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Das Monstrum Tommyknockers

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  • STEPHEN KING

    DAS MONSTRUMTommyknockers

    Roman

    WILHELM HEYNE VERLAGMNCHEN

  • HEYNE ALLGEMEINE REIHENr. 01/7995

    Titel der OriginalausgabeTHE TOMMYKNOCKERS

    Aus dem Amerikanischen bersetztvon Joachim Krber

    4. Auflage

    Copyright 1987 by Stephen KingTabitha King und Arthur B. Greene, Trustee

    Copyright der deutschen Ausgabe 1988by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, Mnchen

    Die Hardcover-Ausgabe ist imVerlag Hoffmann und Campe, Hamburg, erschienen

    Printed in Germany 1991Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schtz, Mnchen

    Gesamtherstellung: Eisnerdruck, Berlin

    ISBN 3-453-03697-2

  • FR TABITHA KING

    ... Versprechen, die einzulsen sind.

  • Wie viele der Mother Goose-Reime ist auch der Vers ber die Tom-myknockers tuschend einfach. Der Ursprung des Wortes ist nurschwer nachzuvollziehen. Webster's Unabridged sagt, da Tommy -knockers entweder a) tunnelbauende Trolle oder b) Geister sind, die inverlassenen Bergwerken oder Hhlen spuken. Weil tommy ein ar-chaischer britischer Slangausdruck fr Armeerationen ist (was dazufhrte, da der Ausdruck tommies als Bezeichnung fr britischeRekruten gebraucht wurde, wie etwa bei Kipling - it's Tommy this, an'Tommy that...), deutet das Oxford Unabridged Dictionary, welcheszwar den Ausdruck selbst nicht identifiziert, doch immerhin an, daTommyknockers die Geister von Bergarbeitern sind, die Hungers ge-storben sind, aber immer noch wegen Essen und Rettung anklopfen.

    Der erste Vers (Letzte Nacht und die Nacht davor usw.) ist so weitverbreitet, da sowohl meine Frau als auch ich selbst ihn als Kindergehrt haben, wenngleich wir in verschiedenen Stdten aufwuchsen undvon unterschiedlichen Vorfahren abstammen - ihre waren vorwiegendfranzsisch, meine schottisch-irisch.

    Alle anderen Verse entstammen der Phantasie des Autors.Der Autor - anders gesagt: ich - mchte seiner Frau Tabitha danken,

    die eine unschtzbar wertvolle, wenn auch manchmal nervttende Kriti-kerin war (wenn Kritiker einem den Nerv tten, dann kann man fastimmer davon ausgehen, da sie recht haben); dem Lektor Alan Williamsfr seine freundliche und sorgfltige Aufmerksamkeit; Phyllis Grannfr ihre Geduld (dieses Buch wurde weniger geschrieben als vielmehrherausgequetscht); und ganz besonders George Everett McCutcheon,der alle meine Romane gelesen und sorgfltig begutachtet hat - vor-nehmlich im Hinblick auf Waffen und ballistische Probleme, aber auchdafr, da er auf Kontinuitt achtete. Mac starb, whrend dieses Buchberarbeitet wurde. Ich fhrte gerade pflichtschuldig Verbesserungenaus, die er vorgeschlagen hatte, als ich erfuhr, da er der Leukmieerlegen war, gegen die er fast zwei Jahre angekmpft hatte. Er fehlt mirsehr, nicht nur, weil er mir eine groe Hilfe war, sondern vor allem, weiler einen festen Platz in meinem Herzen hatte.

  • Dank gebhrt auch anderen, mehr als ich hier aufzhlen kann: Pilo-ten, Zahnrzten, Geologen, Schriftstellerkollegen, sogar meinen Kin-

    dern, die sich das Buch vorlesen lieen. Auch Steven Jay Gould bin ichdankbar. Obwohl er ein Fan der Yankees ist und man ihm schon deswe-gen nicht uneingeschrnkt trauen kann, halfen seine Anmerkungen zudem, was ich dumme Evolution genannt habe, doch, die Neufassungdieses Romans zu formen (z. B. The Flamingo's Smile).

    Haven gibt es nicht wirklich. Die handelnden Personen gibt es nichtwirklich. All das sind Produkte der Phantasie, mit einer Ausnahme:

    Die Tommyknockers gibt es wirklich.Wenn Sie denken, da ich Spa mache, dann haben Sie die Abend-

    nachrichten nicht gesehen.

    STEPHEN KING

  • Letzte Nacht und die Nacht davor,Tommyknockers, Tommyknockers

    klopften an mein Tor.Ich mchte hinaus, wei nicht, ob ich's kann,

    Ich hab' solche AngstVor dem Tommyknocker-Mann.

    VOLKSMUND

  • ERSTES BUCH

    Das Schiff in der Erde

    Well we picked up Harry Truman, floating downfrom Independence.We said: What about the war?He said: Good riddance!We said: What about the bomb? Are you sorry you did it?He said: Pass me that bottle and mind your own bidness.

    THE RAINMAKERS,Downstream

  • Erstes Kapitel

    Andersen stolpert1

    Weil ein Nagel fehlte, ging das Knigreich verloren - so lautet derKatechismus, wenn man ihn auf den Punkt bringt. Letzten Endes kannman alles auf diese Art zusammenfassen - jedenfalls dachte RobertaAndersen das viel spter. Alles ist Zufall... oder alles ist Schicksal.Andersen stolperte am 21. Juni 1988 in der kleinen Stadt Haven, Maine,buchstblich ber ihr Schicksal. Mit diesem Stolpern fing alles an; derRest ist nichts weiter als Geschichte.

    2

    Anderson war an diesem Nachmittag mit Peter weggegangen, einemalternden Beagle, der inzwischen auf einem Auge blind war. Sie hattePeter 1976 von Jim Gardener geschenkt bekommen. Im Jahr zuvor hatteAnderson das College verlassen, nur zwei Monate vor ihrem Abschlu,und war in das Haus ihres Onkels in Haven gezogen. Sie hatte nichtgewut, wie einsam sie gewesen war, bis Gard den Hund gebracht hatte.Damals war er ein Welpe gewesen, und manchmal fiel es Andersonschwer zu glauben, da er jetzt alt war - vierundachtzig Hundejahre.Das war ein Mastab fr ihr eigenes Alter. Neunzehnhundertsechsund-siebzig war ferne Vergangenheit. Ja, wahrhaftig. Wenn man fnfund-zwanzig war, konnte man sich immer noch dem Luxus hingeben zuglauben, da zumindest im eigenen Fall das Altern ein Schreibfehlerwar, der irgendwann korrigiert werden wrde. Wenn man eines Tagesaufwachte und feststellte, da der eigene Hund vierundachtzig und manselbst siebenunddreiig war, dann erwies sich das als eine Einstellung,die man berdenken mute. Ja, wahrhaftig.

