22
DANIEL LIBESKIND Entwürfe meines Lebens

DANIEL LIBESKIND Entwürfe meines Lebens - bilder.buecher.de · Buch Daniel Libeskind, in Polen geboren, mit seinen Eltern nach Israel aus-gewandert, ist in viel en Welten zu Hause

  • Upload
    others

  • View
    6

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

DANIEL LIBESKIND

Entwürfe meines Lebens

Buch

Daniel Libeskind, in Polen geboren, mit seinen Eltern nach Israel aus-gewandert, ist in vielen Welten zu Hause. In jungen Jahren stand er alsAkkordeon-Virtuose auf der Bühne, begeisterte sich fürs Zeichnen undfür die Mathematik. Als Architekt war er ein Spätberufener, das Jüdi-sche Museum in Berlin war das erste Gebäude, das erste, das er – mitüber 50 – überhaupt realisierte. Dem Sohn zweier Überlebender desHolocaust sind Themen wie Trauma und Erinnerung nah, und er hatdas Ziel seiner Arbeit als »Architektur des Optimismus« bezeichnet.2003 erhielt er den Auftrag für das wichtigste Architekturprojekt unse-rer Zeit, die Neugestaltung des World Trade Center und den Bau des1776 Freedom Tower in New York. David Childs, alles andere als ein vi-sionärer Architekt, wurde ihm schließlich zur Seite gestellt. Libeskindschildert die Szenen dieser »Zwangsehe« mit grimmigem Witz. Dochdas ist nur eine Facette dieses reichen und unterhaltsamen Buches,das den Leser einlädt, Architektur – und die Welt an sich – mit völlig

neuen Augen zu sehen.

Autor

Daniel Libeskind, geboren 1946 in Polen, nahm 1965 die amerikani-sche Staatsbürgerschaft an. Er studierte Musik und Architektur. Zu sei-nen bekanntesten Werken zählen das Jüdische Museum in Berlin, dasFelix-Nussbaum-Haus in Osnabrück, das Imperial War Museum Northin Manchester und das Royal Ontario Museum in Toronto. Libeskindhat an vielen Universitäten der Welt gelehrt und Vorträge gehalten; erist Mitglied der Berliner Akademie der Künste und hat zahlreiche Aus-zeichnungen erhalten, u.a. den Berliner Kulturpreis und den DeutschenArchitekturpreis. Nach 13 Jahren in Berlin lebt er seit Anfang 2003 mit

seiner Frau Nina und den drei Kindern wieder in New York.

Daniel Libeskindmit Sarah Crichton

Entwürfemeines Lebens

Autobiografie

Aus dem Englischenvon Franca Fritz und Heinrich Koop

Verlagsgruppe Random House fsc-deu-0100Das fsc-zertifizierte Papier München Super für Taschenbücher

aus dem Goldmann Verlag liefert Mochenwangen Papier.

1. AuflageTaschenbuchausgabe August 2006

Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Originalausgabe 2004 by Daniel LibeskindCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe

unter dem Titel »Breaking Ground«by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2004

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische AgenturThomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen,

und die Mendel Media Group LLC, New YorkUmschlaggestaltung: Design Team München

Umschlagfoto oben: © Lev LibeskindUmschlagfoto unten: © Studio Daniel Libeskind

KF · Herstellung: Str.Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in GermanyISBN-10: 3-442-15364-6

ISBN-13: 978-3-442-15364-0

www.goldmann-verlag.de

SGS-COC-1940

Zur Erinnerung an meine Eltern,Dora Blaustein Libeskind und

Nachman Libeskind

Und für Nina, die Liebe meines Lebens

Ein Teil der Erlöse dieses Buches geht an den Windows of HopeFamily Relief Fund. Diese gemeinnützige Stiftung wurde mit dem Zielgegründet, Hilfeleistungen, Stipendien und finanzielle Unterstützungfür jene Familien zu gewährleisten, deren Angehörige im World TradeCenter im Hotel- und Gastronomiegewerbe tätig waren und bei derKatastrophe am 11. September 2001 ums Leben kamen.Die Website des Windows of Hope Family Relief Fund lautetwww.windowsofhope.org.

