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Lieferung 4 Hilfsgerüst zum Thema: Das Komische 1. Eine Grundeigenschaft des Menschen • spezifisch menschlich • I. Kant: »Ein Mensch ist ein thier, das lacht.« 1 • eine Konstante trotz des Variationsreichtums • objektiv: Komik • subjektiv: Humor • Immanuel Kant: »Dies ist eine sonderbare Erschei- nung. Alle Menschen mögen gerne lachen, auch so- gar Hypochondristen. Wohlbeleibte feiste Leute sind am meisten geneigt dazu und es steht ihnen auch gut an.« 2 • Henri Bergson konstatiert drei Eigenschaft: »Erstens: Es gibt keine Komik außerhalb des- sen, was wahrhaft menschlich ist.« 3 1 I. Kant, Reflexionen zur Logik, Zu L § . 279. Vgl. ders., Vor- lesungen über Logik (Blomberg), Der fünfte Abschnitt: Von Der Klahrheit der Gelahrten Erkenntniß, § 119. 2 I. Kant, »Vom Lachen«, in: Anthropologie Dohna- Wundlacken (1791/92; teilw. 1793 Erstveröffentl. Kowalewski [1924], Ko137. 3 H. Bergson, Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, übers. von R. Plancherei-Walter (Zürich: Arche 1972) (Orig.: Le rire. Essai sur la signification du comique [Paris 1900]), 12.

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Lieferung 4

Hilfsgerüst zum Thema:

Das Komische

1. Eine Grundeigenschaft des Menschen

• spezifisch menschlich

• I. Kant: »Ein Mensch ist ein thier, das lacht.«1

• eine Konstante trotz des Variationsreichtums

• objektiv: Komik

• subjektiv: Humor

• Immanuel Kant: »Dies ist eine sonderbare Erschei-nung. Alle Menschen mögen gerne lachen, auch so-gar Hypochondristen. Wohlbeleibte feiste Leute sindam meisten geneigt dazu und es steht ihnen auch gutan.«2

• Henri Bergson konstatiert drei Eigenschaft:

– »Erstens: Es gibt keine Komik außerhalb des-sen, was wahrhaftmenschlichist.«3

1I. Kant, Reflexionen zur Logik, Zu L § . 279. Vgl. ders.,Vor-lesungen über Logik (Blomberg), Der fünfte Abschnitt: Von DerKlahrheit der Gelahrten Erkenntniß, § 119.

2I. Kant, »Vom Lachen«, in: Anthropologie Dohna-Wundlacken(1791/92; teilw. 1793 Erstveröffentl. Kowalewski[1924], Ko137.

3H. Bergson,Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutungdes Komischen, übers. von R. Plancherei-Walter (Zürich: Arche1972) (Orig.:Le rire. Essai sur la signification du comique[Paris1900]), 12.

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2 Das Komische

– »Zweitens: Das Lachen ist meist mit einer ge-wissenEmpfindlungslosigkeitverbunden.«4

* »Gleichgültigkeit ist ihr natürliches Ele-ment. Das Lachen hat keinen größerenFeind als die Emotion.«5

* »eine Anästhesie des Herzen«

»Die Komik bedarf also einer vorüberge-henden Anästhesie des Herzens, um sichvoll entfalten zu können. Sie wendet sichan den reinen Intellekt.«6

– Drittens: sozial:

»Dieser Intellekt muß nun aber mit anderen In-tellekten in Verbindung bleiben. [. . . ] Wir wür-den die Komik nicht genießen, wenn wir unsallein fühlten. Offenbar braucht das Lachen einEcho.«7

* »Das Lachen muß eine soziale Bedeutunghaben.«8

2. Nützlich

• ›Lachen macht gesund.‹

• I. Kant: »Durch einige Affekten wird die Gesundheitvon der Natur mechanisch befördert. Dahin gehörtvornehmlich dasLachenund dasWeinen.«9

4Ebd.5Ebd.6Ebd., 13.7Ebd., 13.8Ebd., 15.9I. Kant,Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 79. »Die

dabei stoßweise (gleichsam convulsivisch) geschehende Ausath-mung der Luft (von welcher das Niesen nur ein kleiner, doch auchbelebender Effect ist, wenn ihr Schall unverhalten ertönendarf)stärkt durch die heilsame Bewegung des Zwergfells das Gefühlder Lebenskraft. [. . . ] so ist das Lachen immer Schwingung derMuskeln, die zur Verdauung gehören, welche dieses weit besserbefördert, als es die Weisheit des Arztes thun würde.« Ebd.

