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CARLO ZUMSTEIN SCHAMANISMUS

Carlo Zumstein

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Carlo Zumstein Schamane

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CARLO ZUMSTEIN SCHAMANISMUS

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KOMPAKT

DIEDERICHS

SCHAMANISMUSBEGEGNUNGEN MIT DER KRAFT

CARLOZUMSTEIN

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte

bibliografische Daten sind im Internet unterhttp://dnb.ddb.de abrufbar.

© Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen/München2001

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Werkstatt München / Weiss · ZembschTextredaktion: Loel Zwecker, München

Produktion: Ortrud MüllerSatz: EDV Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer,

GermeringDruck und Bindung: Druckerei J. P. Himmer,

AugsburgPrinted in Germany 2007

ISBN 978-3-7205-2194-9

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INHALT

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7Wiedererweckung des Schamanismus . . . . . . . . . 7Schamanismus, Schamane, Schamanin . . . . . . . . 13Spuren der Schamanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

DIE FÜNF PFADE ZUM SCHAMANISMUS . . . . . . . . . 191. Pfad: Märchen – Einführung in das

schamanische Basiswissen . . . . . . . . . . . . 202. Pfad: Träumen – Das Erwachen des

Schamanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24Erwachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26Einschlafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27Träumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

3. Pfad: Ethno-Schamanismus – Schamanismusder Wissenschaftler . . . . . . . . . . . . . . . . . 30Die Ethnologen und ihre Schamanismus-Definitionen . . . . . . . . . . . 34Der Schamane als Heiler . . . . . . . . . . . . . . 36Mircea Eliades Schamanismus-Formel . . . 38Exkurs über Ekstase . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40Eintauchen in den Ozean der Kraft . . . . . . 42Die Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

4. Pfad: Core-Schamanismus . . . . . . . . . . . . . . . . 45Der Wissenschaftler als Schamane . . . . . . . 45Die schamanische Reise für jedermann,jedefrau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

5. Pfad: Höhlenmenschen und Ur-Schamanen 48Schamanismus: Religion oder Psychologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48Höhle –Tor zur mythischen Welt . . . . . . . 51Wildnis – die Urnatur . . . . . . . . . . . . . . . . 52Tier – Mittler des Mythischen . . . . . . . . . . 53Höhlenmensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54Urmutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60Das Ur-Pentagramm der Kraft . . . . . . . . . . 61

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Anfänge der Kosmologie . . . . . . . . . . . . . . 62Schamanismus – existenzielle Antwort auf die Wildnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

ÜBERLEBENSBEDINGUNGEN UND VERBREITUNGDES SCHAMANISMUS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

Das Bewusstsein des sesshaften Menschen . . . . 66Anmerkungen zu einer Entwicklungs- geschichte des Schamanismus . . . . . . . . . . . . . 68Werdegang des Schamanen . . . . . . . . . . . . . . . 72

Visionssuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72Der Schamane als »Woundet-Healer« . . . . 76Der Schamane als Kind der Geister . . . . . . 77

Initiation heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77DIE SCHAMANISCHE REISE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

Kraftplätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83Anleitung zur schamanischen Reise (nach Michael Harner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85Über Mythen, Metaphern, Bedeutungen und Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

RÜCKKEHR, HEILUNG UND INTEGRATION . . . . . . 90Rückkehr von der schamanischen Reise . . . . . 90Die Sandbilder der Navajos . . . . . . . . . . . . . . . 92Das bebende Zelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93Seelenrückholung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94Metaphern der Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

SCHAMANISCHES HEILEN IM 21. JAHRHUNDERT 98Kraftobjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99Zurückbringen eines Krafttieres . . . . . . . . . . . 100Krafttiertanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101Seelenrückholung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101Schamanische Extraktion . . . . . . . . . . . . . . . . 104Quesalid und die Kraft der Rituale . . . . . . . . . 105Heilen mit Naturgeistern . . . . . . . . . . . . . . . . 109Der Schamane als Seelenbegleiter . . . . . . . . . . 112

Tabelle: Vergleich Träumen – Schamanisches Reisen 116Begriffsglossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124Kontaktadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127Zum Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

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EINFÜHRUNG

WIEDERERWECKUNG DESSCHAMANISMUS

Zwei Wochen nach dem Schamanismus-Kongress vom24. bis zum 29. Oktober 2000 in Garmisch-Partenkirchenrief Rolf an, ein Mittfünfziger, der sich mit der Herstel-lung von Schamanentrommeln durchschlägt. Er hatte amRande des Kongresses innerhalb von drei Tagen alle seineTrommeln verkauft. Doch darüber mochte er sich nichtfreuen, im Gegenteil, er war tief besorgt und bat mich umRat. Schuld daran war sein alter Hund »Yoki« – oder dieGeister des Schamanen Zeren Baawai. Rolf praktiziertselbst Schamanismus und mag daher seinen treuen Ge-fährten auch in der Öffentlichkeit nicht an der Leine ge-fangen halten. Dieser hatte sich auch immer an seinerSeite gehalten, obwohl weit über tausend Menschen ausganz Europa zusammengeströmt waren, um die Schama-nen und Schamaninnen der Naturvölker »live« zu erle-ben. Diese letzten ursprünglichen »Wanderer zwischenden Welten« – so der Kongress-Titel – waren aus allenTeilen der Welt in die süddeutsche Alpenstadt gereist, umeine Kostprobe ihres uralten Heilwissens zu geben.