1 · Fundamente 11

2 · Orte 29

3 · Licht 65

4 · Gebäude 91

5 · Gesichter 121

6 · Herzblut 151

7 · Der Plan 173

8 · Das Unsichtbare 211

9 · Materialien 237

10 · Zwangsehe 263

11 · Glaube 289

Inhalt

1

Fundamente

Irgendjemand hat Goethe einmal gefragt,was seine Lieblingsfarbe sei.

»Ich mag Regenbögen«, antwortete er.Genau das liebe ich an der Architektur:

Ist sie gut, dann spiegelt sie jede Farbe imSpektrum des Lebens; ist sie schlecht, dannverblassen die Farben vollständig. Von denRuinen der Stadt Byzanz bis zu den Straßenvon New York, vom spitzen Dach einerchinesischen Pagode bis hin zum Eiffelturm:Jedes Gebäude erzählt eine Geschichte oder– besser noch – mehrere Geschichten.Denken Sie einmal darüber nach: Wenn wiruns an historische Ereignisse erinnern,sehen wir immer die dazugehörigen Ge-bäude vor unserem inneren Auge. Fragtman uns nach der Französischen Revo-lution, stellen wir uns nicht Danton vor,sondern rufen Bilder von Versailles auf.Wandern wir in Gedanken zum antiken

13

Rom zurück, dann sehen wir als Erstes das Kolosseum und dasForum Romanum. Und wenn wir neben einem griechischenTempel oder in der Nähe des Steinkreises von Stonehengestehen, spüren wir die Gegenwart der Menschen, die dieseBauwerke schufen – ihr Geist spricht zu uns, über die Kluft derGeschichte hinweg.

Wenn Architektur versagt, wenn sie langweilig ist und ihrPhantasie und Kraft fehlen, dann erzählt sie nur eine Geschichte,und zwar die ihrer eigenen Entstehung: wie das Bauwerk finan-ziert, errichtet und im Detail gestaltet wurde. Aber ebenso wiegroßartige Literatur oder Poesie oder Musik kann großartigeArchitektur die Geschichte der menschlichen Seele erzählen.Sie kann uns die Welt mit völlig neuen Augen sehen lassen, unsereSichtweise für immer verändern. Sie kann unsere Sehnsüchtewecken, uns imaginäre Wege aufzeigen und einem Kind, das nochnichts gesehen hat und noch nirgendwo war, zurufen: »Hey, dieWelt kann völlig anders aussehen, als du sie dir jemals vorgestellthast. Du kannst völlig anders sein, als du es dir jemals vorgestellthast.«

Im Gegensatz zur landläufigen Meinung sind Bauwerke keines-wegs leblose Objekte. Sie leben und atmen und besitzen genau wiewir Menschen ein Inneres und ein Äußeres, einen Körper und eineSeele. Wie schafft man es also, ein Gebäude zu entwerfen, dassingen kann? Ein Gebäude, das Charakter, Menschlichkeit undSchönheit ausstrahlt? Wie fängt man an?

Ende der achtziger Jahre fand ich mich eines Tages zusammenmit etwa 160 Architekten aus aller Welt im Auditorium des BerlinMuseums wieder, einem eleganten Barockgebäude im Arbeiter-viertel Kreuzberg, ganz in der Nähe der Berliner Mauer. Früher wardies einmal ein pulsierendes Viertel in einer pulsierenden Stadt;

Breaking Ground

14

jetzt wurde es beherrscht von Sozialwohnungsbauten, die man inden sechziger Jahren hochgezogen hatte – ein trauriger, irgend-wie trostloser Bezirk einer Stadt, die durch eine Mauer geteilt unddurch ihre tragische Geschichte von sich selbst getrennt war.Eingeladen hatte uns der Berliner Senat, der sich zu einemmutigen Schritt entschlossen hatte: Man wollte den Menschen einDenkmal setzen, die einst einer der Schlüssel zur vielschichtigenKultur der Stadt gewesen waren – den Berliner Juden –, und zwarmit einem Erweiterungsbau des Berlin Museums, der so genanntenJüdischen Abteilung.