    Anderson suchte nach einer Stelle, um Holz zu schlagen. Sie hatteanderthalb Klafter in Reserve, wollte aber mindestens noch drei, damitsie ber den Winter kam. Seit jenen vergangenen Tagen, als Peter einWelpe gewesen war und seine Zhne an einem alten Pantoffel gewetzt(und allzu oft auf den Teppich im Ezimmer gemacht) hatte, hatte sieeine Menge Holz geschlagen, aber das Holz wurde dennoch nicht knapp.

    13

  • Das Gelnde (das fr die meisten Einheimischen nach dreizehn Jahrenimmer noch das alte Garrick-Anwesen war) grenzte nur auf einer Lngevon gut fnfzig Metern an die Route 9, aber die Mauern, die die nrdli-che und sdliche Begrenzung markierten, verliefen in divergierendenWinkeln. Eine weitere Mauer - so alt, da sie inzwischen in einzelne,mit Moos berwucherte Bruchstcke zerfallen war- bildete die rck-wrtige Grenze des Anwesens, etwa drei Meilen in einem verwildertenWald mit Bumen erster und zweiter Generation. Die Gesamtflchedieses Gelndes von der Form eines Tortenstcks war riesig. Hinter derMauer, die Bobbi Andersons Land im Westen begrenzte, lag eine Wild-nis, die sich ber viele Meilen erstreckte und der New England PaperCompany gehrte.

    Im Grunde mute Anderson eigentlich gar nicht nach Stellen suchen,wo sie ihr Winterholz schlagen konnte. Das Land, das ihr der Bruderihrer Mutter hinterlassen hatte, war wertvoll, weil die meisten Bumegute, nicht vom Schwammspinner befallene Laubbume waren. Abernach einem regnerischen Frhling war dieser Tag schn und warm, dieSaat war im Boden (wo der grte Teil des Regens wegen verfaulenwrde), und es war noch nicht Zeit, das neue Buch anzufangen. Daherhatte sie die Schreibmaschine zugedeckt und wanderte mit dem getreueneinugigen Peter durch den Wald.

    Hinter der Farm verlief eine alte Holzfllerstrae, und sie folgte ihrfast eine Meile, bevor sie nach links abbog. Sie trug einen Rucksack(darin befanden sich ein Sandwich und ein Buch fr sie, Hundekuchenfr Peter und eine Menge gelber Bnder, die sie um die Stmme derBume binden wollte, welche sie zu fllen gedachte, wenn die Hitze desSeptembers zum Oktober hin nachlie) und eine Feldflasche. In derTasche hatte sie einen Silva-Kompa. Sie hatte sich nur einmal auf demGelnde verirrt, und dieses eine Mal reichte ihr fr alle Zeiten. Sie hatteeine schreckliche Nacht im Wald verbracht, gleichzeitig auerstande zuglauben, da sie sich auf Land verirrt hatte, das ihr selbst gehrte, undvon der Gewiheit erfllt, da sie hier drauen sterben wrde - wasdamals durchaus im Bereich des Mglichen lag, denn nur Jim httefeststellen knnen, da sie nicht da war, und Jim kam nur, wenn man ihnnicht erwartete. Am Morgen hatte Peter sie zu einem Bach gefhrt, unddieser Bach wiederum fhrte sie zur Route 9 zurck, wo er munter durchein Rohr unter dem Asphalt pltscherte, nur zwei Meilen von ihremHaus entfernt. Mittlerweile kannte sie sich wahrscheinlich im Wald gutgenug aus, um den Rckweg zur Strae oder zu einer der Mauern um ihrGrundstck zu finden, aber die Betonung lag auf wahrscheinlich. Des-halb hatte sie den Kompa dabei.

    Gegen fnfzehn Uhr fand sie eine Gruppe brauchbarer Ahornbume.Sie hatte zwar schon verschiedene andere gute Hlzer gefunden, aberdiese Gruppe stand dicht bei einem Pfad, den sie kannte, einem Pfad, der14

  • so breit war, da er dem Tomcat Platz bot. Um den zwanzigsten Septem-ber herum wrde sie den Schlitten an den Tomcat anhngen - wenn bisdahin nicht jemand die Welt in die Luft gejagt hatte-, hierher fahrenund etwas Holz schlagen. Auerdem war sie fr heute genug gelaufen.

    Sieht das gut aus, Pete?Pete bellte leise, und Anderson betrachtete den Beagle mit einer so

    tiefen Traurigkeit, da sie selbst berrascht und beunruhigt war. Peterwar ziemlich am Ende. Er jagte nur noch selten hinter Vgeln, Hrnchenund hin und wieder einem Murmeltier her; der Gedanke, da Peter einReh verfolgen knnte, war lcherlich. Auf dem Rckweg wrde siePeters wegen hufig Pausen einlegen mssen, dabei war es noch garnicht so lange her (redete ihr Verstand ihr jedenfalls strrisch ein), dawar Peter ihr immer eine Viertelmeile voraus gewesen und hatte ganzeSalven durch das Unterholz gebellt. Sie wute, da der Tag kommenwrde, an dem sie zu dem Schlu gelangte, da es so nicht weitergehenkonnte; dann wrde sie zum letzten Mal auf den Beifahrersitz desChevrolet-Pritschenwagens tippen und Peter nach Augusta zum Tier-arzt bringen. Aber nicht diesen Sommer, bitte, lieber Gott. Oder diesenHerbst oder Winter, bitte, lieber Gott. Oder jemals, bitte, lieber Gott.

    Denn ohne Peter wrde sie einsam sein. Von Jim abgesehen, und JimGardener war im Lauf der vergangenen acht Jahre mehr als nur einwenig verschroben geworden. Immer noch ein Freund, aber... ver-schroben.

