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Carl Dahlhaus Tonalitat Struktur oder ProzeB I. D ie Mangel der Termini, mit denen man, zunachst ohne wissenschaftlichen Ehrgeiz, Probierne der musikali- schen Praxis zu erfassen sucht, sind von geringer Bedeutung, solange sie eine Verstandigung iiber die Sache - eine Sache, von der noch gar nicht feststeht, worin sie iiberhaupt besteht - nicht allzu sehr hemmen. Jedenfalls ware es schiere Illu- sion, von einem wort- und begriffsgeschichtlichen Exkurs iiber den Ausdruck Tonalitat, der entweder zentrierte Ton- beziehungen oder aber Tonbeziehungen schlechthin bezeich- net, sachlich Erhellendes zu erwarten. Aus der - durch Polemik und Apologie getriibten - Diskussion, die im Zu- sammenhang mit der Emanzipation der Dissonanz und der Dodekaphonie iiber Tonalitat und Atonalitat gefiihrt wurde, resultierte am Ende nichts anderes als die triviale Einsicht, daB regulierte Tonverhaltnisse, die einer Komposi- tion als Bezugssystem zugrunde gelegt werden konnen, durchaus nicht immer um einen Grund- oder Hauptton zentriert sein miissen. Systeme ohne Zentrierung tonal zu nennen, ist aufgrund der Wort- und Begriffsgeschichte mog- lich und zulassig. Wenn es nun in der unmittelbaren Gegenwart, in der eine Restauration der Kontroverse iiber Atonalitat und deren geschichtliche und asthetische Legitimation absurd ware, ein Tonalitatsproblem gibt, so kann es nicht bloB darin bestehen, daB Komponisten, die sich der Postmoderne zuge- horig fiihlen, in ihren Stilrnontagen auch vor der Einfiigung harmonisch-tonaler Relikte aus der Musik des 19. Jahrhun- derts nicht zuriickscheuen. Eine wesentliche, tiefergreifende Schwierigkeit, durch die sich Komponisten beunruhigt fiih- len, liegt vielmehr in der Erfahrung, daB man fiir Tonbezie- hun gen - oder Beziehungen von Tonqualitaten -, je weni- ger man sie asthetisch akzentuiert, um so dringender ein Regulativ braucht, das die kompositorische Verantwortung verringert. Oder umgekehrt ausgedriickt: In dem MaBe, 12 in dem Tonbeziehungen, statt generell vorgeformt zu sein, spezifisch und individuell, also aus dem Kontext des einzel- nen, besonderen Werkes begriindet werden miissen, wachst der Zwang, sie asthetisch in den Vordergrund zu riicken. DaB die Herstellung und Rechtfertigung regulierter Tonbe- ziehungen ein konzentriertes Interesse auf sich zieht, ist dem- nach angesichts des Zerfalls genereller Strukturierungssche- mata durchaus verstandlich, andererseits aber insofern pro- blematisch, als zur Hinterlassenschaft der 1950er Jahre, die man nicht einfach abwerfen kann, die Idee einer prinzipiellen Gleichberechtigung der Parameter Tonhohe, Tondauer, In- tensitat und Klangfarbe gehort. Eine Entwicklung, deren Ziel es ist, die traditionelle Hierarchie der Toneigenschaften, also den Primat der Tonhohe oder Tonqualitat und daneben - in einem gewissen Abstand - der Tondauer im komposi- torischen Denken zu restituieren, ware demgegeniiber eine tiefgreifende Veranderung, zumal die Hierarchie der Ton- eigenschaften, trotz des jahrhundertelangen Scheins von Selbstverstandlichkeit, eigentlich immer problematisch ge- wesen ist. Die Vorstellung, daB die Intensitat und die Klang- farbe bloB periphere - nicht konstitutive, sondern unter- stiitzende - Parameter seien, war in der europaischen Mu- sikgeschichte eine Pramisse der Kompositionstechnik, die in der Notation sinnfallig zutage trat, aber schwerlich eine Tatsache der musikalischen Wahrnehmung. Produktions- und Rezeptionsasthetik - um die Modevokabeln zu ge- brauchen - klafften vielmehr nicht selten alJseinander. Und in gewissem Sinne ist durch die Aufhebung cles Unterschieds zwischen zentralen und peripheren Toneigenschaften ein psychologischer Sachverhalt, der immer schon bestand, in eine kompositorische MaBnahme umgesetzt worden, die al- lerdings zunachst so wirkte, als werde das U nterste nach oben gekehrt. 1st demnach die Restitution der Hierarchie ein psycholo- gisch eher prekares Unterfangen, so zeigt sich andererseits

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Carl Dahlhaus

Tonalitat Struktur oder ProzeB I.