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Das Komische 3

• I. Kant: »Doch ist das unmäßige Lachen auch schäd-lich. Es erschlafft die Nerven und Fasern. Alle Hand-lungen des Gemüts haben eine harmonische Bewe-gung im Körper, und sowie die Seele denkt, bewegtsich der Körper mit. Die Gedanken bewegen die Fa-sern und die Bewegungen des Gehirns gehen weiterfort und verursachen die Handlungen.

Die Heilkraft des Lachens macht vergnügt, nichtdie Ungereimtheit.«10

• Molière verteidgt seineTartuffe im Vorwort einerNeuausgabe 1669: «Die Nützlichkeit der Komödieist es, dass sie die Laster der Menschen berichtigt.»

• Agressionsabfuhr

3. Eine Doppelwahrnehmung

• subjektiv und objektiv

• Peter L. Berger: «Das Komische lehrt, dass alles, wasman im gewöhnlichen Leben als selbstverständlichund eindeutig voraussetzt, tatsächlich diesen Charak-ter der Doppelbödigkeit hat. Aus diesem Grund istdas Komische immer potentiell gefährlich. Wie Kier-kegaard klar gesehen hat, begründet dies die Affinitätdes Komischen mit der religiösen Erfahrung.»11

4. Inkongruenz

• Alle Formen des Komischen sind durch Inkongruenzgekennzeichnet.

10I. Kant, »Vom Lachen«, Ko 140.11Peter L. Berger,Erlösendes Lachen. Das Komische in der

menschlichen Erfahrung, übers. von J. Kalka (Berlin [u.a.]: DeGruyter 1998), 45.

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4 Das Komische

• Komisch für Bergson ist jeder Vorgang, der unsereAufmerksamkeit auf die physische Natur des Men-schen lenkt, da und dann, wenn seine geistige spricht.

– Was sich im Komische geltend macht, ist dasMechanische, das Stofflich und Dingliche.

– eine gewisse mechanische Steifheit

– »Diese Steifheit ist das Komische, und das La-chen ist ihre Strafe.«12

• Mechanismus:

H. Bergson: »Komisch ist jede Anordnung von inein-andergreifenden Handlungen und Geschehnissen, dieuns die Illsuion von wirklichem Leben und zugleichden deutlichen Eindruck von mechanischer Einwir-kung vermittelt.«13

• H. Bergson: »Das Komische an einem Menschen istdas, was an ein Ding erinnert. Es ist das, was an einenstarren Mechanismus oder Automatismus, einen see-lenlosen Rhythmus denken läßt. Die menschliche Ko-mik verkörpert also eine individuelle oder kollekti-ve Unvollkommenheit, die nach einer unmittelbarenKorrektur verlangt. Und diese Korrektur wird durchdas Lachen besorgt. Das Lachen ist eine bestimm-te soziale Geste, die eine bestimmte Art des Abwei-chens vom Lauf des Lebens und der Ereignisse sicht-bar macht und gleichzeitig verurteilt.«14

• Äußerlich und innerlich:

H. Bergson: »Komisch ist jedes Geschehnis, das un-sere Aufmerksamkeit auf das Äußere einer Personlenkt, während es sich um ihr Inneres handelt.«15

• Cicero behauptet, dass ein Witz häufig entsteht, wennwir etwas Bestimmtes erwarten und etwas andereseintritt.

• Nach I. Kant fällt die Erwartung bei der Pointe insnichts zusammen:

12H. Bergson,Das Lachen, 22.13H. Bergson,Das Lachen, 52.14H. Bergson,Das Lachen, 63.15H. Bergson,Das Lachen, 40.