Nach einer kurzen Einweisung führten uns unsere Gastgeberzu dem Gelände, auf dem der neue Museumsflügel entstehen soll-te – ein staubiger, kleiner Spielplatz, auf dem gelegentlich einWanderzirkus gastierte. Meine Kollegen fuchtelten wie wild mitihren Kameras herum, dokumentierten jeden Winkel aus jedemWinkel, wohingegen ich selbst kein einziges Foto machte, weilich etwas wahrnahm, das man nicht auf Film bannen konnte.Während ich umherwanderte, dachte ich an alles Mögliche, nurnicht an das Baugelände. Wie kann man eine Vergangenheit ein-fangen, die einerseits so lebendig und vielfältig ist und andererseitsso hässlich und schmerzhaft? Wie kann man – nur mit Hilfe vonMörtel, Glas und Stahl – eine turbulente Vergangenheit und eineunvorhersehbare Zukunft zugleich einfangen?

Eine Stimme mit deutschem Akzent riss mich aus meinenGedanken. »Sie schauen nach Osten«, sagte der Mann. »WennSie in diese Richtung gehen, zur Kochstraße, dann sind Sie in einpaar Minuten am Checkpoint Charlie.«

Die Stimme gehörte Walter Nobel, einem freundlichen jungenMann, der bald ein bekannter Architekt in Berlin werden sollte.»Sie sind neu hier«, fuhr er ruhig fort. »Sie kennen uns Deutsche

Fundamente

15

nicht; Sie verstehen nicht, wie das hier läuft. Alles muss peinlichgenau ausgeführt werden. Sie sollten die folgenden Dinge unbe-dingt wissen.« Er holte einen Notizblock aus seiner Tasche undschrieb eine lange Reihe von Zahlen auf.

»Sie müssen beispielsweise die Toilettenmaße kennen. Nebenden Brandschutzbestimmungen zählen die Vorschriften für dieGröße und Ausstattung der Toilettenräume zu den wichtigstenVoraussetzungen ...«

Als er seine Ausführungen beendet hatte, dankte ich ihm undschob den Notizzettel in meine Manteltasche. Abends im Hotel-zimmer nahm ich ihn dann, kurz bevor ich ins Bett ging, herausund warf ihn in den Papierkorb. Bei diesem Bauwerk würde esnicht um Toiletten gehen.

Obwohl ich Zeit meines Berufslebens als Architekt tätig gewe-sen bin, hatte ich bis zu meinem zweiundfünfzigsten Lebensjahrkein eigenes Bauwerk realisiert. Heute, während ich diese Zeilenschreibe, also sechs Jahre später, wurden bereits drei von mirentworfene Museen gebaut, einschließlich des Jüdischen Museumsin Berlin, und weitere fünfunddreißig Projekte befinden sich inunterschiedlichen Baustadien: Museumsgebäude in Toronto, SanFrancisco, Dresden, Kopenhagen und Denver, ein Universitäts-gebäude in Hongkong, ein Einkaufs- und Wellnesscenter in derSchweiz, ein Studentenzentrum in Tel Aviv und ein weiteresim Norden Londons sowie ein riesiges Stadtentwicklungsprojekt inMailand.

Ich bin ein glücklicher Mann.Woher weiß ich, was ich entwerfen will? Diese Frage wird mir

häufig gestellt, und ich bin mir nie ganz sicher, was ich antwortensoll. Meine Herangehensweise an ein Projekt ist alles andere als