    Schn, da du zustimmst, alter Peter, sagte sie und markierte dieStmme mit ein paar Bndern, wobei sie sehr genau wute, da sie sichvielleicht fr andere Bume entscheiden wrde und die Bnder hierverfaulen wrden. Dein guter Geschmack wird nur noch von deinemguten Aussehen berboten.

    Peter, der genau wute, was von ihm erwartet wurde (er war alt, abernicht dumm), wedelte mit seinem zottigen Stummelschwanz und bellte.

    Sei ein Vietkong! befahl Anderson.Peter lie sich gehorsam auf die Seite fallen - er gab ein leises Winseln

    von sich-, rollte sich auf den Rcken und streckte alle Viere von sich.Das erheiterte Bobbi fast immer, aber heute kam der Anblick ihresHundes, der Vietkong spielte (Peter stellte sich auch bei den WortenKusch oder My Lai tot) dem, worber sie nachgedacht hatte, zunahe.

    Auf, Pete.Peter erhob sich langsam und hechelte unter seiner Schnauze. Seiner

    weien Schnauze.Kehren wir um. Sie warf ihm einen Hundekuchen zu. Peter

    schnappte danach und verfehlte ihn. Er schnffelte, entfernte sich vonihm, kehrte dann zurck und verschlang ihn langsam, ohne sonderlichenGenu. Gut, sagte Anderson. Komm jetzt.

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  • 3

    Weil ein Schuh fehlte, ging das Knigreich verloren , .. weil ein Weggesucht wurde, wurde das Schiff gefunden.

    In den dreizehn Jahren, in denen das Garrick-Anwesen nicht zumAnderson-Anwesen geworden war, war Anderson schon fters hiergewesen; sie kannte den Landstrich, eine wirre Masse geschlagenerStmme, von Holzfllern hinterlassen, die wahrscheinlich alle schon vordem Koreakrieg gestorben waren, eine groe Fichte mit gespaltenerKrone. Sie wrde keine Mhe haben, zu dem Pfad zurckzufinden, densie mit dem Tomcat benutzen wrde. Es war durchaus mglich, da sieschon ein-, zwei- oder ein halbes dutzendmal an der Stelle vorbeigekom-men war, an der sie stolperte, und sie vielleicht um einen Meter, einenhalben Meter oder nur um Zentimeter verfehlt hatte.

    Diesmal folgte sie Peter, als der Hund sich etwas nach links entfernte,und der Pfad war bereits zu sehen, als einer ihrer alten Wanderschuhegegen etwas stie... heftig gegen etwas stie...

    He! rief sie, aber trotz ihrer rudernden Arme war es zu spt. Sie fielvornber. Ein Ast von einem niedrigen Strauch kratzte ihr so heftigbers Gesicht, da Blut flo.

    Scheie! rief sie, und ein Blauhher verspottete sie.Peter kam zurck, zuerst schnffelte er, dann leckte er ihre Nase.Himmel, la das, du stinkst aus dem Maul!Peter wedelte mit dem Schwanz. Anderson setzte sich auf. Sie rieb

    sich die linke Wange und sah Blut auf Handflche und Fingern.Groartig, sagte sie und sah nach, ber was sie gestolpert war -

    wahrscheinlich ein heruntergefallener Ast oder ein Stein, der aus demBoden ragte. In Maine gab es viele Steine.

    Aber sie sah das Schimmern von Metall.Sie berhrte es, strich mit dem Finger darber, dann blies sie schwarze

    Walderde weg.Was ist das? fragte sie Peter.Peter kam nher, schnffelte daran und tat dann etwas Seltsames. Der

    Beagle wich zwei Hundeschritte zurck, setzte sich und stie ein einzigeslanggezogenes Heulen aus.

    Was ist denn mit dir los? fragte Anderson, aber Peter sa einfachnur da. Anderson robbte, immer noch sitzend, auf dem Hosenbodenihrer Jeans nher. Sie begutachtete das Metall am Boden.

    Etwa sieben Zentimeter ragten aus dem krumigen Boden heraus -gerade so viel, da man darber stolpern konnte. Das Gelnde stieg hierleicht an, und vielleicht hatten die heftigen Frhlingsregen es freige-schwemmt. Anderson dachte zuerst, da die Arbeiter, die in den zwanzi-ger und dreiiger Jahren hier Holz gefllt hatten, einen Teil ihrer Abfllehier vergraben haben muten.16

  • Eine Blechdose, dachte sie, B&M Bohnen oder Campbell's Suppe siezog daran, als wollte sie eine Dose aus dem Boden ziehen. Dann dachtesie, da nur ein alter Tattergreis ber eine aus dem Boden ragendeKonservendose stolpern wrde. Das Metall in der Erde bewegte sichnicht. Es war so solide wie Muttergestein.

    Fasziniert betrachtete Anderson es noch eingehender. Sie bemerktedabei nicht, da Peter aufgestanden und weitere vier Schritte zurckge-wichen war und sich dann wieder gesetzt hatte.

    Das Metall war mattgrau - nicht die helle Farbe von Weiblech. Undes war dicker als eine Dose, an der Spitze vielleicht sechs bis siebenMillimeter. Anderson berhrte es mit der Kuppe des rechten Zeigefin-gers und versprte ein kurzes, seltsames Kribbeln, wie eine Vibration.

    Sie nahm den Finger weg und sah ihn abwgend an.Hielt ihn wieder hin.Nichts. Kein Kribbeln.Jetzt nahm sie es zwischen Daumen und Zeigefinger und versuchte, es

    aus der Erde zu ziehen wie einen lockeren Zahn aus dem Zahnfleisch. Esging nicht. Sie umklammerte das vorstehende Metall ungefhr in derMitte. Es versank wieder in der Erde - jedenfalls hatte sie diesen Ein-druck-, auf beiden Seiten kaum fnf Zentimeter breit. Spter erzhltesie Jim Gardener, da sie vierzig Jahre lang dreimal tglich daran httevorbeigehen knnen, ohne jemals darber zu stolpern.

    Sie strich lose Erde beiseite und legte noch etwas mehr davon frei. Siegrub mit dem Finger einen etwa fnf Zentimeter tiefen Graben darumherum der Boden gab wie jeder Waldboden ohne weiteres nach,jedenfalls bis man zum Wurzelgeflecht vorgestoen war. Es erstrecktesich noch weiter in den Boden. Anderson ging auf die Knie und grub anbeiden Seiten weiter. Sie zog erneut daran. Es rhrte sich nicht.