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Das Komische 5

»Eigentlich ist Lachen eine plötzlich abgespannte Er-wartung dadurch, daß sie sich in nichts verwandelt.Z.E. Jemand sucht seinen Hut und hat ihn unter demArm – nun lacht er über sich selbst. Ein Prediger sag-te einst auf dem Konzil: man könne der Vorsehungnicht genug danken, daß sie den Tod an das Endeund nicht an den Anfang des Lebens gesetzt hätte,weil man sich desselben sonst gar nicht würde habenerfreuen können.»16

• Ein englischer Autor 1776: Lachen entsteht aus zweioder mehr inkonsistenten, unpassenden oder inkon-gruenten Teilen, die als eine komplexe Einheit be-trachtet oder in einer vorgestellten Beziehung zuein-ander gesehen werden.17

• Inkongruenz zwischen Vorstellung und Realität:

Für Schopenhauer handelt es sich beim Komischenum »die paradoxe und daher unerwartete Subsumtioneines Gegenstandes unter einen ihm übrigens hetero-genen Begriff«, somit um »die Inkongruenz zwischeneinem Begriff und dem durch denselben gedachtenGegenstand, also zwischen dem Abstrakten und demAnschaulichen«18

16I. Kant, »Vom Lachen«, Ko 262. Vgl. I. Kant,Kritik der Urt-heilskraft, § 54, Anmerkung: »Wenn jemand erzählt: daß ein In-dianer, der an der Tafel eines Engländers in Surate eine Bouteillemit Ale öffnen und alles [sic] dies Bier, in Schaum verwandelt,herausdringen sah, mit vielen Ausrufungen seine große Verwun-derung anzeigte und auf die Frage des Engländers: Was ist dennhier sich so sehr zu verwundern? antwortete: Ich wundere michauch nicht darüber, daß es herausgeht, sondern wie ihrs habther-ein kriegen können, so lachen wir, und es macht uns eine herzli-che Lust: nicht weil wir uns etwa klüger finden als diesen Unwis-senden, oder sonst über etwas, was uns der Verstand hierin Wohl-gefälliges bemerken ließe; sondern unsre Erwartung war gespanntund verschwindet plötzlich in Nichts. Oder wenn der Erbe einesreichen Verwandten diesem sein Leichenbegängniß recht feier-lich veranstalten will, aber klagt, daß es ihm hiemit nicht rechtgelingen wolle; denn (sagt er): je mehr ich meinen TrauerleutenGeld gebe, betrübt auszusehen, desto lustiger sehen sie aus, so la-chen wir laut, und der Grund liegt darin, daß eine Erwartung sichplötzlich in Nichts verwandelt.«

17Vgl. J. Beattie, On laughter and ludicrous composition(Edinburgh 1776), 590f.

18A. Schopenhauer,Die Welt als Wille und Vorstellung, 2(1859) 99.

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6 Das Komische

5. Widersprüchlichkeit

• Søren Kierkegaard: »Der Widerspruch ist eigentlichdie Kategorie des Komischen.«19

• Der Gegenstand muss zugleich bejaht und verneintwerden.

• I. Kant: »Wenn wir auf die Materie des Lachens se-hen, so entspringt es jederzeit aus einem sich plötz-lich zeigenden Gegenteil.«20

• I. Kant: »Es muß in allem, was ein lebhaftes, erschüt-terndes Lachen erregen soll, etwas Widersinnigessein (woran also der Verstand an sich kein Wohlge-fallen finden kann). Das Lachen ist ein Affect aus derplötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartungin nichts.«21

• Nach Bergson liegt die Widersprüchlichkeit zwischenGeist und Körper oder zwischen Leben und toter Ma-terie.

• Nach H. Plessner ist konstitutiv für das Komische»Gegensinnigkeit, die gleichwohl als Einheit sichvorstellt und hingenommen werden will»22.

• I. Kant: »Es ist aber gar nicht leicht, alle, selbst ver-nünftige Leute ins Lachen zu versetzen, sondern esmuß unerwartet kommen, und es muß sich gleichdarauf ein Kontrast zeigen. Wenigstens muß es in

19zit. nach der deutschen Übersetzung inDie Tagebücher, hg.von H. Gerdes, T 1, 287.