Breaking Ground

16

orthodox, und ich verstehe den Vorgang gelegentlich nicht einmalselbst. Manchmal werden meine Gedanken von einem Musikstückoder einem Gedicht inspiriert oder einfach nur von der Art undWeise, in der Licht auf eine Mauer fällt. Und manchmal dringteine Idee aus dem Licht im Innersten meines Herzens in meinBewusstsein. Ich konzentriere mich nicht ausschließlich auf daszukünftige Erscheinungsbild eines Bauwerks, ich konzentrieremich auch darauf, wie es sich anfühlen wird – und dabei drängensich mir eine Fülle von Bildern auf: die Zerstörung von JosefStalins Porträt während des polnischen Aufstands 1956; das Sirrenvon Mutters Singer-Nähmaschine, die einen Haufen Stoff ver-schlang und Unterwäsche in einem solch nackt wirkenden Rosaausspuckte, dass ich mich kaum hinzusehen traute; der stechendsüße Duft der Orangenplantagen in der israelischen Wüste; meineNachbarn, die in der Hoffnung auf eine kühle Brise an heißenSommerabenden mit rotem, verschwitztem Gesicht auf den Stufenihres Hauses in der Bronx saßen und über Politik stritten ...

Ich habe immer ein Nomadenleben geführt. Ich wurde 1946 inder polnischen Stadt Lodz geboren, wanderte im Alter von elfJahren mit meiner Familie nach Israel aus und kam mit dreizehnnach New York. Seit dieser Zeit sind meine Frau und ich mitunseren Kindern in 35 Jahren vierzehn Mal umgezogen. Inmeinem Kopf existieren viele Welten, und sie alle nehmen Einflussauf die Projekte, an denen ich gerade arbeite.

Manchmal kommt es vor, dass ich wochenlang über einer ein-zigen Zeichnung brüte, Hunderte von Skizzen anfertige und esdann plötzlich ohne jede Vorwarnung passiert: Eine perfekte Formtritt zu Tage. Vor einigen Jahren nahm ich am Architektur-wettbewerb für den Erweiterungsbau des Royal Ontario Museum inToronto teil. Ich hatte eine dieser flüchtigen Eingebungen gehabt,

Fundamente

17

die aus dem Moment heraus entstehen, und zeichnete rasch einpaar Linien und Formen auf mehrere Servietten des Restaurants,in dem ich gerade aß. Bei der Ausstellung, in der die Beiträge derEndrundenteilnehmer präsentiert wurden, landeten diese Ser-vietten als Exponate an den Wänden, neben vollständig ausgear-beiteten Computerbildern, die meine Mitbewerber als »Studie«eingereicht hatten. Und obwohl meine Skizzen im Vergleich zuden anderen Beiträgen recht grob waren, weist das zurzeit im Baubefindliche Gebäude enorme Ähnlichkeit mit ihnen auf, wasdarauf hindeutet, dass die Skizzen das Design und die Ziele desBauwerks genauso anschaulich vermittelt haben, wie eine techni-sche Zeichnung es vermocht hätte. (Meine Frau Nina – meinegroße Liebe, die Quelle meiner Inspiration, meine Vertraute,meine Partnerin, die Mutter unserer drei Kinder – sagt, dass ich alsSkizzenblock am liebsten Servietten verwende oder Papiertücheroder was sonst so herumliegt. Aber ich sage, sie hat Unrecht. Ichbevorzuge nämlich Notenpapier, wegen der Geometrie derLinien.)

Die Idee zur Gestaltung des Erweiterungsbaus für das Denver ArtMuseum, das sich zurzeit im Bau befindet und 2006 eröffnetwerden soll, kam mir, als ich über die Stadt flog und ihre ein-drucksvolle sinfonische Ausstrahlung von oben betrachten konn-te. Geologische Phänomene faszinieren mich immer – das Driftentektonischer Platten und die unheimlichen Kräfte, die dabei frei-gesetzt werden und ganze Gebirgszüge von der Erdkruste steil inden Himmel aufragen lassen. Welche Gestalt sollte der Museums-anbau annehmen? Ich kopierte mehr schlecht als recht dieFormen, die ich von meinem Flugzeugfenster aus sah: die schroffenFelsen der Rocky Mountains, die zu atemberaubend tiefen Tälernund Plateaus abfallen. Mit schnellen Strichen fertigte ich auf der

Breaking Ground

18

Rückseite meiner Bordkarte eine Skizze an, und als darauf keinPlatz mehr war, nahm ich die Rückseite der Bordzeitung.