D ie Mangel der Termini, mit denen man, zunachst ohne wissenschaftlichen Ehrgeiz, Probierne der musikali­

schen Praxis zu erfassen sucht, sind von geringer Bedeutung, solange sie eine Verstandigung iiber die Sache - eine Sache, von der noch gar nicht feststeht, worin sie iiberhaupt besteht - nicht allzu sehr hemmen. Jedenfalls ware es schiere Illu­sion, von einem wort- und begriffsgeschichtlichen Exkurs iiber den Ausdruck Tonalitat, der entweder zentrierte Ton­beziehungen oder aber Tonbeziehungen schlechthin bezeich­net, sachlich Erhellendes zu erwarten. Aus der - durch Polemik und Apologie getriibten - Diskussion, die im Zu­sammenhang mit der Emanzipation der Dissonanz und der Dodekaphonie iiber Tonalitat und Atonalitat gefiihrt wurde, resultierte am Ende nichts anderes als die triviale Einsicht, daB regulierte Tonverhaltnisse, die einer Komposi­tion als Bezugssystem zugrunde gelegt werden konnen, durchaus nicht immer um einen Grund- oder Hauptton zentriert sein miissen. Systeme ohne Zentrierung tonal zu nennen, ist aufgrund der Wort- und Begriffsgeschichte mog­lich und zulassig. Wenn es nun in der unmittelbaren Gegenwart, in der eine Restauration der Kontroverse iiber Atonalitat und deren geschichtliche und asthetische Legitimation absurd ware, ein Tonalitatsproblem gibt, so kann es nicht bloB darin bestehen, daB Komponisten, die sich der Postmoderne zuge­horig fiihlen, in ihren Stilrnontagen auch vor der Einfiigung harmonisch-tonaler Relikte aus der Musik des 19. Jahrhun­derts nicht zuriickscheuen. Eine wesentliche, tiefergreifende Schwierigkeit, durch die sich Komponisten beunruhigt fiih­len, liegt vielmehr in der Erfahrung, daB man fiir Tonbezie­hun gen - oder Beziehungen von Tonqualitaten -, je weni­ger man sie asthetisch akzentuiert, um so dringender ein Regulativ braucht, das die kompositorische Verantwortung verringert. Oder umgekehrt ausgedriickt: In dem MaBe,

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in dem Tonbeziehungen, statt generell vorgeformt zu sein, spezifisch und individuell, also aus dem Kontext des einzel­nen, besonderen Werkes begriindet werden miissen, wachst der Zwang, sie asthetisch in den Vordergrund zu riicken. DaB die Herstellung und Rechtfertigung regulierter Tonbe­ziehungen ein konzentriertes Interesse auf sich zieht, ist dem­nach angesichts des Zerfalls genereller Strukturierungssche­mata durchaus verstandlich, andererseits aber insofern pro­blematisch, als zur Hinterlassenschaft der 1950er Jahre, die man nicht einfach abwerfen kann, die Idee einer prinzipiellen Gleichberechtigung der Parameter Tonhohe, Tondauer, In­tensitat und Klangfarbe gehort. Eine Entwicklung, deren Ziel es ist, die traditionelle Hierarchie der Toneigenschaften, also den Primat der Tonhohe oder Tonqualitat und daneben - in einem gewissen Abstand - der Tondauer im komposi­torischen Denken zu restituieren, ware demgegeniiber eine tiefgreifende Veranderung, zumal die Hierarchie der Ton­eigenschaften, trotz des jahrhundertelangen Scheins von Selbstverstandlichkeit, eigentlich immer problematisch ge­wesen ist. Die Vorstellung, daB die Intensitat und die Klang­farbe bloB periphere - nicht konstitutive, sondern unter­stiitzende - Parameter seien, war in der europaischen Mu­sikgeschichte eine Pramisse der Kompositionstechnik, die in der Notation sinnfallig zutage trat, aber schwerlich eine Tatsache der musikalischen Wahrnehmung. Produktions­und Rezeptionsasthetik - um die Modevokabeln zu ge­brauchen - klafften vielmehr nicht selten alJseinander. Und in gewissem Sinne ist durch die Aufhebung cles Unterschieds zwischen zentralen und peripheren Toneigenschaften ein psychologischer Sachverhalt, der immer schon bestand, in eine kompositorische MaBnahme umgesetzt worden, die al­lerdings zunachst so wirkte, als werde das U nterste nach o ben gekehrt. 1st demnach die Restitution der Hierarchie ein psycholo­gisch eher prekares Unterfangen, so zeigt sich andererseits

