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235 Wiebke Dröge Bevor Form entsteht Entsichern und Begleiten in der Choreografiearbeit Wir müssen uns nicht auf die mentalen Projektionen unseres gewöhnlichen Dirigierens verlassen, ihren Mühen, und Positionen und Grenzen. (…) Es ist eine sowohl spezifische als auch unmittelbare Erfahrung: eine Lockerung im Körper, im Kopf, im Geist. (Tarthang Tulku 1999, 195) Welche Aufgabe hat Tanzkunst im Feld von Schule und Bildung? Welches spezifische Wissen kann sie beisteuern? Wie bestimmt und beeinflusst der Prozess des gemeinsamen Lernens das Ergebnis, die ästhetischen Aus- drucksformen eines Tanzprojekts? Und: Welche Herausforderungen erge- ben sich daraus für die Begegnung zwischen Choreographen und Schülern und Studierenden? Im konkreten Zusammenhang mit meiner Konzeptent- wicklung und Koordinierung von „Tanz in Schulen“ für das Tanzlabor_21 1 – seit Ende 2006 – stehen für mich diese Fragen zum Thema Bevor Form entsteht sowohl im praktischen Feld von Tanzprojekten als auch in meiner theoretischen Reflexion erneut im Vordergrund. Form wird hier als Über- begriff verwendet für wahrnehmbare Erscheinungen im Tanz. Sie impliziert Aspekte von Bewegungsqualität, Technik und Effizienz von Bewegung, Stil und Ausdrucksmittel von Tanz, die Gestaltung und ihre Dramaturgie an sich, einschließlich ihrer verwendeten Mittel. Tanz als reine Bewegungsvorschrift ist für die meisten Schüler an sich schon eine neue und herausfordernde Körpererfahrung. Statt um das kopf- 1 Unter dem Titel Tanzlabor_21 / Ein Projekt von Tanzplan Deutschland setzen die drei Institutionen Künstlerhaus Mousonturm, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main und Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Jus- tus Liebig Universität Gießen ein gemeinsames Konzept um. Das Frankfurter Projekt widmet sich der professionellen Ausbildung im Tanz und soll alle tanzrelevanten In- stitutionen der Rhein-Main-Region miteinander verbinden. Ziel des Tanzlabor_21 ist es, Tanzpraxis und Tanztheorie besser miteinander zu vernetzen. www.tanzlabor21.de

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Wiebke Dröge

Bevor Form entsteht Entsichern und Begleiten in der Choreografiearbeit

Wir müssen uns nicht auf die mentalen Projektionen unseres gewöhnlichen Dirigierens verlassen, ihren Mühen, und Positionen und Grenzen. (…) Es ist eine sowohl spezifische als auch unmittelbare Erfahrung: eine Lockerung im Körper, im Kopf, im Geist. (Tarthang Tulku 1999, 195)

Welche Aufgabe hat Tanzkunst im Feld von Schule und Bildung? Welches spezifische Wissen kann sie beisteuern? Wie bestimmt und beeinflusst der Prozess des gemeinsamen Lernens das Ergebnis, die ästhetischen Aus-drucksformen eines Tanzprojekts? Und: Welche Herausforderungen erge-ben sich daraus für die Begegnung zwischen Choreographen und Schülern und Studierenden? Im konkreten Zusammenhang mit meiner Konzeptent-wicklung und Koordinierung von „Tanz in Schulen“ für das Tanzlabor_211 – seit Ende 2006 – stehen für mich diese Fragen zum Thema Bevor Form entsteht sowohl im praktischen Feld von Tanzprojekten als auch in meiner theoretischen Reflexion erneut im Vordergrund. Form wird hier als Über-begriff verwendet für wahrnehmbare Erscheinungen im Tanz. Sie impliziert Aspekte von Bewegungsqualität, Technik und Effizienz von Bewegung, Stil und Ausdrucksmittel von Tanz, die Gestaltung und ihre Dramaturgie an sich, einschließlich ihrer verwendeten Mittel.

Tanz als reine Bewegungsvorschrift ist für die meisten Schüler an sich schon eine neue und herausfordernde Körpererfahrung. Statt um das kopf-

1 Unter dem Titel Tanzlabor_21 / Ein Projekt von Tanzplan Deutschland setzen die

drei Institutionen Künstlerhaus Mousonturm, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main und Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Jus-tus Liebig Universität Gießen ein gemeinsames Konzept um. Das Frankfurter Projekt widmet sich der professionellen Ausbildung im Tanz und soll alle tanzrelevanten In-stitutionen der Rhein-Main-Region miteinander verbinden. Ziel des Tanzlabor_21 ist es, Tanzpraxis und Tanztheorie besser miteinander zu vernetzen. www.tanzlabor21.de

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zentrierte Denken, Analysieren und Zusammensetzen geht es hier um eine direkte, unmittelbare Körpererfahrung. Ein großes Potenzial der Vermitt-lung von Tanz als Kunstform liegt in deren Prozesshaftigkeit, Problemori-entierung, Nichtlinearität und in seiner unikaten Wissenseigenheit. Hier versteht sich Tanz als Handlungs- und Bewegungsfeld, in dem wertvolle Lern- und Lebenserfahrungen schlummern, jenseits alt bekannter Aneig-nungsmuster. „Ästhetische Erfahrung – die Evidenz von Kunst – findet jen-seits von Informationswissen über Kunst statt – wenn auch vielleicht nicht ganz unabhängig davon, da die Komplexität der Erfahrung ja in einem indi-viduellen Gemisch von Erinnerung, Wissen, Wahrnehmung, Erwartung, Begehren besteht – und aktiviert damit ein anderes Wissen als beispielswei-se die Lösung einer Mathematikaufgabe.“ (Brandstetter 2007, 90)

Abb. 1: „Mein Colorado Dein Colorado“: Jugend Wettbewerb für multi-mediale Performances. UnArt 2007. Choreographie: Wiebke Dröge

Schüler können und sollten die Chance bekommen, Tanz als eine Kunst-form zu erfahren, als einen choreographischen Prozess kreativer Selbsttä-tigkeit, der ihnen einen meist längst fälligen Freiraum zur Verfügung stellt.

