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Dahlhaus_Tonalität - Struktur Oder Prozess_NZfM1988
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Carl Dahlhaus
Tonalitat Struktur oder ProzeB I.
D ie Mangel der Termini, mit denen man, zunachst ohne wissenschaftlichen Ehrgeiz, Probierne der musikali
schen Praxis zu erfassen sucht, sind von geringer Bedeutung, solange sie eine Verstandigung iiber die Sache - eine Sache, von der noch gar nicht feststeht, worin sie iiberhaupt besteht - nicht allzu sehr hemmen. Jedenfalls ware es schiere Illusion, von einem wort- und begriffsgeschichtlichen Exkurs iiber den Ausdruck Tonalitat, der entweder zentrierte Tonbeziehungen oder aber Tonbeziehungen schlechthin bezeichnet, sachlich Erhellendes zu erwarten. Aus der - durch Polemik und Apologie getriibten - Diskussion, die im Zusammenhang mit der Emanzipation der Dissonanz und der Dodekaphonie iiber Tonalitat und Atonalitat gefiihrt wurde, resultierte am Ende nichts anderes als die triviale Einsicht, daB regulierte Tonverhaltnisse, die einer Komposition als Bezugssystem zugrunde gelegt werden konnen, durchaus nicht immer um einen Grund- oder Hauptton zentriert sein miissen. Systeme ohne Zentrierung tonal zu nennen, ist aufgrund der Wort- und Begriffsgeschichte moglich und zulassig. Wenn es nun in der unmittelbaren Gegenwart, in der eine Restauration der Kontroverse iiber Atonalitat und deren geschichtliche und asthetische Legitimation absurd ware, ein Tonalitatsproblem gibt, so kann es nicht bloB darin bestehen, daB Komponisten, die sich der Postmoderne zugehorig fiihlen, in ihren Stilrnontagen auch vor der Einfiigung harmonisch-tonaler Relikte aus der Musik des 19. Jahrhunderts nicht zuriickscheuen. Eine wesentliche, tiefergreifende Schwierigkeit, durch die sich Komponisten beunruhigt fiihlen, liegt vielmehr in der Erfahrung, daB man fiir Tonbeziehun gen - oder Beziehungen von Tonqualitaten -, je weniger man sie asthetisch akzentuiert, um so dringender ein Regulativ braucht, das die kompositorische Verantwortung verringert. Oder umgekehrt ausgedriickt: In dem MaBe,
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in dem Tonbeziehungen, statt generell vorgeformt zu sein, spezifisch und individuell, also aus dem Kontext des einzelnen, besonderen Werkes begriindet werden miissen, wachst der Zwang, sie asthetisch in den Vordergrund zu riicken. DaB die Herstellung und Rechtfertigung regulierter Tonbeziehungen ein konzentriertes Interesse auf sich zieht, ist demnach angesichts des Zerfalls genereller Strukturierungsschemata durchaus verstandlich, andererseits aber insofern problematisch, als zur Hinterlassenschaft der 1950er Jahre, die man nicht einfach abwerfen kann, die Idee einer prinzipiellen Gleichberechtigung der Parameter Tonhohe, Tondauer, Intensitat und Klangfarbe gehort. Eine Entwicklung, deren Ziel es ist, die traditionelle Hierarchie der Toneigenschaften, also den Primat der Tonhohe oder Tonqualitat und daneben - in einem gewissen Abstand - der Tondauer im kompositorischen Denken zu restituieren, ware demgegeniiber eine tiefgreifende Veranderung, zumal die Hierarchie der Toneigenschaften, trotz des jahrhundertelangen Scheins von Selbstverstandlichkeit, eigentlich immer problematisch gewesen ist. Die Vorstellung, daB die Intensitat und die Klangfarbe bloB periphere - nicht konstitutive, sondern unterstiitzende - Parameter seien, war in der europaischen Musikgeschichte eine Pramisse der Kompositionstechnik, die in der Notation sinnfallig zutage trat, aber schwerlich eine Tatsache der musikalischen Wahrnehmung. Produktionsund Rezeptionsasthetik - um die Modevokabeln zu gebrauchen - klafften vielmehr nicht selten alJseinander. Und in gewissem Sinne ist durch die Aufhebung cles Unterschieds zwischen zentralen und peripheren Toneigenschaften ein psychologischer Sachverhalt, der immer schon bestand, in eine kompositorische MaBnahme umgesetzt worden, die allerdings zunachst so wirkte, als werde das U nterste nach o ben gekehrt. 1st demnach die Restitution der Hierarchie ein psychologisch eher prekares Unterfangen, so zeigt sich andererseits