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bei der Reflexion iiber Tonbeziehungen ebenso rasch wie unabweislich, daB die schwierigsten Probleme, deren Losung nahezu unmoglich erscheint, im Elementaren liegen : in dem Bereich, den die konventionelle Musiktheorie als Allgemeine Musiklehre etikettiert, als handle es sich um Sachverhalte, die man ohne Nachdenken bIo B zu, lernen braucht. DaB in der Dodekaphonie der Zusammenhang zwischen Grundge­stalt, Umkehrung, Krebs und Krebsumkehrung ein System von Beziehungen - und zwar ein in sich geschlossenes Sy­stem - bildet, leuchtet unmittelbar eino Warum jedoch der Abstand zwischen d und f oder fis und gis iiberhaupt eine Beziehung darstellt, obwohl nach der Aufhebung des Kon­sonanzprinzips nichts anderes iibrigbleibt, als nach dem Di­stanzprinzip die Intervalle als Summen von Halbtonen zu definieren, ist strenggenommen keineswegs plausibel. Man kann das Verhaltnis zwischen Teil und Ganzem, das zwi­schen den einzelnen Intervallen und der Zwolftonreihe be­steht, ebenso als Beziehung auffassen wie die quantitativen Differenzen zwischen den Teilen einer Reihe, den groBeren oder kleineren Intervallen. Das Intervall selbst und fiir sich, als Element des Systems, bleibt jedoch, wie es scheint, ein blinder Fleck der Theorie. Und was unter dem: Titel Tonali­tat - gleichgiiltig, ob er gliicklich gewahlt ist oder nicht -in der gegenwartigen Situation in Wahrheit gesucht wird, ist offenbar, wenn nicht alles tauscht, ein gangbarer Ausweg aus einer ungliicklichen Alternative: der Alternative, entwe­der das Konsonanzprinzip, das Opfer der Atonalitat, restau­rieren oder aber einraumen zu miissen, daB Intervalle Tondi­stanzen und nichts sonst sind.

II. Die Tendenz, angesichts von Tonalitatsproblemen wie dem gerade skizzierten, die sich schwerlich durch bloBe Auspliin­derung des Arsenals historischer und ethnologischer Kennt­nisse losen lassen, Riickhalt an Ph an omen en zu suchen, die von Natur gegeben sind oder bei denen man glaubt, daB sie es seien, bildet die Kehrseite eines wachsenden MiBtrauens gegen die jahrzehntelang dominierende Maxime, daB ein Komponist, um nicht Uberfliissiges zu produzieren, sich dem Gang der Geschichte, die in letzter Instanz iiber musika-

lischen Sinn und Widersinn entscheide, anvertrauen oder unterwerfen miisse. War in den 1950er Jahren, unter dem EinfluB Theodor W. Adornos und in Ubereinstimmung mit der Gewohnheit, die serielle Musik als geschichtliche Konse­quenz und als Ausgleich eines Mangels der Dodekaphonie zu interpretieren, die Idee einer Natur der Musik, der noch Paul Hindemith anhing, durch das Prinzip der Geschicht­lichkeit aus dem asthetischen Denken der Komponisten weitgehend verdrangt worden, so verlor in den 1970er Jah­ren der Geschichtsbegriff dadurch seine Macht iiber das allgemeine BewuBtsein, dall die Vorstellung, es gebe "die" Geschichte - im Singular -, eine Geschichte, von deren Entwicklungsstand es abhangt, was an der Zeit ist und was nicht und was darum gliicken kann oder miBlingen muB, als Mythos durchschaubar wurde. Die wirkliche Geschichte besteht - im Plural - aus Geschichten: aus Ereignissen und Ereigniszusammenhangen, die, teils unabhangig von­einander und teils miteinander verflochten,· aus heterogenen U rspriingen hervorgehen und zu divergierenden Resultaten fiihren.