20I. Kant, »Vom Lachen«, Ko 138.21I. Kant, Kritik der Urtheilskraft (1793), § 54, Anmerkung.22H. Plessner,Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach

den Grenzen menschlichen Verhaltens(München21950), 111.

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Das Komische 7

der Vorstellung unerwartet sein. [Die Geschichte vonder Bemerkung des Gasconiers über den Bau einerBrücke, es wäre gut, daß sie die Länge und nicht dieQuere über den Fluß gelegt wäre usw. ist bekannt.]Alle witzigen Einfälle haben das Merkmal, daß mansich in der Erwartung betrogen findet. Das Gemütwird dabei auf gewisse Art in eine andere Direktiongebracht, gleich einem Ball zurückgeschlagen, unddadurch wird die Erschütterung im Körper zuwegegebracht, welche man das Lachen nennt. Bei allem,was lächerlich ist, muß ein Widerspruch sein. Dochlachen wir auch bisweilen ohne denselben.«23

• zwei Unendlichkeiten:

Charles Baudelaire: »Da das Lachen etwas wesent-lich Menschliches ist, ist es auch seinem Wesen nachwidersprüchlich, das heißt: gleichzeitig Zeichen un-endlicher Größe und unendlichen Elends – unendli-ches Elend im Vergleich mit dem absoluten Wesen,von dem der Mensch eine Vorstellung hat, unendli-che Größe verglichen mit den Tieren. Der permanenteSchock, den diese beiden Unendlichkeiten hervorru-fen, erzeugt das Lachen.«24

• ein Widerpruch zwischen dem Unendlichen und demEndlichen, dem Ewigen und dem Werdenden:

Søren Kierkegaard: »Was dem Komischen und Pa-thetischen [=dem Tragischen] zugrunde liegt, ist dasMissverhältnis, der Widerspruch zwischen dem Un-endlichen und dem Endlichen, dem Ewigen und demWerdenden.«25

23I. Kant, »Vom Lachen«, Ko 13824C. Baudelaire, «De l’essence du rire et généralement du co-

mique dans les arts platique», in:Œuvres complètes(Paris 1961),982.

25S. Kierkegaard,Unwissenschaftliche Nachschrift, übers. vonB. u. S. Diderichsen (Köln 1959), 219. Vgl. Pierre Bühler,«Warum braucht das Pathetische den Humor? Humor und Reli-giosität bei Johannes Climacus», in:Kierkegaard Studies Year-book(2005), herausg. von Niels Jørgen Cappelørn und HermannDeuser (Berlin, New York: Walter de Gruyter 2005), 153–174.«Humor enthält eine weit tiefere Skepsis als Ironie; denn hierdreht sich alles nicht um die Endlichkeit, sondern um die Sün-digkeit; die Skepsis des Humors verhält sich zu der der Ironie

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8 Das Komische

– Kierkegaard: »Das Tragische ist der leidendeWiderspruch, das Komische der schmerzloseWiderspruch.«26

– Kierkegaard: »[. . . ] überall, wo Leben ist, istWiderspruch, und wo Widerspruch ist, ist dasKomische anwesend.«27

6. Eine positive Wahrnehmung der Ver-nunft

• Lachen ist nach Bergson mit dem reinen Intellekt ver-knüpft

• Lachen als Relativierung der Wahrheit.

• Die Zweideutigkeit der Wahrheit

– Zur Wahrheit gehören zwei Faktoren: das Ob-jekt und das Subjekt. Und das Subjekt muß et-was Eigenes (aliquid proprium) beitragen, dennsonst kann man gar nicht von «Angleichung»(wie in der traditionellen Definition) sprechen.

– Jede erreichte Wahrheit ist demzufolge eine Ver-fremdung, eine Gebrochenheit.