Rolf erzählte, kurz vor Ende des Kongresses habe dermongolische Schamane Zeren Baawai mit seinen Beglei-terinnen im Kongress-Park ein allen zugängliches Blutri-tual veranstaltet. Blut sollte aber nur als spirituelle Kraftanwesend sein. Wie bei solchen Ritualen üblich, branntein der Mitte ein Feuer, um das sich die Teilnehmenden ineinem Kreis versammelt hatten. Den Geistern wurdenweiße Speisen geopfert. Völlig unerwartet stürzte sichRolfs Hund Yoki auf die Opfergaben. Als eine von Baa-wais Begleiterinnen versuchte, ihn daran zu hindern, wur-de sie vom groß gewachsenen Mischling so heftig bei Sei-te geschleudert, dass sie sich an der Nase eine Platzwundezuzog und einen Zahn verlor – und somit floss Blut. 7

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Rolf war vom Verhalten seines Hundes völlig über-rascht. Er entschuldigte sich und kam selbstverständlichfür die ärztliche Behandlung der jungen Mongolin auf. InAngst versetzte ihn die Androhung des von den westli-chen Freunden der Mongolen eingeschalteten Juristen,für möglicherweise auftretende Gesichtsnarben aufSchmerzensgeld zu klagen. Rolf gestand ein, dass er Yokientgegen den Vorschriften nicht an der Leine gehaltenhatte. Doch waren bei diesem Unfall nicht auch Kräfteaus einer anderen Dimension im Spiel? Hatte da nichtein mächtiger Schamane die Kraft des Blutes gerufen?Und ist es nicht denkbar, dass sich die Geister in der Ge-stalt von Rolfs Hund die geopferten Speisen holten?Doch würde Rolf dies einem rational denkenden Gerichtverständlich machen können?

Rolfs Geschichte spiegelt den Zusammenprall zweierunterschiedlicher Weltbilder wider. Außerdem zeigt sicheinmal mehr: Rituale sind Inszenierungen verborgenerKräfte und diese zeitigen Wirkungen, auch wenn diesefür uns rational denkende Menschen schwer nachvoll-ziehbar sind. Schamanismus ist eine Jahrtausende alteKunst, mit den unsichtbaren Kräften des Universums zuheilen und zu zaubern.

Schamanismus ist älter als unsere Religionen, unsereMedizin und Psychologie. Ihnen allen gemeinsam aberist die Auseinandersetzung mit den Grundfragen und -nöten des Menschen. Seit Bewusstsein erwacht ist,beschäftigen den Menschen drei Fragen: Woher kommeich? Wozu bin ich da? Wohin gehe ich? – Und immer hatder Mensch nach einer Instanz gesucht, die ihm dieseFragen beantworten kann. Er sucht nach einem Schöpferder Welt, in die er sich geworfen findet. So lautet denndie Kardinalfrage: Wer steht hinter dem Geheimnis derSchöpfung?

Kinder stellen sehr früh die erste dieser drei Fragen:»Woher komme ich?« Noch heute ist eine der mögli-chen Antworten der überraschten Mutter: »Der Storchhat dich gebracht.« Das ist im Grunde eine schamanischeAntwort: Einerseits bestätigt die Mutter ihrem Kind dietiefe Verbindung zwischen Mensch und Tier; Kinder8

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selbst fühlen sich besonders zu Tieren hingezogen.Andererseits erscheint das Tier in dieser Antwort alsMittler zwischen uns Menschen und einem mythischenOrt, wo die Seelen ins Dasein geboren werden. Für dieSchamanen war und ist das Tier der Mittler zu jenerKraft, die Leben hervorbringt, zurücknimmt und heilt.Zusammen mit den Ahnengeistern sind die Tiere diewichtigsten Verbündeten beim Heilen und Helfen. Le-ben und Überleben zu ermöglichen sowie Krankheitenzu heilen gehört seit Jahrtausenden überall auf der Weltzu den zentralen Aufgaben der Schamanen und Schama-ninnen.

Heute werden fortschrittliche Mütter ihren Kinderneher antworten: »Du kommst aus meinem Bauch!« Undwenn das Kind wissen will, wie es da hineingekommensei, kann die Mutter erklären, es sei aus der liebendenVereinigung zwischen ihr und dem Vater hervorgegan-gen. Sie wird froh sein, wenn das Kind nicht weiter fragt,wie denn seine Seele zur Mutter gekommen sei. Denndie Mutter müsste wieder auf den Storch zurückgreifenoder auf den Heiligen Geist, die Taube. Sie müsste wie-der zur Mythologie Zuflucht nehmen.

Ist es die Suche nach dem verlorenen Mythos, die heu-tige Menschen zum Schamanismus hinzieht? Schamanis-mus ist gleichsam in der Kindheit des menschlichenBewusstseins entstanden. Denn sobald Bewusstsein er-wacht, stellt es Fragen, allen voran die drei Grundfragendes Daseins. Wir brauchen eine Vorstellung von der Ent-stehung der Welt und von uns selbst, um uns in der Weltaufgehoben zu fühlen. Wir brauchen einen Mythos. Erstdann können wir Selbstbewusstsein entwickeln und dieWelt wissenschaftlich erklären. Der Schamane ist dieVerkörperung dieses Grundbedürfnisses nach Einbet-tung in der Welt. Mit dem Erwachen des Bewusstseins istim Menschen auch der Schamane erwacht.