DaB ein Mythos, an dem das BewuBtsein Riickhalt fand, zerstort wurde, ist allerdings kein Grund, zu einem alteren Mythos zuriickzukehren, von dem man jahrzehntelang glaubte, er sei langst tot. Der Naturbegriff als Berufungsin­stanz einer auf aktuelle kompositorische Praxis bezogenen Musiktheorie gleicht, pointiert gesagt, einem Revenant. Und die Restaurationstendenzen, die sich abzeichnen, fordern zum Widerspruch heraus, auch wenn die Einwande, die man erheben muB, zum Teil so vergilbt sind wie das, wogegen sie sich wenden.

Erstens bedeutet die Tatsache, daB ein tonendes Phanomen von Natur gegeben ist oder zu sein scheint, noch keineswegs, daB dadurch musikalischer Sinn verbiirgt werde. Ein Kom­ponist, der sich durch die Deduzierbarkeit eines Tonkomple­xes aus der Partialtonreihe von der Notwendigkeit, die Tone von sich aus, durch subjektive Anstrengung, zum Sprechen zu bringen, entlastet glaubt, opfert die musikalische Ver­nunft einer Chimare, iiber deren wahren Charakter man sich durch die physikalische Nomenklatur, mit der man

Tonale Akkorde, als Strukturgebilde begriffen :Skizze zu Igor Strawinskys Blasersinjonien (1920)

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die Fiktion in pseudo-wissenschaftlicher Manier ausstatten kann, nicht tauschen lassen sollte. Zweitens sind Naturgegebenheiten in der Form, in der sie in der Musiktheorie erscheinen, fast immer kategorial er­faBte und interpretierte Phanomene: also angeeignete und verarbeitete, nicht urspriingliche und rohe Natur. Die Ab­stufung der Zusammenklange nach Sonanzgraden - von der Oktave iiber die Quinte und Quarte bis zur Terz und Sexte und schlieBlich zur Septime und Sekunde - mag wahrnehmungspsychologisch eine Naturtatsache - oder genauer: eine anthropologische Struktur von unvordenk­lich langer Dauer - sein. Die Behauptung aber, die Oktave sei ein vollkommeneres Intervall als die Sexte und darum als Zusammenklang der en natiirliches Ziel, ist eine Interpreta­tion, in der einerseits die pythagoreische Pramisse, daB das Einfachere das Vollkommenere sei, und andererseits der aristotelische Gedanke, daB das Unvollkommenere dem Vollkommeneren als 'seinem Telos zustrebe, als philosophi­sche Implikationen enthalten sind, die man keineswegs als selbstverstandlich ansehen, sondern als spezifisch euro­paisch - und als grundlegend fiir die europaische Mehrstim­migkeit - erkennen sollte. Drittens ist die Freiheit der Axiomsetzung, die Ernst Kre­nek, beeindruckt von David Hilberts Philosophie der Ma­thematik, fiir die Komponisten in Anspruch nahm, zweifel­los in samtlichen Epochen der europaischen Musikge­schichte neben der Orientierung an Naturtatsachen und an geschichtlichen Voraussetzungen wirksam gewesen. Wenn Alexander Skrjabin oder seine Exegeten den "Prometheus "­Akkord aus der Partialtonreihe abzuleiten versuchten, for­derten sie den Einwand heraus, es handle sich in Wahrheit um einen Dominantnonenakkord mit disalterierter Quinte und der Chopin-Sexte als Zusatzton. Jenseits der Kontro­verse iiber Natur und Geschichte, in die man sich verlor, stand jedoch der unauffalligere, aber wesentlichere Sachver­halt fest, daB die Entscheidung, die Relation zwischen Teil und Ganzem, Einzelklang und Klangzentrum systematisch auszukomponieren, um dadurch einen stringenten musikali­schen Zusammenhang herzustellen, in einer kompositori­schen Freiheit der Axiomsetzung begriindet war.

III. Wer davon iiberzeugt ist, daB in dem Zusammenhang und dem Ineinanderwirken von Naturtatsachen, geschichtlichen Pramissen und kompositorischen Axiomsetzungen die Ent­scheidungen von Komponisten oder Komponistengruppen die letzte, ausschlaggebende Instanz darstellen, muB den Versuch, sie durch Theorie zu beeinflussen, als schief und anmaBend empfinden. DaB abstrakte Reflexion nicht dazu taugt, von auBen in die kompositorische Praxis einzugreifen, schlieBt jedoch nicht aus, daB sie Moglichkeiten und Alter­nativen, die prinzipiell offenstehen, skizziert und erortert. Und eine Diskussion iiber regulierte Tonbeziehungen, die aktueli sein mochte, gewinnt, wie es scheint, erst festen Bo­den, wenn man sich den zwar trivialen, aber nicht immer geniigend beriicksichtigten Unterschied zwischen Tonalitat