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Damit Zeitgenössischer Tanz dies leisten kann, ist es wichtig, dass er für Schüler in deren konkreten Lebenssituation Relevanz bekommt. Es kann eine Verbindung entstehen zwischen der Kunstform und ihren eigenen Leib- und Lebenserfahrungen sowie Bedürfnissen. Kreative Gäste an der Schule wie Tänzer und Choreographen sind deswegen gefordert, ihre Arbeit und Zugangsweisen transparent, kommunizierbar und auf offene und öff-nende Weise verfügbar zu machen. Dann kann sich der für ein kreatives Gestalten notwendige Zwischenraum herausbilden. Genau hier ergibt sich auch die Anschlussstelle für Fragen zur Beziehung von Bildung und Kunst. Meine zentrale Fragestellung zur Choreographievermittlung lautet in die-sem Kontext: Was passiert bevor Form entsteht? Welche Faktoren haben Einfluss auf die Entstehung von Form? In einem Tanzschulprojekt begeg-nete ich den Schülern mit den Worten: „Ich habe kein abgeschlossenes Konzept für ein Stück, bin aber bestens vorbereitet!“ Das charakterisiert zum einen die Offenheit, die ich für eine grundlegende Bedingung für eine fruchtbare Auseinandersetzung zwischen Choreograph und Schülern halte. Eng damit verbunden ist das Austarieren adäquater Kommunikations- und Beziehungsformen zwischen Choreographin und Tanzenden. In diesem Beitrag möchte ich die Aufmerksamkeit auf diese und andere kreative An-triebskräfte im Tanz- und Choreographieprozess lenken. Ich stelle skizzen-haft meinen Verwebungsansatz des Entsichern und Begleitens im Choreo-graphieprozess vor und verfolge erste weiterführende Spuren.

Spannungsfeld – Kreativität in linearen Strukturen Das Anliegen kreativer Selbsttätigkeit in choreographischen Prozessen muss im Zusammenhang betrachtet werden mit dem Umfeld, in dem es stattfinden soll. Dazu gehört auch das Verhältnis von Künstlern zu Schülern herauszustellen. Erst so lassen sich sinnvolle Zugangsweisen für die Arbeit mit Schülern ableiten. Das deutsche Schulsystem vermittelt in der Regel Lernstoff immer noch stark über lineare, vorstrukturierte Wege. Auch wenn verschiedene Schultypen sich davon zu emanzipieren versuchen, findet das Lernen in determinierten, hierarchischen und vor allem linearen Strukturen statt. Besonders das Formulieren von Lernzielen und die anschließende Lernzielkontrolle und Benotung sind charakteristische, Schultypen über-greifende Strategien und Überzeugungen.

Selbstverständlich arbeiten Pädagogen auch mit Improvisationsaufgaben oder Formen des offenen, kreativen Unterrichts. Im Bereich der Methoden- und Organisationsvielfalt haben sie vielen Künstlern sicher auch einiges voraus und Künstler arbeiten manchmal sogar mit sehr dirigistischen Me-thoden. Dennoch: Grundsätzlich bietet sich dem Künstler in der Schule in der Kombination aus seiner Gastrolle und seines vordergründig künstleri-schen Anliegens und Hintergrunds ein größerer, wenn nicht vollkommen anderer Freiraum, um künstlerisch mit Schülern zu arbeiten. Was sind mög-

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liche Kennzeichen und Facetten dieses Freiraums? Die Tanz- und Theater-wissenschaftlerin Gabriele Brandstetter spricht davon, dass es im Tanz „… um ein anderes Wissen“ gehe: „sensuell, erotisch und instabil – und selbstverständlich auch kognitiv; ein Wissen, das Grenzen des Wissens und Zonen des Nicht-Wissens (auch und gerade des ,Sich-Selbst-Nicht-Wis-sens‘) auslotet“ (2007, 90). Das Unvorhersehbare, das Unbekannte, das sprachlich nur begrenzt Benennbare – all dies sind Aspekte kreativen Den-kens, Wahrnehmens und Handelns, in dessen Zentrum der Körper steht.

Ein kurzer Blick in das theoretische Grundverständnis von Kreativität, ihren Facetten und Voraussetzungen verdeutlicht, wo ein Aufgabenfeld von Tanz speziell in Bildungseinrichtungen liegen kann. Kreativität ist eine Form der Auseinandersetzung, die aus dem Geschehen selbst funktioniert. Das ge-schieht mittels eines ästhetischen Kommunikationsprozesses, der unvorher-sehbare Wirkungen hervorbringt. Kreativität hat in besonderer Weise mit Synthese zu tun, der Fähigkeit, Verbindungen zu knüpfen, die eigenen Be-obachtungen oder Vorstellungen auf neue, bedeutsame Art und Weise zu-sammenzubringen. Als Voraussetzungen für Kreativität gelten das Wech-seln von Bewusstseinsebenen (Ratio, Intuition), das Zusammenspiel von Emotion, Wille und Intellekt, eine starke Involviertheit sowie eine realisti-sche Problembegegnung und Engagement. Gegensätze, Antithesen, Wider-sprüchlichkeiten müssen gleichzeitig existieren können und miteinander konfrontiert werden. Neben einer multisensorischen Wahrnehmung zeigt sich in kreativen Prozessen insgesamt eine stark gesteigerte Sensibilität für Gegebenheiten (vgl. Houtz und Patriola 1999). Kreativität wird hier als schöpferisches Denken definiert, entfaltet sich jedoch immer auf der Grund-lage von zuvor erworbenen Kenntnissen, spezifischen Techniken oder vor-handenem Material und Erfahrung (Cropley 1999, 513). Eine charakteristi-sche Facette von Kreativität ist der nichtlineare Prozessverlauf aus Suchen, Verwerfen, Verirren und Finden (Zimbardo 1995, 536). Nicht zu wissen, was als nächstes kommt, die Unvorhersehbarkeit des nächsten Schrittes, verweist auf das offene Feld ungeformter Möglichkeiten und ist die Inspira-tionsquelle von Kreativen. Soll ein choreographischer Prozess aus den krea-tiven Impulsen von Schülern gespeist werden, gilt das natürlich ebenso. Die Ausrichtung auf Prädispositionen und Fremdbestimmung müssen weg-fallen – und die Schüler sind auf sich selbst zurückgeworfen, auf die Intel-ligenz ihres Körpers, auf ihr kinästhetisches Erleben, auf den Umgang mit Bedeutungsspielräumen und das individuelle Finden, Entwerfen und Füllen von Form. Dazu ist eine professionelle Begleitung hilfreich!

