Das Gespräch sei ihrer Meinung nach von der Polizei
mitgehört worden. Der Sohn habe sich deshalb wohl nicht getraut, etwas Kritisches zu sagen.
c) Die Erkenntnislage zu der Frage, welche Personengruppe in der Türkei in besonderem
Maße von der Anwendung von Folter betroffen und welche Methoden in welchem Umfang
hierbei eingesetzt werden, ist insbesondere hinsichtlich von Anhängern der PKK und als
solcher verdächtigter Personen hinreichend zuverlässig und wird durch unterschiedliche
Auskunftsstellen getragen. Die Anwendung von Folter gegen Personen, die der Unterstützung
oder der Zugehörigkeit zu islamistischen Vereinigungen beschuldigt werden, wird hingegen
derzeit zwar durch Einzelfälle belegt. Ob und welchem Umfang hiervon Angehörige dieses
Personenkreises betroffen sind, bedarf deshalb noch der näheren Aufklärung. Während die
Anwendung von Folter gegen Personen, die der PKK zugehörig sind oder als deren
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Unterstützer angesehen werden, deshalb besonders zuverlässig ist, weil diese seit dem Beginn
der bewaffneten Auseinandersetzung zwischen der PKK und der türkischen Armee im August
1984 durch eine Vielzahl von Einzelfällen belegt wird, sind die Berichte über die
Folteranwendung von Islamisten oder solche Verdächtigte ein neues Phänomen. Dies hat
seinen Grund darin, dass die AKP-Regierung zunächst den IS unterstützt haben soll und diese
Praxis erst in den letzten Jahren geändert wurde. Seit dem Putschversuch am 15. Juli 2016
werden aber insbesondere Anhänger der islamischen Gülen-Bewegung oder als solche
angesehene Personen schwerwiegenden Foltermaßnahmen ausgesetzt. Darüber hinaus ist zu
bedenken, dass angesichts der absoluten Schutzwirkung des Folterverbotes in einer derartigen
Situation die staatlichen Behörden und die Gerichte eine besondere Aufklärungspflicht trifft,
die im Fall des Beschwerdeführers verletzt wurde. Darüber hinaus gelten bei vorgebrachter
drohender Folterbehandlung besondere Prognosegrundsätze (s. weiter unten).
Es ist insoweit festzustellen, dass die berichteten Fälle der Anwendung von Folter durch die
Berichte über die Anwendung von Folter gestützt werden. So wird bereits zwei Tage nach
dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 in der Presse berichtet, dass der damalige
Wirtschaftsminister Nihat Zeybekei erklärt habe,
dass die „Verräter so hart bestraft“ werden, „dass sie um ihren Tod betteln werden.Wir werden sie dazu bringen, uns anzuflehen. Wir werden sie in solche Löcherstecken, dass sie nicht mehr in der Lage sein werden, die Sonne Gottes zu erblicken.Sie werden wie Ratten in diesen finsteren Löchern verrecken“ (Huffington Post vom17. Juni 2017 2017).
Ferner wird in dieser Pressemitteilung berichtet, dass ein weiterer türkischer Minister diese
„Hetzrede“ unterstützt und versprochen habe, „alle Anzeigen wegen Folter und
Menschenrechtsverletzungen ignorieren“ zu wollen. Darüber hinaus wird der Leiter einer
Schule der Gülen-Bewegung zitiert, der darüber berichtet hat, dass er unmittelbar nach seiner
Festnahme ungefähr eine Stunde lang in ein Bad mit eiskaltem Wasser gelegt und dabei „auf
brutalste Art verprügelt“ worden sei. Daraufhin habe sich sein Gesundheitszustand erheblich
verschlechtert und er sei zu einem Arzt gebracht worden, der ihm ohne irgendeine Erklärung
eine Spritze verabreicht habe, über deren Inhalt er keine Auskunft erhalten habe. Am nächsten
Tag hätten Polizisten seine Geschlechtsorgane „mit ihren Händen zerdrückt“ und ihn auf
9
diese Weise über mehrere Tage hinweg gefoltert. Immer wieder sei er „im Genitalbereich
gefoltert und mit einem Schlagstock vergewaltigt“ worden. Er habe diese Folter nicht mehr
ertragen können und deshalb ein von den Beamten vorgefertigtes Geständnis unterschrieben.
Der Fall dieses Schulleiters sei „nur einer von tausend Folteropfern“ (Huffington Post vom
17. Juni 2016).
Das Komitee zur Verhütung von Folter des Europarates hat mit einer sechsköpfigen
Delegation nach dem bezeichneten Putschversuch die Türkei besucht und hunderte von
Personen, die in verschiedenen Polizeipräsidien in türkischen Städten inhaftiert waren
persönlich interviewt. Es sei ihm jedoch durch die türkische Regierung entsprechend dem
zugrundeliegenden Vertrag nicht erlaubt worden, einen Bericht über die Ereignisse seiner
Untersuchungen vor Ort zu veröffentlichen, obwohl bis dahin stets die Genehmigung erteilt
worden sei. Der Vorsitzende des Ausschusses habe aber erklärt, dass man „ziemlich gutes
Material“ haben, aus dem der Ausschuss Schlussfolgerungen ziehen“ könne (Huffington Post
vom 17. Juni 2017).
d) Aus diesen Umständen wird deutlich, dass der Beschwerdeführer seiner Darlegungslast,
konkret und nachvollziehbar Umstände und Tatsachen zu bezeichnen, dass ihm im Falle der
Rückkehr in die Türkei Folter und andere unmenschliche, grausame oder erniedrigende
Behandlung oder Bestrafung drohe, erfüllt hat. Das Verwaltungsgericht und der
Verwaltungsgerichtshof waren daher im ausweisungs- wie im asylrechtlichen Verfahren im
Blick auf die von ihnen eingeräumten offenen Beweisfragen verpflichtet, dem jeweiligen
Eilrechtsschutzantrag bzw. der Beschwerde stattzugeben und im Hauptsacheverfahren die
drohende Gefahr von Foltermaßnahmen aufzuklären. Durch die von ihnen gewählte
Verfahrensweise sind Behörde und Fachgerichte den verfassungsrechtlichen Anforderungen
an die Feststellung von Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Maßnahmen nicht gerecht geworden.
4. Der Beschwerdeführer ist zwar durch das Kammergericht wegen Unterstützung einer
terroristischen Vereinigung, der Junud al-Sham, in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe
von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Er befindet sich aufgrund dessen im
Strafvollzug, es wird ihm aber eine gute Sozialprognose attestiert. Das Verfahren wegen
Zugehörigkeit zu einer islamistischen Vereinigung in der Türkei beruht jedoch offensichtlich
10
auf einem manipulierten Strafvorwurf (dazu weiter unten). Im Zusammenhang mit der
drohenden Verletzung seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verb. mit Art. 1 Abs. 1
GG kommt diesem Umstand jedoch keine rechtliche Bedeutung zu.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ausdrücklich und wiederholt
festgestellt, dass der in Art. 3 EMRK gewährleistete Schutz vor Folter oder unmenschlicher
oder erniedrigender Strafe oder Behandlung ausnahmslos gilt. Der in Art. 3 EMRK gewährte
Refoulementschutz ist umfassender als jener in Art. 33 GFK (EGMR, EZAR 933 Nr. 4 =
InfAuslR 1997, 97 = NVwZ 1997, 1093 – Chahal; EGMR, InfAuslR 1997, 279 (281) =
NVwZ 1997, 1100 = EZAR 933 Nr. 5 – Ahmed; EGMR, InfAuslR 2014, 15 (16) – L.K.). Der
Refoulementschutz nach Art. 3 EMRK hat absoluten Charakter und steht nicht unter
Terrorismusvorbehalt (EGMR, NVwZ 1992, 869 (870) – Vilvarajah; EGMR, InfAuslR 1997,
97 (101) = NVwZ 1997, 1093 – Chahal; EGMR, InfAuslR 1997, 279 (281) = NVwZ 1997,
1100 – Ahmed). Vielmehr hat der EGMR in seiner ausländerrechtlichen Rechtsprechung an
seine traditionelle, bereits 1978 entwickelte Auffassung vom notstandsfesten Charakter des
Folterverbots nach Art. 3 EMRK (EGMR, EuGRZ 1979, 149 (155) – Nordirland) angeknüpft
und in gefestigter Rechtsprechung festgestellt, dass der aus dieser Norm herzuleitende
Abschiebungsschutz absolut ist (EGMR, InfAuslR 1997, 97 = NVwZ 1997, 97 (99) – Chahal;
EGMR, InfAuslR 1997, 279 (281) = NVwZ 1997, 1100 – Ahmed; EGMR, InfAuslR 2000,
321 (323) – T. I.).
Dabei hebt der Gerichtshof ausdrücklich die »immensen Schwierigkeiten« hervor, mit denen
»sich Staaten in modernen Zeiten beim Schutz ihrer Gemeinschaften vor terroristischer
Gewalt konfrontiert sehen«. Selbst aber unter diesen Umständen verbietet die »Konvention in
absoluten Begriffen Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe,
unabhängig vom Verhalten des Opfers« (EGMR, InfAuslR 1997, 97 (98) – Chahal; EGMR,
InfAuslR 1997, 279 (281) – Ahmed; EGMR, NVwZ 2013, 631 (635) Rdn. 195 – El-Masri;
BVerwGE 109, 12 (24) = EZAR 200 Nr. 34 = InfAuslR 1999, 366 = NVwZ 1999, 1349;
BVerwGE 132, 79 (94) = EZAR NF 68 Nr. 3). Die Große Kammer des Gerichtshofes hat mit
deutlichen Worten den Versuch der britischen Regierung zurückgewiesen, den Schutz nach
Art. 3 EMRK gegen staatliche Sicherheitsinteressen abzuwägen. Der Schutz gegen Folter und
unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung sei absolut und begründe einen
11
absoluten, durch keine Ausnahme durchbrochenen Schutz gegen Auslieferung und
Abschiebung. Die Auffassung, die Risiken, die dem Betroffenen im Zielstaat drohten,
könnten gegen seine Gefährlichkeit abgewogen werden, beruhe auf einem unzutreffenden
Verständnis von Art. 3 EMRK. Die Begriffe »Gefahr« (für den Betroffenen) und
»Gefährlichkeit« (für die Bevölkerung) könnten nicht gegeneinander abgewogen werden, weil
beide unabhängig voneinander festgestellt werden müssten. Die Gefahr, dass der Betroffene
eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle, reduziere nicht in irgendeiner Weise das ihm
drohende Risiko im Zielstaat. Ebenso wenig hat der Gerichtshof den zweiten Einwand der
britischen Regierung akzeptiert, dass bei Gefährdungen der Allgemeinheit die Prüfung des
konkreten Risikos, nach der Abschiebung einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung
ausgesetzt zu werden, weniger streng ausfallen könnte, wenn die Allgemeinheit durch den
Betroffenen gefährdet sei. Eine derartige Verfahrensweise sei unvereinbar mit der absoluten
Schutzwirkung von Art. 3 EMRK. Daher erklärte die Große Kammer ausdrücklich, dass sie
keinen Grund dafür sehe, den maßgeblichen Beweisstandard zu ändern (EGMR, NVwZ 2008,
1330 (1332) Rdn. 138 bis 140 – Saadi; EGMR, NVwZ 2012, 159 (160) Rdn. 47 – Toumi).
6. Nach alledem ist die Befürchtung des Beschwerdeführers, nach seiner Abschiebung in die
Türkei dort einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung ausgesetzt zu werden,
begründet und wird durch gewichtige und stichhaltige Tatsachen getragen. Da die zuständigen
Behörden und Fachgerichte einerseits die durch Art. 2 Abs. 1 Satz 1 in Verb. mit Art. 1 Abs.
GG und Art. 3 EMRK eingeräumten offenen Beweisfragen nicht aufgeklärt und die
Fachgerichte andererseits ein für das Eilrechtsschutzverfahren unangemessenen
Prognosemaßstab angewandt haben, wird er in seinen aus diesen Normen folgenden Rechten
verletzt.
II.
Verletzung von Art. 16a Abs. 1 GG
Der Beschwerdeführer wird durch den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge sowie den Bescheid des Verwaltungsgerichtes Gießen vom 21.
September 2017 in seinem Grundrecht auf Asyl aus Art. 16a Abs. 1 GG verletzt, weil gegen
12
ihn ein Strafverfahren in der Türkei aufgrund eines offensichtlich manipulierten Strafvorwurfs
anhängig ist.
1. Der Beschwerdeführer hat mit Schriftsatz vom 15. August 2017 beim Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge einen Asylantrag gestellt (Anlage Nr. 6). Da dieser Antrag nicht
beschränkt war, umfasst er auch den Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter nach
Art. 16a Abs. 1 GG (§ 13 Abs. 2 Satz 1 AsylG). Er wurde mit Schriftsatz vom 20. August
2017 damit begründet, dass der Beschwerdeführer bereits bei der Einreise in die Türkei
festgenommen und anschließend verhaftet werden wird, weil gegen ihn nach der
Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Kayseri ein Strafverfahren wegen Mitgliedschaft in der
Organisation „Al Qaida“ anhängig sei. Er sei jedoch niemals Mitglied einer
Terrororganisation gewesen. Der erhobene Vorwurf gegen den Beschwerdeführer sei damit
„aus der Luft gegriffen“ (Anlage Nr. 7). Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte
diesen Antrag mit Bescheid vom 23. August 2017 als offensichtlich unbegründet ab,
begründete die Ablehnung der beantragten Anerkennung als Asylberechtigter jedoch nicht.