– «Zersplittert worden sind die Wahrheiten vonden Söhnen der Menschen.»28

wie Unwissenheit zu dem alten Satz: credo quia absurdum; aberder Humor enthält auch eine weit tiefere Positivität; denn er be-wegt sich nicht in humanen, sondern in gottmenschlichen (thean-thropischen) Bestimmungen, er findet nicht Ruhe darin, dasserden Menschen zum Menschen macht, sondern darin, dass er denMenschen zum Gottmenschen macht.» S. Kierkegaard,Über denBegriff der Ironie, mit ständiger Rücksicht auf Sokratesin: Ge-sammelte Werke, 31. Abteilung (BI, 334f.).

26Ebd., 709ff.27S. Kierkegaard,Abschliessende unwissenschaftliche Nach-

schrift zu den philosophischen Brocken, 2, 223.28Ps. 12, 2. Zitiert in Summa c. Gentiles III, c. 47.

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Das Komische 9

– Unsere Wahrheiten sind immer wie Verschleie-rungen des reinen Lichtes29, wie die farbigenLichtschleier im halbdunklen Innenraum einergothischen Kathedrale.

• gegen Ecos Wahrheitsskepsis:

Karl-Josef Kuschel: »Man wird deshalb als Theolo-ge zögern, Williams Position des Lachens einfach zuübernehmen, so sehr sie angesichts des verbrecheri-schen Wahrheitsfanatismus eines Jorge von Burgosbefreiend wirkt und so wohltuend sie sich vom Wahr-heitsterror der Inquisitoren unterscheidet. Trotzdemwird man sich besser nicht darauf verlassen, dass dasLachen ›über‹ die Wahrheit Menschen wirklich freimacht. Denn die Wahrheit verlachen ist kein Weg insFreie. Im Gegenteil: Es ist ein Weg ins Reich desLabyrinths, des Unverbindlichen, Undurchschauba-ren – metaphysische und ethisch. Ein solches Lachen– so frei es gegenüber einer Machtkirche auch klin-gen mag – führt nicht wirklich zur Freiheit, sondernin die Resignation, weil die Widersprüche in Kircheund Gesellschaft zwar verlacht, aber nicht wegge-lacht werden können.«30

• Bergson: »Wenn eine bestimmte komische Wirkungeine bestimmte Ursache hat, so kommt uns die Wir-kung um so komischer vor, je natürlicher wir ihre Ur-sache finden.«31

29«Impossibile est nobis aliter lucere divinum radium, nisi va-rietate sacrorum velaminum circumvelatum.» Summa theol. I, q.1, a. 9c.

30K.-J. Kuschel,Lachen. Gottes und der Menschen Kunst(Tü-bingen: Attempto 1998) 185. Aus Kuschels Sicht: »Wer als Christlacht, übt Widerstand gegen eine ›postmoderne‹ Unverbindlich-keitsideologie und Gleichgültigkeitsästhetik ebenso wiegegeneine fanatisierte Wahrheitswut und einen gewaltsamen Wahrheits-terrorismus. Wer als Christ lacht, setzt darauf, dass die Leidens-geschichten der Welt nicht das letzte Wort haben, aber auch genü-gend Anlaß bieten, eine Haltung des ›postmodernen Lesevergnü-gens‹ und eine Ästhetik der Ironie und der Maskerade zu durch-stoßen und sich mit denen zu solidarisieren, die in dieser Weltnichts zu lachen haben.« Ebd., 190.

31H. Bergson,Das Lachen, 17.

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• »Die Wahrheit wird euch befreien.« (Joh.8, 32)

• Das Komische ist etwas Objektives, Humor ist diesubjektive Wahrnehmungsfähigkeit.

• Für Kant ist das Komische eine Wirklichkeitswahr-nehmung.

• Die Vernunft kann verbinden:

I. Kant: »Der Witzpaart (assimilirt) heterogene Vor-stellungen, die oft nach dem Gesetze der Einbil-dungskraft (der Association) weit auseinander liegen,und ist ein eigenthümliches Verähnlichungsvermö-gen, welches dem Verstande (als dem Vermögen derErkenntniß des Allgemeinen), so fern er die Gegen-stände unter Gattungen bringt, angehört.«32

• Komik enthält ein wichtiges kognitives Element. Dasbedeutet: Die kosmische Perspektive erschließt Rea-litätsaspekte, die über die Subjektivität der einzel-nen Person hinausreichen, die diese Perspektive ein-nimmt.