Die pädagogischen und künstlerischen Anliegen, Intentionen und Vorge-hensweisen stehen an einigen Stellen nun da wie scheinbar unvereinbare Gewebeteile. Daraus ergibt sich eine wesentliche Frage: Welche „Gewebe-veränderungen“ müssen provoziert werden, um eine florierende Kultur kre-ativen Lernens hervorzubringen? Und: Was müsste ein Choreograph leis-ten, um das vorhandene kreative Potenzial zu heben?

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Abb. 2: Ali Ekizce in: „Mein Colorado Dein Colorado“

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Flöhe im Glas oder: Die Komfortzone verlassen Ein Gleichnis soll dies verdeutlichen. Wissenschaftler untersuchten das Bewegungsverhalten von Flöhen in unterschiedlichen Umgebungen. Trotz ihrer mikroskopischen Größe können Flöhe sowohl vertikal wie auch hori-zontal meterweit springen. In einem Experiment wurden Flöhe in ein offe-nes Glas gesetzt. Was war zu beobachten? Die Flöhe sprangen weiter, weit über den Glasrand hinaus. Nun wurde das Glas mit einem Deckel geschlos-sen. Was passierte? – Die Flöhe prallten beim Springen zunächst gegen den Deckelboden. Nach einer Weile veränderten sie ihre Sprunghöhe so weit, dass sie kurz vor Erreichen des Deckels umkehrten. So machten es alle Flö-he im Glas. Jetzt wurde der Deckel wieder abgenommen. Welches Verhal-ten war jetzt zu beobachten? Die Flöhe blieben bei ihrer zuletzt justierten Flughöhe und sprangen nicht mehr über den Glasrand hinaus. Die Wissen-schaftler fügten diesen Flöhen neue hinzu und beobachteten folgendes: Die neuen Flöhe passten sich der niedrigen Sprunghöhe an und nicht umge-kehrt. Was bringt die Flöhe dazu, wieder ihr ganzes Sprungpotenzial zu nutzen? – Interessanterweise war dies nur über das Erhitzen des Glasbodens durch Feuer zu erreichen […].

Um Schüler in Kontakt mit ihrem Wissen und ihren Potenzialen zu bringen, brauchen sie deutliche, überzeugende Impulse, welche sie aus ihrer Kom-fortzone heraus entsichern und begleiten!

Verwebungsansatz – Entsichern und Begleiten „Unsere Erinnerungen sind in schöpferischen Prozessen eine Quelle, ohne die wir nicht weit kommen werden“ betont Matthias Duderstadt in seinen Ausführungen zu Improvisation und Ästhetische Bildung (2003). Der Zu-gang zum eigenen Körperwissen und darüber hinaus zur eigenen Kreativität ist bei Schülern jedoch oft verstellt durch eingeschränkte und festgelegte Vorstellungen davon, was Tanz ist. Hieraus resultiert eine generelle wie in-dividuelle Orientierungslosigkeit darüber, welches Bewegen und Bewe-gungsverhalten noch oder schon zum Feld Tanz gehört. Das ist nachvoll-ziehbar, da das Körper- und Ausdrucksverständnis des Zeitgenössischen Tanzes im Vergleich zu Tanzstilen der Jugendkulturbewegung wie zum Beispiel HipHop kaum etwas nach außen eindeutig Repräsentatives erzeu-gen will. Ästhetische Sinn- und Formerzeugung entwickeln sich individuell, kinästhetisch, sensorisch und dialogisch aus dem Inhalt und der prozessua-len Auseinandersetzung mit demselben. Schüler spüren das und reagieren anfangs bewusst und unbewusst mit unterschiedlichen Facetten des Rück-zugs oder zumindest mit Irritation. Sie erahnen zunächst oft keinen Platz, an dem sie sich selbst gerne sehen – oder noch ausschlaggebender – an dem sie gern gesehen werden wollen. Im ersten Augenblick erscheint das Ange-bot eines freien Prozesses deshalb für sie unzumutbar. Eine Bedrohung für

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das Selbst! In der Arbeit mit Schülern und Studenten unterlaufe2 ich des-halb ganz bewusst deren Rückzugsgebärden und konzentriere mich aus-schließlich auf ihre bereits vorhandenen Qualitäten und verstärke bestehen-de Impulse.

Um kreative Selbsttätigkeit mit Gestaltungsabsicht in Gang zu setzen, initi-iere ich einen umfassenden Prozess. Inhaltliche Themen und tänzerische Ansätze werden an dieser Stelle nicht thematisiert. Dieser Ansatz befasst sich nicht mit spezifischen Körperpraktiken. Vielmehr provoziert er in öff-nender Weise („Entsichern“), innerhalb der Praxis von Tanz, dem künstleri-schen Tanz zugehörige Wahrnehmungs- und Reflexionsperspektiven auf den Ebenen von Formentwicklung, Präsentation und Rezeption. Diese be-stehen aus vier ineinander greifenden, interdependenten Wirkungsfeldern, von denen ich hier die ersten drei kurz vorstellen möchte:

Multidimensionale Perspektiven und Rollen zur Choreographiearbeit erfahren

Körperwissen aktivieren, dynamisieren und verweben

Kreative Arbeitsatmosphäre schaffen

Das Zeigen von Außen verantworten.