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als Struktur und als ProzeB noch einmal mit seinen Implika­tionen und Konsequenzen vor Augen stellt. DaB Harmonik ein zielgerichteter ProzeB sein kann, ist durchaus nicht selbstverstandlich. Ohne daB ein umstandli­cher historischer Exkurs notwendig ware, laB t sich in gro ben Umrissen zeigen, daB der aus dem 12. Jahrhundert stam­mende Gedanke, durch eine Tendenz oder Affinitat, die von einem ersten Zusammenklang stringent zu einem zweiten fiihrt, musikalischenKonnex und Fortgang zu konstituie­ren, die schlechterdings grundlegende und die Entwicklung jahrhundertelang bestimmende Idee der europaischen Mehrstimmigkeit gewesen ist. DaB Zusammenklange nicht bloB nebeneinanderstehen und lediglich durch die Melodik oder Stimmfiihrung miteinander verbunden werden, son­dern von sich aus ineinander iibergehen, ist ein Prinzip, iiber dessen historische Bedeutung und Tragweite man sich in der alteren Musikgeschichtsschreibung nur darum tauschen konnte, weil man es fiir selbstverstandlich statt fiir erstaun­lich hielt. Steht der Grundgedanke erst einmal fest, so ist die Differenz, ob sich die Quarte in den Einklang, die groBe Terz in die Quinte, der Dominantseptakkord in den Tonikadreiklang oder ein chromatisches Konglomerat in eine Quartenschich­tung auflost - die Differenz also, durch die sich die Klang­techniken des 12., des 14., des 17. und des 20. Jahrhunderts voneinander unterscheiden -, zwar nicht unwesentlich, aber doch sekundar. Denn an der fundamentalen Idee, daB sich das Verhaltnis zwischen einem niedrigeren und einem hoheren Sonanzgrad als Tendenz oder Strebung, also als harmonische Begriindung musikalischen Fortgangs inter­pretieren laBt, anderte sich zwischen dem 12. und dem friihen 20. Jahrhundert nichts. 1st demnach das Zusammenstimmen von Entgegengesetz­tern, das man Harrnonie nennt, seit dem 12. Jahrhundert als ProzeB, namlich als Affinitat entgegengesetzter Klangquali­taten, aufgefaBt worden, so erscheint im Unterschied dazu in friiheren Epochen und in auBereuropaischen Kulturen sowie in groBen Teilen der Neuen Musik des 20. Jahrhun­derts die Harrnonie primar als System. (Die Trivialitat, daB Prozesse Bezugssysteme voraussetzen und daB umgekehrt tonend realisierte Systerne immer prozessuale Momente ent­halten, darf unerortert bleiben - was zur Diskussion steht, sind Akzentverlagerungen, nicht kontrare, sich ausschlie­Bende Prinzipien.) Man kann, um einen ersten Uberblick zu gewinnen, zwi­schen geschlossenen und offenen sowie zwischen zentrierten und nicht zentrierten Systernen unterscheiden und auBerdem die Grundrnuster von den geschichtlich wechselnden Uber­formungen abheben, durch die sie iiberhaupt erst komposi­torisch verfiigbar oder brauchbar wurden. Die chromatische Skala bildet, wenn man sie wie in der Dodekaphonie nach dem Distanzprinzip, also ohne Unter­scheidung zwischen diatonischen und chromatischen Halb­tonen auffaBt, ebenso wie die anhemitonische, halbtonlose Pentatonik einen geschlossenen Komplex. Dagegen gehort die Partialtonreihe, die prinzipiell ins U nendliche fortgesetzt