• Peter L. Berger: »Das Lachen kann der Wahrheiteinen Weg öffnen, doch gibt es auch Fälle, da dieserWeg eine trügerische Sackgasse ist.«33

• Obwohl das Komische das Negative beinhaltet, bleibtder positive Aspekt stärker.34

32I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 54.33P. L. Berger,Erlösendes Lachen, 159.34»Undeniably, a chief function of laughter is to help sweep

the world free of shams, superstitions, outworn customs, and fal-se beliefs, a process which leaves us with a chill sense of fewersupports to lean on. Nevertheless along with this goes—eveninthe exchange of common, street-corner jesting–a fresh convictionof the camaraderie of truth, a renewal of hope, of springtimeinlife, which despite all reverses finds the world good, reasonin itsheaven, and man eager to fare forth on new adventures.« Marie

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Das Komische 11

7. Eine transzendente Wahrnehmung

(a) Die doppelte Wahrnehmung der Vernunft

• Das Lachen entdeckt eine Kongruenz in der Inkon-gruenz.

• Berger: »Die wahrgenommene Widersprüchlichkeitenthüllt eine entscheidende Wahrheit der menschli-chen Existenz:Der Mensch befindet sich in einemZustand des komischen Widerspruchs zur Ordnungdes Universums.«35

• H. Bergson: »Die Komik bedarf also einer vorüber-gehenden Anästhesie des Herzens, um sich voll ent-falten zu können. Sie wendet sich an den reinen Intel-lekt.«36

• Berger: »Der Philosoph sieht gen Himmel und fälltin ein Loch. Dieser Unfall enthüllt den Philosophenals komische Figur. Doch ist sein grotesker Sturz eineMetapher für die menschliche Existenz. In der komi-schen Erfahrung drückt sich der Geist aus, der in eineanscheinend geistlose Welt geworfen ist. Gleichzeitigdeutet das Komische darauf hin, dass die Welt viel-leicht doch nicht geistlos ist.«37

• Ritter: Wortwitze und die Wortverdrehung und dasWortspiel wirken durch die Mehrsinnigkeit des Wor-tes, und zwar dadurch »dass sie einen Lebensbereichda und dort auftreten lassen, wo er ernsthafter- undanständigerweise nicht hingehört, und zwar so, dasssie ihn nicht unmittelbar (was witzlos wäre), sondernin der Weise des Anständigen und Zulässigen selbstauftreten lassen. Das Komische entsteht so hier in

Collins Swabey,Comic Laughter. A Philosophical Essay(NewHaven: Yale Univ. Press 1961), 247.

35Peter L. Berger,Erlösendes Lachen. Das Komische in dermenschlichen Erfahrung, 43.

36Ebd., 13.37Peter L. Berger,Erlösendes Lachen. Das Komische in der

menschlichen Erfahrung, 45.

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12 Das Komische

einer doppelten Bewegung, einmal im Hinausgehenüber die jeweils gegebene Ordnung zu einem vonihr ausgeschlossenen Bereich, und zweitens darin,dass dieser ausgeschlossene Bereich in und an demihn ausschließenden Bereich selbst sichtbar gemachtwird.«38

– Bergson: »Man tut einen komischen Ausspruch,indem man eine absurde Idee in eine stehendeRedensart kleidet.«39

• Ritter: »Die Götter aber lachen nicht, weil es für siekein Nichtiges gibt, und der tierische Ernst nicht,weil ihm das Andere immer nur und ausschließlichdas Unernste und darum Verwerfliche ist.«40

• Lebenswelt:

Ritter: »Die Lebenswelt ist die unsichtbare Partner,auf den bezogen zu sein dem stofflichen Gehalt denGlanz des Komischen und Lächerlichen verleiht. [. . . ]Aller Witz, alle auf das Komische und das Lachen ab-zielende Rede sind in diesem Sinn gleichsam das gro-be oder kunstvoll feine Mittel, durch das diese gehei-me Beziehung herausgearbeitet und sichtbar gemachtwird.«41

• Jean Paul,Vorschule, § 33: »Wenn der Mensch, wiees die alte Theologie tat, von der überirdischen Weltauf die irdische herabschaut, so geht sie klein undnichtig dahin, [. . . ] wenn er mit der kleinen die un-endliche ausmißt, so entsteht jenes Lachen, in demnoch eine Größe und ein Schmerz ist.«

38Joachim Ritter, »Über das Lachen«, in: ders.,Subjektivität(Frankfurt: Suhrkamp 1974), 62–92; hier: 74.