Diese Felder sind weder hierarchisch organisiert noch programmatisch di-daktisiert. Alle Aspekte zielen auf das Verdichten von Wissen im spezifi-schen Verständnis von Tanz als Kunstform ab. Der Vermittlungsansatz „Entsichern und Begleiten“ ist prozessbezogen und überschreitet das Feld der selbstbezogenen oder rein fremd gesteuerten Tanzerfahrung hin zu einer mündigen, wachen und spielerischen ästhetischen Kommunikation. Die je-weiligen tänzerischen Inhalte der Choreographin werden durch diese Felder gezogen mit dem Ziel, sie so nah wie möglich an die Schüler heranzubrin-gen und sie schließlich in Teilen an sie abzugeben. Das Taking-over der Schüler ist ein zentrales Anliegen, weil es ein Widerspruch in der Art eines double binds wäre, das kreative Handeln anderer in den eigenen Händen zu kontrollierend festzuklammern. Es bedarf einer intensiveren Herleitung und Analyse dieses Aspekts, um das darin liegende besondere Bildungsphäno-men und Choreographenbild abzuleiten. Darauf muss in diesem Zusam-menhang verzichtet werden. In Kürze: Das Taking-over zeigt m.E. die Krö-nung eines kreativen Prozesses. Es ist dem Stück und den Tänzern anzuse-hen, ob diese Übernahme stattgefunden hat oder nicht. Dieser Prozess ist nicht didaktisierbar, sondern wirkt sinnbildlich wie ein sensibles Gummi-band zwischen Choreographin und Schüler. Wenn sie deutlich ziehen, ist 2 Ich ignoriere ihre Unsicherheiten nicht, lasse sie aber nicht zum Führungsthema wer-

den. Die meisten inneren Hindernisse lösen sich mit der Zeit von allein auf, sobald durch die gemeinsame Arbeit innere und äußere Referenzpunkte entstanden sind. Das eigene Tun bekommt Orientierung und Ausrichtung.

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das ein Signal zum Raum geben und Mitgehen – das eigene choreographi-sche Wollen kann an diesen Stellen etwas zurückgestellt werden.

Multidimensionale Rollen und Perspektiven Um dem Anliegen nachzukommen, Schülern die Chance zu geben, Tanz als eine Kunstform zu erfahren, als einen choreographischen Prozess kreativer Selbsttätigkeit, kann ihnen ein umfassender, multidimensionaler Zugang zu Arbeitsweisen ermöglicht werden. Ich stelle vier prägnante Rollen und Per-spektiven vor, die sich im Laufe meiner künstlerischen, universitären und schulischen Arbeit in Tanzprojekten als zentrale Wirkungsfelder entwickelt und bewährt haben. Schüler lernen durch sie unterschiedliche Rollen von kreativer Arbeit kennen, welche sie befähigen, ihre gegenwärtigen Hand-lungen selbständig gezielt zu organisieren, auszurichten und einzuordnen. Über Aufgaben als Beobachter, Bewegungsforscher, Tänzer/Performer, Impulsgeber wird ein weites gemeinsames Verständnis für die Innen- wie Außenperspektive tänzerischer Arbeit entwickelt. Der Zusammenhang zwi-schen dem eigenen inneren Nachvollzug und dem äußeren Wirkraum er-weckt schließlich u.a. ein Gespür für Komposition. Die folgenden Aspekte bezeichne ich als das Schaffen von Informellen Bühnen3 in Richtung eines Gesamtverständnisses von Tanz und Choreographie.

Bewegungsforscher Schüler lassen sich nicht gern beobachten, sofern sie ihren aktuellen Bewe-gungsausdruck als noch nicht vorzeigbar empfinden. Eher aus Unwissen-heit fordern sie anfangs von sich selbst, dass alles was sie hervorbringen schon bühnenreif sein soll. Zu jedem kreativen Prozess gehören Phasen des Forschens, der Neugierde, des Nicht-wissens. Die eigene Scham vor dem noch nach Ausdruck suchenden Körper schwindet, sofern es klare Unter-scheidungen in Phasen des Bewegungsforschens, des Beobachtens, Zeigens und Einwirkens, Impulsgebens gibt. Forschungsphasen sind wie ein Abstieg in eine unbekannte Unterwelt, meist in Form von unterschiedlich offenen Improvisationen. Die Forschungsphasen erfolgen in verschiedenen Organi-sationsformen in der Anonymität der Gruppe, in Arbeitsgruppen, mit Part-nern und später auch mit Beobachtern. Bemerkenswert sind Forschungs-phasen ohne Ergebnisorientierung, um ohne wertendes Vorfiltern ganz im Tun und der Aufgabe aufzugehen. Mit der wachsenden Erfahrung erleben Schüler das Bewegungsforschen als Abenteuerspielplatz, als einen Frei-raum, in dem es zu ungeahnten Entdeckungen kommt. Die Angst, nichts Brauchbares zu finden schwindet gemeinsam mit der Befürchtung, sich un-

3 Beispiel hierzu in: Dröge, Wiebke: Tanzimprovisation als Performance. Eine Einfüh-

rung in spontanes Komponieren. In: sportpraxis 5/2003, S. 17–22

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adäquat zu bewegen – beides darf sein! Das Forschen kann dann in das Auswählen und Bearbeiten von Material überleiten. An dieser Stelle brau-chen Laien, meiner Erfahrung nach, von der Choreographin begleitend sehr viel Unterstützung, Zeit und künstlerisches Handwerkszeug.