Vielmehr zitierte es lediglich den Text von § 3 AsylG und stellte fest, dass der
Beschwerdeführer kein Flüchtling sei (Anlage Nr. 1). Asylberechtigung und
Flüchtlingseigenschaft sind jedoch rechtlich voneinander unabhängige Regelungsbereiche und
dementsprechend Anspruchsgrundlagen (s. einerseits § 2 AsylG und § 60 Abs. 1 Satz 2
AufenthG, andererseits § 3 Abs. 4 Hs. 1 AsylG, Art. 13 RL 2011/95/EU), Insbesondere § 60
Abs. 1 Satz AufenthG regelt eindeutig, dass beide Ansprüche unabhängig voneinander
Geltung haben. Im Asylbescheid wird jedoch die Zurückweisung des Antrags auf Feststellung
der Asylberechtigung mit der Begründung abgelehnt, dass der Beschwerdeführer
„offensichtlich kein Flüchtling“ im Sinne von § 3 AsylG sei. Das Verwaltungsgericht zitiert
zwar § 30 Abs. 1 AsylG vollständig, erwähnt aber nicht die Voraussetzungen von Art. 16a
Abs. 1 GG, § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylG und demzufolge auch wie das Bundesamt den Begriff der
politischen Verfolgung nicht. Damit wird der Beschwerdeführer durch beide Entscheidungen
in seinem Grundrecht aus Art. 16a Abs. 1 GG verletzt. Darüber hinaus verletzen beide
Entscheidungen die bei der Anwendung von § 30 Abs. 1 AsylG vom
Bundesverfassungsgericht als unabdingbar aufgestellte besondere Begründungspflicht und
verletzt damit Art. 19 Abs. 4 GG (BVerfGE 67, 43 (62 f.) = EZAR 632 Nr. 1 = InfAuslR
1984, 215; BVerfGE 71, 276 (292 f.) = EZAR 613 Nr. 16 = BVerfG, (Kammer), InfAuslR
13
1992, 257 (258); BVerfG, (Kammer), InfAuslR 1993, 146 (148 f.); BVerfG, (Kammer),
InfAuslR 1994, 41 (42)) .
2. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass ein manipuliertes Strafurteil ein
Instrument politischer Verfolgung sein kann (BVerfGE 63, 197 (207)). Nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes spricht im Falle des Beschwerdeführers viel
für eine politische Verfolgung. Dies ist der Fall, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die
Strafverfolgung nicht auf die Ahndung von Übergriffen auf Rechtsgüter anderer Bürger zielt,
sondern eine Bestrafung allein deshalb erfolgt, weil der Betroffene für die politischen Ziele
einer oppositionellen Gruppierung eingetreten ist (BVerfG (Kammer) InfAuslR 1991, 97;
BVerfG (Kammer) InfAuslR 1992, 215). Darüber hinaus stellt nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichtes die Verfolgung wegen eines Staatsschutzdeliktes bzw.
Terrorismus wie hier, grundsätzlich politische Verfolgung dar. Die Verfolgung von Taten, die
sich gegen politische Rechtsgüter richten, stellen sich zwar dann nicht als politische
Verfolgung dar, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass diese nicht der mit
dem Delikt betätigten politischen Überzeugung als solche gilt, sondern einer in solchen Taten
zum Ausdruck gelangenden zusätzlichen kriminellen Komponente, deren Strafwürdigkeit in
der Staatenpraxis geläufig ist. Die Äußerung oder Betätigung kritischer, auch staatsfeindlicher
politischer Überzeugung als solche bleibt aber im Schutzbereich des Asylrechts (BVerfGE 80,
315 (338)).
a) Im fachgerichtlichen Verfahren wurde darauf hingewiesen, dass die Staatsanwaltschaft
Kayseri die Zulassung der Anklage gegen den Beschwerdeführer und andere wegen
Mitgliedschaft in der Al Qaida im Zeitraum von 2013 bis 2016 beantragt hat. Der gegen den
Beschwerdeführer erhobene Strafvorwurf beruht jedoch offensichtlich auf manipulierten bzw.
auf überhaupt keinen Beweisen. In diesem Zusammenhang wendet das Verwaltungsgericht
ein, es vermöge diesem Vorbringen bereits deshalb nicht zu folgen, weil der
Beschwerdeführer lediglich die ersten drei Seiten der Anklageschrift vorgelegt habe. Wegen
Verletzung der Mitwirkungspflicht brauche das Gericht daher auch nicht dem Beweisantrag
auf Einholung einer amtlichen Auskunft zu diesem Verfahren nachzugehen (s. hierzu im
Einzelnen im Abschnitt V).
14
Der Beschwerdeführer hat hierzu während der persönlichen Anhörung im Asylverfahren am
21. August 2017 darauf hingewiesen, dass er die Anklageschrift erst am Tag der Anhörung
gesehen habe. Hätte es diese nicht gegeben, hätte ihn Rechtsanwalt Pfaff, der ihn im
Asylverfahren vertritt, nicht empfohlen, einen Asylantrag zu stellen (Anhörungsniederschrift,
S. 3, 6, Anlage Nr. 8). Der Strafverteidiger Ali Aydin, der den Beschwerdeführer im
Strafverfahren vor dem Kammergericht vertreten hat, hat mich am 25. September 2017
darüber informiert, dass dem Beschwerdeführer die Anklageschrift weder in der
Bundesrepublik Deutschland noch in der Türkei zugestellt worden sei. Ihm sei ein
Rechtsanwalt beigeordnet worden, ohne dass er überhaupt von einem Verfahren Kenntnis
erlangt habe. Rechtsanwalt Aydin hat erst durch ihm zugängliche Quellen in der Türkei von
diesem erfahren. Er habe daraufhin den türkischen Verteidiger des Beschwerdeführers
ermittelt. Dieser sei jedoch nicht verpflichtet, mit ihm über das Verfahren zu reden, da er nach
türkischen Recht nicht bevollmächtigt sei. Anwälte in der Türkei würden nur rechtmäßig
bevollmächtigt, wenn die Anwaltsvollmacht notariell unterzeichnet sei.
Nunmehr ist es Rechtsanwalt Aydin gelungen, die vollständige Fassung der Anklageschrift
(Anlage Nr. ?) zu beschaffen. Diese wurde mir am 27. September 2017 übermittelt.
Rechtsanwalt Aydin weist darauf hin, dass er den türkischen Verteidiger sehr lange
wiederholt und nachdrücklich, aber erfolglos um eine Zusendung der vollständigen Fassung
gebeten habe. Erst nachdem ein Bekannter des Beschwerdeführers den Verteidiger persönlich
aufgesucht und darum gebeten habe, habe dieser die vollständige Fassung der Anklageschrift
letzte Woche als Word-Dokument übermittelt. Die vollständige Fassung der Anklageschrift in
türkischer Fassung wird hiermit vorgelegt (Anlage Nr. 15). Zugleich wird eine deutsche
Übersetzung der Passagen, die den Beschwerdeführer betreffen (Anlage Nr. 16), vorgelegt.
Zwar ist die Übersetzung unzulänglich. Aufgrund der zeitlichen Dringlichkeit kann jedoch
eine korrekte Übersetzung derzeit nicht vorgelegt werden. Dies wird nachgeholt werden. Für
eine Manipulation des gegen den Beschwerdeführer gerichteten Strafvorwurfs spricht, dass
keine der in der Anklageschrift bezeichneten Personen im Urteil des Kammergerichtes
erwähnt werden.
b) Rechtsanwalt Pfaff hat während der persönlichen Anhörung im Asylverfahren geltend
gemacht, dass nach der Anklageschrift alle Angeklagten aus Kayseri stammten und der
15
Beschwerdeführer ihm gegenüber erklärt habe, dass er keinen der Angeklagten kenne und
sich nicht erklären könne, warum er in Verbindung mit den anderen Angeklagten gebracht
werde (Anhörungsniederschrift, S. 5). Hierzu war im asylrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren
erklärt worden (Anlage Nr. 9), dass in dem dem Beschwerdeführer zugänglichen Teil der
Anklageschrift nicht im Ansatz aufgezeigt werde, dass er im Zusammenwirken mit den
anderen Angeklagten strukturiert und organisiert auf die Begehung von Verbrechen
hingearbeitet habe. Allein dies spreche schon gegen eine Mitgliedschaft in einer
terroristischen Vereinigung. Ein manipulierter Strafvorwurf sei aber ein gewichtiges Indiz
dafür, dass mit den Mitteln des Strafrechts in Wahrheit Verfolgung aus politischen Gründen
ausgeübt wird (BVerfGE 63, 197 (206)).
Angesichts der Tatsache, dass nach Aktenlage den türkischen Behörden die Verurteilung des
Beschwerdeführers durch das Kammergericht bekannt ist, sprechen diese Umstände dafür,
dass aus Anlass dessen Verurteilung in Deutschland in der Türkei ein Strafvorwurf konstruiert
wurde. Darüber hinaus spricht für eine Manipulation des Strafvorwurfs, dass die
Staatsanwaltschaft Kayseri in der Anklageschrift dem Beschwerdeführer die Mitgliedschaft in
der Al Qaida im Zeitraum von 2013 bis 2016 vorwirft. Für Auslieferungsersuchen gegen
türkische Staatsangehörige trifft dies häufig zu (so bereits BVerfGE 63, 197 (??) = EZAR 150
Nr. 3 = NJW 1983, 1723 = InfAuslR 148; zur aktuellen Rechtsanwendungspraxis
Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 20. 9.2016 – (1 53 AusLA 21/16,
11/16, Anlage Nr. 10).
c) Schließlich spricht für eine Manipulation des Strafvorwurfs und damit für eine in Wahrheit
gezielte Verfolgung aus politischen Gründen, dass das zu erwartende politische Strafverfahren
gegen den Beschwerdeführer gegen grundlegende Grundsätze eines rechtsstaatlichen und
fairen Verfahrens verstößt. Rechtsanwalt Pfaff hatte in seinem Schriftsatz an den Hessischen
Verwaltungsgerichtshof vom 22. Juli 2017 (Anlage Nr. 11), der dem Bundesamt mit
Schriftsatz vom 20. August 2017 vorgelegt wurde, auf den Lagebericht des Auswärtigen
Amtes vom 12. Juli 2017, S. 16 hingewiesen. Danach stellt das Auswärtige Amt fest, dass
anders als in Fällen gemeiner Kriminalität bei Verfahren mit politischen Strafvorwürfen bzw.
Terrorismusbezug unabhängige Verfahren kaum bzw. nicht durchgängig gewährleistet sind.
Mit unabhängigen Verfahren ist wohl gemeint, dass die Justiz nicht unabhängig ist.
16
Dass die Justiz in der Türkei nicht unabhängig ist, ergibt sich bereits aus den gegen deutsche
Staatsangehörige durchgeführten Verfahren sowie aus der massenweisen Verfolgung von
Journalisten, die kritisch über die Politik der AKP-Regierung berichten, wie aber auch bei der
Durchführung von politischen Strafverfahren. Hierzu wird ein Beitrag aus dem Anwaltsblatt
2017, S. 876 vorgelegt (Anlage Nr. 12). Danach haben die türkische Rechtsanwältin Ayse
Bingöl und Dr. Zeynep Kivilcim die aktuelle Lage der türkischen Justiz anschaulich und
eindringlich dargestellt. Beide Juristen schildern den Rechtsstaat in der Türkei unter der
Geltung der nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 erlassenen Notstandsgesetze als
faktisch nicht mehr existent. Es fehle ein Zugang der Rechtsanwälte zu ihren Mandanten und
grundlegender Zugang der Bürger zum Recht. Hierauf hatte der Beschwerdeführer in seiner
persönlichen Anhörung beim Bundesamt hingewiesen. Nach den Erklärungen von Ayse
Bingöl und Dr. Zeynep Kivilcim können im Strafverfahren Akten nicht eingesehen werden
und werden Mandantengespräche, wenn sie denn überhaupt ermöglicht werden, per Video
überwacht.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit und auch aktuell
in einer Vielzahl von Verfahren festgestellt, dass in der Türkei in politischen und
Militärgerichtsverfahren den nach Art. 6 EMRK maßgeblichen Grundsätze eines fairen
Verfahrens zuwider gehandelt wird. Auch dies spricht dafür, dass die türkischen
Strafverfolgungsbehörden deshalb gegen den Beschwerdeführer vorgehen, weil sie ihm eine
gegen das herrschende Regime gerichtete politische Meinung unterstellen. In der
Entscheidung Ölalp, in der ein Herausgeber und Redakteur der Zeitschrift „Azadiya Welat“
wegen kritischer Berichte und der Forderung nach einer Amnestie für kurdische Kämpfer
verurteilt worden war, hat der Gerichtshof wegen der Verletzung der Grundsätze eines fairen
Verfahrens die Türkei nach Art. 6 EMRK verurteilt (EGMR, Urteil vom 18. Juli 2017 – Nr.
4853/07 und 53717/07 – Zilpzalp).
3. Das Bundesamt wie auch das Verwaltungsgericht wenden ein, dass der Beschwerdeführer
den Ausschlusstatbestand des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG erfülle. Das Verwaltungsgericht
verweist zusätzlich auf § 30 Abs. 4 AsylG, wonach ein Asylantrag offensichtlich unbegründet
sei, wenn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt seien und der
17
Beschwerdeführer durch das Kammergericht zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und
sechs Monaten verurteilt worden sei (BA, S. 4 f.).
a) § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylG liegt Art. 12 Abs. 2 Buchst b) RL 2011/95/EU und diesem Art. 1 F
Buchst. b) GFK zugrunde. Es handelt sich damit um einen Ausschlusstatbestand bezogen auf
den geltend gemachten Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Diesem liegt
der Gedanke der Schutzunwürdigkeit zugrunde. § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG bezieht sich
stillschweigend auf Art. 33 Abs. 2 GFK, der im Asylverfahren gegen den Asylsuchenden
eingewandt werden kann. Dieser stellt aber nach Völkerrecht keinen Ausschlusstatbestand
dar. Vielmehr erlaubt er, einen anerkannten Flüchtling in das Herkunftsland abzuschieben und
durchbricht damit den Refoulementschutz (Abschiebungs-, Ausweisungs- und Schutz vor
Zurückweisung) nach Art. 33 Abs. 1 GFK. Allerdings ist in diesem Fall stets die absolute
Schutzwirkung von Art. 3 EMRK zu beachten, der damit deutlich über die Schutzwirkung
von Art. 33 GFK hinausgeht (EGMR, EZAR 933 Nr. 4 = NvwZ 1997, 1093 = InfAuslR 1997,
97 – Chahal; EGMR, InfAuslR, 279 (281) = NVwZ1997, 1100 = EZAR 933 Nr. 5 - Ahmad).