Erste Zeugnisse von Schamanen finden wir in denSteinzeithöhlen vor etwa 20 000 Jahren. Dort haben siesich zusammen mit der Urmutter, dem Jäger-Vater unddem Tier an die Höhlenwände gemalt. Bis heute ist ihreBotschaft dieselbe geblieben: Mensch, Tier, Pflanzen, die 9

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ganze Natur sind in einem ewigen Kreislauf der Lebens-kräfte miteinander verbunden im großen Ganzen desUniversums.

In den Buchhandlungen finden wir die Bücher überSchamanismus in den Regalen »Esoterik«, »Religion«oder »Psychologie«. Warum nicht umgekehrt? Schama-nismus ist älter als jedes dieser drei Wissensgebiete. Ersteht zu diesen wie der Wurzelstock eines Wildbaumes,auf den ein veredelter Zweig einer Zuchtform aufge-pfropft wird, aus dem ein starker Baum mit anmutigenund fein schmeckenden Früchten herauswächst. Schama-nismus ist der Wurzelstock der seit Jahrtausenden in denKlöstern und später in den Universitäten kultiviertenAntworten auf die Grundfragen der menschlichen Exis-tenz.

Die Religionen, Naturwissenschaften, die Medizinund die Psychologie schöpfen aus der ursprünglichenKraft des Schamanismus, wie der aufgepfropfte Zweigaus dem Wildbaum. Bei den Naturvölkern finden wirheute verschiedene »Kreuzungen« des WildbaumesSchamanismus mit »zivilisierten« Religionen, deren Sa-men seit dem 15. Jahrhundert von den Einwanderern,Soldaten und Missionaren nach Amerika, Afrika undAustralien geschleppt wurden. Der ursprüngliche Scha-manismus scheint ausgestorben zu sein.

Dennoch hat Schamanismus die Kraft der Wildnisbehalten, und genau diese ursprüngliche, wilde Kraft su-chen viele Menschen heute wieder, als Heilkraft, aberauch als Kraft, die uns selbst wieder mit den Wurzelnunseres Daseins verbindet. Schamanismus ist wild, abernicht primitiv. Er ist eine hoch entwickelte Form des Le-bens in Übereinstimmung mit der Natur, so wie sich dieWurzeln auf hoch differenzierte Weise der umgebendenErde anpassen, um ihr Wasser und Nährstoffe für dasWachstum der ganzen Pflanze zu entziehen. Die Scha-manen haben nie aufgehört, in Einheit mit der Natur zuleben. Schamanen kennen die Gesetze der Wildnis, dieHeilkräfte der Pflanzen, die Kraft der Elemente Erde,Feuer, Wasser, Luft und jene der Himmelsrichtungen.Sie kennen die verborgenen Kräfte hinter den sichtbaren10

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Formen des Lebens und sie können sich verbinden undverbünden mit jener universellen Kraft, die alles hervor-bringt, was ist und alles mit Leben beseelt. Diese univer-selle Kraft nennen wir hier einfach Kraft.

Der Schamanismus-Boom in der westlichen Weltsetzte mit den Büchern von Carlos Castaneda Ende dersechziger Jahre des 20. Jahrhunderts ein. Der junge ame-rikanische Anthropologe, in New Mexico auf der Suchenach Informationen über Heilpflanzen, wird vom altenIaqui-Indianer Don Juan in die magische Welt der tolte-kischen Schamanen gelockt. Bevor er sich dagegen weh-ren kann, ist aus dem distanzierten Forscher ein naiverSchüler geworden. Im Laufe seiner langen Lehrzeit er-fährt Castaneda am eigenen Leibe, wie die Schamanendurch Veränderung ihres Bewusstseins die Grenzen deralltäglichen Wirklichkeit überschreiten und sich mit derKraft einlassen, sie zum Zaubern einsetzen. Castanedalernt, mit dem Adler durch die Lüfte zu fliegen, sich anleuchtenden Energiefäden senkrechte Felsen hochzuzie-hen, magische Helfer aus dem Wasser aufsteigen zu las-sen und gemeinsam mit anderen Zauberern geheimnis-volle Traumwelten zu kreieren.

Castanedas Bücher wurden in alle wichtigen Sprachenübersetzt und erreichten hohe Auflagenzahlen. Dasschicksalhafte Zusammentreffen eines ahnungslosenWestlers mit einem Angehörigen eines nativen, d.h. ein-geborenen Volkes, der sich bald als mächtiger Schamaneentpuppt und den Fremden im Laufe einer abenteuerli-chen Lehrzeit ins verborgene Wissen der Schamaneneinweiht, ist seit Castaneda zum Grundmuster vonBerichten über den geheimnisvollen Umgang mit denverborgenen Kräften der Natur geworden.

Castaneda hat auch für die Wissenschaftler einen neu-en Stil der Erforschung des Schamanismus geprägt. Scha-manismus ist Erfahrungswissen, nur jene können authen-tisch darüber berichten, die es am eigenen Leib erfahrenhaben. Den Fragebogen-Ethnologen oder -Anthropolo-gen bleiben die Heil- und Zauberkräfte der Schamanenverborgen. Heute gehen immer mehr Forscher selbst denWeg des Schamanen, um die Geheimnisse der Kraft zu 11

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ergründen. Ihre Bücher füllen inzwischen ganze Regale inden Buchhandlungen. Im Fernsehen wird über Expedi-tionen zu noch nicht entdeckten Schamanen irgendwo imHimalaja, in den Urwäldern Afrikas oder in den SteppenAustraliens berichtet, während die indianischen und sibi-rischen Schamanen bereits in den westlichen Fernsehstu-dios »live« auftreten zwischen ihren Workshops für zivili-sationsmüde Menschen.