Beobachter Das bewusste Beobachten von Tanzenden fördert das Verständnis für das Tanzgeschehen an sich. Es liefert zusätzliche Informationen, die im eigenen Bewegungserleben allein nicht zugänglich werden wie zum Beispiel Wir-kungen von Timing, Dauer, Dynamik, Raumgebrauch, Ausdruck, Span-nungsverhältnissen. Über das Beobachten entwickeln sich Ideen und wird auch das eigene Tun neu reflektiert und beeinflusst. Dem Beobachten kann eine Ausrichtung, ein Fokus gegeben werden, um die Sicht auf das Gesche-hen zu erweitern4. Das Austauschen des Gesehenen untereinander zeigt den Schülern auch wie individuell unterschiedlich Sichtweisen, Bewertungen und Aufmerksamkeiten verlaufen. Darüber hinaus entwickeln sie ein Voka-bular für ihre Eindrücke und lernen, in ihren Anschauungen zu unterschei-den. Für die zu Beobachtenden ist dies zudem eine gute Vorbereitung auf die Performancesituation. Sie üben sich darin, sich zu zeigen und gesehen zu werden.

Tänzer/Performer Die körperliche und mentale Bewusstheit und Adressierung ist beim Bewe-gungsforschen und Performen unterschiedlich. Während sich das Forschen auf das Erkunden von Material ausrichtet und den Zuschauer nicht bewusst mit einbezieht, kommen in der Performancesituation Aspekte des Präsentie-rens, des ungebrochenen Präsentseins und des Zeigens ausformulierter Formen oder Spielregeln hinzu. Im Präsentieren verändern sich die körper-liche Energie und das Eigenerleben – der Schüler muss sich noch intensiver mit sich und dem Material auseinandersetzen und verbinden, was meist zu einer Entwicklung desselben führt. Schüler können von Beginn an auf diese Situation mit umfassenden Übungen vorbereitet werden, sich gegenseitig Ergebnisse und Versuchsformen präsentieren und Feedback üben. Es er-möglicht ihnen, in die Haltung eines Performers hineinzuwachsen, diese aus dem Tun heraus zu reflektieren und eine kraftvolle Ausstrahlung zu entwickeln.

4 In diesem Beitrag wird auf die Ausführung von Aufgabenstellungen und Organisa-

tionsformen dahingehend verzichtet.

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Impulsgeber Das Impulsgeben hat Anteile von Regieaufgaben sowie der Mitsprache, was üblicherweise nur der Choreographin vorbehalten ist. Es fördert die Wahrnehmung und Verantwortung für das unmittelbare Tanzgeschehen und für die Zusammenhänge von Einfluss (Impuls) und Wirkung. Als Regieauf-gaben können sie zunächst in Übungsformen eingebettet werden, wo ein-zelne Schüler von Außen das Improvisationsgeschehen konkret beeinflus-sen, z.B. über zuvor bestimmte Codeworte auf die Improvisierenden reagie-ren können. Mitsprache bei der Entwicklung einer Performance macht Sinn, sobald Schüler genug Referenzpunkte zur gemeinsamen Arbeit in sich sammeln konnten, die es ihnen erlauben, ein Taking-over zu leisten.5 Die einzelnen Aspekte wirken fließend und haben situativ unterschiedliche Pri-orität und Relevanz. Das Trennen der Handlungsfelder hilft, in Perspekti-ven hineinzuwachsen und individuelle Stärken und Präferenzen zu entde-cken.

Körperwissen aktivieren und verweben Als Choreographin gehe ich bei meinem Gegenüber immer von Wissenden aus – unabhängig davon ob ich mit Laien oder Profis, Jugendlichen oder Erwachsenen arbeite. Welches Wissen kann im Tanz überhaupt gemeint sein? „Der Schauplatz dieses anderen Wissens ist der sich bewegende Kör-per. Das Wissen, das sich in Tänzen und Choreographien zeigt und über-trägt, ist dynamisch: ein körperlich-sinnliches und implizites Wissen. Es vermittelt sich kinästhetisch.“ (Brandstetter 2007, 87) Meine Rolle sehe ich darin, sie mit ihrem Wissen in Kontakt zu bringen, ihnen Angebote zu ma-chen, wie sie es flexibel verwenden, verbinden und schließlich selbst in et-was Neues transformieren können. Jeder Mensch ist angefüllt mit Wissen (vgl. Munzert 1992)6 in Form Bewegungs- und Körpererfahrungen aus un-terschiedlichen Feldern wie Sport, Alltag, Kultur, Natur, Handwerk, Kunst. Diese Abbildungen von Erfahrungen sind interne, kognitive Repräsentatio-nen des Erlebens. Im Zeitgenössischen Tanz werden diese Erfahrungen zu prominenten Ressourcen. Dabei interessiert nicht die kontextuale Bedeu-tung dieser Bewegungen, sondern vielmehr das innewohnende multisenso-

5 In einem Darmstädter Tanzschulprojekt entwickelten die Schüler z.B. das Perfor-

manceende von „Ortsverweise“ selbst. Sie hatten eine klare Vorstellung davon und zeigten sich sehr experimentell.

6 Interne Repräsentation ist Wissen in Form von a. Motorische Repräsentation, dessen Inhalte nicht bewusstseinsfähig und nur indirekt erschließbar sind und b. Bewe-gungsbezogenen Wissensrepräsentation, dessen Inhalte bewusstseinsfähig und verba-lisierbar sind. Munzert, Jörn: Motorik-Repräsentationen, Bewegungswissen und Be-wegungshandeln. 1992. Sportwissenschaft 22, 344–356. Man unterscheidet zwischen Handlungsgedächtnis und Situationsgedächtnis. Über das kontextübergreifende Akti-vieren von Wissen wird das verinselte Denken und Zuordnen aufgeweicht.

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rische, leibbezogene Wissen dieser solistischen und/oder kollektiven Bewe-gungen an sich. Beispiel Mannschaftssportarten: Hier können u. a. Erfah-rungen transformiert werden zu Raumgefühl, peripheres Sehen, Antizipati-onsfähigkeit zu räumlichen Veränderungen, Gefühl für ein Bewegungsfeld, Wahrnehmungs- und Reaktionsvermögen auf Einzelphänomene innerhalb einer Gruppengesamtbewegung. Über einen Bewusstwerdungsprozess wer-den daraus neue Verbindungen, Kontexte und Ausdrucksformen generiert, die in choreographische Prozesse münden. Für den Vermittlungsprozess mit Laien bilden diese – vor allem kinästhetischen – Anteile an Erfahrungen sinnbildlich ein Pool von bereits vorhandenen Bewegungs- und Wahrneh-mungskonten.