    Sie scharrte mit den Fingern rasch mehr Erde beiseite und legtezunehmend mehr frei - sie sah fnfzehn Zentimeter graues Metall,zwanzig, dreiig.

    Es ist ein Auto oder ein Lastwagen, dachte sie pltzlich. Hier drauenbegraben, im tiefsten Niemandsland. Oder ein Hooverville-Ofen. Aberwarum hier?

    Ihr fiel kein Grund ein; berhaupt kein Grund. Sie fand von Zeit zuZeit Sachen im Wald - Patronenhlsen, Bierdosen (die ltesten davonnicht mit Verschlulaschen, sondern mit dreieckigen Lchern, die vonetwas herrhrten, was man in den nebulsen und fernen sechzigerJahren als Kirchenschlssel bezeichnet hatte), Einwickelpapier vonSigkeiten, andere Dinge. Haven lag nicht an einer der beiden grtenTouristenrouten von Maine, von denen eine durch das Gebiet der Seenund Berge im uersten Westen des Staates verluft und die andere imuersten Osten an der Kste entlang, aber es war auch schon langenicht mehr abgelegenstes Hinterland. Einmal (damals war sie ber die

    17

  • Mauer ihres Anwesens geklettert und hatte unbefugt das Gelnde derNew England Paper Company betreten) hatte sie die verrostete Karosse-rie eines Hudson Hrnet aus den spten vierziger Jahren gefunden; siestand da, wo sich einst eine Strae befunden hatte, aber jetzt, mehr alszwanzig Jahre nach Einstellung der Holzfllerarbeiten, nur noch einWirrwarr von Unterholz vorhanden war, das die Einheimischen Schei-holz nannten. Es hatte auch keinen Grund gegeben, warum dieses Autodort gestanden hatte - aber das war einfacher zu erklren gewesen als einOfen oder Khlschrank oder ein anderes verdammtes Ding, das tatsch-lich im Boden vergraben worden war.

    Sie hatte zwei dreiig Zentimeter lange Grben zu beiden Seiten desGegenstands ausgehoben, ohne sein Ende zu finden. Sie war fast dreiigZentimeter in die Tiefe gedrungen, als ihre Finger zum ersten Mal berFels strichen. Es wre ihr vielleicht gelungen, den Felsbrocken herauszu-ziehen - der immerhin lie sich bewegen-, aber sie sah keine Veranlas-sung dazu. Der Gegenstand in der Erde reichte noch tiefer hinab.

    Peter winselte.Anderson sah den Hund an, dann stand sie auf. Beide Knie gaben

    nach. In ihrem linken Fu kribbelte es. Sie kramte die Taschenuhr ausder Hosentasche - die alte, verschrammte Simon-Uhr war gleichfalls einErbstck von Onkel Frank - und stellte erstaunt fest, da sie schon langehier war: mindestens eineinviertel Stunden. Es war vier vorbei.

    Komm, Peter, sagte sie. Verschwinden wir.Peter winselte wieder, bewegte sich aber nicht. Und nun sah Ander-

    son mit echter Sorge, da der alte Beagle am ganzen Krper zitterte,als htte er Schttelfrost. Sie hatte keine Ahnung, ob Hunde Scht-telfrost bekommen konnten, hielt es aber bei alten fr mglich. Sieerinnerte sich, das einzige Mal, da sie Peter so zittern gesehen hatte,war im Herbst 1977 gewesen (vielleicht auch 1978). Damals war einPuma in der Gegend gewesen. Vielleicht neun Nchte hindurch hatteer geschrien und gekreischt, wahrscheinlich wegen unerfllter Brunft.Peter war in jeder Nacht zum Wohnzimmerfenster gegangen und aufdie alte Kirchenbank gesprungen, die Anderson beim Bcherregal ste-hen hatte. Er hatte nie gebellt. Er hatte lediglich ins Dunkel hinausge-schaut, in die Richtung, aus der die unirdischen, weibischen Schreiekamen, hatte die Ohren gespitzt, seine Nstern hatten gebebt. Und erhatte gezittert.

    Anderson schritt ber die kleine Grabung und ging zu Peter. Siekniete nieder und strich mit den Hnden ber Peters Gesicht, sprte seinZittern in den Handflchen.

    Was ist denn, Junge? murmelte sie, aber sie wute, was los war.Peters gesundes Auge sah an ihr vorbei, zu dem Ding in der Erde, dannwieder zu Anderson. Das Flehen in dem nicht von dem grlichen,milchigen grauen Star berzogenen Auge war so deutlich wie Worte:18

  • La uns von hier verschwinden, Bobbi, ich mag dieses Dinggenausowenig, wie ich deine Schwester mag.

    Okay, sagte Andersen unbehaglich. Pltzlich dachte sie daran, dasie sich nicht erinnern konnte, hier drauen jemals so die Zeit vergessenzu haben wie heute.

    Peter mag es nicht. Ich auch nicht.Komm schon. Sie ging den Hang hinauf zum Weg. Peter folgte

    bereitwillig.Sie waren fast wieder auf dem Weg, als Anderson, wie Lots Frau, sich

    noch einmal umdrehte. Wre dieser letzte Blick nicht gewesen, htte siedie ganze Sache vielleicht sein lassen. Seit sie das College vor derAbschluprfung verlassen hatte trotz des trnenreichen Flehens ihrerMutter und der wtenden Hetzreden und gehssigen Schlufolgerun-gen ihrer Schwester-, hatte sie ein blendendes Talent entwickelt, Dingesein zu lassen.

    Der Blick zurck aus dieser mittleren Entfernung zeigte ihr zweierlei.Zunchst einmal, da das Ding nicht in die Erde zurcksank, wie sie erstgedacht hatte. Die Metallzunge ragte mitten aus einer recht frischenAbschwemmung hervor, die nicht breit, aber einigermaen tief war undsicherlich von der Schneeschmelze und den auf sie folgenden heftigenFrhlingsregenfllen herrhrte. Der Boden zu beiden Seiten des vorste-henden Metalls war also hher, und das Metall verschwand einfachdarin. Ihr erster Eindruck, da das Ding im Boden entweder rund oderder Rand von etwas war, war nicht zutreffend - oder nicht notwendiger-weise zutreffend. Zweitens, es sah wie eine Platte aus - nicht wie eineServierplatte, sondern wie eine stumpfe Metallplatte, eine Metallver-kleidung oder...