Zwar erlaubt der vom Unionsrecht vorgegebene Ausschlusstatbestand des § 3 Abs. 2 Satz 1
Nr. 2 AsylG die Versagung des begehrten Flüchtlingsstatus. § 30 Abs. 4 AsylG stimmt jedoch
mit Art. 14 Abs. 4 RL 2011/95/EU nicht überein, weil diese Norm nicht der Schutzgewährung
von vornherein entgegensteht, sondern lediglich deren Aberkennung erlaubt. Es ist daher
fraglich, ob § 3 Abs. 4 Hs. 2 AsylG in Verb. mit § 60 Abs. 8 AufenthG mit Völkerrecht und
Unionsrecht übereinstimmt. Letztlich kann eine Entscheidung dieser Frage jedoch
dahinstehen, weil dem Asylrecht des Art. 16a Abs. 1 GG ein „Ausschluss sogenannter
Asylunwürdiger fremd“ ist (BVerwGE 67, 184 (192) = NVwZ 1983, 674 = InfAuslR 1083,
228 zu Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG 1949; s. hierzu auch EuGH, InfAuslR 2011, 40 (43) Rdn.
113 ff.- B. und D.) Zwar hat das Bundesverfassungsgericht sich zu dieser Frage bislang nicht
geäußert. Es trägt dem Gedanken der Schutzunwürdigkeit aber im Rahmen der Prüfung
Rechnung, ob die Voraussetzungen des Begriffs der politischen Verfolgung vorliegen.
b) Im Ausgangspunkt ist zunächst davon auszugehen, dass vorliegend wegen des
offensichtlich manipulierten Strafvorwurfs gegen den Beschwerdeführer die Voraussetzungen
des Tatbestands der politischen Verfolgung vorliegen. Die Straftat der Zugehörigkeit zu einer
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terroristischen Vereinigung ist ein gegen den Bestand des Staates und seine Einrichtungen
gerichtetes, also ein „politisches Delikt“. Nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichtes bildeten die Auslieferungsverbote des 19. Jahrhunderts
zugunsten politischer Straftäter, also Strafträter, die ihre politische Überzeugung betätigt und
hierbei gegen Strafgesetzes verstoßen hatten, mit denen ihr Heimatstaat seine politische
Grundordnung und seine territoriale Integrität verteidigte, den „Kernbestand des Asylrechts”.
Der Parlamentarische Rat habe als ganz selbstverständlilch angenommen, dass poilitische
Straftäter, soweit ihnen Auslieferungsschutz zu gewähren sei, grundsätzlich auch
asylberechtigt seien (BVerfGE 80, 341 (336) = EZAR 201 Nr. 20 = NVwZ 1990, 151 =
InfAuslR 1990, 21; BVerfGE 81, 142 (152) =EZAR 200 Nr. 26 = NvwZ 1990, 453 =
InfAuslR 1990, 167). Das Bundesverwaltungsgericht hatte bereits zuvor festgestellt, dass die
Verfolgung wegen einer politischen Straftat „immer nur politische Verfolgung im Sinne des
Asylrechts” sei (BVerwGE 67, 184 (190) = NVwZ 1983, 674 = InfAuslR 1083, 228), wenn
und weil sie in Anwendung des Strafrechts erfolgten.
c) Zwar wird dem Beschwerdeführer vom türkischen Staat vorgeworfen, Mitglied einer
terroristischen Vereinigung zu sein und hat das Bundesverfassungsgericht eine Grenze der
Asylverheißung gezogen, wenn der Asylsuchende seine politische Überzeugung unter Einsatz
terroristischer Mittel betätigt hat (BVerfGE 80, 341 (339) = EZAR 201 Nr. 20 = NVwZ 1990,
151 = InfAuslR 1990, 21; BVerfGE 81, 142 (152) = EZAR 200 Nr. 26 = NVwZ 1990, 453 =
InfAuslR 1990, 167). Dies wird dem Beschwerdeführer nach der Anklageschrift der
Staatsanwaltschaft Kayseri aber nicht vorgeworfen, vielmehr – losgelöst von konkreten
terrroristischen Handlungen – seine angebliche Zugehörigkeit zur Al Qaida. Das
Kammergericht hat den Beschwerdeführer wegen Unterstützung einer terroristischen
Vereinigung im Ausland in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Betrug,
verurteilt und begründet dies im Wesentlichen damit, dass er zur Vorbereitung seiner Reise
nach Syrien bei der Frankfurter Sparkasse einen bestimmten Geldbetrag zwecks
Unterstützung der terroristischen Vereinigung Junud al-Sham abgehoben, sich dort elf Tage
aufgehalten, seine Frankfurter Freunde getroffen und regelmäßigen Kontakt mit
verschiedenen Bewohnern eines syrischen Dorfes und Mitgliedern der bezeichneten
Vereinigung gehabt habe (KG, Urteil vom 6. Juli 2015 – (1) 2 StE 7/14-4 (1/15), UA, S. 2,
Anlage Nr. 13).
19
Dieses Verhalten wird zwar nach deutschem Recht als Unterstützung einer terroristischen
Vereinigung im Ausland gewertet. Als Betätigung seiner politischen Überzeugung unter
Einsatz terroristischer Mittel können diese Verhaltensweisen des Beschwerdeführers aber
nicht gewertet werden. Denn es fehlt ein sachbezogener Zusammenhang zwischen diesen
Handlungen und einer konkreten terroristischen Tat (s. hierzu auch § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG).
Auch soweit ihm eine Nachrichtenübermittlung zwischen Personen im Bundesgebiet und
Mitgliedern der Vereinigung vorgeworfen wird, wurde nicht festgestellt, dass diese der
Vorbereitung, Durchführung oder Nachbereitung einer oder mehrerer terroristischer
Handlungen dienten.
Im Ergebnis kann die Frage, ob in diesen Handlungen ein “Einsatz terroristischer Mittel”
gesehen werden kann, aber dahinstehen, weil die türkischen Behörden diese offensichtlich
nicht zum Anlass der Verfolgung des Beschwerdeführers nehmen. Denn nach den
Feststellungen des Kammergerichtes hat er diese Handlungen im Juni 2013 begangen,
während die Staatsanwaltschaft Kayseri ihm die Mitgliedschaft in einer terroristischen
Vereinigung bezogen auf den Zeitraum von 2013 bis 2016 vorwirft, er aber seit dem 31. März
2013 bis heute im Bundesgebiet in Haft ist. Verfolgt der türkische Staat den
Beschwerdeführer aber nicht wegen einer vom Bundesgebiet ausgehenden und im Ausland
fortgesetzten Handlung, sondern wegen einer nicht substanziierten Zugehörigkeit zu einer
terroristischen Vereinigung und bleibt dabei unklar, welchen territorialen Anknüpfungspunkt
diese hat, kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer wegen eines
Verhaltens verfolgt wird, das nach deutschem Recht strafbar ist. Es bleibt somit dabei, dass
die Verfolgung des Beschwerdeführers nicht auf den bereits abgeurteilten Sachverhalt
bezogen ist, sondern er vom türkischen Staat mit offensichtlich manipulierten Strafvorwüfen
aus politischen Gründen verfolgt wird. Die ihm in der Türkei drohende Verfolgung zielt also
nicht auf ein Verhalten, durch das die Grenze der Asylverheißung überschritten wird. Ihm
droht damit in der Türkei politische Verfolgung.
d) Der Behördenbescheid und der Eilrechtsbeschluss gehen davon aus, dass im Falle des
Beschwerdeführers die Voraussetzungen von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG, also von Art. 12
Abs. 2 Buchst. b) BRL 2011/95/EU und damit von Art. 1 F Buchst. b) GFK (s. oben)
20
vorliegen. Allgemein wird in der völkerrechtlichen Literatur davon ausgegangen, dass die
Betonung auf nichtpolitisch in Art. 1 F Buchst. b) GFK nahelege, „politische Delikte“ im
Sinne des Auslieferungsrechts nicht in den Anwendungsbereich dieser Norm einzubeziehen
(Goodwin Gill/McAdam, The Refugee in International Law, 3. Aufl., 2007, S. 173- 176;
Hathaway/Foster, The Law of Refugee Status, 2. Aufl., 2014, S. 554 ff., mit Hinweisen auf
die Rechtsprechung der Vertragsstaaten der GFK; Zimmermann, DVBl 2006, 1478 (1483)).
Soweit in beiden Entscheidungen die Begründung für die Anwendung des § 3 Abs. 2 Satz 1
Nr. 2 AsylG auf die Verurteilung des Beschwerdeführers durch das Kammergericht gestützt
wird, (Behördenbescheid, S. 3; Gerichtsbeschluss, S. 5), wird verkannt, dass es – wie
ausgeführt – auf die Strafgesetze ankommt, mit denen der Heimatstaat seine politische
Grundordnung und seine territoriale Integrität verteidigt (BVerfGE 80, 341 (336) = EZAR
201 Nr. 20 = NVwZ 1990, 151 = InfAuslR 1990, 21; BVerfGE 81, 142 (151) = EZAR 200
Nr. 26 = NvwZ 1990, 453 = InfAuslR 1990, 167) also auf die in der Anklageschrift der
Staatsanwaltschaft Kayseri verfolgten Schutz des Bestandes des türkischen Staates und seiner
territorialen Integrität. Das Bundesverwaltungsgericht hat für die Anwendung von § 51 Abs. 1
AuslG (1990), also nach heutigem Recht von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in Verb. mit § 3
Abs. 4 Hs. 1 AsylG, auf den Verstoß gegen Straftaten des Herkunftsstaates abgestellt
(BVerwGE 109, 25 (27) = EZAR 043 Nr. 32 = NVwZ 1999, 1353 = InfAuslR 1999, 371;
BVerwGE 109, 12 (16) = EZAR 2000 Nr. 34 = NvVZ 1999, 1349 = InfAuslR 1999, 366).
Den Entscheidungen lagen Sachverhalte zugrunde, bei denen aufgrund der im Bundesgebiet
betätigten politischen Überzeugung der Herkunftsstaat den Betroffenen mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit verfolgt. Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits zuvor seiner
Rechtsprechung diesen rechtlichen Ansatz zugrunde gelegt (BVerfG 81, 142 (149) = EZAR
200 Nr. 26 = NvwZ 1990, 453 = InfAuslR 1990, 938). Es kann aber nicht erkannt werden,
dass der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Kayseri diese Intention zugrundeliegt, weil sie
sich nicht auf die Zeit vor 2013, sondern auf die zeitliche Periode von 2013 bis 2016 bezieht.
Aufgrund dessen kommt bereits im Ansatz eine Ausnahme vom Grundsatz, dass die
Verfolgung wegen politischer Delikte zugleich eine politische Verfolgung darstellt, nicht in
Betracht.
e) Selbst wenn die türkischen Verfolgungsorgane dem Beschwerdeführer zu Recht den
Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung machen sollten, ist zu bedenken,
21
dass Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt
Aktionen des bloßen Gegenterrors, also den Einsatz brutaler Gewalt sowie besonders harte
und brutale Übergriffe im Gegenzug zu den Aktionen des Terrorismus rechtfertigen. Dies
wird angenommen, wenn diese Maßnahmen darauf gerichtet sind, die an einem Konflikt nicht
unmittelbar beteiligte zivile Bevölkerung – im Gegenzug zu den Aktionen des Terrorismus –
unter den Druck brutaler Gewalt zu setzen (BVerfGE 80, 315 (339) = EZAR 201 Nr. 20 =
NVwZ 1990, 151 = InfAuslR 1990, 21). Diese Ausnahme zielt wohl eher auf Maßnahmen,
die im Zuge bewaffneter Konflikte gegen die an diesem nicht unmittelbar beteiligte
Zivilbevölkerung durchgeführt werden, können jedoch auch auf Situationen – wie im Falle
des Beschwerdeführers – gemünzt sein, in denen auf terroristische Bedrohungen mit
manipulierten Strafvorwürfen gegen unbeteiligte zivile Personen reagiert wird. Auch wenn
eine derartige Annahme nicht zutreffen sollte, schlägt hier die dem Beschwerdeführer
drohende strafrechtliche deshalb in eine politische Verfolgung um, weil er – wie ausgeführt –
in der Polizeihaft mit überwiegender Wahrscheinlichkeit unmenschliche Behandlung
befürchten muss, die über das Maß hinausgeht, das in den türkischen Gefängnissen Personen
zu befürchten haben, die dort wegen krimineller Delikte inhaftiert sind (BVerfG 81, 142 (151)
= EZAR 200 Nr. 26 = NvwZ 1990, 453 = InfAuslR 1990, 938; BVerfG (Kammer), InfAuslR
1996, 318 (321); BVerfG (Kammer); InfAuslR 1991, 25 (28); BVerfG (Kammer), NVwZ
1991, 772).
Im Übrigen lassen objektive Umstände darauf schließen, dass der Beschwerdeführer wegen
eines asylerheblichen Merkmals verfolgt wird (Politmalus). Hierzu hat das
Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass dies insbesondere dann zu vermuten ist, wenn der
Betroffene eine Behandlung erleidet, die härter ist als die sonst zur Verfolgung ähnlicher –
nichtpolitischer – Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit im Verfolgerstaat Übliche
(BVerfGE 80, 315 (337, 339f.) = EZAR 201 Nr. 20 = NVwZ 1990, 151 = InfAuslR 1990,
21). Ergibt sich, dass das ihm drohende Strafverfahren – wie für den Fall des
Beschwerdeführers ausgeführt – keine Unterstützungshandlungen zugunsten konkreter
terroristischer Aktivitäten zum Gegenstand hat, ist die Asylversagung nicht gerechtfertigt
(BVerfG (Kammer), InfAuslR 1991, 97 (99)). Vielmehr sind Feststellungen gefordert, die
hinreichend deutlich eine Teilnahme im strafrechtlichen Sinne an Terror- oder
Unterstützungshandlungen zugunsten terroristischer Aktivitäten ergeben (BVerfG (Kammer),
22
InfAuslR 1991, 257 (260)). Derartige Feststellungen hat aber das Bundesamt nicht getroffen.