bei der Reflexion iiber Tonbeziehungen ebenso rasch wie unabweislich, daB die schwierigsten Probleme, deren Losung nahezu unmoglich erscheint, im Elementaren liegen : in dem Bereich, den die konventionelle Musiktheorie als Allgemeine Musiklehre etikettiert, als handle es sich um Sachverhalte, die man ohne Nachdenken bIo B zu, lernen braucht. DaB in der Dodekaphonie der Zusammenhang zwischen Grundgestalt, Umkehrung, Krebs und Krebsumkehrung ein System von Beziehungen - und zwar ein in sich geschlossenes System - bildet, leuchtet unmittelbar eino Warum jedoch der Abstand zwischen d und f oder fis und gis iiberhaupt eine Beziehung darstellt, obwohl nach der Aufhebung des Konsonanzprinzips nichts anderes iibrigbleibt, als nach dem Distanzprinzip die Intervalle als Summen von Halbtonen zu definieren, ist strenggenommen keineswegs plausibel. Man kann das Verhaltnis zwischen Teil und Ganzem, das zwischen den einzelnen Intervallen und der Zwolftonreihe besteht, ebenso als Beziehung auffassen wie die quantitativen Differenzen zwischen den Teilen einer Reihe, den groBeren oder kleineren Intervallen. Das Intervall selbst und fiir sich, als Element des Systems, bleibt jedoch, wie es scheint, ein blinder Fleck der Theorie. Und was unter dem: Titel Tonalitat - gleichgiiltig, ob er gliicklich gewahlt ist oder nicht -in der gegenwartigen Situation in Wahrheit gesucht wird, ist offenbar, wenn nicht alles tauscht, ein gangbarer Ausweg aus einer ungliicklichen Alternative: der Alternative, entweder das Konsonanzprinzip, das Opfer der Atonalitat, restaurieren oder aber einraumen zu miissen, daB Intervalle Tondistanzen und nichts sonst sind.
II. Die Tendenz, angesichts von Tonalitatsproblemen wie dem gerade skizzierten, die sich schwerlich durch bloBe Auspliinderung des Arsenals historischer und ethnologischer Kenntnisse losen lassen, Riickhalt an Ph an omen en zu suchen, die von Natur gegeben sind oder bei denen man glaubt, daB sie es seien, bildet die Kehrseite eines wachsenden MiBtrauens gegen die jahrzehntelang dominierende Maxime, daB ein Komponist, um nicht Uberfliissiges zu produzieren, sich dem Gang der Geschichte, die in letzter Instanz iiber musika-
lischen Sinn und Widersinn entscheide, anvertrauen oder unterwerfen miisse. War in den 1950er Jahren, unter dem EinfluB Theodor W. Adornos und in Ubereinstimmung mit der Gewohnheit, die serielle Musik als geschichtliche Konsequenz und als Ausgleich eines Mangels der Dodekaphonie zu interpretieren, die Idee einer Natur der Musik, der noch Paul Hindemith anhing, durch das Prinzip der Geschichtlichkeit aus dem asthetischen Denken der Komponisten weitgehend verdrangt worden, so verlor in den 1970er Jahren der Geschichtsbegriff dadurch seine Macht iiber das allgemeine BewuBtsein, dall die Vorstellung, es gebe "die" Geschichte - im Singular -, eine Geschichte, von deren Entwicklungsstand es abhangt, was an der Zeit ist und was nicht und was darum gliicken kann oder miBlingen muB, als Mythos durchschaubar wurde. Die wirkliche Geschichte besteht - im Plural - aus Geschichten: aus Ereignissen und Ereigniszusammenhangen, die, teils unabhangig voneinander und teils miteinander verflochten,· aus heterogenen U rspriingen hervorgehen und zu divergierenden Resultaten fiihren.
DaB ein Mythos, an dem das BewuBtsein Riickhalt fand, zerstort wurde, ist allerdings kein Grund, zu einem alteren Mythos zuriickzukehren, von dem man jahrzehntelang glaubte, er sei langst tot. Der Naturbegriff als Berufungsinstanz einer auf aktuelle kompositorische Praxis bezogenen Musiktheorie gleicht, pointiert gesagt, einem Revenant. Und die Restaurationstendenzen, die sich abzeichnen, fordern zum Widerspruch heraus, auch wenn die Einwande, die man erheben muB, zum Teil so vergilbt sind wie das, wogegen sie sich wenden.