    Peter bellte.Okay, sagte Anderson. Ich hab' schon verstanden. Gehen wir.Gehen wir... und vergessen wir es.Sie ging auf der Mitte des Weges und berlie es Peter, sein eigenes,

    gemchliches Tempo fr den Rckweg zur Strae anzugeben, geno dasppige Grn des Sommers... War heute nicht der erste Sommertag?Sonnenwende. Der lngste Tag des Jahres. Sie schlug nach einer Stech-mcke und lchelte. Der Sommer war eine schne Zeit in Haven. Dieschnste Zeit. Und wenn Haven, oberhalb von Augusta in jenem zentra-len Teil des Staates gelegen, den die meisten Touristen mieden, vielleichtauch nicht der beste Ort war, so war es doch ein guter Ort, um zur Ruhezu kommen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Anderson aufrichtiggedacht, da sie nur ein oder zwei Jahre hier sein wrde, lange genug,um sich vom Trauma des Heranwachsens zu erholen, von ihrer Schwe-ster und ihrem unvermittelten, verwirrten Rckzug (Kapitulation hatteAnne es genannt) vom College, aber aus ein oder zwei Jahren Waren fnfgeworden, aus fnf zehn, aus zehn dreizehn, und nun schau her, Peter ist

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  • alt, und du hast schon einen Gutteil Grau in diesem Haarschopf, der einstso schwarz war wie der Flu Styx (vor zwei Jahren hatte sie versucht, eskurzgeschoren zu tragen, beinahe ein Punkschnitt, und hatte entsetztfestgestellt, da man das Grau nur noch besser sah; seither hatte sie eswachsen lassen).

    Mittlerweile glaubte sie, da sie den Rest ihres Lebens in Havenverbringen konnte, mit Ausnahme des Pflichtbesuchs, den sie ihremVerleger in New York alle ein oder zwei Jahre abstattete. Die Stadtpackte einen. Die Gegend packte einen. Das Land packte einen. Und daswar nicht so schlecht. Mglicherweise war es so gut wie alles andere.

    Wie eine Platte. Eine Metallplatte.Sie brach einen kurzen Ast voll frischer grner Bltter ab und

    schwenkte ihn ber dem Kopf. Die Stechmcken hatten sie entdeckt undschienen entschlossen zu sein, ihren Nachmittagstee bei ihr zu nehmen.Stechmcken schwirrten um ihren Kopf... und in ihrem Kopf schwirr-ten die Gedanken wie Stechmcken und lieen sich nicht wegscheuchen.

    Es hat eine Sekunde unter meinem Finger vibriert. Ich habe es ge-sprt. Wie eine Stimmgabel. Aber als ich es berhrte, hat es aufgehrt.Ist es mglich, da etwas so in der Erde vibriert? Sicher nicht. Viel-leicht ...

    Vielleicht war es eine bernatrliche Vibration gewesen. SolchenDingen stand sie nicht vllig unglubig gegenber. Vielleicht hatte ihrVerstand etwas an diesem vergrabenen Gegenstand gesprt und sie aufdie einzige ihm mgliche Weise darauf hingewiesen, durch den Tast-sinn: das Gefhl einer Vibration. Peter hatte ganz eindeutig etwas darangesprt; er hatte sich von Anfang an zurckgezogen.

    Vergi es. Das tat sie.Eine Weile.

    4

    In dieser Nacht kam ein strmischer, milder Wind auf, und Andersonging auf die vordere Veranda hinaus, rauchte und hrte dem Wind zu,wie er ging und sprach. Einst - noch vor einem Jahr - wre Peter mit ihrherausgekommen, aber jetzt blieb er im Wohnzimmer, wo er zusam-mengerollt auf seinem kleinen Hkelteppich vor dem Ofen lag, dieSchnauze am Schwanz.

    Anderson wiederholte in Gedanken den letzten Blick auf die aus derErde ragende Platte, und spter war sie berzeugt, da es einen Augen-blick gegeben hatte - vielleicht, als sie die Zigarette auf den Kieswegschnippte-, in dem sie beschlo, da sie es ausgraben und feststellenwrde, was es war... obwohl ihr dieser Entschlu da noch nicht bewutwurde.

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  • Ihr Verstand grbelte unablssig darber nach, was es sein konnte,und diesmal lie sie ihm freien Lauf - wenn der Verstand darauf be-harrte, zu einem Thema zurckzukehren, wie sehr man sich auch be-mhte, ihn abzulenken, so war es, wie sie gelernt hatte, das beste, ihnzurckkehren zu lassen. Nur Besessene machten sich ber BesessenheitGedanken.

    Teil eines Gebudes, berlegte ihr Verstand, ein Fertighaus. Aberniemand baute Nissenhtten im Wald - weshalb sollte jemand das ganzeMetall hinausschaffen, wenn drei Mnner imstande waren, innerhalbvon sechs Stunden mit Beilen, xten und einer zweihndigen Motorsgeeine Holzfllerunterkunft hochzuziehen? Auch kein Auto, denn sonstwre das herausragende Metall von Rost berzogen gewesen. Ein Mo-torblock schien etwas wahrscheinlicher, aber warum ?

    Und nun, whrend die Dunkelheit sich herabsenkte, kehrte die Erin-nerung an die Vibration mit unzweifelhafter Deutlichkeit zurck. Esmute eine bernatrliche Vibration gewesen sein, wenn sie es ber-haupt gesprt hatte. Es . . .

    Pltzlich stieg eine kalte und schreckliche Gewiheit in ihr auf: Je-mand war dort begraben. Vielleicht hatte sie die Haube eines alten Autosoder einen alten Khlschrank oder vielleicht sogar eine Art Stahltruhefreigelegt, aber was immer es in seinem oberirdischen Leben gewesenwar, jetzt war es ein Sarg. Ein Mordopfer? Wer sonst konnte auf dieseWeise begraben sein, in einem solchen Sarg? Mnner, die whrend derJagdzeit in den Wald gingen und sich verirrten und dort starben, hattennormalerweise keine Metallsrge bei sich, in die sie sich hineinlegenkonnten, wenn es zu Ende ging... Und selbst wenn man von dieseridiotischen Vorstellung ausging, wer sollte die Erde wieder darber-schaufeln? Brat' mir 'nen Storch, Leute, wie wir in den ruhmreichenTagen unserer Jugend zu sagen pflegten.