Darüber hinaus haben das Bundesamt und auch das Verwaltungsgericht den aufgezeigten
rechtlichen Zusammenhang zwischen der dem Beschwerdeführer drohenden Folter und damit
der Anknüpfung an ein asylerhebliches Merkmal nicht beachtet.
f) Der türkische Staat verfolgt den Beschwerdeführer auch wegen seiner abweichenden
politischen Überzeugung. Mangels Kenntnis der konkreten Umstände, die den Strafvorwurf
begründen, kann zwar nicht festgestellt werden, ob die Verfolgung des Beschwerdeführers
wegen Taten, die sich gegen politische Rechtsgüter richten, deshalb keine politische
Verfolgung ist, weil sie einer in diesen zum Ausdruck kommenden zusätzlichen kriminellen
Komponente gilt (BVerfGE 80, 315 (338) = EZAR 201 Nr. 20 = NVwZ 1990, 151 =
InfAuslR 1990, 21). Da hier jedoch offensichtlich auf der Grundlage manipulierter
Strafvorwürfe gegen den Beschwerdeführer vorgegangen wird, können die hierfür
erforderlichen Feststellungen nicht getroffen werden, sodass die Verfolgung wegen der ihm
unterstellten Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung gegen die abweichende
politische Überzeugung des Beschwerdeführers gerichtet ist. Zwar zielt die Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichtes auf den Straftäter, der seine politische Überzeugung betätigt
und hierbei gegen Strafgesetzes verstoßen hat (BVerfGE 80, 341 (338 ff.) = EZAR 201 Nr. 20
= NVwZ 1990, 151 = InfAuslR 1990, 21). Es kommt jedoch darauf an, ob der Herkunftsstaat
zu politischen Verfolgungsmaßnahmen greift, auch wenn das Vorhandensein einer politischen
Überzeugung für den Herkunftsstaat noch nicht erkennbar in Erscheinung getreten ist, Träger
dieser Überzeugung im Herkunftsstaat aber politische Verfolgung erleiden (BVerwGE 55, 82
(85) = EZAR 201 Nr. 3 = NJW 1978, 2463). Auch das Bundesverfassungsgericht stellt auf die
Verfolgung wegen des Verdachts einer abweichenden politischen Überzeugung ab und so
kommt dieser Ansatz auch in § 3b Abs. 2 AsylG in Umsetzung von Art. 10 Abs. 2 RL
2011/95/EU zum Tragen.
III.
Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG
Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie der
Beschluss des Verwaltungsgerichtes Gießen vom 21. September 2017 verletzen den
23
Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 19 Abs. 4 GG, weil im Hinblick auf die
beantragte Asylberechtigung die Ablehnung überhaupt nicht und im Blick auf die qualifizierte
Antragsablehnung im Übrigen die Entscheidungen die besondere Begründungspflicht nicht
beachtet haben (Abschnitt 1) sowie darüber hinaus der bezeichnete Eilrechtsbeschluss und
auch der Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes vom 31. August 2017 einen für
das summarisch ausgerichtete Eilrechtsschutzverfahren zu hohen Maßstab an die
Darlegungsanforderungen sowie die maßgeblichen materiellen Voraussetzungen der
begehrten Antragsziele angelegt haben (Abschnitt 2).
1. a) Wie bereits im Antrag auf Erlass einer Schiebeanordnung vorgebracht wurde, verletzt
der Behördenbescheid Art. 16a Abs. 1 GG auch deshalb, weil er in seiner Begründung nicht
klar erkennen lässt, weshalb der Asylantrag nicht als schlicht unbegründet, sondern als
offensichtlich unbegründet abgelehnt worden ist (BVerfGE 67, 43 (57); 71, 276 (293 f.);
BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1046; BVerfG (Kammer), Beschluss vom 7. November
2008 – 2 BvR 629/06 – BeckRS 2008, 41129). Das Verwaltungsgericht sieht über diesen
verfassungsrechtlichen Mangel hinweg, obwohl er im Eilrechtsschutzantrag ausdrücklich
gerügt wurde (Anlage Nr. 9, 2 ff.). Die Ablehnung des Antrags auf Feststellung der
Asylberechtigung wurde überhaupt nicht begründet. Die Behörde behauptet lapidar, dass die
Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes und die Anerkennung als
Asylberechtigter (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) nicht vorliegen, begründet dies im unmittelbaren
Anschluss an diese Feststellung aber ausschließlich mit auf die Ablehnung der Zuerkennung
des internationalen Schutzes (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) gerichteten Ausführungen. Da der
Beschwerdeführer im Bundesgebiet geboren wurde und seit seiner Geburt im Bundesgebiet
lebt, können die Voraussetzungen von Art. 16a Abs. 2 GG in Verb. mit § 26 AsylG von
vornherein nicht vorliegen. Das Verwaltungsgericht wiederholt die entsprechenden
Ausführungen im Bescheid des Bundesamtes und behandelt ebenfalls nicht die für Ablehnung
des Antrags auf Feststellung der Asylberechtigung erforderlichen Voraussetzungen (BA, S. 4
ff.).
b) Der besonderen Begründungspflicht wird der bloß formelhafte Hinweis – wie vorliegend –
auf die Offensichtlichkeit der Unbegründetheit des Asylbegehrens nicht gerecht (BVerfGE
71, 43 (57); BVerfG (Kammer), InfAuslR 1993 (148 f.); BVerfG (Kammer), InfAuslR
24
1994/41 (42); BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1046; BVerfG (Kammer), Beschluss vom 7.
November 2008 – 2 BvR 629/06 – BeckRS 2008, 41129). Diese vom
Bundesverfassungsgericht für die qualifizierte Klageabweisung nach § 78 Abs. 1 AsylG
entwickelten Grundsätze gelten auch für das Verwaltungsverfahren und damit für § 30 AsylG
(Hailbronner, Ausländerrecht, § 78 AsylG Rdn. 32; Marx, Kommentar zum AsylG, 9. Aufl.,
2017, § 30 Rdn. 33). Was bereits für das – gerichtliche – Kontrollverfahren gilt, muss erst
recht für den Gegenstand dieses Überprüfungsverfahrens, das Asylverfahren, gelten.
Erforderlich ist eine detaillierte Auseinandersetzung mit den materiellen Kriterien des
Offensichtlichkeitsbegriffs anhand der Umstände des konkreten Einzelfalles (BVerfG
(Kammer), Beschluss vom 23. 2.1989 – 2 BvR 1415/88).
Zwar hat das Bundesamt vorliegend den Asylantrag nach Maßgabe des § 30 Abs. 4 AsylG als
offensichtlich unbegründet abgelehnt. Aber auch in diesem Fall ist eine besonders sorgfältige
Auseinandersetzung mit den Kriterien des § 3 Abs. 2 AsylG in Verb. mit § 60 Abs. 8 Satz 2
AufenthG und eine dementsprechende besondere Begründung erforderlich. Demgegenüber
erschöpfen sich die Ausführungen in den angegriffenen Entscheidungen überwiegend in der
Wiedergabe des Textes der Normen § 60 Abs. 8 AufenthG und § 3 Abs. 2 und § 4 Abs. 2
AsylG und erwähnen Geldleistungen des Beschwerdeführers, ohne diese hinsichtlich des
Verwendungszweckes zu spezifizieren. Die angeführte Sachleistung wird im Urteil des
Kammergerichtes (UA, S. 25 ff.) nicht erwähnt. Das Bundesamt und das Verwaltungsgericht
stützen sich für die Anwendung des § 3 Abs. 2 bzw. § 4 Abs. 2 AsylG ausschließlich auf das
Urteil des Kammergerichtes, ohne eigene Feststellungen zu treffen. In der Anhörung des
Beschwerdeführers am 21. August 2017 (Anlage Nr. 8) wurde dieser Sachkomplex überhaupt
nicht aufgeklärt.
c) Die Behörde mag sich zwar für ihre Entscheidung auf strafrichterliche Feststellungen
beziehen. Diese entfalten indes für das Verwaltungsverfahren keine Bindungswirkung,
ersetzen damit für die Behördenentscheidung nicht eigene Feststellungen. Nach der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes haben strafrichterliche Feststellungen
lediglich Indizwirkung für die ausweisungsrechtliche Prognose (BVerwG, InfAuslR 2013,
217 (219) = EZAR NF 19 Nr. 64). Das Bundesverfassungsgericht erachtet hingegen eine
Abweichung von strafrichterlichen Feststellungen nur dann für zulässig, wenn die
25
Ausweisungsbehörde über bessere oder zusätzliche Möglichkeiten zur Beurteilung des
Sachverhalts verfügt (BVerfG (Kammer), NVwZ 2011, 35 (37)). Es liegt nahe, diese für das
gefahrenabwehrrechtlich ausgerichtete Ausweisungsrecht entwickelten Grundsätze auch auf
das Asylverfahren anzuwenden, weil jedenfalls der Ausschlussgrund des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr.
2, § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG und § 60 Abs. Satz 1 und 3 AufenthG in Anlehnung an Art.
1 F Buchst. b) bzw. Art. 33 Abs. GFK präventiven gefahrenabwehrenden Charakter hat.
Die Behörde erwähnt lediglich das Urteil des Kammergerichtes und gibt dessen Inhalt in
lediglich einem Satz wieder und – wie erwähnt – im Hinblick auf die „Sachleistungen in Form
eines Geländewagens“ darüber hinaus unzutreffend. Sofern grundsätzlich von einer
Bindungswirkung der strafrichterlichen Feststellungen ausgegangen wird, setzt sich die
Behörde damit über diese hinweg, ohne hinreichend deutlich zu machen, woher sie ihre
zugrundeliegenden Erkenntnisse hat. Darüber hinaus erwähnt sie Nr. 2 von § 3 Abs. 2 Satz 1
AsylG, behandelt dessen Voraussetzungen nachfolgend jedoch nicht. Das Verwaltungsgericht
setzt sich ausschließlich mit den Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG
auseinander (BA, S. 5 f.) und behandelt § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG ebenfalls nicht. Wenn
auch hinsichtlich der alternativen Wirkung der Ausschlussgründe des § 3 Abs. 2 Satz 1, § 4
Abs. 2 Satz 1 AsylG die Anwendung lediglich eines von diesen die Entscheidung
grundsätzlich zu tragen mag, rechtfertigt dies grundsätzlich aber lediglich die einfach
unbegründete Ablehnung des Asylantrags.
d) Zwar knüpft der Gesetzgeber die Verpflichtung zur qualifizierten Antragsablehnung an das
Vorliegen der Voraussetzungen von § 3 Abs. 2 AsylG oder von § 60 Abs. 8 AufenthG (§ 30
Abs. 4 AsylG). Es ist aber fraglich, ob dadurch das Bundesamt und die Verwaltungsgerichte
von der besonderen Begründungspflicht befreit werden. Hiergegen spricht, dass nach § 3 Abs.
2 Satz 1 Hs. 1 und § 4 Abs. 2 Satz 1 Hs. 1 AsylG erforderlich ist, dass „aus schwerwiegenden
Gründen die Annahme gerechtfertigt ist“, dass einer der nachfolgenden Ausschlussgründe
vorliegt. Hierzu sind jedoch besondere Feststellungen geboten, die sich nicht lediglich in der
Wiedergabe der entsprechenden Normen und einer kurzen Bezugnahme auf ein
strafrichterliches Urteil beziehen dürfen. Insbesondere im Hinblick auf den hohen
verfassungsrechtlichen Rang des Asylrechts und des internationalen Schutzes sowie des
gefährdeten Rechts auf Leben und der körperlichen und psychischen Unversehrtheit (Art. 2
26
Abs. 2 Satz 1 GG) einerseits und der tiefgreifenden Auswirkungen der Ausschlussgründe in
die Rechte des Betroffenen andererseits bedarf die qualifizierte Antragsablehnung für die
Anwendung des § 30 Abs. 4 AsylG einer besonderen Begründung (BVerfG (Kammer),
NVwZ 2007, 1046; BVerfG (Kammer), Beschluss vom 7. November 2008 – 2 BvR 629/06 –
BeckRS 2008, 41129), die über die lediglich formelhafte Wiedergabe des Normtextes und der
kurzen Bezugnahme auf strafrichterliche Feststellungen erschöpfen darf. Das
Bundesverfassungsgericht bezieht diese Anforderungen nicht ausschließlich auf die
Asylberechtigung und den Flüchtlingsschutz, sondern darüber hinaus auch auf das Recht auf
Leben sowie körperliche und psychische Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG
(BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1046). Dieses ist hier sowohl durch den Schutz nach § 60
Abs. 5 AufenthG, darüber hinaus aber auch aufgrund von Art. 16a Abs. 1 GG wie auch § 3
Abs. 4 Hs. 1 und § 4 Abs. 1 AsylG betroffen, weil das Recht auf Leben und körperliche sowie
psychische Unversehrtheit immanenter Bestandteil des Begriffs der politischen Verfolgung,
der Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG sowie des ernsthaften Schadens
(§ 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG) ist.
Die Behörde hat dabei zu bedenken, dass ihre Entscheidung nach § 30 Abs. 4 AsylG eine
Abschiebung vor der Durchführung des gerichtlichen Hauptsacheverfahrens zur Folge hat, die
nur durch den Erfolg in einem summarisch angelegten Eilrechtsschutzverfahren abgewendet
werden kann. Dies aber erfordert im vorausgehenden behördlichen Feststellungsverfahren die
Anwendung besonders strenger Untersuchungs- und Begründungspflichten, deren
Nichtbeachtung Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Das Verwaltungsgericht hat zu bedenken, dass in
einer nur summarisch angelegten Prüfung im Eilrechtsschutzverfahren der Behördenbescheid
nicht einer tiefgreifenden Kontrolle unterzogen werden kann, sodass es bereits bei geringen
Zweifeln am Vorliegen der Voraussetzungen der Ausschlussgründe verpflichtet ist, dem
Eilrechtsschutzantrag stattzugeben, um die gebotene besonders strenge Prüfungspflicht gemäß
§ 86 Abs. 1 VwGO im Hauptsacheverfahren durchführen zu können.
Das Verwaltungsgericht vertritt hingegen die Auffassung, dass auch im
Eilrechtsschutzverfahren die Ausschlussgründe nicht eng auszulegen seien und verletzt damit
Art. 19 Abs. 4 GG. Es verkennt dabei insbesondere, dass § 3 Abs. 4 AsylG sich auf § 60 Abs.