Mit dem innewohnenden Wissen in Kontakt bringen und Fangarme bilden Schüler fühlen sich entlastet und zugleich kompetenter, sobald sie erfahren, dass ihre Kenntnisse aus ganz unterschiedlichen Bereichen und Bedeu-tungszusammenhängen gerade im Feld von Tanz Relevanz bekommen kön-nen. Tänzerische Themen können über ihnen bekannte Felder und Voka-beln gut transportiert und dann verwoben, vertieft und intensiviert werden. Wann sind Schüler interessiert und engagiert, sich auf etwas einzulassen? Entweder liegt der Reiz im Ausprobieren von etwas als visuell oder fühlbar attraktiv gewertetem oder im gruppendynamischen Erleben und Gestalten von Bewegung. Der „Fangarm“ bildet sich m.E. besonders dann, wenn Schüler eine Spielregel oder ein Prinzip erhalten, welche es ihnen ermög-licht etwas zu erforschen oder umzusetzen, was ihnen als spannungsvoll und herausfordernd erscheint. Während sie sich in unbekanntes Terrain be-geben, muss sich in ihnen ein Handlungsspielraum bilden dürfen, der es ih-nen erlaubt, Selbständigkeit und Orientierung im eigenen Handeln zu erle-ben. Beispiel: Schülern wird ein komplexer Bewegungsablauf demonstriert. Sie bezweifeln es, diesen jemals lernen zu können. Nachdem ihnen das dar-in verborgene Regelwerk erklärt wird – Alltagsbewegungen in Bezug zu imaginären Gegenständen – kommen sie mit ihrem Wissen in Kontakt. Das zuvor scheinbar Unerreichbare bekommt eine attraktive Dimension des Bewältigbaren. Beispiel 2: Selbst gewählte oder vorgegebene Bewegungs-formen werden während des Bewegens analysiert und dann selbständig räumlich gekippt, gedreht, auf andere Körperteile übertragen, mit Partner, einem Gegenstand oder an der Wand umgesetzt. Der Weg zur selbständigen Gestaltungsfähigkeit ist bei beiden Beispielen implizit auf dieser Grundlage.

Verwebung von zuvor getrennten Welten Am sehr einfachen Beispiel der Alltagsbewegungen wird erfahren, dass auch der tänzerisch ungeschulte Körper sehr wohl in der Lage ist, komplexe Bewegungsabläufe zu gestalten. Der Alltagskontext dient lediglich als Wis-

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sens- und Referenzquelle, der aktiviert und zum Tanz hin verschoben wird. Die Schüler geben den Bewegungen neue Zusammenhänge und räumlich-dynamische Variationen. Zudem entsteht rückwirkend eine neue Bewusst-heit über das sonst eher unbewusste Bewegungsverhalten im Alltag. Sofern es keinen so eindeutigen Wissensbezug gibt, z.B. weil der künstlerische In-put dies nicht intendiert, stellt die Choreographin das zu vermittelnde Prin-zip vor, indem sie künstlerische Zusammenhänge herausstellt und zum Teil darüber auch vermittelt, warum sie den Schülern dieses Prinzip anbieten möchte. Sie kann dann nach den ersten Versuchen der Schüler fragen, auf welche Art und Weise sie zu einer Bewältigung oder an Grenzen gekom-men sind. Im Feedback wird oft deutlich, dass viele Schüler bereits unbe-wusst mit ihrem individuell vorhandenen Wissen agieren und können darin bestärkt werden. Förderlich ist, das Grundprinzip des Aktivierens und Ver-webens von Wissen auf vielfältige Weise erfahrbar zu machen.

Transformation von Wissen Schüler lernen schnell. Das Prinzip von Wissensverwebung gibt dem eige-nen Handeln Ausrichtung und Orientierung. Dies ist besonders für das Im-provisieren hilfreich. Nach einigen Erfahrungen trauen sich Schüler immer weiter vor in unbekannte Bereiche. Das übergreifende Ziel in der kreativen Prozessarbeit mit Schülern ist, schließlich überall Ideenquellen entdecken zu können, die sie für ihre Tanzarbeit transformieren. Folgende Beispiele eignen sich, da sie eine Verwebung von bekannten alltags- und schulnahen Erfahrungsfeldern mit Tanz zulassen und zudem auf den Ebenen von Dra-maturgie und Komposition anregend auf eigene Explorationen wirken: Eine Schülergruppe erstellte eine Performance in der Auseinandersetzung mit einem naturwissenschaftlichen Phänomen wie z.B. der Elektronentrans-portkette in der Photosynthese. Andere entwickelten eigensinniges Bewe-gungs- und Partnermaterial aus der Beobachtung der Verarbeitung von Nahrungsmitteln mit einem Teigmixer bis hin zum Form- und Backvor-gang. Im Vordergrund steht immer ein Sich-beziehen auf etwas und nicht ein Nachstellen von etwas. So entsteht der kreative Freiraum für eigene und eigensinnige Interpretationen, Verbindungen und Bedeutungen und für das Weiterentwickeln von Bewegungsqualitäten und deren Prinzipien. „Ästhe-tische Forschung und Improvisation können dadurch eine Verbindung ein-gehen, dass das Was und das Wie auf bestimmte Weise miteinander verwo-ben werden“ (Duderstadt 2003, S. 6).