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werden kann, zusammen mit der Dur-Moll-Tonalitat, die keine festen Grenzen der Integrierbarkeit entlegener Ak­korde kennt, zu den offenen Systemen. Offene Systeme sind zentriert und miissen es sein, weil dort, wo eine Grenze fehlt, die Gruppierung um einen Mittelpunkt als einzige Moglichkeit iibrigbleibt, systematischen Zusam­men hang zu verbiirgen. Geschlossene Systeme konnen zwar gleichfalls einen Grund- oder Hauptton enthalten; doch ist eine Zentrierung, wie die Dodekaphonie zeigt, nicht notwen­dig, und auBerdem erscheint sie dort, wo sie in geschlossenen Systemen hervortritt, etwa in der Form eines Modus in halbtonloser Pentatonik, als bloBe Uberformung oder se­kundare Struktur. Sie ist, anders als bei den offenen Syste­men, bei den geschlossenen nicht essentiel1. In der Pentato­nik ist ein Grundton, sofern er existiert, gewissermaBen eine Zusatzbestimmung; dagegen bildet er in der Partialtonreihe und den von ihr abgeleiteten Tonkomplexen das tragende Fundament des Tonzusammenhangs. Bei Uberformungen von Systemen tritt die kompositorische Freiheit der Axiomsetzung, von der Ernst Kfenek sprach, besonders sinnfallig in ihre Rechte ein, wie sich an einem scheinbar banalen, in Wahrheit jedoch vertrackten Sachver­halt, dem Kontrast zwischen Konsonanz und Dissonanz, zeigen laBt. Die Gewohnheit, Konsonanz und Dissonanz einander entgegenzusetzen, als handle es sich um eine Dicho­tomie wie die zwischen Plus und Minus, ist irrefiihrend und verstelIt den Blick fiir die Tatsache, daB die Reihe der So­nanzgrade prinzipiell nicht nur Zasuren an verschiedenen Stellen, sondern dariiber hinaus auBer. der Gliederung in zwei Intervallklassen auch Einteilungen in drei oder vier zulaBt, sofern sie durch kompositorische Ideen zu rechtferti­gen sind. (1m 14. J ahrhundert ist mit drei Intervallklassen komponiert worden, indem man einerseits die Tendenz der sogenannten imperfekten Konsonanzen zu den perfekten als Mitte1 zur Konstituierung musikalisehen Fortgangs be­nutzte, andererseits aber die Dissonanzen als Zusatztone und Klangreize behandelte, deren Auflosung weniger ein die harmonische Entwicklung weitertreibendes und motivieren­des Moment als eine bloBe Zuriicknahme von Abweichun­gen darstellte.) Der Begriff der Uberformung legt, ohne daB er vermeidbar ware, insofern ein MiBverstandnis nahe, als er an eindeutige Fundierungsverhaltnisse denken laBt. Man muB jedoch, bei der alteren Mehrstimmigkeit ebenso wie bei der des 20. Jahrhunderts, prinzipiell beriicksichtigen, daB nicht nur die oberen Schichten von den unteren getragen, sondern auch umgekehrt die Tiefenstrukturen von den Oberflachen­strukturen beeinfluBt und modifiziert werden, so daB die Nomenklatur eigentlich inadaquat ist. DaB im 14. Jahrhun­dert die Quarte, entgegen der Ordnung der Sonanzgrade, aus Griinden der inneren Logik des kompositionstechnischen Systems - eines Systems, in dem sich die Quarte zur Terz verhalten sollte wie die Septime zur Sexte - zur Dissonanz erklart wurde, zeigt eine Dominanz der Axiomsetzung ge­geniiber der Naturtatsache. Und der zunachst irritierende Sachverhalt, daB in Zwolftonwerken Intervalle, die in der

Reihe gar nicht vorkommen, durch Versetzung von Zwi­schentonen in die Vertikale oder in andere Stimmen nicht nur melodische Prasenz, sondern sogar motivische Bedeu­tung erhalten konnen, wird erst wirklich verstandlich, wenn man die dodekaphone und die motivische Begriindung von Tonbeziehungen, obwohl sie haufig zusammenfallen, den­noch prinzipiell voneinander trennt. Die motivischen Bezie­hungen werden durch die dodekaphonen keineswegs durch­gangig, sondern nur partielI fundiert und treten teilweise, als Begriindungsinstanz von Tonzusammenhangen, an die Stelle des Zwolftonsystems. DaB die Motivbildung' gleich­sam Liicken in die dodekaphone Substruktur reiBt, wird dadurch ausgeglichen, daB sie ihrerseits gleichfalls die Funk­tion erfiillt, Konnex zu stiften.