8 Satz 3 AufenthG bezieht, damit aber voraussetzt, dass der Asylsuchende als eine „Gefahr
27
für die Allgemeinheit“ anzusehen ist. Die deshalb gebotene gefahrenabwehrrechtliche
Begründung erfordert damit eine besonders strenge Prüfung. Die Auffassung, die
Ausschlussgründe seien nicht eng auszulegen, bezieht sich zwar auf die materiellen
Voraussetzungen der Ausschlussgründe. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Prüfung der
Voraussetzungen keiner strengen Prüfungspflicht unterliegen. Auch wenn man die
Ausführungen des Verwaltungsgerichtes lediglich auf die Voraussetzungen der in § 3 Abs. 2
AsylG bezeichneten Ausschlussgründe beziehen wollte, liegt § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG
ein mit § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG identisches präventivpolizeirechtlicher Zweck zugrunde
und stellt damit erhöhte Voraussetzungen an die Prüfungspflicht.
2. Darüber hinaus verletzen das Verwaltungsgericht und der Verwaltungsgerichtshof Art. 19
Abs. 4 GG, weil sie im summarisch geprägten Eilrechtsschutzverfahren an die Darlegung der
Foltergefahr einen Beweismaßstab anlegen, der für das asylrechtliche Hauptsacheverfahren,
jedoch nicht bereits für das Eilrechtsschutzverfahren maßgebend ist. Denn sie verlangen, dass
die für die Prognose der drohenden Folterbehandlung des Antragstellers maßgebenden
Tatsachen „mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit“ feststehen müssen (Beschluss des
Verwaltungsgerichtes vom 21. September 2017, BA, S. 9, 12; Beschluss des
Verwaltungsgerichtshofes vom 31. August 2017, BA, S. 6, 7). Die Anwendung eines derart
hohen Maßstabes für das Eilrechtsschutzverfahren verletzt nicht nur das Grundrecht des
Antragstellers aus Art. 2 Abs. 1 Satz 1 in Verb. mit Art. 1 Abs. 1 GG, sondern auch Art. 19
Abs. 4 GG, weil damit der gebotene wirkungsvolle Rechtsschutz versagt wird (BVerfG
(Kammer), NVwZ 2007, 1046).
Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet, dass durch die normative Ausgestaltung des gerichtlichen
Verfahrens die umfassende Nachprüfung des Verfahrensgegenstandes in tatsächlicher und
rechtlicher Hinsicht und eine dem Rechtsschutzbegehren angemessene Entscheidungsart und -
wirkung sichergestellt wird (BVerfGE 60, 253 (297)). So wie Art. 19 Abs. 4 GG der
unzumutbaren Erschwerung des Zugangs zum Berufungsverfahren entgegensteht (BVerfG
(Kammer), NVwZ 2011, 547 (548)), steht er auch der unzumutbaren Erschwerung des
Zugangs zum erstinstanzlichen Hauptsacheverfahren durch Zurückweisung des
Eilrechtsschutzantrags entgegen, wenn dadurch ein wirksamer Zugang zum
Berufungsverfahren mit dauerhafter Wirkung – wie hier durch Abschiebung des
28
Beschwerdeführers und seine wahrscheinliche Inhaftierung auf nicht absehbare Zeit nach
seiner Ankunft im Abschiebungszielstaat – ausgeschlossen wird.
3. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auch auf der genannten Grundrechtsverletzung.
Es ist nicht auszuschließen, dass Behörde und Verwaltungsgericht bei hinreichender
Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu einer anderen, dem
Beschwerdeführer günstigen Entscheidung gelangt wären.
IV.
Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG
Die Entscheidungen der Behörde und des Verwaltungsgerichts im asylrechtlichen Verfahren
verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG, weil sie den von
diesem angestrebten Schutz nach Art. 16a Abs. 1 GG nicht beachtet haben.
1. Unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung
als Willkürverbot kommt ein verfassungsgerichtliches Eingreifen dann in Betracht, wenn die
Rechtsanwendung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden
Gedanken nicht mehr verständlich ist. Eine zweifelsfreie fehlerhafte Rechtsanwendung an
sich begründet zwar noch keine Verletzung des Willkürverbotes. Die Willkürgrenze ist aber
überschritten, wenn z.B. eine offensichtlich einschlägige Norm – wie hier – nicht
berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird (BVerfGE 66, 324
(330); 80, 48; 87, 273 (278 f.); 89, 1 (14); BVerfG (Kammer), NVwZ 1994, 60).
2. Als unhaltbar und objektiv willkürlich erweist sich darüber hinaus die durch das
Bundesamt wie auch das Verwaltungsgericht vorgenommene rechtliche Gleichsetzung der
Voraussetzungen der Asylberechtigung mit denen des internationalen Schutzes. Unter diesen
Voraussetzungen geht das Bundesverfassungsgericht von einem Verstoß gegen das
Willkürverbot aus (BVerfG (Kammer), NVwZ 1994, 60). Die Ausführungen zu Art. 16a Abs.
1 GG in beiden Entscheidungen können entweder dahin verstanden werden, dass über die
bloße Bezeichnung des Art. 16a Abs. 1 GG hinaus diese Norm nicht berücksichtigt wurde
oder aber, dass ihr Inhalt krass fehlerhaft mit dem Inhalt des internationalen Schutzes
29
rechtlich gleichgesetzt wird. In einem wie im anderen Fall verletzen das Bundesamt wie auch
das Verwaltungsgericht das Willkürverbot im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG. Insoweit kommt
erschwerend hinzu, dass das Verwaltungsgericht mit Bezugnahme auf das Asylrecht wie auch
auf den internationalen Schutz die Ausschlussgründe des § 3 Abs. 2, § 4 Abs. 2 AsylG
anwendet, obwohl dem Asylrecht – wie im Abschnitt I ausgeführt – der Ausschluss wegen
Schutzunwürdigkeit fremd ist. Damit wird der Inhalt von Art. 16a Abs. 1 GG krass fehlerhaft
interpretiert und angewandt.
V.
Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 21. September 2017 verletzt den
Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG, weil das Verwaltungsgericht dem
Antrag auf Einholung einer Auskunft des Auswärtigen nicht nachgegangen ist und die
eingeführte Auskunft von amnesty international vom 6. September 2017 nicht berücksichtigt
hat. Darüber wird der Anspruch auf Gewährleistung rechtlichen Gehörs verletzt, weil das
Bundesamt sowie das Verwaltungsgericht die Ablehnung des Antrags auf Anerkennung als
Asylberechtigter nicht begründet haben.
1. a) Im Eilrechtsschutzantrag im asylrechtlichen Verfahren sowie im vorangegangenen
Asylverfahren war beantragt worden, zur Aufklärung der Behauptung des Beschwerdeführers,
dass das Kammergericht berücksichtigt habe, dass er tatsächlich Hilfsgüter nach Syrien
gebracht habe, die dort an die notleidende Bevölkerung verteilt worden sei, die Akte des
Kammergerichtes wie auch die Justizvollzugsanstalt Butzbach und die der Ausländerbehörde
beizuziehen. Darüber hinaus war beantragt worden, eine Auskunft des Auswärtigen Amtes zu
der Beweisfrage einzuholen, welches Beweismaterial dem Vorwurf der Staatsanwaltschaft
Kayseri gegen ihn zugrunde liege. Es wurde in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen,
dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfGE 94, 166 (206)) bei
schwerwiegenden Verfahrensfehlern im Verwaltungsverfahren – wie hier – im asylrechtlichen
Eilrechtsschutzverfahren erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen
Bescheides bestehen und Anlass sein kann, im Eilrechtsschutzverfahren den
30
Beschwerdeführer persönlich im Rahmen eines Erörterungstermins (§ 87 Abs. 1 Satz 2
VwGO) persönlich anzuhören.
Das Verwaltungsgericht hat weder den Vortrag zur Beiziehung der erwähnten Akten noch
zum schwerwiegenden Verfahrensfehler noch zur persönlichen Anhörung des
Beschwerdeführers im Eilrechtsschutzverfahren zur Kenntnis genommen und damit
angesichts der Entscheidungserheblichkeit der unter Beweis gestellten Tatsachenfragen für
die Feststellung von Ausschlussgründen dessen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Den
Antrag auf Einholung einer amtlichen Auskunft hat es mit der Begründung abgelehnt, dass
der Beschwerdeführer lediglich die ersten drei Seiten der Anklageschrift vorgelegt habe, aus
der tatsächlich lediglich hervorgehe, dass der Beschwerdeführer dort unter Nummer 15 von
insgesamt 18 Angeklagten genannt werde. Weitere Informationen weder zum Tatvorwurf
noch zu einem diesem zuzurechnenden Tatbeitrag ließen sich dem Dokument nicht
entnehmen. Das Gericht sei nicht verpflichtet, bei der Aufklärung des Sachverhalts
mitzuwirken. Die Aufklärungspflicht des Gerichtes beginne erst dort, wo die
Darlegungspflicht und Beibringungsmöglichkeiten des Antragstellers erschöpft seien. Der
Beschwerdeführer habe es indes versäumt, die Anklageschrift vollständig vorzulegen. Aus
dem Dokument ergebe ich nämlich, dass das vollständige Dokument in der Datenbank der
türkischen Justizbehörden eingesehen werden könne. In der Fußzeile der Anklageschrift sei
der Zugangsschlüssel aufgeführt, mit dem sich der Beschwerdeführer Zugang zu dem
Dokument verschaffen könne (BA, S. 8).
b) Das Verwaltungsgericht wählt damit für die Beweisablehnung eine Begründung, die in der
Prozessordnung nicht vorgesehen ist und verletzt damit aus einem weiteren Grund den
Anspruch des Beschwerdeführers auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Zwar kann im
Eilrechtsschutzverfahren mangels Durchführung einer mündlichen Verhandlung der
Beweisantrag nicht förmlich gestellt werden, sodass das Verwaltungsgericht den Antrag in
dieser auch nicht ablehnen kann (§ 86 Abs. 2 VwGO). Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass
beim Verzicht auf mündliche Verhandlung der Beweisantrag vor oder nach der
Anhörungsmitteilung auch schriftlich begründet werden kann und dadurch die gerichtliche
Bescheidungspflicht ausgelöst wird (BVerwG, NVwZ 1992, 890 (891)). Auch wird bei einem
31
nach dem Verzicht auf Durchführung der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag
§ 86 Abs. 2 VwGO für entsprechend anwendbar gehalten (BVerwGE 15, 175 (176)).
In alle diesen Fällen kann der Beweisantrag aber nur schriftlich gestellt werden, es fehlt also
an der Möglichkeit der förmlichen Antragstellung in der mündlichen Verhandlung.
Gleichwohl wird der Antrag prozessual nicht als bloße Beweisanregung behandelt. In
prozessualer Hinsicht ist die Situation im Eilrechtsverfahren keine andere, weil über den
gestellten Eilrechtsschutzantrag im schriftlichen Verfahren entschieden wird. Das
Verwaltungsgericht hat hier aber begründet, warum es der beantragten Beweisaufnahme nicht
nachgegangen ist, den Beweisantrag damit nicht als prozessual unzulässig behandelt.
c) Soweit das Verwaltungsgericht die beantragte Beweisaufnahme mit dem Hinweis auf die
Verletzung der Mitwirkungspflichten des Beschwerdeführers abgelehnt hat, verkennt es die
Anforderungen an den Beweisantritt, in diesem Zusammenhang den Umfang der
Darlegungspflichten, und so kommt darüber hinaus in dieser Begründung selbst eine
eigenständige Gehörsverletzung zum Ausdruck.
aa) Das Verwaltungsgericht ist zur Aufklärung verpflichtet, wenn das Vorbringen einen
tatsächlichen Anhaltspunkt zu weiterer Sachaufklärung bietet, das Beweisthema hinreichend
konkretisiert und der Beweisantrag auch im Übrigen hinreichend substanziiert ist (BVerwG,
MDR 1983, 869 (870)). Diesen Anforderungen ist der Beschwerdeführer gerecht geworden.
Er hat bereits im Verwaltungsverfahren und anschließend im Eilrechtsschutzverfahren unter
Hinweis auf eine Vielzahl von Umständen und Tatsachen schlüssig vorgebracht, dass die
gegen ihn gerichtete Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Kayseri auf einem manipulierten
Strafvorwurf beruht. Das genügt für die Bezeichnung des Beweisthemas. Als Beweismittel
hat er die Einholung einer amtlichen Auskunft beantragt. Darüber hinaus hat er damit eine
„gewisse Möglichkeit“ aufgezeigt, dass die Beweistatsachen vorliegen können. Mehr kann
vom Beweisführer beim Beweisantritt nicht verlangt werden (BGHSt 21, 118 (125)). Diese
vom Beschwerdeführer erfüllten Anforderungen nimmt das Verwaltungsgericht nicht zur
Kenntnis und verletzt auch aus diesem Grund den Anspruch des Beschwerdeführers auf
rechtliches Gehör.