    Die Vibration. Das war der Ruf menschlicher Gebeine gewesen.Komm schon, Bobbi - sei nicht so verdammt dmlich.Dennoch berlief sie ein Schauder. Die Vorstellung hatte eine gewisse

    unheimliche berzeugungskraft, wie eine viktorianische Geisterge-schichte, die eigentlich keinerlei Wirkung haben durfte, whrend dieWelt auf der Allee der Mikrochips den unbekannten Wundern undSchrecken des einundzwanzigsten Jahrhunderts entgegeneilte - die aberdennoch irgendwie Gnsehaut erzeugte. Sie konnte hren, wie Annelachte und sagte: Du wirst so komisch im Kopf wie Onkel Frank, Bobbi,und du verdienst es nicht anders, wenn du da drauen allein lebst, nurmit deinem stinkenden Hund. Klar. Httenkoller. Der Eremitenkom-plex. Bobbi ist krank, wir brauchen einen Arzt, es wird immer schlimmermit ihr.

    Dennoch wollte sie pltzlich mit Jim Gardener reden - mute mit ihmreden. Sie ging hinein, um in seinem Haus oben in Unity anzurufen. Sie

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  • hatte vier Nummern gewhlt, als ihr einfiel, da er zu Lesungen unter-wegs war - damit und mit den Dichter-Workshops hielt er sich berWasser. Fr reisende Knstler war der Sommer die beste Zeit. All dieseMatronen in den Wechseljahren mssen doch etwas mit ihren Som-mern anfangen, hrte sie Jim ironisch sagen, und ich mu im Winteressen. Eine Hand wscht die andere, jedenfalls solltest du Gott danken,da dir wenigstens die Lesungen erspart bleiben, Bobbi.

    Ja, die blieben ihr erspart - aber sie vermutete, da sie Jim bessergefielen, als er zugeben wollte. Sicher gab es dabei auch Zuhrerinnenvor den Wechseljahren.

    Anderson legte den Hrer wieder auf die Gabel und betrachtete dasBcherregal neben dem Ofen. Es war kein besonders schnes Regal - siewar kein Tischler und wrde auch nie einer sein-, aber es erfllte seinenZweck. Die beiden unteren Reihen waren vollgestopft mit den Time-Life-Bchern ber den alten Westen. Auf den beiden Borden darberdrngte sich eine Mischung von Literatur und Sachbchern zum selbenThema; Brian Garfields frhe Western kmpften mit Hubert Hamptonsdickleibigem Western Territories Examined um Platz, Louis L'AmoursSackett-Saga stand Wange an Wange mit Richard Marius' wunderbarenRomanen The Corning of Rain und Bound for the Promised Land. Jay R.Nashs Bloodletters and Badmen und Richard F. K. Mudgets WestwardExpansion bedrngten eine Reihe Western-Taschenbcher von RayHogan, Archie Joceylen, Max Brand, Ernest Haycox und natrlich ZaneGrey - Andersons Exemplar von Riders of the Purple Sage war beinahein Fetzen gelesen.

    Auf dem obersten Bord standen ihre eigenen Bcher, insgesamt elf.Zehn waren Western, angefangen mit Hangtown, das 1975 erschienenwar, zuletzt The Lang Ride Back, 1986 erschienen. Massacre Canyon,das neueste, wrde im September verffentlicht werden, wie alle ihreWestern von Anfang an. Jetzt fiel ihr ein, da sie hier in Haven gewesenwar, als sie ihr erstes Exemplar von Hangtown erhalten hatte, obwohl sieihn in einer schbigen Wohnung in Cleaves Mills auf einer gebrauchtenUnderwood aus den dreiiger Jahren begonnen hatte, die an Alters-schwche starb. Doch hier hatte sie ihn beendet, und hier hatte sie daserste fertige Exemplar des Buches in Hnden gehalten.

    Hier, in Haven. Ihre gesamte Karriere als Schriftstellerin hatte sichhier abgespielt, vom ersten Buch abgesehen.

    Dieses erste Buch nahm sie jetzt herunter und betrachtete es; ihrwurde bewut, da es wahrscheinlich fnf Jahre her war, da sie diesesschmale Bndchen zuletzt in der Hand gehabt hatte. Es war nicht nurdeprimierend zu erkennen, wie schnell die Zeit verstrich; es war depri-mierend, daran zu denken, wie oft sie in letzter Zeit darber nach-dachte.

    Dieses Buch stand in vlligem Kontrast zu den anderen, deren Schutz-22

  • umschlage Mesas und Restberge, Reiter und Khe und staubige Rindertrail-Stdte zeigten. Dieser Umschlag zeigte einen Klipper aus demneunzehnten Jahrhundert, der sich dem Ufer nherte. Die kompromi-losen Schwarz- und Weitne waren verblffend, beinahe schockierendDer Titel, Boxing the Compass, war ber dem Holzschnitt gedruckt, unddarunter: Gedichte von Roberta Anderson.

    Sie ffnete das Buch, bltterte an der Titelseite vorbei, verweilte einenAugenblick auf dem Copyright-Vermerk 1974, dann betrachtete sie dieWidmung. Sie war so unbersehbar wie der Holzschnitt. Dieses Buch istfr James Gardener. Den Mann, den sie hatte anrufen wollen. Derzweite von den nur drei Mnnern, mit denen sie je Sex gehabt hatte, undder einzige, der je imstande gewesen war, sie zum Orgasmus zu bringen.Nicht, da sie dem irgendeine besondere Bedeutung beima. Jedenfallsnicht sehr. Dachte sie. Oder glaubte, da sie es dachte. Oder sonst etwas.Auerdem spielte es keine Rolle; auch diese Zeit gehrte der Vergangen-heit an.

    Sie seufzte und stellte das Buch wieder ins Regal, ohne sich dieGedichte anzusehen. Nur eines davon war einigermaen gut. Sie hattees im Mrz 1972 geschrieben, einen Monat nachdem ihr Grovater anKrebs gestorben war. Alle anderen waren Unsinn - den flchtigen Leserkonnte man damit narren, denn sie war eine begabte Schriftstellerin -aber das Herz ihres Talents lag anderswo. Nachdem sie Hangtownverffentlicht hatte, hatte der Kreis der Schriftsteller, die sie gekannthatte, sie verstoen. Alle, mit Ausnahme von Jim, der Boxing theCompass damals verlegt hatte.