39H. Bergson, »Das Lachen«, 78.40J. Ritter, «Über das Lachen», 84.41J. Ritter, «Über das Lachen», 77.

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Das Komische 13

(b) Die Rationalität der Welt

• der sinnvolle Zusammenhang der Wirklichkeit

• Ritter: »So liegt es im Wesen des positiv das DaseinBestimmenden, im Wesen von Ordnung, Sitte, An-stand und sachlichem Ernst, dass sie die eine Hälf-te der Lebenswelt zwingen, in der Form des Entge-genstehenden und Nichtigen zu existieren und dazu-sein, nicht weil der Mensch in zwei Welten lebt, son-dern weil, platonisch gesprochen, damit, dass etwasals wesentlich seiend gesetzt wird, immer auch etwasals das Andere zum Nichtseienden werden muß.«42

• Ritter: »Was mit dem Lachen ausgespielt und ergrif-fen wird, ist diese geheime Zugehörigkeit des Nich-tigen zum Dasein; sie wird ergriffen und ausgespielt,nicht in der Weise des ausgrenzenden Ernstes, der esnur als das Nichtige von sich weghalten kann, son-dern so, dass es in der es ausgrenzenden Ordnungselbst gleichsam als zu ihr gehörig sichtbar und laut-bar wird.«43

• Ritter: »Diese den Menschen je leitende Lebensord-nung des Ernstes ist die Voraussetzung, ohne die dasSpiel des Komischen und Lächerlichen und der Sinn,der diesem Spiel je innewohnt, nicht verständlichist.«44

• Ritter: »Das für den verständigen Ernst Wesentlicheund Wirkliche ist nicht mehr identisch mit dem Wirk-lichen und Wesentlichen des Daseins selbst.«45

(c) Die Berücksichtigung des Nichtseienden

42J. Ritter, «Über das Lachen», 75–76.43J. Ritter, «Über das Lachen», 76.44J. Ritter, «Über das Lachen», 76.45J. Ritter, «Über das Lachen», 90.

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14 Das Komische

• Ritter: »[. . . ] indem hier die unendliche und als sol-che durch keinen verständigen Begriff begrenzbareFülle des Lebens steht. Das Lächerliche bleibt dasNichtige, das Ausfallende, das Irdische, im Sinn derTheologie, aber es schattet nun als ›verkehrte Welt‹das Unendliche ab, und das Lachen wird die Bewe-gung, die das von dem Verstand Ausgegrenzte ergreiftund dem Sein zuträgt, was Verstand und der verstän-dige Begriff nie fassen können: seine unendliche Fül-le und Tiefe.«46

(d) Die Aufhebung der Grenzen

• Friedemann Richert: »Lachen hat immer die Kraft,eine vorfindbare Situation unerwartet aufzubrechenund neue Horizonte aufzureißen. Im Lachen über-steigt der Mensch – für einen Augenblick – sozusagensich selbst und findet sich in einer anderen Ordnungdes Denkens und Begreifens vor. Lachen führt denMenschen somit an die Grenzen seiner Vernunft undWelterschließung.«47

• Berger: »Die Wahrnehmung des Komischen ist dieWahrnehmung von etwas, das aus einer Gesamtord-nung der Dingeherausfällt. [. . . ] Das kosmische La-chen ist quasi der philosophische Instinkt in schwä-cherer Form.«48

• W. Shakespeare,Ende gut, alles gut, II, 3:

»Man sagt, es geschehn keine Wunder mehr, und uns-re Philosophen sind dazu da, die übernatürlichen undunergründlichen Dinge alltäglich und trivial zu ma-chen. Daher kommt es, daß wir mit SchrecknissenScherz treiben, und uns hinter unsre angebliche Wis-senschaft verschanzen, wo wir uns vor einer unbe-kannten Gewalt fürchten sollten.«

46J. Ritter, «Über das Lachen», 87.47Friedemann Richert,Kleine Geistesgeschichte des Lachens

(Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009), 151.48Peter L. Berger,Erlösendes Lachen. Das Komische in der

menschlichen Erfahrung, 41.