Erstens bedeutet die Tatsache, daB ein tonendes Phanomen von Natur gegeben ist oder zu sein scheint, noch keineswegs, daB dadurch musikalischer Sinn verbiirgt werde. Ein Komponist, der sich durch die Deduzierbarkeit eines Tonkomplexes aus der Partialtonreihe von der Notwendigkeit, die Tone von sich aus, durch subjektive Anstrengung, zum Sprechen zu bringen, entlastet glaubt, opfert die musikalische Vernunft einer Chimare, iiber deren wahren Charakter man sich durch die physikalische Nomenklatur, mit der man
Tonale Akkorde, als Strukturgebilde begriffen :Skizze zu Igor Strawinskys Blasersinjonien (1920)
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die Fiktion in pseudo-wissenschaftlicher Manier ausstatten kann, nicht tauschen lassen sollte. Zweitens sind Naturgegebenheiten in der Form, in der sie in der Musiktheorie erscheinen, fast immer kategorial erfaBte und interpretierte Phanomene: also angeeignete und verarbeitete, nicht urspriingliche und rohe Natur. Die Abstufung der Zusammenklange nach Sonanzgraden - von der Oktave iiber die Quinte und Quarte bis zur Terz und Sexte und schlieBlich zur Septime und Sekunde - mag wahrnehmungspsychologisch eine Naturtatsache - oder genauer: eine anthropologische Struktur von unvordenklich langer Dauer - sein. Die Behauptung aber, die Oktave sei ein vollkommeneres Intervall als die Sexte und darum als Zusammenklang der en natiirliches Ziel, ist eine Interpretation, in der einerseits die pythagoreische Pramisse, daB das Einfachere das Vollkommenere sei, und andererseits der aristotelische Gedanke, daB das Unvollkommenere dem Vollkommeneren als 'seinem Telos zustrebe, als philosophische Implikationen enthalten sind, die man keineswegs als selbstverstandlich ansehen, sondern als spezifisch europaisch - und als grundlegend fiir die europaische Mehrstimmigkeit - erkennen sollte. Drittens ist die Freiheit der Axiomsetzung, die Ernst Krenek, beeindruckt von David Hilberts Philosophie der Mathematik, fiir die Komponisten in Anspruch nahm, zweifellos in samtlichen Epochen der europaischen Musikgeschichte neben der Orientierung an Naturtatsachen und an geschichtlichen Voraussetzungen wirksam gewesen. Wenn Alexander Skrjabin oder seine Exegeten den "Prometheus "Akkord aus der Partialtonreihe abzuleiten versuchten, forderten sie den Einwand heraus, es handle sich in Wahrheit um einen Dominantnonenakkord mit disalterierter Quinte und der Chopin-Sexte als Zusatzton. Jenseits der Kontroverse iiber Natur und Geschichte, in die man sich verlor, stand jedoch der unauffalligere, aber wesentlichere Sachverhalt fest, daB die Entscheidung, die Relation zwischen Teil und Ganzem, Einzelklang und Klangzentrum systematisch auszukomponieren, um dadurch einen stringenten musikalischen Zusammenhang herzustellen, in einer kompositorischen Freiheit der Axiomsetzung begriindet war.