Angesichts der zunehmenden Technisierung des täg-lichen Lebens, der Übermacht des rationalen Denkens,der Zerstörung der Umwelt sehnen sich viele Menschennach dem einfachen Leben in Übereinstimmung mit der Natur. Zurück zu den Wurzeln ist der Ruf der sehn-süchtigen Herzen – ohne genau zu wissen, wonach sie su-chen, was sie ersehnen. Sie nennen es Liebe, Natur, Ver-bundenheit, Ursprünglichkeit. In den geheimnisvollenRitualen und Zeremonien der Schamanen scheinen sieeinen Ersatz für die verlorenen Traditionen und die Reli-gion zu finden, und sie befriedigen die Abenteuerlust.Menschen jeden Alters, jeder beruflichen und sozialenSchicht suchen bei den so genannten primitiven VölkernAntworten auf ihre dringendsten Lebensfragen: »Wo istmein Ursprung? Wozu bin ich da in dieser Welt? Wohinsteuert die Welt?« Die Integration schamanischer Heil-methoden ist zum Markenzeichen sich modern gebenderTherapeuten geworden, die oft nicht bedenken, dass derSchamane Teil einer Lebensgemeinschaft war, die vonder Zivilisation längst zerstört worden ist. Der Schamaneund die Schamanin sind zu Symbolfiguren von Wunder-heilern und Eingeweihten in die Geheimnisse der Naturgeworden.

Ein wichtiger Grund für die Renaissance des Schama-nismus liegt wohl in der säkularisierten Gesellschaftselbst. Wir haben den Mythos verloren, die großen Reli-gionen finden immer stärkere Konkurrenz in kleinenSektengruppen. Die Naturwissenschaften, die Psycholo-gie und die Gesetzgeber erheben Anspruch, die Geheim-nisse des Lebens zu erklären, ohne aber den MenschenHalt und Führung zu geben. Die hergebrachten familiä-ren, sozialen und gesellschaftlichen Strukturen lösen sich12

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immer mehr auf. Wir haben unsere Bindung an eine ge-meinsame Kosmologie verloren, eine einigende Religionfehlt, wir sind gesellschaftlich und politisch zersplittert.Jeder Mensch kann und muss sich sein eigenes Weltbildzurechtlegen und steht damit alleine. Im Grunde ent-spricht dies genau der Situation der Menschen der Vor-zeit. Sie standen ohne Hilfsmittel in der Wildnis. Scha-manismus war die erste und ursprüngliche Möglichkeitdes Menschen, sich selbst im Wechselspiel der elementa-ren Kräfte zu verstehen und einzuordnen.

Heute sind es nicht mehr die Kräfte der Wildnis, dieuns ganz direkt herausfordern. Es ist das Kräftespieleiner globalisierten Welt, in dem wir uns selbst nurschwer zurechtfinden. Wir sind einer Art Verwilderungder Kräfte der Zivilisation ausgesetzt. Da sehnen sich dieMenschen nach einem einfachen Leben in einer über-sichtlichen Welt. Sie suchen Zuflucht bei archaischenErklärungsversuchen und Methoden der Lebensbewälti-gung. Solche finden wir im Schamanismus.

Schamanismus ist ein seit Jahrtausenden praktiziertes,gehütetes und mündlich weitergegebenes Wissen überden heilsamen Umgang mit den Kräften der Wildnis,letztlich mit der universellen Kraft. Schamanismus istErfahrungswissen, dessen Kern dem rationalen Denkendes distanzierten Wissenschaftlers ebenso verborgenbleibt wie dem in der Stube hockenden Leser. Im Grun-de müssen die schamanischen Rituale und Zeremonienpraktiziert werden, nur so kann ihre Heil- und Zauber-kraft erfahren werden.

SCHAMANISMUS, SCHAMANE,SCHAMANIN

Schamanismus ist das älteste Wissen über die verborge-nen Kräfte des Universums. Seit Jahrtausenden wirkenSchamanen und Schamaninnen bei den Naturvölkern al-ler fünf Kontinente als Heiler, Zauberer, Wahrsager,Weise und Künstler. Sie trommeln und tanzen sich inTrance, gehen auf Jenseitsreisen, rufen Geister als Verbün- 13

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dete und heilen mit den verborgenen Kräften der Natur.Sie sind Mittler und Boten der alles belebenden undbeseelenden Schöpferkraft. Die Erde ist ihre Mutter, dieTiere sind ihre Geschwister, die Pflanzen und Steine ihreVerwandten, die Ahnen ihre Ratgeber. Feuer und Wassersind ihre Medizin. Sie singen die Botschaften des Win-des. Wo sie ihre Rituale feiern, treffen sich die Kräfte allerHimmelsrichtungen.

Schamanen sind Brückenbauer zu verborgenen Wirk-lichkeiten, sie bringen den kranken Menschen verloreneLebenskraft zurück und begleiten die Seelen Verstorbe-ner ins Jenseits. Während ihrer Zeremonien und Ritualetragen sie bunt geschmückte Gewänder und verwendenkunstvoll gefertigte Kraftobjekte aus Pflanzenteilen, Tier-knochen, Häuten, Vogelfedern, Steinen zum Übertragender Kraft. Ihr wichtigstes Instrument ist die Schamanen-trommel. Überall auf der Welt ist die flache Rahmen-trommel, bespannt mit Tierfell und geschmückt mitZeichnungen ihrer Verbündeten, Kennzeichen der Scha-manen. Ihr monotoner Klang versetzt sie in Trance undbegleitet sie auf die schamanische Reise in die Nichtalltägli-che Wirklichkeit. In gewissen schamanischen Traditionenwird der schamanische Bewusstseinszustand mit Hilfe vonDrogen ausgelöst.