IV. In der Neuen Musik des 20. Jahrhunderts ist generell die Idee eines harmonischen Prozesses durch die eines harmonischen Systems zuriickgedrangt worden, ohne daB jedoch die dia­lektische Relation, die zwischen System und ProzeB be­steht, aufgehobenware. Die Akzentverlagerung ist von Schonbergs und vor allem Weberns Dodekaphonie ebenso deutlich ablesbar wie von den Schichtungs- oderStratifika­tionsmethoden, die Strawinsky entwickelte. Allerdings darf, wenn man den komplizierteren Uberlage­rungstechniken im Sacre du printemps oder den ironisch simpleren in The Rake 's Progress asthetisch gerecht werden mochte, nicht verkannt werden,daB die von Strawinsky praktizierte Neutralislerung tonaler Funktionsakkorde nicht als eine gegebene, gewissermaBen kompakte Tatsache gemeint ist, die man hinzunehmen hat, sondern als ein Vor­gang, der sich, wenn auch nicht immer ohne Miihe, nachvoll­ziehen laBt. DaB eine Tonika durch eine dariiber geschichtete Dominante funktional gleichsam gelahmt wird, solI dem Horer, statt ein stumpfes Faktum zu bleiben, als Resultat eines Konflikts bewuBt werden. Beruht demnach die innere Spannung,dessen, was man Stra­winskys statische Harmonik nennt, auf der unterdriickten Dynamik, die in ihr enthalten ist, so bildet Schonbergs kom­plementare Harmonik, als deren Systematisierung die Klangtechnik der Dodekaphonie interpretiert werden kann, eine extreme und schlieBlich ins Gegenteil umschlagende Konsequenz der Tristan-Chromatik, stellt also gleichfalls ein N eutralisierungsphanomen dar. Der Zusammenhang zwischen Akkorden, von denen der zweite aus Tonen der chromatischen Skala besteht, die im ersten fehlen, beruht einerseits auf dem Prinzip der Komplementaritat, der Ergan­zung von Teilen zu einem Ganzen, andererseits aber - und zunachst primar - aufStimmfiihrungen in Leittonschritten, also einem. expressiv-dynamischen Moment, das Ernst Kurth energetisch nannte. Und es ist schwierig, historisch die Grenze zu bestimmen, an der die Leittonigkeit, die bei komplementarer Harmonik zunachst dominiert, in dem MaBe gegeniiber dem abstrakten Erganzungsverhaltnis zwi­schen den Akkorden zuriicktritt, daB man sagen kann, die

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dynamisch-prozessuale Chromatik werde von einer statisch­strukturellen Komplementaritat abgelost, wie sie zwischen den Tonen oder Tonkomplexen einer Zwolftonreihe besteht: einer Komplementaritat, zu deren wesentlichen asthetischen Merkmalen es gehort, daB sie, im Unterschied zur chromati­schen Harmonik, in der Zeit prinzipiell umkehrbar ist. Versucht man nun, vor dem Hintergrund einiger Jahrzehnte Neuer Musik, in denen das kompositorische Denken insge­samt, wenn auch nicht widerspruchslos und undialektisch, vom Prozessualen zum Systematischen tendierte, in der ge­genwartigen Situation eine Entwicklungsrichtung zu erken­nen, die sich nicht nur von den technischen Details einiger Werke ablesen laBt, sondern mit asthetischen Entscheidun­gen der sogenannten Postmoderne zusammenhangt, so liegt angesichts der Tatsache, daB eine Akzentuierung des subjek­tiv Expressiven unbestritten zur Signatur der 1980er Jahre gehort, zunachst einmal die Vermutung nahe, daB Bemuhun­gen um eine dynamisch-prozessuale Harmonik an der Zeit waren, wenn auch naturlich nicht in der Form einer Restau­ration von Vergangenem, sondern als Restitution unter ver­anderten Bedingungen. Allerdings ist die Assoziation des Subjektiv-Expressiven mit dem Dynamisch-Prozessualen, die aus der Hinterlassenschaft des 19. Jahrhunderts stammt, also schwerlich zu den anthropologischen Grundbestanden gezahlt werden kann, durchaus nicht selbstverstandlich, und die kontrastierende Idee einer gleichsam schwebenden oder in sich kreisenden und dennoch nicht spharisch entruckten, sondern unverkennbar subjektiv-expressiven Musik ist zwei­fellos, so ungewohnlich sie erscheinen mag, keine schiere Fiktion. Der Restitution einer dynamischen Harmonik steht auBer­dem entgegen, daB die Stimmung von Geschichtslosigkeit, die zu den philosophisch gefarbten Pramissen der insgesamt eher unphilosophisch gesonnenen Postmoderne gehort, mit der N eigung verbunden ist, alles fur verfugbar zu halten und Stilzitate oder -fragmente heterogener Herkunft unbekum­mert ubereinander zu schichten, woraus nahezu unvermeid­lich der Effekt resultiert, der als Neutralisierung des Prozes­sualen bei Strawinsky eine prazise kalkulierte Technik mit fest umrissenen asthetischen Voraussetzungen gewesen ist, in der Gegenwart aber nicht selten wie das Resultat eines zufalligen Griffs ins Arsenal der Vergangenheit erscheint. Mit anderen Worten: Das prozessuale und das statisch schichtende Verfahren geraten, als Techniken wie als Denk­formen, in der konfusen Situation der 1980er Jahre in einen Gegensatz zueinander, dessen Auflosung einstweilen offen ist.