32
Eine Verletzung der Mitwirkungspflichten kann dem Beschwerdeführer nicht vorgeworfen
werden noch kann aus diesem Grund die beantragte Beweisaufnahme abgelehnt werden,
wenn der Beweisführer – wie hier – den Antrag substanziiert gestellt hat. Die Aufklärung
durch das Gericht setzt ein entsprechendes Sachvorbringen – hier die vorgebrachte
Behauptung einer auf manipulierten Tatsachen beruhenden Anklageschrift – voraus. Ein
damit aufgezeigtes Ermittlungsdefizit löst aufgrund dessen die gerichtliche
Aufklärungspflicht aus. Dem Verwaltungsgericht muss sich die Notwendigkeit weiterer
Ermittlungen aufdrängen, wenn das Vorbringen – wie hier – tatsächliche Anhaltspunkte
hierfür bietet (BVerwG, InfAuslR 1990, 38 (39)). Unter diesen Umständen kann die
Ablehnung der beantragten Beweisaufnahme nicht mit der Verletzung der
Mitwirkungspflichten abgelehnt werden. Denn die Mitwirkungspflichten beim Beweisantrag
bestehen in der Substanziierungspflicht des Beweisthemas, der der Beschwerdeführer
nachgekommen ist. Auch kann ihm nicht vorgehalten werden, dass sein Vorbringen insgesamt
durch nicht auflösbare Widersprüche geprägt sei. Ob es glaubhaft ist, soll ja erst die
beantragte Beweisaufnahme ergeben.
bb) Der Beschwerdeführer hat zu dieser Tatsachenfrage nicht seine Mitwirkungspflichten
verletzt. Das Verwaltungsgericht überspannt mit diesem Einwand die Anforderungen an die
Darlegungslast des Beschwerdeführers sowie berücksichtigt nicht die zur Beschaffung der
Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Kayseri im Verwaltungsverfahren abgegebenen
Erklärungen und verletzt bereits aus diesem Grund mit der Begründung der Beweisablehnung
den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör:
Um einer Überspannung der Grundsätze zur Darlegungslast zu Lasten Asylsuchender
vorzubeugen, hatte das Bundesverwaltungsgericht bereits zu Beginn der 1980 Jahre zwischen
persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen des Antragstellers einerseits sowie den
allgemeinen Verhältnissen in seinem Herkunftsland andererseits differenziert (BVerwG,
InfAuslR 1982, 156 (156 f.); BVerwG, InfAuslR 1983, 76 (77); BVerwG, InfAuslR 1984,
129; BVerwG, DÖV 1983, 207; BVerwG, BayVBl. 1983, 507; BVerwG, InfAuslR 1989, 350
(351); BVerwG, EZAR 630 Nr. 8). Danach trifft den Asylsuchenden im Hinblick auf seine
persönlichen Erlebnisse eine erhöhte Darlegungslast, welche den Untersuchungsgrundsatz
begrenzt. Das Bundesamt und das Verwaltungsgericht brauchen in keine Ermittlungen
33
einzutreten, die durch das Sachvorbringen nicht veranlasst sind. Mit Blick auf die allgemeinen
Verhältnisse im Herkunftsland ist der Asylsuchende dagegen in einer schwierigen Situation.
Seine eigenen Kenntnisse und Erfahrungen sind häufig auf einen engeren Lebenskreis
begrenzt und liegen stets einige Zeit zurück. Auch befindet er sich hinsichtlich der
allgemeinen Verhältnisse in einer „Beweisnot“, der gemäß Art. 19 Abs. 4 GG bei der
Gestaltung des Asylverfahrens Rechnung zu tragen ist (BVerfGE 94, 115 (133)). Seine
Mitwirkungspflicht würde überdehnt, würde auch insofern ein lückenloser Tatsachenvortrag
gefordert, der im Sinne der zivilprozessualen Verhandlungsmaxime schlüssig zu sein hätte.
Insoweit muss es genügen, um zu weiteren Ermittlungen Anlass zu geben, wenn der
Tatsachenvortrag des Antragstellers die nicht entfernt liegende Möglichkeit – wie hier –
ergibt, dass ihm bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Verfolgung oder ein ernsthafter
Schaden droht.
Dem entspricht die unionsrechtlich geregelte Darlegungslast. Danach hat der Antragsteller
alle zur Antragsbegründung erforderlichen Angaben darzulegen (Art. 4 Abs. 1 RL
2011/95/EU), hingegen hat die Behörde alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen,
die im Entscheidungszeitpunkt relevant sind, einschließlich der Rechts- und
Verwaltungsvorschriften des Herkunftsland und der Weise, in der sie angewandt werden, zu
prüfen (Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) RL 2011/95/EU). Der Antragsteller hat persönliche
Umstände, Verhältnisse und Erlebnisse, die seiner Ansicht nach zu Repressalien Anlass geben
oder Abschiebungsverbote begründen können, schlüssig sowie mit Blick auf zeitliche,
örtliche und sonstige Umstände detailliert und vollständig darzulegen. Welcher Art diese
Repressalien sind, welche Beweise die Verfolgungsbehörden gegen ihn vorbringen, warum
sie gegen ihn Verfolgungsmaßnahmen eingeleitet haben und mit welcher Wahrscheinlichkeit
diese drohen, ist dagegen nicht Teil seiner Darlegungslast. Diesen offenen Beweisfragen ist
vielmehr von Amts wegen nachzugehen. Es ist daher prozessual fehlerhaft, wenn dem
Antragsteller die Darlegungslast für die Beschaffung von Urteilen etc. aufbürdet, sofern er
hierzu nicht in der Lage ist. Folgt aus dem schlüssigen Sachvortrag, dass gegen ihn im
Herkunftsland strafrechtliche Verfolgungen durchgeführt werden, liegt die Beschaffung von
Nachweisen nicht in seinem Verantwortungsbereich. Keinesfalls ist es zulässig, wegen nicht
vorgelegter Nachweise den Antrag abzuweisen (Marx, Kommentar zum AsylG, 9. Aufl.,
2017, § 25 Rdn. 5 und 6).
34
cc) Das Verwaltungsgericht verkennt mit der Begründung seiner Beweisablehnung nicht nur
den Umfang der Darlegungslasten des Beschwerdeführers und damit auch die hieraus
folgenden Verpflichtungen für den Beweisantritt. Vielmehr nimmt es mit seiner Begründung
das Vorbringen des Beschwerdeführers zu den Schwierigkeiten, die vollständige Fassung der
Anklageschrift beschaffen zu können, nicht zur Kenntnis und verletzt damit seinen Anspruch
auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Der Beschwerdeführer hat in der persönlichen Anhörung,
deren Niederschrift dem Verwaltungsgericht bekannt ist, darauf hingewiesen, dass er die
gegen ihn in der Türkei vorliegenden Anklageschrift am Tag der Anhörung zum ersten Mal
gesehen habe. Daraufhin hat Rechtsanwalt Pfaff das Bundesamt während der Anhörung
darauf hingewiesen, dass die Anklageschrift in der Datenbank UYAP eingesehen werden
kann und für den Fall, dass das Bundesamt von dieser Möglichkeit Gebrauch machen sollte,
Akteneinsicht beantragt (Anlage Nr. 14, S. 3, 4). Das Bundesamt ist im angefochtenen
Bescheid auf diese Anregung nicht eingegangen. Auch das Verwaltungsgericht setzt sich
damit nicht auseinander und behauptet stattdessen, dass der Beschwerdeführer die
Beibringungspflicht treffe.
Insoweit hat Rechtsanwalt Pfaff im Verwaltungsverfahren, dessen Akte dem
Verwaltungsgericht vorliegt, mit Schriftsatz vom 20. August 2017 an das Bundesamt (Anlage
Nr. ?) unter Beifügung des Schriftsatzes an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 29.
Juni 2017 darauf hingewiesen, er habe von dem Strafverteidiger des Beschwerdeführers
erfahren, dass gegen diesen in der Türkei ein Ermittlungsverfahren anhängig sei und zu dieser
Behauptung eine eidesstattliche Versicherung des Verteidigers beigefügt. Zugleich hat er mit
diesem Schriftsatz die elektronische Mitteilung des Verteidigers vom 19. Juli 2017 vorgelegt,
dass er die Informationen über das Ermittlungsverfahren von einem „Freund aus dem
Konsulat“ habe. Damit war für das Verwaltungsgericht erkennbar, dass es dem
Beschwerdeführer nur über Beziehungen seines Strafverteidigers zu türkischen Stellen, die
zum Schutz der Informationsquelle nicht preisgegeben werden dürfen, gelungen ist, Kenntnis
über das gegen ihn anhängige Ermittlungsverfahren in der Türkei zu erlangen. Wenn in
Kenntnis dieser Umstände das Verwaltungsgericht dem Beschwerdeführer gleichwohl unter
Hinweis auf die in der Anklageschrift angegebene türkische Datenbank vorhält, er habe das
vollständige Dokument nicht vorgelegt und deshalb die Beweiserhebung ablehnt, verletzt es
35
damit nicht nur in besonders schwerwiegender Weise dessen Anspruch auf Gewährleistung
rechtlichen Gehörs, sondern auch das Willkürverbot nach Art. 3 Abs. 1 GG.
2. Dem Verwaltungsgericht wurde – zeitgleich mit der hierauf bezogenen Einführung dieses
Dokuments in das Verfahren beim Bundesverfassungsgericht – mit Schriftsatz vom 5.
September 2017 die Auskunft von amnesty international in der ursprünglichen, noch nicht
offiziell mit einem Briefkopf dieser Organisation versehenen Form, übermittelt (Anlage
Nr. ?). Im angefochtenen Beschluss erwähnt das Verwaltungsgericht diese für den
Beschwerdeführer bedeutsame Erkenntnisquelle nicht und setzt sich demzufolge auch in
Beweiswürdigung hiermit nicht auseinander. Vielmehr stellt es trotz Vorliegens gewichtiger
Hinweise auf eine dem Beschwerdeführer drohende Folterbehandlung in der Türkei im
Rahmen des gegen ihn gerichteten Ermittlungsverfahren fest, es bestehe keine beachtliche
Wahrscheinlichkeit, dass gegen diesen derartige Maßnahmen ergriffen werden würden.
4. Im Eilrechtsschutzantrag vom 30. August 2017 wurde vorgebracht, dass der
Ausschlussgrund des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG nicht vorliegt, weil der Verurteilung des
Beschwerdeführers wegen Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung ein „politisches
Delikt“ oder jedenfalls ein konnex-gemischtes Delikt zugrunde liegt, es sich damit nicht um
eine von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG in Umsetzung von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b) RL
2011/95/EU geforderte nichtpolitische Straftat handelt (Anlage Nr. ?, S. ). Das
Verwaltungsgericht nimmt dieses auch aus seiner rechtlichen Sicht entscheidungserhebliche
Vorbringen nicht zur Kenntnis. Es handelt sich damit nicht um einer mit der Gehörsrüge nicht
angreifbare fehlerhafte Rechtsanwendung, sondern um die Nichtberücksichtigung
entscheidungserheblichen Vorbringens und damit um eine Gehörsverletzung.
Darüber hinaus wurde zugunsten des Beschwerdeführers vorgebracht, dass diese nach der
maßgeblichen Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union durch die vom
Kammergericht festgestellten Handlungen nicht die Voraussetzungen für eine den Anspruch
auf Zuerkennung des internationalen Schutzes entgegenstehende Unterstützung einer
terroristischen Vereinigung erfüllt habe. Hierbei sei die Rolle, welche der Betroffene bei der
Verwirklichung der betreffenden Handlung tatsächlich gespielt habe, seine Position innerhalb
der Organisation, der Grad der Kenntnis, die er von deren Handlungen hatte oder haben
36
musste, die etwaigen Repressionen, denen er ausgesetzt gewesen wäre oder andere Faktoren,
die geeignet gewesen wären, sein Verhalten zu beeinflussen, zu berücksichtigen. Nur bei einer
hervorgehobenen Person in einer „sich terroristischer Mittel bedienender Organisation" könne
vermutet werden, dass der Betroffene „eine individuelle Verantwortung für von dieser
Organisation im relevanten Zeitraum begangene Handlungen trägt." Dieses befreie aber nicht
von der Prüfung sämtlicher "erheblicher Umstände" (EuGH InfAuslR 2011, 40 (43) Rdn. 113
ff. - B. und D.) Eine hervorgehobene Position in einer terroristischen Vereinigung werde dem
Beschwerdeführer nicht vorgeworfen. Ob er lediglich humanitäre Hilfe geleistet oder – wie
vom Bundesamt behauptet – finanzielle Leistungen an eine terroristische Organisation
geleistet habe, sei umstritten. Die Aufklärung dieses Gesichtspunktes hätte eine Beiziehung
der Akten des Kammergerichtes vorausgesetzt sowie auch eine gezielte Befragung der hierfür
maßgeblichen Umstände in der persönlichen Anhörung. Beide verfahrensrechtlichen
Erfordernisse seien nicht erfüllt worden, sodass auch wegen dieses schwerwiegenden
Verfahrensfehlers dem Eilrechtsschutzantrag stattzugeben oder ein Erörterungstermin nach
§ 87 Abs. 1 S. 1 S. 2 Nr. 1 VwGO im Eilrechtsschutzverfahren zur informatorischen
Befragung des Klägers erforderlich ist. Zwar könne sich § 3 Abs. 2 Nr. 3 AsylG auch auf
Personen erstrecken, die die Anwerbung, Organisation, Beförderung oder Ausrüstung von
Personen vornehmen, die in einen Staat reisen, der nicht der Staat ihrer Staatsangehörigkeit
ist, um insbesondere terroristische Handlungen zu begehen, zu planen oder vorzubereiten
(EuGH, InfAuslR 2017, 155 (158) Rdn. 69 – Lounani). Derartige Handlungen würden dem
Beschwerdeführer aber weder vom Kammergericht noch in der Ausweisungsverfügung
vorgeworfen. Zwar habe er auf Fotos mit Handfeuerwaffen posiert. Zugleich habe das
Kammergericht aber berücksichtigt, dass er – wie vom ihm selbst auch in der persönlichen
Anhörung beim Bundesamt vorgebracht – tatsächlich Hilfsgüter nach Syrien gebracht habe,
die dort an die notleidende Bevölkerung verteilt worden seien. Ganz offensichtlich erfüllten
diese Handlungen nicht den Tatbestand der Anwerbung, Organisation, Beförderung oder
Ausrüstung von Personen, die terroristische Handlungen durchführen wollten. Im Übrigen
bedürften die näheren Umstände dieses Sachkomplexes einer näheren Aufklärung im
Hauptsacheverfahren. Die strafgerichtlichen Feststellungen würden insoweit keine
Bindungswirkung für das Verwaltungsstreitverfahren entfalten.
37
Zwar behandelt das Verwaltungsgericht die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3
AsylG. Es wirft dem Beschwerdeführer hierbei aber vor, er habe eine terroristische
Vereinigung durch andere Formen der Unterstützung als durch deren Finanzierung, Planung
oder Vorbereitung unterstützt (Anlage Nr. 14, S. 6/7). Zwar mag es sich bei dieser Würdigung
um einen Rechtsanwendungsfehler handeln. Dem steht jedoch entgegen, dass das
Verwaltungsgericht bei seiner Würdigung auf das aufgezeigte Sachvorbringen überhaupt
nicht eingeht und zur Aufklärung dieses Umstandes die Beiziehung der Akten des
Kammergerichtes wie auch eine gezielte Befragung der hierfür maßgeblichen Umstände in
der persönlichen Anhörung beantragt worden war und diese Anträge vom Verwaltungsgericht
stillschweigend übergangen wurden.