In der Kosmologie der Schamanen ist die Nichtalltägli-che Wirklichkeit in drei Ebenen unterteilt. In der UnterenWelt führen sie Tiergeister zu den Quellen der Lebens-kraft. In der Oberen Welt holen sie sich bei den Ahnen-geistern Wissen und Rat. Die Mittlere Welt ist ihreLebenswelt. Das Universum ist von Kraft durchdrun-gen. Sie belebt und beseelt alles, was ist, den Adler inden Lüften, den Stein in der Hand, die Heilpflanze aufder Wunde.

Schamanismus ist überall auf der Welt entstanden. Diekleinen Horden vorgeschichtlicher Jäger und Sammlersahen sich überall denselben existenziellen Herausforde-rungen ausgesetzt. Der Schamane half, gute Jagdplätzeaufzuspüren, essbare und heilsame Pflanzen zu finden,sich mit den Seelen der getöteten Tiere zu versöhnen, dieGemeinschaft vor Feinden zu schützen und fruchtbar zu14

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sein. Sein Wissen gab er einem seiner Kinder weiter. DieInitiation zum Schamanen oder zur Schamanin kann auchdurch eine Begegnung mit dem Tod oder eine schwereKrankheit erfolgen. Ein Mensch kann einem inneren Ruffolgend einen erfahrenen Schamanen aufsuchen, der ihnzunächst zur Visionssuche in die Wildnis schickt. Hitze,Kälte, Unwetter, Angst, Einsamkeit, Hunger und Durstsprengen die Grenzen des Ich und lösen Visionen aus, indenen sich die Hilfsgeister und die Lebensaufgabe deskünftigen Schamanen ankündigen. Erst dann wird derAnwärter in eine oft Jahre dauernde Lehrzeit aufgenom-men.

Westliche Eroberer, Soldaten und Missionare trafenals Erste auf die indigenen Schamanen. Ihnen sind langeZeit später die Ethnologen und Anthropologen gefolgt.Manche beschrieben die Schamanen als Hexer, Teufels-anbeter oder als psychisch Kranke. Carlos Castaneda undMichael Harner gehören zu den ersten Weißen, die durchnative Schamanen eingeweiht und selbst zu Schamanenwurden. Seither haben viele Schamanen und Schamanin-nen der verschiedensten Traditionen ihr Schweigen ge-brochen und ihr Wissen an Interessierte in den zivilisier-ten Ländern weitergegeben.

Michael Harner und Sandra Ingerman haben im Core-Schamanismus die wichtigsten schamanischenHeilmethoden wie Seelenrückholung, Extraktion undDivination sowie die Begleitung von Sterbenden, dieHilfe für verlorene Seelen, die Lösung von Besetzungenfür westliche Menschen lern- und praktizierbar gemacht.Eine neue Generation von schamanisch tätigen Men-schen bietet vor allem seelisch leidenden Menschenerfolgreich spirituelle Hilfe an.

SPUREN DER SCHAMANEN

Bei genauer Betrachtung finden sich überall in unseremzivilisierten Leben Spuren des Schamanismus. Dort, woheute Kapellen, Kirchen, Klöster stehen, waren häufigKraftplätze der alten Schamanen, dort haben sie Heil- 15

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rituale sowie Zeremonien zur Sonnenwende und zumVollmond durchgeführt. Die Kirchen haben die altenJahreszeitfeste auch gleich mit übernommen. Die Katho-liken feiern Weihnachten, die Geburt Christi, wenigeTage nach der Wintersonnenwende; Ostern, die Aufer-stehung Christi, am ersten Vollmond nach der Früh-lings-Tagundnachtgleiche.

Der Schamane war für seine Gemeinschaft, was füruns heute der Priester, Arzt, Lehrer und Psychotherapeutist. Die Frage des Arztes: »Was fehlt Ihnen?« wurzelt inder Heiltradition der Schamanen. Aus der Sicht desSchamanen lebt ein gesunder Mensch in Harmonie mitden Gesetzen der Natur. Krankheit ist der Verlust dieserHarmonie. Während sich der Schamane von seinenGeistern Heilpflanzen zeigen lässt, benützt der moderneArzt Laborgeräte und Tomografen und verabreichtMedikamente. Dennoch will auch der Arzt, dass imMensch die Übereinstimmung mit den Gesetzen der Na-tur wieder hergestellt wird.

Das menschliche Bewusstsein ist in den letzten Jahrenzu einem wichtigen Forschungsgebiet der Psychologieund Neurologie geworden. Dazu gehört die Erforschungder Techniken zur Auslösung und Anwendung von ver-änderten Bewusstseinszuständen. Die Schamanen warendie ersten »Bewusstseinsforscher«, sie haben Technikenwie monotones Trommeln, Tanzen, Drogeneinnahme,Fasten in der Wildnis seit Jahrtausenden erforscht underfolgreich zum Heilen eingesetzt. Ihre Berichte derTrancereisen in andere Wirklichkeiten liefern den Psy-chologen wertvolle Hinweise zum Verständnis von psy-chischen Krankheiten. Menschen in Psychosen treibenhilflos in Erlebniswelten umher, in welchen sich dieSchamanen sicher zu bewegen vermögen. Von ihnenkönnte man auch lernen, das Drogenproblem zu bewälti-gen. Was bei uns zum »Schmeißen« von Drogen ver-kommen ist, gehört bei den Schamanen zu den heiligstenund bestgehüteten Ritualen.