III. Wer davon iiberzeugt ist, daB in dem Zusammenhang und dem Ineinanderwirken von Naturtatsachen, geschichtlichen Pramissen und kompositorischen Axiomsetzungen die Entscheidungen von Komponisten oder Komponistengruppen die letzte, ausschlaggebende Instanz darstellen, muB den Versuch, sie durch Theorie zu beeinflussen, als schief und anmaBend empfinden. DaB abstrakte Reflexion nicht dazu taugt, von auBen in die kompositorische Praxis einzugreifen, schlieBt jedoch nicht aus, daB sie Moglichkeiten und Alternativen, die prinzipiell offenstehen, skizziert und erortert. Und eine Diskussion iiber regulierte Tonbeziehungen, die aktueli sein mochte, gewinnt, wie es scheint, erst festen Boden, wenn man sich den zwar trivialen, aber nicht immer geniigend beriicksichtigten Unterschied zwischen Tonalitat
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als Struktur und als ProzeB noch einmal mit seinen Implikationen und Konsequenzen vor Augen stellt. DaB Harmonik ein zielgerichteter ProzeB sein kann, ist durchaus nicht selbstverstandlich. Ohne daB ein umstandlicher historischer Exkurs notwendig ware, laB t sich in gro ben Umrissen zeigen, daB der aus dem 12. Jahrhundert stammende Gedanke, durch eine Tendenz oder Affinitat, die von einem ersten Zusammenklang stringent zu einem zweiten fiihrt, musikalischenKonnex und Fortgang zu konstituieren, die schlechterdings grundlegende und die Entwicklung jahrhundertelang bestimmende Idee der europaischen Mehrstimmigkeit gewesen ist. DaB Zusammenklange nicht bloB nebeneinanderstehen und lediglich durch die Melodik oder Stimmfiihrung miteinander verbunden werden, sondern von sich aus ineinander iibergehen, ist ein Prinzip, iiber dessen historische Bedeutung und Tragweite man sich in der alteren Musikgeschichtsschreibung nur darum tauschen konnte, weil man es fiir selbstverstandlich statt fiir erstaunlich hielt. Steht der Grundgedanke erst einmal fest, so ist die Differenz, ob sich die Quarte in den Einklang, die groBe Terz in die Quinte, der Dominantseptakkord in den Tonikadreiklang oder ein chromatisches Konglomerat in eine Quartenschichtung auflost - die Differenz also, durch die sich die Klangtechniken des 12., des 14., des 17. und des 20. Jahrhunderts voneinander unterscheiden -, zwar nicht unwesentlich, aber doch sekundar. Denn an der fundamentalen Idee, daB sich das Verhaltnis zwischen einem niedrigeren und einem hoheren Sonanzgrad als Tendenz oder Strebung, also als harmonische Begriindung musikalischen Fortgangs interpretieren laBt, anderte sich zwischen dem 12. und dem friihen 20. Jahrhundert nichts. 1st demnach das Zusammenstimmen von Entgegengesetztern, das man Harrnonie nennt, seit dem 12. Jahrhundert als ProzeB, namlich als Affinitat entgegengesetzter Klangqualitaten, aufgefaBt worden, so erscheint im Unterschied dazu in friiheren Epochen und in auBereuropaischen Kulturen sowie in groBen Teilen der Neuen Musik des 20. Jahrhunderts die Harrnonie primar als System. (Die Trivialitat, daB Prozesse Bezugssysteme voraussetzen und daB umgekehrt tonend realisierte Systerne immer prozessuale Momente enthalten, darf unerortert bleiben - was zur Diskussion steht, sind Akzentverlagerungen, nicht kontrare, sich ausschlieBende Prinzipien.) Man kann, um einen ersten Uberblick zu gewinnen, zwischen geschlossenen und offenen sowie zwischen zentrierten und nicht zentrierten Systernen unterscheiden und auBerdem die Grundrnuster von den geschichtlich wechselnden Uberformungen abheben, durch die sie iiberhaupt erst kompositorisch verfiigbar oder brauchbar wurden. Die chromatische Skala bildet, wenn man sie wie in der Dodekaphonie nach dem Distanzprinzip, also ohne Unterscheidung zwischen diatonischen und chromatischen Halbtonen auffaBt, ebenso wie die anhemitonische, halbtonlose Pentatonik einen geschlossenen Komplex. Dagegen gehort die Partialtonreihe, die prinzipiell ins U nendliche fortgesetzt