Die Sensibilität für Verwebungen ist erlernbar! Das Aktivieren, Verweben und nachhaltige Verinnerlichen von Erfahrun-gen dient als starke Brückenstruktur zwischen Schüler und Tanz. Von Au-ßen lassen sich dahingehend Angebote machen mit maximal möglichen Fangarmen und Anbindungsmöglichkeiten. Kontrollieren oder gar bestim-

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men lässt sich dieser Prozess jedoch nicht. Im Vordergrund steht die Selb-ständigkeit der Schüler. Je stärker sie selbst gefordert werden, Aufgaben eigenständig zu erforschen, zu hinterfragen und weiter zu entwickeln, desto sensibler verläuft das Verweben. Die Erfahrung ist meist einen individuel-len Weg des Fragens, Zweifelns, Lösens, Verstehens, Scheiterns, Prüfens und dadurch den Weg einer Art wahrnehmungsästhetischen (im Gegensatz zur rationalen) Analyse gegangen. Diese Form des Lernens erfolgt zirkulie-rend zwischen Innen und Außen und sensibilisiert auf nachhaltige Weise die eigene Wissensverarbeitung. Über eigene Beobachtungen und Ver-bindungen verdichten sich dann die gemachten Erfahrungen auf kreative Weise zu einem individuellen, flexiblen Netzwerk. Schüler, die mit dieser Art des Arbeitens in Kontakt kamen, nutzen nach eigenen Aussagen ihr inkorporiertes Wissen weiter, wenden es an und greifen auch in anderen Tanzkontexten adaptierend darauf zurück und erfinden neu. Das eingangs formulierte Anliegen nach Verbindung und Relevanz in Bezug zu ihren ei-genen Leib- und Lebenserfahrungen erfüllt sich an dieser Stelle.

Arbeitsatmosphäre schaffen Für Künstler ist das Schaffen einer kreativen Arbeitsatmosphäre selbstver-ständliches Tagewerk. Die äußeren Bedingungen sind dabei m. E. weniger Erfolg bestimmend als die inneren. Deshalb müssen Unerfahrene über die Atmosphäre in diese innere Haltung hinein gezogen werden. Je größer der innere Raum für ein Sich-Einlassen auf einen kreativen Prozess wird, desto mehr kommt von den Schülern selbst. Die Qualität der Arbeitsatmosphäre bestimmt den gesamten Prozess.

Vorschuss an Vertrauen in die Schüler und den Prozess Die Choreographin bringt ihr Selbstverständnis für einen nichtlinearen Pro-zessverlauf und ihr verinnerlichtes Handwerk mit. Das erzeugt Sicherheit bei den Schülern und gibt ihnen dennoch den Freiraum ihre möglichen Zweifel und Unsicherheiten wahrzunehmen. Schüler dürfen am Geschehen zweifeln. Die Choreographin vermittelt jedoch, dass das absichtlich erzeug-te „Unruhefeld“ (im Vergleich zur gewohnten Linearität) eindeutig Teil der Arbeit ist und versucht nicht, die Schüler in ihrer Wahrnehmung zu mani-pulieren. Sie vertraut darauf, dass die Schüler zu einem bestimmten Zeit-punkt verstehen werden.

Sprache als wiederkehrende Referenz Wir befinden uns in einem leiblich-ästhetischen Feld, wo der Körper aus sich selbst sprechen soll und seine Eindeutigkeit in dem, was er vermittelt, aufweicht. Das Potenzial des Sprechens wird in der Tanzvermittlung und

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Reflexion oft unterschätzt, obwohl es ein stark wiederkehrendes kommuni-katives Transportmittel zwischen Choreograph und Schüler ist.

„Reden über Bewegung. Eine Sprache für die Erfahrung und die Wahrneh-mung finden – dies ist eine Herausforderung, die nie gelingen kann. Den-noch lohnt es sich, sie anzunehmen, denn es ist die einzige Möglichkeit, die unterschiedlichen Erfahrungen und Wissensformen zum Ausdruck zu brin-gen und sie in ein Verhältnis zu setzen, das die Spannungen, Widersprüche, die Lücken und die Grenzen sichtbar werden lässt.“ (Brandstetter 2007, 91) Eine leibliche Erfahrung zu verbalisieren bedeutet auch, ihr in der Nach-träglichkeit nachzuspüren, Nuancen auszudrücken, sie zu analysieren, zu reflektieren und dadurch bewusst werden zu lassen. Zum einen sucht die verbale Sprache nach Ausdrucksformen für Sinnlich-Leibliches, welche als eine Art Stellvertreterwissen fungieren. Das Erleben von Tanzen ist das Eine. Das Reden über Tanzen ist das Andere. Es ist nie identisch! Über die Sprache teilen wir uns mit, was und wie wir tanzen. Zum anderen bilden sich über ein gemeinsames Vokabular wichtige Referenzpunkte zur Identi-fikation und Kommunikation für die Tanzenden. Worte sind im Tanzpro-zess besonders wertvoll, wenn sie direkt wieder in leibkörperliche Erfah-rungen münden können. Auf diese Weise bildet sich im Körper Sinn, blei-bende Erinnerung oder Referenz ab.

Einfühlung und Distanznahme Durch das Kreative kommt Neues ins Spiel. Das Neue bekommt aber erst dann Relevanz, wenn es an die eigenen Erfahrungen und Bedürfnisse an-koppelt. Einfühlung bildet folglich die Brücke zwischen dem Neuen und dem Schüler. Sie endet somit nicht damit, dass situativ die innere Haltung des Gegenübers wahrgenommen wird, sondern sucht nach einer möglichen Eigenbewegung des Schülers in Richtung des Materials. So verstandene Einfühlung sucht situativ nach dem intensivsten Handlungsspielraum des Schülers und fordert diesen heraus. Distanznehmen konfrontiert den Schü-ler immer wieder mit sich selbst und provoziert selbstreflektierendes Han-deln und Entscheiden. Schüler können sich ggf. allein gelassen fühlen, aber der Erfahrung kann es meist eine gute Quelle für Durchbrüche sein. Der Wechsel zwischen Einfühlung und Distanznahme erfolgt intuitiv.

Spannung Auseinandersetzung und Reibung erzeugen Spannung. Kreative Prozesse sind Problem orientiert und führen den Künstler tiefer in unbekanntes, unsi-cheres Terrain. Hier verbergen sich relevante Fragen wie zum Beispiel: Was hat das (noch) mit unserem Stück zu tun? Wie lassen sich neue Ver-bindungen finden? Was hat das mit mir zu tun? Wie weit will ich gehen? Wo ist die Verbindung zum Körper? Was für Präsentationsformen kann ich

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dafür finden? Phasen von Disharmonie, Unstimmigkeiten und Verständnis-lücken sind somit ein wichtiger wie spannender Bestandteil dieser Form von kreativer Arbeit.