Nicht nur zivilisationsmüde und esoterisch ange-hauchte Menschen reisen zu den Schamanen nach Ame-rika, Afrika, Sibirien und Australien. Neben Journalisten,16

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die die letzten großen Schamanen aufspüren, sendenmultinationale Pharmakonzerne speziell ausgebildeteEthnobotaniker in die Urwälder, um Schamanen undKräuterdoktoren das uralte Wissen über Heilpflanzenabzukaufen, weil die Kosten für die synthetische Ent-wicklung neuer Heilmittel in den chemischen LaborsMillionen verschlingt und fünf bis zehn Jahre in An-spruch nimmt. Eine neue Art der Vermarktung schama-nischen Wissens.

Nebenbei gesagt: Wenn der Ethnobotaniker mit ei-nem Schamanen zusammentrifft, prallen erneut zweiganz unterschiedliche Welt- und Naturverständnisse aufeinander. Der Ethnobotaniker sieht die Pflanze alsWirkstofflieferanten und erforscht deren Produktions-mechanismus, um ihn letztlich im Labor nachzuahmenund zur Heilmittelproduktion zu nützen. Der Wissen-schaftler dient insgeheim dem christlichen Auftrag, denMenschen die Vorherrschaft über die Welt zu sichern.Der Schamane ist beseelt vom Wunsch, mit der Pflanzeals Partner zusammenzuleben. Sie spricht mit ihm überihren Lebensraum und ihre Nachbarn; sie zeigt ihm, inwelchen ihrer Teile Heilkräfte verborgen sind und zuwelcher Jahres- und Tageszeit deren Kraft am größtenist. Der Schamane bedankt sich bei der Pflanze für ihrWissen und ihre Heilkraft.

Die Schamanen sind die Weisen und Heiler jenerMenschen, die als Gäste durch die Welt ziehen und vie-lerorts bis heute Nomaden geblieben sind. Wohl keinerhat das Natur- und Weltverständnis jener Menschen bes-ser in Worte gefasst als Chief Seattle, der Häuptling derDuwamish-Indianer. In seiner Rede an den Präsidentender Vereinigten Staaten, der den Indianern vorschlug,das Land an weiße Siedler zu verkaufen und in ein Reser-vat zu ziehen, sagte Chief Seattle 1855:

»Wie kann man den Himmel kaufen oder verkaufen –oder die Wärme der Erde? Diese Vorstellung ist unsfremd. Wenn wir die Frische der Luft und das Glitzerndes Wassers nicht besitzen – wie könnt Ihr sie von unskaufen? [...] 17

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Meine Worte sind wie die Sterne, sie gehen nichtunter. Jeder Teil dieser Erde ist meinem Volk heilig,jede glitzernde Tannennadel, jeder sandige Strand,jeder Nebel in den dunklen Wäldern, jede Lichtung,jedes summende Insekt ist heilig, in den Gedanken undErfahrungen meines Volkes. Der Saft, der in den Bäu-men steigt, trägt die Erinnerung des roten Mannes.«

(Seattle o.J., S. 8f.)

Wenn wir auf dem Berggipfel den Aufgang der Sonnemiterleben oder ihre glutrote Scheibe ins Meer sinkensehen, erwacht in unseren Knochen jenes uralte Wissenund durchströmt jede Faser unseres Wesens. Tief in unsallen lebt die Sehnsucht nach einem Leben in Einheit mitder Natur. Wenn heutige Menschen ihre Faszinationdurch den Schamanismus begründen, erwähnen sie alsErstes seine Naturverbundenheit und dann den Zugangzu den verborgenen Kräften.

Die Menschen der Vorzeit wurden vom Leben selbstzum Schamanismus geführt. Heute ist es umgekehrt, diealten Schamanen lehren, dass die elementarsten Lebens-prozesse eine Begegnung mit den verborgenen Kräftender Natur sind.

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DIE FÜNF PFADE ZUM SCHAMANISMUS

Die Zivilisation hat den Schamanismus unter sich begra-ben, die wilde Erde verborgen unter dem Mantel einerkünstlichen Umwelt, angefertigt nach den Schnittmus-tern der Natur- und Rechtswissenschaften, der Religionund Psychologie. Wie können wir Menschen des 21. Jahr-hunderts uns dennoch dem Schamanismus nähern? Wofinden wir den Schamanen in seiner ursprünglichen Ge-stalt? Fünf Pfade stehen uns offen.

Die Ethnologen und Anthropologen, die für Scha-manismus zuständigen Wissenschaftler, würden uns ra-ten, zu einem Naturvolk zu reisen, z.B. zu den Navajo-Indianern nach Amerika, zu den Ewenken nach Sibiri-en, den San ins südliche Afrika oder zu den Abori-gines nach Australien und uns dort nach einem ihrerSchamanen oder Schamaninnen durchzufragen. Werdort hingeht, müsste mehrere Monate bleiben, um dasVertrauen eines Schamanen oder einer Schamanin zugewinnen und in sein oder ihr Wissen eingeweiht zuwerden.