    Nicht lange, nachdem sie nach Haven gekommen war, hatte sieSherry Fenderson einen langen, schwatzhaften Brief geschrieben und alsAntwort lediglich eine schroffe Postkarte erhalten: Bitte schreib mirnicht mehr. Ich kenne Dich nicht. Unterschrieben mit einem hingekrit-zelten S., so schroff wie die Karte selbst. Sie hatte auf der Verandagesessen und ber dieser Postkarte geweint, als Jim aufgetaucht war.Warum weinst du darber, was diese dumme Gans denkt? hatte er siegefragt. Mchtest du wirklich dem Urteil einer Frau glauben, die her-umluft, Alle Macht dem Volke schreit und nach Chanel NummerFnf riecht?

    Sie ist eine gute Dichterin, hatte sie geschnieft.Jim hatte ungeduldig gestikuliert. Das macht sie nicht lter, hatte er

    gesagt, oder geeigneter, die Heuchelei zu berwinden, die man ihrvorgefhrt und die sie sich dann selbst beigebracht hat. Komm zurVernunft, Bobbi. Wenn du weiter das tun mchtest, was dir Spamacht, dann komm verdammt nochmal zur Vernunft, und hr auf zuweinen. Dieses verdammte Weinen macht mich krank. Ich mchtekotzen, wenn du weinst. Du bist nicht schwach. Ich erkenne Schwche,wenn ich sie sehe. Warum mchtest du etwas sein, das du nicht bist?

    23

  • Wegen deiner Schwester? Ist das der Grund? Sie ist nicht hier, und sie istnicht du, und du mut sie nicht hereinlassen, wenn du nicht willst. Heulmir nichts mehr von deiner Schwester vor. Werd' erwachsen. Hr auf zuflennen.

    Sie erinnerte sich jetzt, da sie ihn erstaunt angesehen hatte.Es ist ein groer Unterschied zwischen dem, gut in dem zu sein, was

    man TUT, und schlau bei dem zu sein, was man WEISS, hatte er gesagt.La Sherry etwas Zeit, erwachsen zu werden. La dir selbst etwas Zeit,erwachsen zu werden. Und hr auf, dein eigenes Geschworenengerichtzu sein. Das ist langweilig, ich will mir nicht anhren, wie du flennst.Nur Flaschen flennen. Hr auf, eine Flasche zu sein.

    Sie hatte ihn gehat, geliebt, hatte alles von ihm gewollt und nichts.Hatte er gesagt, da er Schwche erkannte, wenn er sie sah? Gut, dassollte er auch. Er war verquer. Das hatte sie schon damals gewut.

    Also, hatte er gesagt, mchtest du mit einem ehemaligen Verlegervgeln, oder mchtest du wegen dieser albernen Postkarte weinen?

    Sie hatte mit ihm gevgelt. Sie wute nicht, wie, und hatte damalsnicht gewut, ob sie mit ihm vgeln wollte, aber sie hatte es getan. Undgeschrien, als sie kam.

    Das war kurz vor dem Ende gewesen.Auch daran erinnerte sie sich - da es kurz vor dem Ende gewesen

    war. Er hatte nicht lange danach geheiratet, aber es wre auch so kurz vordem Ende gewesen. Er war schwach, und er war verquer.

    Ist sowieso einerlei, dachte sie und gab sich den guten alten Rat: La essein.

    Leichter gesagt als getan. Es dauerte lange, bis Andersen in dieserNacht einschlafen konnte. Alte Geister waren erwacht, als sie das Buchmit ihrer Pennlerlyrik aus dem Regal genommen hatte ... Vielleichtlag es aber auch an dem strmischen, milden Wind, der in den Dachtrau-fen heulte und durch die Bume pfiff.

    Es war fast geschafft, als Peter sie aufweckte. Peter heulte im Schlaf.Andersen stand eilig und ngstlich auf - Peter hatte zuvor schon im

    Schlaf alle mglichen Gerusche von sich gegeben (ganz zu schweigenvon einigen unglaublich blen Hundefrzen), aber er hatte noch niegeheult. Es war, als erwachte man durch das Schreien eines Kindes, dassich in den Klauen eines Alptraums befindet.

    Nackt bis auf die Socken ging sie ins Wohnzimmer und kniete nebenPeter nieder, der immer noch auf dem Teppich beim Ofen lag.

    Pete, murmelte sie. He, Pete, beruhige dich.Sie streichelte den Hund. Peter zitterte und zuckte weg, als Anderson

    ihn berhrte, und entblte die kmmerlichen berreste seiner Zhne.Dann machte er die Augen auf - das gesunde und das kranke - und schienwieder zu sich zu kommen. Er wimmerte schwach und klopfte mit demSchwanz auf den Boden.24

  • Alles klar? fragte Anderson.Peter leckte ihr die Hand.Dann leg dich wieder hin. Hr auf zu winseln. Das nervt.Peter legte sich hin und machte die Augen zu. Anderson kniete neben

    ihm und musterte ihn besorgt.Er trumt -von diesem Dir.g.Ihr Verstand verwarf das, aber die Nacht beharrte auf ihrem eigenen

    Imperativ es stimmte, und sie wute es.Schlielich ging sie zu Bett und schlief gegen zwei Uhr morgens ein.

    Sie hatte einen seltsamen Traum. Darin tastete sie in der Dunkelheit,versuchte aber nicht, etwas zu finden, sondern von etwas fortzukom-men. Sie war im Wald. Zweige schlugen ihr ins Gesicht und zerkratztenihr die Arme. Manchmal stolperte sie ber Wurzeln und umgestrzteBume. Und dann leuchtete pltzlich vor ihr ein schreckliches Grn ineinem einzigen bleistiftdnnen Strahl auf. In ihrem Traum dachte sie anPoes Das verrterische Herz, die Laterne des wahnsinnigen Erzhlers,die bis auf ein winziges Loch abgedeckt war, durch das er einen Licht-strahl auf das bse Auge lenkte, welches sein Wohltter seiner Meinungnach besa.