Beim Imperial War Museum North in Manchester kämpfte ichdamit, das Wesen dieser Einrichtung und der geplanten Aus-stellung zu vermitteln. Denn es ging hierbei weder um das BritishEmpire noch um den Krieg an sich, sondern eher um die Ausein-andersetzung mit den kontinuierlichen Kräften globaler Konflik-te. Ich hatte die Vision eines in tausend Stücke zerspringendenGlobus’ – und das war der Moment, in dem ich wusste, welcheGestalt das Gebäude annehmen sollte.

Ich habe nie daran gedacht, Architekt zu werden. Man erwartetevon mir, dass ich Musiker werden würde. Tatsächlich war ich eineArt Wunderkind, ein so guter Akkordeonspieler, dass ich – ob Siees nun glauben oder nicht – ein Stipendium der renommiertenAmerica-Israel Cultural Foundation (AICF) erhielt. Noch heutebesitze ich die Konzertkritik eines Auftritts in der Konzerthalle inTel Aviv, bei dem ich zusammen mit dem jungen Itzhak Perlmanspielte. Der Kritiker erwähnte den begnadeten Geiger kaum undschien vollkommen gefesselt von dem seltsamen, kleinen Ak-kordeonisten auf der Bühne, der fast vollständig von seinemleuchtend roten Sorrento verdeckt wurde, mit den silbernenRegistern, den elfenbeinfarbenen und tiefschwarzen Tasten undden Zickzack-Falten des schwarzweiß gestreiften Balgs. Allein derSchock, ein solches Instrument bei der Darbietung ernster klassi-scher Musik zu hören, rückte das Akkordeon in den Mittelpunktdes Interesses und stellte alle anderen Instrumente auf der Bühnein den Schatten.

Selbst in Polen galt das Akkordeon als ein primitives Instrumentdes einfachen Volkes. Aber meine Familie gehörte zu den relativ

Fundamente

19

wenigen noch in Lodz verbliebenen Juden, und meine Elternhatten die (berechtigte) Sorge, dass wir zur Zielscheibe antisemiti-scher Übergriffe würden, wenn man uns dabei beobachtete, wiewir ein Klavier in unsere Wohnung brachten. Da es für dasAkkordeon nur wenige klassische Stücke gab, musste ich alleKompositionen, die ich spielte, transkribieren. Mein erstes Reper-toire beruhte zu großen Teilen auf Stücken von Bach, der auchheute noch zu meinen Lieblingskomponisten gehört, aber bei denZugaben spielte ich Stücke, die meine Virtuosität zeigten. MeineFinger flogen regelrecht über die Tasten, schneller und schnel-ler und immer schneller, während ich Rimski-Korsakows »Hum-melflug« zum Besten gab. 1953 spielte ich – eingestreut zwischenHymnen auf den Kommunismus – die schönsten Stücke meinesKlassik-Repertoires in der allerersten Schwarzweißsendung despolnischen Fernsehens.

In dem Jahr, in dem ich das AICF-Stipendium gewann, er-hielt auch Itzhak Perlman diese Auszeichnung. Neben dem fastschon legendären Zino Francescatti und der himmlischen OlgaKoussevitzky, Gattin des berühmten Dirigenten, zählte auch derViolonist Isaac Stern zu den Jurymitgliedern. Nachdem ich dasStipendium gewonnen hatte, nahm Stern mich beiseite underklärte mir mit seinem unverkennbaren russischen Akzent: »Mr.Libeskind, es ist ein Jammer, dass Sie nicht Klavier spielen. DennSie haben die Möglichkeiten des Akkordeons bereits vollkommenausgeschöpft.« Aber für einen Wechsel des Instruments war es zuspät: Meine Hände hatten sich daran gewöhnt, vertikal zu spielen.