werden kann, zusammen mit der Dur-Moll-Tonalitat, die keine festen Grenzen der Integrierbarkeit entlegener Akkorde kennt, zu den offenen Systemen. Offene Systeme sind zentriert und miissen es sein, weil dort, wo eine Grenze fehlt, die Gruppierung um einen Mittelpunkt als einzige Moglichkeit iibrigbleibt, systematischen Zusammen hang zu verbiirgen. Geschlossene Systeme konnen zwar gleichfalls einen Grund- oder Hauptton enthalten; doch ist eine Zentrierung, wie die Dodekaphonie zeigt, nicht notwendig, und auBerdem erscheint sie dort, wo sie in geschlossenen Systemen hervortritt, etwa in der Form eines Modus in halbtonloser Pentatonik, als bloBe Uberformung oder sekundare Struktur. Sie ist, anders als bei den offenen Systemen, bei den geschlossenen nicht essentiel1. In der Pentatonik ist ein Grundton, sofern er existiert, gewissermaBen eine Zusatzbestimmung; dagegen bildet er in der Partialtonreihe und den von ihr abgeleiteten Tonkomplexen das tragende Fundament des Tonzusammenhangs. Bei Uberformungen von Systemen tritt die kompositorische Freiheit der Axiomsetzung, von der Ernst Kfenek sprach, besonders sinnfallig in ihre Rechte ein, wie sich an einem scheinbar banalen, in Wahrheit jedoch vertrackten Sachverhalt, dem Kontrast zwischen Konsonanz und Dissonanz, zeigen laBt. Die Gewohnheit, Konsonanz und Dissonanz einander entgegenzusetzen, als handle es sich um eine Dichotomie wie die zwischen Plus und Minus, ist irrefiihrend und verstelIt den Blick fiir die Tatsache, daB die Reihe der Sonanzgrade prinzipiell nicht nur Zasuren an verschiedenen Stellen, sondern dariiber hinaus auBer. der Gliederung in zwei Intervallklassen auch Einteilungen in drei oder vier zulaBt, sofern sie durch kompositorische Ideen zu rechtfertigen sind. (1m 14. J ahrhundert ist mit drei Intervallklassen komponiert worden, indem man einerseits die Tendenz der sogenannten imperfekten Konsonanzen zu den perfekten als Mitte1 zur Konstituierung musikalisehen Fortgangs benutzte, andererseits aber die Dissonanzen als Zusatztone und Klangreize behandelte, deren Auflosung weniger ein die harmonische Entwicklung weitertreibendes und motivierendes Moment als eine bloBe Zuriicknahme von Abweichungen darstellte.) Der Begriff der Uberformung legt, ohne daB er vermeidbar ware, insofern ein MiBverstandnis nahe, als er an eindeutige Fundierungsverhaltnisse denken laBt. Man muB jedoch, bei der alteren Mehrstimmigkeit ebenso wie bei der des 20. Jahrhunderts, prinzipiell beriicksichtigen, daB nicht nur die oberen Schichten von den unteren getragen, sondern auch umgekehrt die Tiefenstrukturen von den Oberflachenstrukturen beeinfluBt und modifiziert werden, so daB die Nomenklatur eigentlich inadaquat ist. DaB im 14. Jahrhundert die Quarte, entgegen der Ordnung der Sonanzgrade, aus Griinden der inneren Logik des kompositionstechnischen Systems - eines Systems, in dem sich die Quarte zur Terz verhalten sollte wie die Septime zur Sexte - zur Dissonanz erklart wurde, zeigt eine Dominanz der Axiomsetzung gegeniiber der Naturtatsache. Und der zunachst irritierende Sachverhalt, daB in Zwolftonwerken Intervalle, die in der
Reihe gar nicht vorkommen, durch Versetzung von Zwischentonen in die Vertikale oder in andere Stimmen nicht nur melodische Prasenz, sondern sogar motivische Bedeutung erhalten konnen, wird erst wirklich verstandlich, wenn man die dodekaphone und die motivische Begriindung von Tonbeziehungen, obwohl sie haufig zusammenfallen, dennoch prinzipiell voneinander trennt. Die motivischen Beziehungen werden durch die dodekaphonen keineswegs durchgangig, sondern nur partielI fundiert und treten teilweise, als Begriindungsinstanz von Tonzusammenhangen, an die Stelle des Zwolftonsystems. DaB die Motivbildung' gleichsam Liicken in die dodekaphone Substruktur reiBt, wird dadurch ausgeglichen, daB sie ihrerseits gleichfalls die Funktion erfiillt, Konnex zu stiften.