Es gibt noch einen viel näher liegenden Zugang zumWissen der Schamanen. Wir brauchen uns nur an dieMärchen unserer Kinderzeit zu erinnern. Heute verber-gen die aufgebügelten Deutungen der Psychologie zwaroft ihre ursprünglichen Botschaften. Doch im Grunde istdas Vermächtnis der Schamanen in die wundersamenGeschichten eingewoben. Wenn wir uns das Märchen»Frau Holle« unvoreingenommen anhören, dann offen-bart es uns eine detaillierte Anleitung zur schamanischenInitiation. Viele Märchen sind wie Wegweiser zum Wis-sen der Schamanen.

Eigentlich sind wir alle schon initiiert, eingeweiht insWissen der Schamanen. Denn wir gehen jede Nacht denPfad in die verborgenen Welten der Kraft. Nachts wäh-rend des Schlafes gleiten wir unbemerkt durch den dunk-len Schacht der Bewusstlosigkeit in die Traumzeit. So 19

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nennen die australischen Schamanen jene weit zurücklie-gende Zeit, als es noch keine Trennung gab zwischen dermateriellen und der immateriellen Welt, als die Wach-welt und die Traumwelt noch eins waren, als die Men-schen noch in Harmonie mit allen Kräften des Univer-sums lebten. Traumzeit ist die Zeit der Schamanen.

Michael Harner, amerikanischer Anthropologiepro-fessor und Schamanismusforscher, hat mit einer Verbin-dung von uralten schamanischen Techniken und moder-nen Wachtraumtechniken einen Pfad gefunden, auf demman einfach und gefahrlos in die schamanischen Weltenreisen kann. Harner nennt ihn Core-Schamanismus,Kern-Schamanismus.

Ein wichtiger Zugang zum Schamanismus in seinerursprünglichen Form ist bisher kaum beachtet worden.In den Steinzeithöhlen haben die ersten Schamanen inmonumentalen Gemälden die Geburt des Schamanismusangekündigt. Dort finden wir Zeugen der ursprüngli-chen Verbindung des Menschen mit den verborgenenKräften des Universums.

Fünf Pfade führen uns zu den Schamanen:• Die Märchen und Mythen• Das Träumen • Die Reise zu Naturvölkern• Die Trancereisen des Core-Schamanismus• Die Reise an den Ursprung des Bewusstseins in den

Steinzeithöhlen.

1. PFAD: MÄRCHEN EINFÜHRUNG IN DAS SCHAMANISCHE BASISWISSEN

Heute werden Märchen ausschließlich als psychologi-sche Bildbeschreibungen der kollektiven Seelenkräftegesehen. Doch Märchen sind mehr. Sie geben auf einfa-che Weise das Wissen um die Geheimnisse des Daseinsund der Welt weiter. Ein Märchen wie »Frau Holle« isteine praktische Anleitung zur Erfahrung der verborge-nen Welten und deren Kräfte. Wir erfahren, wie wir uns20

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den Weg dorthin öffnen können, was uns dort erwartetund wie wir uns zu verhalten haben, um in die Geheim-nisse der Kraft eingeweiht zu werden.

Das Märchen »Frau Holle« erzählt, wie das Waisen-kind Marie von ihrer Stiefmutter und Stiefschwester aus-genützt und zurückgestoßen wird. Eines Abends will siedie neu gesponnene Spindel Flachs im Brunnen waschen,weil sie vom Blut ihrer zerschundenen Hände be-schmutzt ist. Die Spindel rutscht ihr aus der Hand undfällt in den Brunnen. In Angst und Verzweiflung lehntsich Marie tief in den Brunnen und stürzt dem kostbarenGegenstand hinterher. Sie verliert das Bewusstsein. Alssie wieder zu sich kommt, findet sie sich nicht am Grunddes Brunnens, sondern auf einer schönen Wiese wieder.

In allen schamanischen Traditionen ist überliefert, dassMenschen mit schwerem Schicksal wie das WaisenkindMarie – ausgestoßene, geschundene, erniedrigte Wesen,eben bereits an den Rand gedrängte – prädestiniert sind,Zugang und Aufnahme in der spirituellen Welt zu finden.Die fehlende Kraft in dieser Welt wird durch die Initiati-on, die Einweihung in die Kräfte der verborgenen Wel-ten, kompensiert. Auslösendes Ereignis ist oft eineKrankheit, ein Unfall, ein Nahtoderlebnis. Hier ist es dieAngst vor der Bestrafung durch die Stiefmutter.

Der Brunnenschacht ist der Durchgang zur anderenWelt, zur Nichtalltäglichen Wirklichkeit. Das Eintauchenin diese dunkle, gestaltlose Zwischenwelt geht einher mitdem Verlust des gewohnten Bewusstseins und dem Erwa-chen in den schamanischen Bewusstseinszustand mit verän-derter Wahrnehmung. Die Verbindungen zur Alltags-welt müssen ganz abbrechen. Drüben hört Marie einenApfelbaum bittend rufen, er müsse dringend von denschweren Äpfeln befreit werden, Brote im heißen Back-ofen wollen vor dem Verbrennen gerettet werden. In derAnderswelt wird die neu Angekommene von Bäumenund Broten, die reden können, aufgefordert, Aufgaben zuübernehmen. Dies sind Zulassungsprüfungen zu denGeheimnissen der anderen Welt.