Ich hatte schon immer gerne gezeichnet, und als die Grenzen desAkkordeonspiels immer deutlicher wurden, verbrachte ich mehrund mehr Zeit mit meinen Zeichnungen. Tatsächlich entwickelteich mich zu einem fanatischen Anhänger des Zeichenstifts. Ich

Breaking Ground

20

kopierte Skizzen von chassidischen Hochzeitsfeiern und fertigteneben politischen Karikaturen Zeichnungen von Bauwerken undLandschaften an. Als wir nach New York zogen, belegte ich einenKurs für Technisches Zeichnen an der Bronx High School ofScience und war begeistert. An den Unterrichtstagen stand ich vorlauter Aufregung schon um fünf Uhr auf. Und nach der Schuleerledigte ich meine Hausaufgaben auf dem Heimweg, damit ichden Rest des Tages an meiner Technik feilen konnte – was zu stun-denlangen Zeichensitzungen führte, die bis tief in die Nacht dau-ern konnten.

Meine Mutter Dora machte sich Sorgen über meine obsessiveLeidenschaft für das Zeichnen. Sie arbeitete für einen Hungerlohnin einer kleinen Klitsche, die Pelzkragen färbte und auf Mäntelnähte. Wenn sie am Ende des Tages verschwitzt nach Hause kam,war ihre verschwitzte Haut mit Pelzfusseln bedeckt und stank nachden Färbechemikalien – die wir später für das Krebsleiden ver-antwortlich machten, das ihren Körper zerfraß. Ihr Geruch undErscheinungsbild waren ihr so zuwider, dass sie sich weigerte, auchnur ein Wort mit jemandem von uns zu wechseln, solange sie nichtgeduscht hatte. Dann jedoch tauchte sie wie neugeboren auf, warwieder die jüdische Mutter, krempelte die Ärmel hoch und berei-tete das Abendessen in unserer Genossenschaftswohnung derAmalgamated Clothing Workers’ Union in der Bronx.

Im Gegensatz zum ländlichen Lodz, wo Karpfen zu den Luxus-gerichten gehörte, war dieser Fisch hier wesentlich leichter zubekommen, und wie viele jüdische Einwanderer kaufte meineMutter den Fisch noch lebend auf dem Markt, trug ihn in einerwassergefüllten Plastiktüte nach Hause und ließ ihn in derBadewanne umherschwimmen, bis es Zeit für das Abendessen war.Ich erinnere mich daran, wie sie den sich sträubenden Karpfen aus

Fundamente

21

der Wanne zog, seine Innereien entfernte, den Fisch pökelte, dieLieblingsnachspeise meines Vaters, Honigkuchen, zubereitete undgleichzeitig mit mir über Literatur, Geschichte und Philosophiediskutierte. Ihre Lebensweisheiten waren gespickt mit geistreichenBemerkungen und Zitaten von Spinoza und Nietzsche, die siespontan in einer Mischung aus Jiddisch, Polnisch und sogar etwasEnglisch vortrug – eine Sprache, die ihr nicht leicht fiel, die sieaber mit großer Begeisterung übte.

Eines Abends schenkte sie uns beiden eine Tasse Tee ein undließ sich auf der anderen Seite des Küchentischs nieder, an demich, tief über meine Zeichnungen gebeugt, saß. »So, du willst alsoKünstler werden?«, fragte sie, als wolle sie einen Scherz machen– nur mit dem Unterschied, dass es ihr diesmal ernst war. »Duwillst also hungrig in irgendeiner Dachkammer enden, ohne dasGeld, um dir auch nur einen Stift zu kaufen? Ist das das Leben, dasdu dir wünschst?«

»Aber Mama«, widersprach ich, »es gibt auch erfolgreicheKünstler! Denk nur an Andy Warhol.«

»Varhole? Für jeden Varhole gibt es tausende mittellose Kellner.Werd doch Architekt. Architektur ist ein Handwerk und eineForm von Kunst.« Und dann sagte sie etwas, das das Herz einesjeden Architekten vor Freude hüpfen lassen sollte: »Du kannstjederzeit Kunst innerhalb der Architektur schaffen, aber niemalsArchitektur in der Kunst. Auf diese Weise schlägst du zwei Fliegenmit einer Klappe.«

Breaking Ground

22