IV. In der Neuen Musik des 20. Jahrhunderts ist generell die Idee eines harmonischen Prozesses durch die eines harmonischen Systems zuriickgedrangt worden, ohne daB jedoch die dialektische Relation, die zwischen System und ProzeB besteht, aufgehobenware. Die Akzentverlagerung ist von Schonbergs und vor allem Weberns Dodekaphonie ebenso deutlich ablesbar wie von den Schichtungs- oderStratifikationsmethoden, die Strawinsky entwickelte. Allerdings darf, wenn man den komplizierteren Uberlagerungstechniken im Sacre du printemps oder den ironisch simpleren in The Rake 's Progress asthetisch gerecht werden mochte, nicht verkannt werden,daB die von Strawinsky praktizierte Neutralislerung tonaler Funktionsakkorde nicht als eine gegebene, gewissermaBen kompakte Tatsache gemeint ist, die man hinzunehmen hat, sondern als ein Vorgang, der sich, wenn auch nicht immer ohne Miihe, nachvollziehen laBt. DaB eine Tonika durch eine dariiber geschichtete Dominante funktional gleichsam gelahmt wird, solI dem Horer, statt ein stumpfes Faktum zu bleiben, als Resultat eines Konflikts bewuBt werden. Beruht demnach die innere Spannung,dessen, was man Strawinskys statische Harmonik nennt, auf der unterdriickten Dynamik, die in ihr enthalten ist, so bildet Schonbergs komplementare Harmonik, als deren Systematisierung die Klangtechnik der Dodekaphonie interpretiert werden kann, eine extreme und schlieBlich ins Gegenteil umschlagende Konsequenz der Tristan-Chromatik, stellt also gleichfalls ein N eutralisierungsphanomen dar. Der Zusammenhang zwischen Akkorden, von denen der zweite aus Tonen der chromatischen Skala besteht, die im ersten fehlen, beruht einerseits auf dem Prinzip der Komplementaritat, der Erganzung von Teilen zu einem Ganzen, andererseits aber - und zunachst primar - aufStimmfiihrungen in Leittonschritten, also einem. expressiv-dynamischen Moment, das Ernst Kurth energetisch nannte. Und es ist schwierig, historisch die Grenze zu bestimmen, an der die Leittonigkeit, die bei komplementarer Harmonik zunachst dominiert, in dem MaBe gegeniiber dem abstrakten Erganzungsverhaltnis zwischen den Akkorden zuriicktritt, daB man sagen kann, die
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dynamisch-prozessuale Chromatik werde von einer statischstrukturellen Komplementaritat abgelost, wie sie zwischen den Tonen oder Tonkomplexen einer Zwolftonreihe besteht: einer Komplementaritat, zu deren wesentlichen asthetischen Merkmalen es gehort, daB sie, im Unterschied zur chromatischen Harmonik, in der Zeit prinzipiell umkehrbar ist. Versucht man nun, vor dem Hintergrund einiger Jahrzehnte Neuer Musik, in denen das kompositorische Denken insgesamt, wenn auch nicht widerspruchslos und undialektisch, vom Prozessualen zum Systematischen tendierte, in der gegenwartigen Situation eine Entwicklungsrichtung zu erkennen, die sich nicht nur von den technischen Details einiger Werke ablesen laBt, sondern mit asthetischen Entscheidungen der sogenannten Postmoderne zusammenhangt, so liegt angesichts der Tatsache, daB eine Akzentuierung des subjektiv Expressiven unbestritten zur Signatur der 1980er Jahre gehort, zunachst einmal die Vermutung nahe, daB Bemuhungen um eine dynamisch-prozessuale Harmonik an der Zeit waren, wenn auch naturlich nicht in der Form einer Restauration von Vergangenem, sondern als Restitution unter veranderten Bedingungen. Allerdings ist die Assoziation des Subjektiv-Expressiven mit dem Dynamisch-Prozessualen, die aus der Hinterlassenschaft des 19. Jahrhunderts stammt, also schwerlich zu den anthropologischen Grundbestanden gezahlt werden kann, durchaus nicht selbstverstandlich, und die kontrastierende Idee einer gleichsam schwebenden oder in sich kreisenden und dennoch nicht spharisch entruckten, sondern unverkennbar subjektiv-expressiven Musik ist zweifellos, so ungewohnlich sie erscheinen mag, keine schiere Fiktion. Der Restitution einer dynamischen Harmonik steht auBerdem entgegen, daB die Stimmung von Geschichtslosigkeit, die zu den philosophisch gefarbten Pramissen der insgesamt eher unphilosophisch gesonnenen Postmoderne gehort, mit der N eigung verbunden ist, alles fur verfugbar zu halten und Stilzitate oder -fragmente heterogener Herkunft unbekummert ubereinander zu schichten, woraus nahezu unvermeidlich der Effekt resultiert, der als Neutralisierung des Prozessualen bei Strawinsky eine prazise kalkulierte Technik mit fest umrissenen asthetischen Voraussetzungen gewesen ist, in der Gegenwart aber nicht selten wie das Resultat eines zufalligen Griffs ins Arsenal der Vergangenheit erscheint. Mit anderen Worten: Das prozessuale und das statisch schichtende Verfahren geraten, als Techniken wie als Denkformen, in der konfusen Situation der 1980er Jahre in einen Gegensatz zueinander, dessen Auflosung einstweilen offen ist.