Begeisterung in sich selbst (Schüler) Begeisterung in sich selbst im Sinne eines eigenen inneren Anliegens der Schüler, ist ein sehr guter Rohstoff für Entwicklung und Durchbrüche: Sie hat Aspekte des bewegungsbezogenen Begehrens und Hingebens. Im Ver-gleich zur rein sachbezogenen Begeisterung wirkt sie kompromissloser nach Innen und Außen. Für die Choreographin bedeutet das, dem ,geweck-ten‘ Schüler eine Faszination für seine Entdeckungen zu geben, ihn Eigenes einbringen lassen. Selbst etwas bewirken zu können wirkt sehr anziehend und integrierend.

Spiel Spiel schafft Selbstdistanz und führt über Humor in der Wahrnehmung zu eigen-sinnigen Lösungen. Humor und Spiel wirken sehr öffnend – beides nimmt Anspannung. Im Spiel können sich Grenzen und Bedeutungen er-weitern, verschieben, auflösen. Hier werden oft interessante Entdeckungen gemacht, die über das bloße Ausdenken, Nachahmen oder Anleiten nicht hervorgebracht werden können.

Übergangskonstrukte und körperlicher Eigensinn als Mittel zur Selbstordnung Im Prozess der Stückfindung werden kreative Baustellen begonnen, von denen nicht unbedingt alle zu Ende geführt werden. Man muss manchmal von bereits bearbeitetem Bewegungsmaterial und Ideen ablassen, zu etwas anderem springen, bis das als bedeutungsvoll erachtete wie von selbst zum Vorschein kommt. Oft erschließt sich der Sinn und Zweck gemeinsam ge-gangener Wege erst in der Retrospektive (vgl. Barret 1998). Das ist kein verwirrter Ausdruck des Geistes oder von Material- oder Zeitverschwen-dung, sondern eine Facette kreativer Logik. Die Fülle an Gedanken und I-deen folgen zum Teil einer eigenen Ordnung und Lösung, die sinnbildlich hinter dem Rücken des Körpers in Erscheinung tritt. Die

Philosophin Annette Barkhaus merkt in ihrem anthropologischen Ansatz zu „Phänomenen des körperlichen Eigensinns“ an, dass sie „wie das Sich-entscheiden … gerade hinter dem Rücken des Subjekts zur Bewältigung komplexer Situationen beitragen, ihm Handlungsmöglichkeiten eröffnen statt Grenzen zu setzen“ (Barkhaus 2003, 9). So verstandener Eigensinn hat – außerhalb des konstruierenden Denkens – Facetten von körperlicher Ei-genaktivität und des Widerfahrnisses. Man lernt, sich zu öffnen für eine Art

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Eigenlogik von Lösungen, die zu einem nicht bestimmbaren Zeitpunkt in Erscheinung tritt, die der Person körperlich widerfährt. „Die Anerkennung dieser Dimension führt zu einem […] lebendigeren Subjekt, lebendiger, weil offener, reicher und damit auch flexibler an Entfaltungs- und Hand-lungsmöglichkeiten“ (ebd.).

Abb. 4: Esther Schneider in: „Mein Colorado Dein Colorado“

Schlussbemerkung STOP TEACHING! – unter diesem Titel findet derzeit in Frankfurt ein Symposium statt zu aktuellen Tanz und Theaterformen mit Kindern und Ju-gendlichen. Das ist kein freundlicher Vorschlag für eine Veränderung, son-dern ein eindeutiger Unterlassungsappell. In meinen Ausführungen gab ich schrotflintenartig Impulse aus meiner bislang erfolgreich erprobten Alterna-tive, junge Menschen als wissende Akteure eines künstlerischen Prozesses agieren zu lassen. Die Frage: Was passiert, bevor Form entsteht? richtete sich demnach an das Aktionspotenzial von Schülern und die Kompetenz von Choreographen. Jenseits tänzerischer Inhalte und Performancekonzepte konnten Aspekte aufgegriffen werden, die das Wesen nichtlinearer Denk- und Handlungsweisen an sich beleuchten. In der vorgeschlagenen Art und Weise basiert die Begegnung zwischen Choreographin und Schüler auf Selbstverantwortung und einer schöpferischen Dialektik des vertrauensvol-len Zweifelns beiderseits. Der darin liegende Anspruch ist hoch aber durch-aus lohnenswert. Für Künstler bedeutet es, ihr Selbstverständnis bezüglich des eigenen Handwerks für einen Kommunikations- und Experimentierpro-

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zess zu öffnen. Für Schüler bedeutet es, selbst tätig, mutig, wach und mün-dig zu werden. Dadurch werden beide schutzlos und lassen zu, immer wie-der aufs Neue zu fragen und in Frage gestellt zu werden. Momente des Ent-sicherns beziehen sich auf das Loslassen pädagogischer Führungsstile und methodischer Vorstrukturierungen. Die Entsicherung erfolgt in Richtung Begeisterung für die Grenzenlosigkeit des eigenen Wissens und die Quellen individueller kreativer Kraft. Momente des Begleitens kommunizieren, or-ganisieren und transportieren Inhalte, fragen nach der Beziehung zum Kör-per, halten Schüler im Prozess, zielen auf Vertrauen, auf Entwicklung und Wagnis ab. Bevor Form entsteht öffnet ein Forschungsfeld, das nach über-greifenden Prinzipien von künstlerischen (Arbeits-)Prozessen im Tanz fragt, mit denen Tanzende in schöpferischer Weise selbst ins Handeln kommen. Es beansprucht an dieser Stelle ein Um- oder Neudefinieren der Aufgabenfelder, Rolle und Haltung (attitude) von Choreographen.

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