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Das Komische 15

(e) Der Begriff der Wirklichkeit

• Die Einsicht des Lachens tangiert die Struktur vonWahrheit und Wirklichkeit.

• Swabey: Wenn die Welt sinnlos wäre, hätten wir kei-ne Möglichkeit, das Komische wahrzunehmen.49

• Nach Marie Collins Swabey können die höchstenFormen des Humors sich mit dem Schicksal des Men-schen zu tun haben.50

• Marie Collins Swabey: »Der Liebhaber des Komi-schen wird auf ein Ziel gelenkt, dessen Objektivitätvorausgesetzt ist, auf etwas, das jenseits der Subjek-tivität des Erlebnisses selbst ist. [. . . ] Die Suche nachdem Komischen zielt nicht einfach auf die Erfahrungdes Komischen ab – Ziel des Lachens ist nicht nur dasVergnügen am Lachen.«51

• Wer lachen will, will nicht nur die Erfahrung selbst,er will nicht nur das Vergnügen des Lachens, er willdarüber hinaus. Er will zu der Struktur der Wirklich-keit hin.

• Joachim Ritter: »Was sich als das Entgegenstehendekundtut, das Dingliche oder das Geistige, das Materi-elle oder das Lebendige, entscheidet allein der Begriffdes Wirklichen selbst.«52

• P. L. Berger: »Auch beschwört das Komischeeine ei-gene Weltherauf, die sich von der Welt der gewöhnli-chen Realität unterscheidet und anderen Regeln folgt.In der Welt des Komischen sind die Begrenzungen

49Vgl. M. C. Swabey,Comic Laughter, 21.50M. C. Swabey,Comic Laughter, vi.51M. C. Swabey,Comic Laughter, 162–16352J. Ritter, «Über das Lachen», 71.

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16 Das Komische

der menschlichen Existenz auf wunderbare Weiseaufgehoben.«53

• Lebenssinn:

Berger: »Das komische Lachen kann eine Waffe sein,insbesondere in der Ironie und der Satire, doch überdiese sozialen Funktionen hinaus reicht die komischeIntuition einer Ordnung der Dinge, innerhalb dererdas menschliche Leben einen Sinn hat.«54

• Die Wahrnehmung von Wirklichkeit:

P. L. Berger: »Das Komische wird wahrgenommenals die Wahrnehmung einer ansonsten verschlosse-nen Dimension der Wirklichkeit – nicht nur seinereigenen Wirklichkeit (so, wie ein Spieler die Realitätseines Spiels wahrnimmt), sondern der Wirklichkeitan sich. Das Eindringen des Komischen bedeutet dasAuftreten dieser Art von Wahrnehmung in jedem nurerdenklichen Erfahrungsbereich.«55

• Jenseits der Vernunft erhascht der Humor das eigent-liche und wahre Wesen des Seins.

• Das Unendliche:

Ritter: »So setzt der Philosoph die Narrenkappe auf,um im Widerspiel gegen die rationell gewordene undverendlichte Welt das Unendliche des Seins und Le-bens von dort aus leuchten zu lassen, wohin die Ratioes verbannt hat als das Lächerliche und unwesentlichAbseitige.«56

53Peter L. Berger,Erlösendes Lachen. Das Komische in dermenschlichen Erfahrung, XI.

54Peter L. Berger,Erlösendes Lachen. Das Komische in dermenschlichen Erfahrung, 42.

55P. L. Berger,Erlösendes Lachen, 17.56J. Ritter, «Über das Lachen», 90.