v. Versucht man, wenn auch nur abstrakt und ohne einen anderen Anspruch als den des Gedankenexperiments, die Situation ein wenig zu entwirren, allerdings nicht zu vereinfachen, so muB zunachst noch einmal an die von Ernst Kfenek bewuBt gemachte Freiheit der Axiomsetzung erinnert werden, die es einem Komponisten erlaubt, Merkmale von Zusammenklangen, die er als naturliche oder geschicht-
lich gepragte Momente vorfindet, durch Postulate zu regulieren, die eine dynamisch-prozessuale Harmonik entstehen lassen, obwohl einige asthetische Tendenzen der Postmoderne in eine andere Richtung treiben. Und gerade eine Zeit, die sich als post-histoire fuhlt, muBte die in Kfeneks These enthaltene Aufforderung, sich als autonomes Subjekt von der Geschichte nicht tyrannisieren zu lassen, als anziehend empfinden. Andererseits ist jedoch ein Komponist von der Vorgeschichte, die den Hintergrund der Gegenwart hildet, niemaIs restlos unabhangig. Und es ist darum nicht uberflussig, sich die Konsequenzen, die aus den Denkformen der unmittelbaren Vergangenheit erwachsen, vor Augen zu stellen : einer Vergangenheit, der man zwar entgegenwirken, die man aber nicht durch bloBes Ignorieren einfach aus16schen kann. Geht man aber davon aus, daB die durch die serielle und die post-serielle Musik dem BewuBtsein als Notwendigkeit eingepragte, fortschreitende und sich steigernde Reflexion uber Analogien, Differenzen und Wechselwirkungen zwischen den Parametern Tonhohe, Tondauer, Intensitat und Klangfarbe sich nicht durch einen intellektuellen Gewaltstreich ruckgangig machen laBt, so ist man, zumindest im Gedankenexperiment, zur Konfrontation des gegenwartig Intendierten mit dem in den SOer und 60er Jahren Erreichten geradezu gezwungen, wobei das Erreichte, das man nicht beiseite raumen und vergessen kann, weniger in kompositorischen Techniken als in einem Reflexionsniveau besteht, das man nicht ohne Schaden wieder verlassen kann. Das Denken in Parametern war zugleich ein Denken iiber mogliche, schon realisierte oder noch nicht verwirklichte Relationen. Bei Giacinto Scelsi fuhrte, um grob zu simplifizieren, die auBerst differenzierte Vermittlung zwischen Harmonik und Klangfarbe nun aber zu einer weitgehenden Neutralisierung des Rhythmus, bei Edgard Varese umgekehrt die unauflosbare Verquickung von Klangfarbe und Rhythmus zur AusschlieBung der Harmonik, jedenfalls im gewohnlichen Sinne des Wortes. Und so wenig eine Verallgemeinerung zulassig ist, die peinlich an eine Gewinn- und Verlustrechnung erinnern wurde, so deutlich lassen die Modelle, deren Aktualitat kaum zu leugnen seindurfte, immerhin erkennen, daB zwischen der Hinterlassenschaft der unmittelbaren Vergangenheit und dem Zug zu einer subjektiv-expressiven Dynamik einige Widerspruche klaffen, die zwar kein Hindernis sein mussen, aber doch eine Herausforderung darstellen. Abstrakte Reflexion, gerichtet an Komponisten von einem, der es selbst nicht ist, hinterlaBt fast immer ein Gefuhl des Unbehagens, wenn nicht Schlimmeres. Und betrugt man sich nicht selbst, so muB man sich eingestehen, daB die Gedankenexperimente in letzter Instanz von nichts als der riskanten Uberzeugung zehren, man musse, nach einem Wort Walter Benjamins, die Schwierigkeiten haufen, um sie losen zu konnen: einer Uberzeugung, durch die das Prinzip der fortschreitenden und nicht widerrufbaren Reflexion, wenn nicht nutzlich in der Praxis, so doch wenigstens unaus-weichlich in der Theorie erscheint. .
Vortrag, gehalten bei den Darmstadter Ferienkursen 1984
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