5. Die vom Verwaltungsgericht prozessordnungswidrig unterlassene Beweiserhebung betrifft
auch aus seiner rechtlichen Sicht entscheidungserhebliche Beweistatsachen. Darauf deutet die
Begründung für die Beweisablehnung hin. Im Übrigen kommt es hierauf in diesem Fall
wegen der absoluten Schutzwirkung des Folterverbots (Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 3 EMRK) nicht
an. Denn der Beschwerdeführer hat vorgebracht, das ihm im Ermittlungsverfahren eine
Folterbehandlung drohen wird. Deshalb sind die zu diesem Ermittlungsverfahren unter
Beweis gestellten Tatsachen mittelbar auch für die behauptete drohende Folter von
Bedeutung. Soweit das Verwaltungsgericht die erwähnte Auskunft von amnesty international
nicht berücksichtigt hat, steht dies angesichts des Aussagegehalts dieser Auskunft im
unmittelbaren Zusammenhang mit der drohenden Folterbehandlung. Angesichts der
Auseinandersetzung des Verwaltungsgerichts mit den Ausschlussgründen des § 3 Abs. 2
AsylG, § 60 Abs. 8 AufenthG kann auch davon ausgegangen werden, dass die Frage, ob die
Verurteilung aufgrund eines politischen Deliktes auch aus seiner rechtlichen Sicht eine
entscheidungserhebliche Frage aufwirft. Andernfalls hätte es im Hinblick auf Art. 101 Abs. 1
Satz 2 GG diese Frage dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Klärung im
Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 Abs. 3 AEUV (hierzu nachfolgend) vorlegen müssen.
Auch wenn die bezeichneten Ausschlussgründe alternative Wirkung haben, kann nicht
ausgeschlossen werden, dass die Gründe, die gegen das Vorliegen des Ausschlussgrundes
nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG sprechen, auch Auswirkungen auf die anderen
Ausschlussgründe Auswirkungen haben.
38
5. Weitere prozessuale Maßnahmen waren für den Beschwerdeführer im Hinblick auf den
schriftlichen Charakter des Eilrechtsschutzverfahrens sowie auch der Unmöglichkeit, weitere
Beweismittel für die Erhebung des beantragten Beweises zu beschaffen, und auch der bereits
im Verwaltungsverfahren hierzu abgegebenen Erklärungen nicht mehr verfügbar.
6. Der angefochtene Beschluss des Verwaltungsgerichts beruht auch auf den dargelegten
Gehörsverletzungen. Denn es ist nicht auszuschließen, dass das Verwaltungsgericht im Falle
der Berücksichtigung des Vorbringens zum politischen Delikt der Beiziehung der Akten des
Kammergerichts, der Justizvollzugsanstalt und der Vollzugsanstalt Butzbach sowie der
Ausländerbehörde des Wetteraukreises wie auch des Sachvorbringens zum
flüchtlingsrechtlich relevanten Unterstützungsbegriff im Blick auf eine terroristische
Vereinigung eine andere, für den Beschwerdeführer günstigere Entscheidung zum Vorliegen
von Auschlussgründen getroffen, jedenfalls dem Eilrechtsschutzantrag zwecks Aufklärung
der entsprechenden Beweisfragen im Hauptsacheverfahren stattgegeben hätte sowie bei
Berücksichtigung der bezeichneten Auskunft von amensty international eine für den
Beschwerdeführer günstigere Entscheidung zu einer ihm drohenden Folterbehandlung in der
Türkei getroffen und deshalb den beantragten Eilrechtsschutz gewährt hätte.
VI.
Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG
Der Beschwerdeführer wird durch den angegriffenen Beschluss des Verwaltungsgerichtes in
seinem Grundrecht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt.
1. Im Eilrechtsschutzantrag vom 30. August 2017 wurde vorgebracht, dass der
Ausschlussgrund des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG nicht vorliegt, weil der Verurteilung des
Beschwerdeführers durch das Kammergericht wegen Zugehörigkeit zu einer terroristischen
Vereinigung ein „politisches Delikt“ oder jedenfalls ein konnex-gemischtes Delikt zugrunde
liegt, es sich damit nicht um eine von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG in Umsetzung von Art.
12 Abs. 2 Buchst. b) RL 2011/95/EU geforderte nichtpolitische Straftat handelt (Anlage Nr.
9). Auch das in der gegen den Beschwerdeführer gerichteten Anklageschrift der
Staatsanwaltschaft Kayseri ihm vorgeworfene Delikt der Zugehörigkeit zu einer
39
terroristischen Vereinigung stelle ein politisches, jedenfalls konnex-gemischtes Delikt dar.
Das Eilrechtsschutzverfahren sei nicht der prozessuale Ort, wo diese Zweifel aufzuklären
sind. Der Gerichtshof der Europäischen Union habe über diese Frage noch nicht entschieden.
Werde jedoch eine unionsrechtliche Zweifelsfrage – wie hier – aufgeworfen, sei dem
Eilrechtsschutzantrag stattzugeben, um im Hauptsacheverfahren diese dem Gerichtshof zur
Klärung vorzulegen (Art. 267 AEUV). Dementsprechend habe auch das
Bundesverfassungsgericht entschieden, dass im Blick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und
unter Berücksichtigung von § 80 AsylG Eilrechtsschutz zu gewähren ist, um im
Hauptsacheverfahren ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV einzuholen
(BVerfG (Kammer), Beschluss vom 14. November 2016 – 2 BvR 31/14 – Asylmagazin 2017,
41; ebenso BVerfG (Kammer), InfAuslR 2017, 159 (160)). Unter diesen Voraussetzungen
verletze die Zurückweisung des Eilrechtsschutzantrags ohne Klärung der unionsrechtlichen
Zweifelsfrage auch Art. 19 Abs. 4 GG (BVerfG (Kammer), InfAuslR 2017, 159 (161)). Auf
dieses Sachvorbringen geht das Verwaltungsgericht nicht ein und verletzt damit den Anspruch
des Beschwerdeführers aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
2. Eine unanfechtbare Klageabweisung kann den Weg zum EuGH als „gesetzlichem Richter“
im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sperren und eine Grundrechtsverletzung darstellen.
Der Gerichtshof der Europäischen Union ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1
Satz 2 GG (BVerfGE 73, 339 (366 f.); BVerfG (Kammer), NVwZ 2012, 426 (427) =
InfAuslR 2012, 7). Eine Vorlagepflicht kann nur bei dem Gericht eintreten, das
letztinstanzlich über die Zulassung des Rechtsmittels zu entscheiden hat (BVerfG (Kammer),
NVwZ 2012, 426 (427) = InfAuslR 2012, 7). Vorliegend wurde zwar nicht die Klage, jedoch
der Eilrechtsschutzantrag mit unanfechtbarer Wirkung (§ 80 AsylG) zurückgewiesen und
droht – wie ausgeführt – dem Beschwerdeführer deshalb die Abschiebung in die Türkei auf
ungewisse Dauer. Da er für die Dauer von zehn Jahren ausgewiesen wurde, ist deshalb die
Möglichkeit der Fortführung des Hauptsacheverfahrens ohne Bedeutung. Eine Wiedereinreise
nach Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbotes dürfte dem Beschwerdeführer im Hinblick
auf den Ausweisungsanlass und die Tatsache, dass er mangels Bindungen, die eine
familienbezogene Aufenthaltnahme im Bundesgebiet ermöglichen, dauerhaft im Ausland
bleiben muss. Der Grundsatz des wirksamen Rechtsschutzes erfordert daher, auch im
40
asylrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren eine Vorlagepflicht anzunehmen, wenn eine
unionsrechtliche Zweifelsfrage aufgeworfen wird.
Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung
des Gerichtshofes der Europäischen Union noch nicht vor, hat eine vorliegende
Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend
beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofes nicht
nur als entfernte Möglichkeit, wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, wenn das
Verwaltungsgericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen
in unvertretbarer Weise überschritten hat. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn
mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts
gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind (BVerfG
(Kammer), NJW 1994, 2017, mit Verweis auf BVerfGE 82, 159 (192 ff.); BVerfG (Kammer),
NVwZ 2012, 426 (427) = InfAuslR 2012, 7). Vorliegend hat das Verwaltungsgericht das
Vorbringen zur unionsrechtlichen Zweifelsfrage überhaupt nicht zur Kenntnis genommen,
sodass bereits deshalb die Vorlagepflicht verletzt wurde. Die aufgeworfene Rechtsfrage ist in
der Rechtsprechung des Gerichtshofes bislang auch nicht erschöpfend geklärt.
3. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat sich bislang nicht erschöpfend mit der
aufgeworfenen unionsrechtlichen Zweifelsfrage befasst. Zwar hat er einige Auslegungsfragen
zu Art. 12 Abs. 2 Buchst. b) RL 2004/38/EG (nunmehr Art. 20 Abs. 2 Buchst. b) RL
2011/95/EU) bereits geklärt, so etwa die Kriterien für die persönliche Zurechnung bei
Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation (EuGH InfAuslR 2011, 40 (43) Rdn. 113
ff. – B. und D.; EuGH, InfAuslR 2017, 155 (158) Rdn. 69 – Lounani). Konkrete Handlungen
des Beschwerdeführers, die nach diesen Kriterien zur Anwendung des Ausschlussgrundes
führen, sind im fachgerichtlichen Verfahren und auch im Strafverfahren jedoch nicht
festgestellt worden. Insbesondere ist ungeklärt, ob in seinem Fall Art 12 Abs. 2 Buchst. b) RL
2011/95/EU und damit § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG von vornherein keine Anwendung
findet, weil der Verurteilung wegen Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung ein
„politisches Delikt“ zugrunde liegt. Ohne eine Klärung dieser Frage kann im
fachgerichtlichen Verfahren jedoch nicht über die vom Beschwerdeführer geltend gemachten
Ansprüche entschieden werden.
41
VII.
Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 GG
Der Beschwerdeführer wird durch den die angegriffene Verfügung des Wetteraukreises, den
Beschluss des Verwaltungsgerichtes Gießen vom 29. Mai 2017 sowie den Beschluss des
Herssischen Verwaltungsgerichtes vom 31. August 2017 aufgrund der fehlerhaften
Abwägung der Ausweisungsinteressen gegen seine Bleibeinteressen in seinem Grundrechten
aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 und 2 GG verletzt.
1. Im Rahmen der Abwägung erkennt die zuständige Ausländerbehörde an, dass der
Beschwerdeführer „durchaus ein inniges Verhältnis“ zu seinen Söhnen habe. Andererseits
habe er unter dem Vorwand, humanitäre Hilfe der notleidenden Bevölkerung in Syrien leisten
zu wollen, beide Kinder im Alter von nur fünf und achtzehn Monaten wie auch deren Mutter
– die Ehefrau des Beschwerdeführers - in ein Bürgerkriegsland in die dortigen katastrophalen
Lebensbedingungen mitgenommen. Er selbst habe angeblich nicht gewusst, was ihn in Syrien
erwarte. Er befinde sich seit dem 31. März 2014 in Haft und hätte deshalb seine beiden Söhne
in deren prägenden Kindheitsphase nicht zur Seite stehen können. Seine Ehefrau lebe mit
seinen Kindern nach wie vor in der Wohnung ihrer Eltern, sodass sie bei der Bewältigung des
Alltags mit seinen Kindern nicht allein dastehe. Diese Umstände in Verbindung mit der
Tatsache, dass sich der Beschwerdeführer in salafistischen Kreisen bewegt und zunehmend
radikalisiert habe, ließen Rückschlüsse auf eine Beeinträchtigung des Kindeswohls bei einem
weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet zu. Es werde andererseits nicht verkannt, dass die
Ausweisung ihn hart treffe, da er sich offensichtlich auf ein Leben in der Bundesrepublik
eingerichtet habe. Es werde auch nicht verkannt, dass sein Lebensmittelpunkt in der
Bundesrepublik Deutschland sei. Zweifel seien jedoch wegen seines nicht gesetzestreuen
Verhaltens im Hinblick auf seine Integration angebracht. Angesichts dieser Umstände stelle
seine Ausweisung keine unangemessene Folge seines Verhaltens dar (Anlage Nr. 2, S.16 f.).
42
2. Das Verwaltungsgericht weist zwar auf die zugunsten des Beschwerdeführers wirkenden
individuellen Bleibeinteressen abstrakt hin, berücksichtigt diese im Folgenden aber nicht
einmal im Ansatz. Bei der Identifizierung der Ausweisungsinteressen erwähnt es zwar, dass er
sich „beanstandungsfrei“ in der Haftanstalt führe, eine Einzeltherapie bei einem externen
Therapeuten absolviere und in der Zeit von Ende Juli 2016 bis Januar 2017 „regelmäßig und
hochfrequentiert“ Gespräche mit Mitarbeitern des Violence Prevention Centers geführt habe,
darüber hinaus im Vollzug als „freundlicher und höflicher Gefangener“ beschrieben werde
und der ihn betreuende Psychologe seine vorzeitige Entlassung in Verbindung mit der
Auflage, die therapeutische Behandlung fortzusetzen, für verantwortbar erachte, wenn auch
seine Persönlichkeitsentwicklung als „noch nicht abgeschlossen erscheine, wobei dessen
'deutliche Naivität zum Deliktzeitpunkt' imponiere.“ Nach Einschätzung des Diplom-
Psychologen Bosch seien die Ursachen der Delinquenz „weniger in radikal-religiösen
Einstellungen und Überzeugungen als vielmehr in den selbstunsicheren
Persönlichkeitsanteilen zu lokalisieren“ (Anlage Nr. 2, S. 6/7). Diese Umstände werden dem
Beschwerdeführer jedoch nicht bei der Identifizierung und Gewichtung seiner individuellen
Bleibeinteressen zugerechnet. Vielmehr dienen sie dem Verwaltungsgericht als Beleg für
seine Feststellung, dass – angesichts seiner leichten Beeinflussbarkeit und seiner noch nicht
ausreichenden Stabilität in Verbindung mit seiner Weigerung, gegenüber den Behörden
andere belastende Aussagen zu machen, um nicht als „Verräter“ dazustehen – vom
Beschwerdeführer eine Wiederholungsgefahr ausgehe (Anlage Nr. ?, S. 6/7). Das
Verwaltungsgericht beruft sich für seine Wertung auf das Urteil des Kammergerichtes vom 6.