v. Versucht man, wenn auch nur abstrakt und ohne einen anderen Anspruch als den des Gedankenexperiments, die Situation ein wenig zu entwirren, allerdings nicht zu verein­fachen, so muB zunachst noch einmal an die von Ernst Kfenek bewuBt gemachte Freiheit der Axiomsetzung erin­nert werden, die es einem Komponisten erlaubt, Merkmale von Zusammenklangen, die er als naturliche oder geschicht-

lich gepragte Momente vorfindet, durch Postulate zu regu­lieren, die eine dynamisch-prozessuale Harmonik entstehen lassen, obwohl einige asthetische Tendenzen der Postmo­derne in eine andere Richtung treiben. Und gerade eine Zeit, die sich als post-histoire fuhlt, muBte die in Kfeneks These enthaltene Aufforderung, sich als autonomes Subjekt von der Geschichte nicht tyrannisieren zu lassen, als anziehend empfinden. Andererseits ist jedoch ein Komponist von der Vorge­schichte, die den Hintergrund der Gegenwart hildet, niemaIs restlos unabhangig. Und es ist darum nicht uberflussig, sich die Konsequenzen, die aus den Denkformen der unmittelba­ren Vergangenheit erwachsen, vor Augen zu stellen : einer Vergangenheit, der man zwar entgegenwirken, die man aber nicht durch bloBes Ignorieren einfach aus16schen kann. Geht man aber davon aus, daB die durch die serielle und die post-serielle Musik dem BewuBtsein als Notwendigkeit eingepragte, fortschreitende und sich steigernde Reflexion uber Analogien, Differenzen und Wechselwirkungen zwi­schen den Parametern Tonhohe, Tondauer, Intensitat und Klangfarbe sich nicht durch einen intellektuellen Gewalt­streich ruckgangig machen laBt, so ist man, zumindest im Gedankenexperiment, zur Konfrontation des gegenwartig Intendierten mit dem in den SOer und 60er Jahren Erreichten geradezu gezwungen, wobei das Erreichte, das man nicht beiseite raumen und vergessen kann, weniger in komposito­rischen Techniken als in einem Reflexionsniveau besteht, das man nicht ohne Schaden wieder verlassen kann. Das Denken in Parametern war zugleich ein Denken iiber mogli­che, schon realisierte oder noch nicht verwirklichte Relatio­nen. Bei Giacinto Scelsi fuhrte, um grob zu simplifizieren, die auBerst differenzierte Vermittlung zwischen Harmonik und Klangfarbe nun aber zu einer weitgehenden Neutralisie­rung des Rhythmus, bei Edgard Varese umgekehrt die un­auflosbare Verquickung von Klangfarbe und Rhythmus zur AusschlieBung der Harmonik, jedenfalls im gewohnlichen Sinne des Wortes. Und so wenig eine Verallgemeinerung zulassig ist, die peinlich an eine Gewinn- und Verlustrech­nung erinnern wurde, so deutlich lassen die Modelle, deren Aktualitat kaum zu leugnen seindurfte, immerhin erkennen, daB zwischen der Hinterlassenschaft der unmittelbaren Ver­gangenheit und dem Zug zu einer subjektiv-expressiven Dy­namik einige Widerspruche klaffen, die zwar kein Hindernis sein mussen, aber doch eine Herausforderung darstellen. Abstrakte Reflexion, gerichtet an Komponisten von einem, der es selbst nicht ist, hinterlaBt fast immer ein Gefuhl des Unbehagens, wenn nicht Schlimmeres. Und betrugt man sich nicht selbst, so muB man sich eingestehen, daB die Gedankenexperimente in letzter Instanz von nichts als der riskanten Uberzeugung zehren, man musse, nach einem Wort Walter Benjamins, die Schwierigkeiten haufen, um sie losen zu konnen: einer Uberzeugung, durch die das Prinzip der fortschreitenden und nicht widerrufbaren Reflexion, wenn nicht nutzlich in der Praxis, so doch wenigstens unaus-weichlich in der Theorie erscheint. .

Vortrag, gehalten bei den Darmstadter Ferienkursen 1984

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