Als Marie schließlich zur Hüterin des Wissens vor-dringt, begegnet ihr nicht eine strahlende Königin, son- 21

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dern eine alte Frau mit erschreckend großem Gebiss. Hin-ter ihr verbirgt sich die weise Frau, die spirituelle Verbün-dete. Sie ist die Lehrerin, sie führt die Novizin ins Wissenund die Kraft der anderen Welt ein. Trotz anfänglicherFurcht übernimmt Marie die ihr übertragene Aufgabe undentdeckt hinter dem einfachen Bettdecken-Schütteln einGeheimnis: Über die Erde legt sich eine Schneeschicht.Die Zeit des Winterschlafes, des Rückzuges unter die Er-de bricht an. Dort wird in der dunklen Zeit die Krafterneuert, die neues Leben zum Keimen bringt. Durchihren Sturz in die Tiefe der Erde ist die kleine Marie ge-nau in jene Welt der Kraft gekommen. Auf Geheiß ihrerLehrerin bringt sie die Menschen mit der Kraft derAnderswelt in Kontakt. Das Deckenschütteln ist eines dereinfachen Kraftrituale, wie sie auch die Schamanen vonihren spirituellen Verbündeten aufgetragen bekommen,um die Menschen in der Alltagswirklichkeit mit der uni-versellen Lebenskraft in Verbindung zu bringen.

Obwohl Marie von Frau Holle gut behandelt wird undihre Aufgabe liebt, ruft Heimweh sie zurück, dorthin, wosie vielleicht wieder ausgestoßen werden wird von Stief-mutter und -schwester. Der Aufenthalt in der spirituellenWelt ist immer zeitlich begrenzt. Schamanen sind Brü-ckenbauer und als solche Wanderer zwischen den Wel-ten. Sie sagen, ein Jenseitsreisender, der nicht zurück-kehrt, ist ein wirkungsloser Verrückter.

Marie muss aber nicht etwa mühsam den Brunnen-schacht hochklettern. Für sie öffnet die weise Frau dasTor zwischen den Welten. Hier findet die eigentliche Ini-tiation statt. Marie wird mit Gold übergossen, äußeresZeichen der Verleihung besonderer Gaben, Fähigkeiten– Zeichen der Initiation. Als Goldmarie erregt sie denNeid der Stiefschwester. Diese verschafft sich mit demWissen ihrer initiierten Schwester mutwillig Zugang zuranderen Welt. Aber nur an den äußeren Werten interes-siert, mag sie weder die Prüfungen übernehmen, nochhält sie das tägliche Deckenschütteln lange durch. Als sievon der weisen Frau Holle zur Rückkehr aufgefordertwird, verlangt die Unglückselige ihren Lohn und wirdam Tor zur Alltagswelt mit Pech übergossen, vielleicht22

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das äußere Zeichen für ein seelisches Leiden als Folgedes mutwilligen Eindringens in die spirituelle Welt.Auch Pechmarie bleibt zeitlebens gekennzeichnet.

Im Märchen »Frau Holle« findet sich das schamanischeBasiswissen:

• Schamanisches Reisen in die Nichtalltägliche Wirk-lichkeit. Bewusstseinsveränderung und Durchgangdurch einen Tunnel (eine strukturlose Zwischen-welt) in eine Anderswelt.

• Zusammenarbeit mit Geistkräften: Krafttiere oderAhnenwesen werden zu Verbündeten.

• Rituale: Handlungen, mit deren Hilfe die Kraft inder Alltagswirklichkeit zur Wirkung gebracht wird.

• Initiation: Einweihung in die Geheimnisse der Kraftund Ermächtigung, diese anzuwenden.

• Das Märchen ist auch ein Lehrstück schamanischerEthik, d.h. des verantwortungsvollen Umgangesmit spirituellem Wissen.

Viele andere Märchen und Mythen, auf die hier nichteingegangen werden kann, enthalten Anleitungen zumSchamanisieren. Wer hat das schamanische Wissen in ei-ner Mär wie »Frau Holle« untergebracht? Aus welcherZeit stammt es? Wo sind die Schamanen von damals?Wir wissen nichts Verlässliches darüber. Man sagt, unse-re schamanischen Vorfahren seien die keltischen Scha-manen, die Druiden. Sie sind den Römern und derchristlichen Kirche zum Opfer gefallen. Wie konnte die-ses Wissen bis heute unentdeckt, gleichsam im Verborge-nen überleben? Tom Cowan versucht in seinem Buch»Die Schamanen von Avalon« nachzuweisen, dass inSchottland, Irland und England keltische Traditionennoch heute zum täglichen Leben gehören (Cowan,1998). Dennoch heilen bei uns keine Druiden mehr undihr Zaubertrank wirkt nur noch in Comic-Heften.

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Carlo Zumstein

Schamanismus

Gebundenes Buch, Broschur, 128 Seiten, 10,5 x 18,0 cmISBN: 978-3-7205-2194-9

Diederichs

Erscheinungstermin: März 2001

Am Ende des 20. Jahrhunderts meinten die Experten, die Religion des kommendenJahrhunderts würde der 'Buddhismus' sein - oder sogar der 'Schamanismus'. Aber: Ist denn derSchamanismus überhaupt eine Religion? Was ist überhaupt alles Schamanismus, und wo findeter statt? Ist es nicht nur das esoterische Heilwissen eines Volkes in Sibirien? Und: Gibt es auchSchamanen im Westen, unter uns? Oder sind das nur Psychotherapeuten, die schamanistischeTechniken einsetzen? 'Diederichs kompakt' gibt die Antworten.