Juli 2015, berücksichtigt dabei jedoch nicht, dass dieses die nachträgliche von ihm selbst
beschriebene günstige Sozialprognose noch gar nicht in seine strafrichterliche Würdigung der
Persönlichkeitentwicklung des Beschwerdeführers einstellen konnte.
Der Verwaltungsgerichtshof schließt sich ohne insoweit eigenständige Wertung der
erstinstanzlichen Würdigung an und sieht auch keinen Anlass zu einer abweichenden
Würdigung wegen der Stellungnahmen des Hessischen Landeskriminalamtes vom 15. Mai
und vom 8. Juli 2017, dass die in der Ausweisungsverfügung festgestellte offensichtliche und
konkrete Gefahr der Vorbereitung eines terroristischen Anschlags in Deutschland nicht mit
der notwendigen Offensichtlichkeit „herleiten lassen mag“ (Anlage Nr. 3, BA, S. 5), gemeint
43
könnte wohl sein, dass sie diese Gefahr nicht ausschließen. Individuelle Bleibeinteressen, wie
etwa die Geburt des Beschwerdeführer und sein Aufenthalt in der Bundesrepublik
Deutschland, die Ehe und drei Kinder werden nicht einmal festgestellt, geschweige denn in
ihrem Gewicht identifiziert und mit den öffentllichen Interessen abgewogen.
3. Die angegriffenen gerichtlichen Beschlüsse beruhen auf dem Mangel einer Abwägung der
Ausweisungs- mit den individuellen Bleibeinteressen und insbesondere einer
verfassungsrechtlich nicht tragfähigen fehlerhaften Gewichtung der Interessen der zwei
Kinder des Beschwerdeführers an dessem Verbleib im Bundesgebiet.
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ist die Ausweisung ein Eingriff
in das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Der aus diesem Recht folgende
Schutz vor Eingriffen ist nur in dem durch Art. 2 Abs. 1 G gezogenen Rahmen, insbesondere
in den Schranken der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet (BVerfG, (Kammer),
NVwZ 2007, 1300, mit Hinweis auf BVerfGE 35, 382 (399); 49, 168 (180)). In materieller
Hinsicht bietet – vorbehaltlich besonderer verfassungsrechtlicher Gewährleistungen – wie hier
Art. 6 Abs. 1 und 2 GG - der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz den allgemeinen
verfassungsrechtlichen Maßstab. Zwar ist die einzelfallbezogene Würdigung der für die
Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des
Betroffenen und deren Abwägung gegeneinander den Verwaltungsgerichten übertragen. Das
Bundesverfassungsgericht kann die gerichtlichen Entscheidungen nicht in allen Einzelheiten,
sondern nur auf die Beachtung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe überprüfen (BVerfG,
(Kammer), NVwZ 2007, 1300, mit Hinweis auf BVerfGE 27, 211 (219).
Wie ausgeführt – wurde vorliegend eine derartige Abwägung überhaupt nicht vorgenommen,
sodass bereits deshalb Art. 2 Abs. 1 wie auch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG verletzt werden.
Darüber hinaus sind die Umstände der Tat und die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen
von Amts wegen sorgfältig zu ermitteln und eingehend zu würdigen. Ohne die Kenntnis von
Einzelheiten der Tatbegehung und der persönlichen Situation des Betroffenen können in der
Regel die Auswirkungen der Ausweisung auf die Individualinteressen nicht hinreichend
sicher festgestellt und in einer einzelfallbezogenen Abwägung den die Ausweisung
erfordernden Interessen gegenübergestellt werden. Im Regelfall ist deshalb die Einsicht in die
44
Strafakten ebnenso unerlässlich wie genaue Feststellungen zu den Bindungen des Betroffenen
an die Bundesrepublik Deutschland (BVerfG, (Kammer), NVwZ 2007, 1300 (1301)).
Die Ausländerbehörde hat zwar eine derartige Abwägung vorgenommen, jedoch das Gewicht
der gegen die Ausweisung sprechenden individuellen Interessen des Beschwerdeführers
fehlerhaft identifiziert und den Ausweisungsinteressen von vornherein – wie nach altem
Ausweisungsrecht – ein überwiegendes Gewicht zuerkannt. Insbesondere hat sie ungeachtet
eines hierauf bezogenen Antrags die Strafakten nicht beigezogen. Die Verwaltungsgerichte
haben weder eine Abwägung vorgenommen, noch die für die Prüfung der
Wiederholungsgefahr maßgebenden tatsächlichen Umstände fehlerfrei gewertet noch die
Strafakten beigezogen.
b) Das Bundesverfassungsgericht berücksichtigt bei der von Art. 2 Abs. 1 GG und anderen
verfassungsrechtlichen Gewährleistungen geforderten Abwägung auch Art. 8 Abs. 1 EMRK,
also das Recht auf Achtung des Privatlebens und damit die Summe der persönlichen,
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden
Menschen konstitutiv sind und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen
für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des
Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (BVerfG (Kammer) InfAuslR 2007, 275 (277) =
NVwZ 2007, 946 = EZAR NF 42 Nr. 5; BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1300 (1301) =
InfAuslR 2007, 443 = EZAR NF 42 Nr. 6; BVerfG (Kammer), NVwZ-RR 2011, 420 (421) =
InfAuslR 2011, 236). Das Recht auf Achtung des Privatlebens ist weit zu verstehen und
umfasst seinem Schutzbereich nach u.a. das Recht auf Entwicklung der Person und das Recht
darauf, Beziehungen zu anderen Personen und der Außenwelt zu knüpfen und zu entwickeln
und damit auch die Gesamtheit der im Aufenthaltsstaat gewachsenen Bindungen.
Entscheidend ist, ob der Betroffene dort über intensive persönliche und familiäre Bindungen
verfügt (OVG NW, NVwZ-RR 576 (577); Nieders.OVG, InfAuslR 2006, 329 (330)). Diese
Rechtsprechung beruht auf der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte, der das Recht auf Privatleben sehr weit versteht und es nicht abschließend
definiert hat.
45
Das Kammergericht hat hierzu festgestellt, dass der Beschwerdeführer in Rüsselsheim
geboren wurde und hier seitdem – also nunmehr seit 30 und einundhalb Jahren – seinen
gewöhnlichen Aufenthalt hat, er seit dem 2. April 2003 eine Niederlassungserlaubnis besitzt
und seine Eltern und beiden Schwestern ebenfalls in Deutschland leben und die Schwestern
deutsche Staatsangehörige sind. Ab dem 1.März 2007 war er bis zur Vertragsaufhebung am
24. Juli 2013 nach Durchlaufen eines zweijährigen Jugendprogramms am Frankfurt Flughafen
als Gepäckfahrer tätig und hatte vorher im Rahmen des Projekts „Jugend mobil“ eine
Maßnahme zum Abbau von Jugendarbeitslosigkeit absolviert. Er ist seit dem 11. Februar
2008 mit einer türkischen Staatsangehörigen verheiratet. Aus dieser Ehe sind ein inzwischen
fünf Jahre und zwei Monate sowie ein vier Jahre und zwei Monate alter Sohn hervorgegangen
(Anlage Nr. 13, UA. S. 3/4). Zusätzlich wird in der behördlichen Verfügung festgestellt, dass
der Beschwerdeführer eine zweijährige Ausbildung als Elektrotechniker absolviert hat, die er
mit einem der mittleren Reife vergleichbaren Abschluss beendet hat.
c) Die Behörde hat bei der Abwägung insbesondere das subjektive Recht der Kinder des
Beschwerdeführeres auf Umgang mit dem Beschwerdeführer (§ 1684 Abs. 1 Hs 1 BGB) nicht
zutreffend gewürdigt. Die Verwaltungsgerichte haben es überhaupt nicht berücksichtigt,
geschweige denn zutreffend gewichtet. Die Behörde räumt selbst ein, dass der
Beschwerdeführer ein „inniges Verhältnis“ zu seinen Kindern habe, wendet jedoch ein, dass
er die Kinder in ein Bürgerkriegsgebiet mitgenommen habe. Auch stehe seine Ehefrau nach
seiner Abschiebung in die Türkei mit den gemeinsamen Kinder nicht allein da.
Die Behörde übersieht bei ihrer Wertung, dass das zuständige Jugendamt keine Maßnahmen
gegen den Beschwerdeführer unternommen hat, also dessen verantwortliche Wahrnehmung
seiner Erziehungsaufgabe nicht in Frage steht. Darüber hinaus kommt es aus
verfassungsrechtlicher Sicht nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich
erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Dabei ist auch in
Rechnung zu stellen, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch die
Betreuung des Kindes durch die Mutter oder durch andere Personen oder durch soziale bzw
kirchliche Einrichtungen entbehrlich wird (BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26 (27) =
InfAuslR 2006, 122; BVerfG (Kammer), NVwZ 2006, 682 (683); OVG Hamburg, InfAuslR
46
2006, 463 (464); OVG NW, NVwZ 2006, 717 = InfAuslR 2006, 126; VG Magdeburg,
InfAuslR 2005, 315 (316)).
d) Schließlich werden durch die Verwaltungsgerichte die für die Annahme einer
Wiederholungsgefahr maßgebenden Tatsachen unzutreffend gewürdigt. Wie ausgeführt,
räumt das Verwaltungsgericht zwar ein, dass der Beschwerdeführer sich im Vollzug
„beanstandungsfrei“ führe, eine Einzeltherapie absolviere, „regelmäßig und hochfrequentiert“
Gespräche mit Mitarbeitern des Violence Prevention Centers geführt habe und der ihn
betreuende Psychologe seine vorzeitige Entlassung in Verbindung mit der Auflage, die
therapeutische Behandlung fortzusetzen, für verantwortbar erachtet sowie die Ursachen seiner
Delinquenz „weniger in radikal-religiösen Einstellungen und Überzeugungen als vielmehr in
den selbstunsicheren Persönlichkeitsanteilen“ lokalisiert werden. Diesen Umständen kommt
aber bei der Gewichtung der individuellen Bleibeinteressen insbesondere im Hinblick auf Art.
6 Abs. 1 und 2 GG erhebliches verfassungsrechtliches Gewicht zu. An einer derartigen
Gewichtung fehlt es aber im angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichtes.
Der Verwaltungsgerichtshof bewertet in diesem Zusammenhang insbesondere den Beschluss
des Kammergerichtes vom 21. Juli 2017 einseitig zulasten des Beschwerdeführers, obwohl
dieses die sehr positive Entwicklung des Beschwerdeführer hervorhebt. Seit dem letzten
Beschluss vom 28. Dezember 2016 habe diese sich fortgesetzt. Nach der bereits in der
Hauptverhandlung „glaubhaft bekundeten Abkehr von seiner radikalen Einstellung habe er
auf mehrere Kontaktversuche aus islamistischen Kreisen weiterhin nicht reagiert“ (Anlage Nr.
17, BA, S. 6). Demgegenüber übergeht der Verwaltungsgerichtshof diese seine
Gefahrenprognose in Frage stellende Einschätzung und hält ihm zur Begründung seiner
angenommenen Wiederholungsgefahr die fehlende Zusammenarbeit mit den
Strafverfolgungsbehörden vor. Das Kammergericht weist ausdrücklich darauf hin, dass die für
erforderlich erachteten Vollzugslockerungen nicht wegen Fehlverhaltens oder fehlenden
Anstrengungen des Beschwerdeführers unterblieben seien, sondern wegen der hessischen
Rechtslage, die keine Vollzugslockerungen erlaube. Zugunsten des Beschwerdeführers ist
insbesondere der Hinweis des Kammergerichtes zu bedenken, der zware insoweit seine
Unzuständigkeit hervorhebt, den Vollzugsbehörden aber empfiehlt, „zeitnah mit den
47
Entlassungsvorbereitungen zu beginnen, um den bevostehenden Übergang in die Haft nach
der Haftentlassung zu erleichtern.“
Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass sich nach einer
Strafaussetzungsentscheidung eine relevante Wiederholungsgefahr nur dann bejahen lässt,
wenn die ausländerrechtliche Entscheidung auf einer breiteren Tatsachengrundlage als
derjenigen der Strafvollstreckungsgerichts getroffen wird (BVerfG(Kammer), EZAR NF 40
Nr. 22). Zwar ist vorliegend noch keine Strafaussetzungsentscheidung getroffen worden. Dies
ist aber allein darin begründet, dass die hessische Rechtslage dem entgegensteht, wie das
Kammergericht ausdrücklich hevorhebt. Der Verwaltungsgerichtshof hat diese Entscheidung
jedoch einseitig zulasten des Beschwerdeführers interpretiert, ohne überhaupt auf diesen
Gesichtspunkt einzugehen.
e) Nach alledem ist festzustellen, dass die Behörde wie auch die Verwaltungsgerichte die vom
Gesetzgeber gewollte ergebnisoffene Abwägung der öffentlichen gegen die individuellen
Interessen nicht (Verwaltungsgerichtshof) oder nur einseitig zugunsten der öffentlichen
Ausweisungsinteressen (Verwaltungsgericht) vorgenommen haben. Verfassungsrechtlich
besonders ins Gewicht fallende Interessen, wie das Recht des Kinder auf Beachtung des
Kindeswohls, die weiteren persönlichen und familiären Bindungen des Beschwerdeführer
sowie vor allem die Einschätzung des Kammergerichtes, dass nur die hessische Rechtslage
der Gewährung von Vollzugslockerungen entgegensteht, wurden nicht zur Kednntnis
genommen.
4. Es ist davon auszugehen, dass das erst- und zweitinstanzliche Verwaltungsgericht eine
andere, zugunsten des Beschwerdeführer wirkende Entscheidung getroffen hätte, wenn sie die
individuellen Bleibeinteressen in ihrem Gewicht, Ausmaß und verfassungsrechtlichen
Bedeutung zutreffend erkannt und gewürdigt hätten.
Dr. MarxRechtsanwalt
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