    Bobbi Anderson sprte, wie ihr die Zhne ausfielen.Sie fielen schmerzlos heraus, alle miteinander. Die unteren wankten,

    manche fielen nach drauen, manche in ihren Mund, wo sie wie kleineharte Klmpchen auf der Zunge oder darunter lagen. Die oberen fieleneinfach an der Vorderseite ihrer Bluse hinunter. Sie sprte, wie einer inihren BH fiel, der vorne geschlossen wurde, und in ihre Haut stach.

    Das Licht. Das grne Licht. Das Licht...

    5

    ... war falsch.Es war nicht nur, da es grau und perlmuttartig war, dieses Licht;

    man erwartete, da ein Wind, wie der in der Nacht zuvor, einen Wet-terumsturz mit sich brachte. Aber noch bevor sie auf die Uhr auf demNachttisch sah, wute Anderson, da noch etwas anderes nichtstimmte. Sie hob sie mit beiden Hnden auf und hielt sie dicht vorsGesicht, obwohl ihre Sehkraft vllig einwandfrei war. Es war Viertelnach drei Uhr nachmittags. Zugegeben, sie war spt zu Bett gegangen.Aber wie spt sie auch ins Bett ging, entweder Gewohnheit oder derDrang, Wasser zu lassen, weckten sie immer um neun Uhr, sptestensum zehn. Und nun hatte sie volle zwlf Stunden geschlafen - und siewar heihungrig.

    Sie schlurfte ins Wohnzimmer, immer noch nur mit Socken bekleidet,und sah, da Peter schlaff auf der Seite lag; er hatte den Kopf zurckge-

    25

  • legt und die Beine von sich gestreckt, die gelben Zahnstummel waren zusehen.

    Tot, dachte sie mit kalter und absoluter Gewiheit. Peter ist tot. In derNacht gestorben.

    Sie ging zu ihrem Hund und erwartete bereits, kaltes Fleisch undlebloses Fell zu spren. Dann gab Peter einen grunzenden Laut von sich,bei dem die Lippen flappten - ein nuscheliges Hundeschneuzen. Ander-son sprte, wie groe Erleichterung sie durchlief. Sie sprach den Namendes Hundes laut aus, und Peter schnellte fast schuldbewut in die Hhe,als wre auch er sich bewut, da er verschlafen hatte. Anderson vermu -tete, da es so war - Hunde schienen einen ausgeprgten Zeitsinn zuhaben.

    Wir haben lange geschlafen, mein Alter, sagte sie.Peter stand auf und streckte zuerst ein Hinterbein, dann das andere. Er

    sah sich auf beinahe komisch verwirrte Art um, dann ging er zur Tr.Anderson machte sie auf. Peter stand einen Augenblick da, weil ihm derRegen nicht gefiel. Dann ging er hinaus, um sein Geschft zu erledigen.

    Anderson blieb noch einen Augenblick im Wohnzimmer stehen unddachte ber ihre Gewiheit nach, da Peter tot war. Was, zum Teufel,war in letzter Zeit mit ihr los ? Alles war dster und finster. Dann ging siein die Kche, um eine Mahlzeit zu bereiten - konnte man um drei Uhrnachmittags von einem Frhstck reden ?

    Sie machte einen Abstecher ins Bad, um ihr eigenes Geschft zuerledigen. Dann blieb sie stehen und betrachtete ihr Ebenbild in dem mitZahnpasta bespritzten Spiegel. Eine Frau, die auf die Vierzig zuging.Ergrauendes Haar, ansonsten nicht schlecht - sie trank nicht viel,rauchte nicht viel und verbrachte die meiste Zeit im Freien, wenn sienicht schrieb. Schwarzes irisches Haar - nicht rot, wie in Liebesroma-nen-, etwas zu lang. Graublaue Augen. Sie entblte unvermittelt dieZhne und erwartete einen Augenblick tatschlich nur glattes rosaZahnfleisch zu sehen.

    Aber ihre Zhne waren da - alle. Dafr konnte sie dem fluoridhaltigenWasser in Utica, New York, danken. Sie berhrte sie und lie ihre Fingerdem Gehirn ihre knochige Realitt beweisen.

    Aber etwas stimmte nicht.Nsse.Nsse auf ihren Oberschenkeln.O nein, o Scheie, es ist fast eine Woche zu frh, ich habe erst gestern

    das Bett frisch bezogen. . .Aber nachdem sie geduscht und eine Binde in einen frischen Baum-

    wollschlpfer geschoben hatte, berprfte sie die Laken und stellte fest,da sie keine Flecken aufwiesen. Ihre Periode war zu frh gekommen,aber sie war immerhin so rcksichtsvoll gewesen, zu warten, bis sie fastwach war. Es bestand auch kein Grund zur Sorge, normalerweise kam sie26

  • zwar regelmig, aber sie war auch schon verfrht oder versptet ge-kommen; vielleicht als Folge der Ernhrung, vielleicht unterbewuterStre, vielleicht eine innere Uhr, die ein oder zwei Zahnrder ber-sprang. Sie versprte nicht den Wunsch, schnell alt zu werden, aber siedachte oft, da es eine Erleichterung sein wrde, das ganze lstigeGeschft mit der Menstruation hinter sich zu haben.

    Der letzte Rest ihres Alptraums verflog, und Bobbi Anderson machtesich an die Zubereitung eines verspteten Frhstcks.

    27

  • Zweites Kapitel

    Anderson grbt1

    An den folgenden drei Tagen regnete es ununterbrochen. Andersonwanderte rastlos durchs Haus, fuhr mit Peter nach Augusta, um Vorrteeinzukaufen, die sie eigentlich gar nicht brauchte, trank Bier und hrtesich alte Beach-Boys-Platten an, whrend sie Reparaturen am Hausdurchfhrte. Das Problem war, da es eigentlich gar nicht so vieleReparaturen zu erledigen gab. Am dritten Tag schlich sie um dieSchreibmaschine herum und dachte daran, vielleicht mit dem neuenBuch anzufangen. Sie wute, wovon es handeln sollte: von einer jungenLehrerin und einem Bffeljger, die um 1850 in einen Weidekrieg inKansas verwickelt wurden - in einer Zeit, als sich jeder im mittleren Teildes Landes, ob er es wute oder nicht, auf den Brgerkrieg einzustellenschien. Sie glaubte, da es ein gutes Buch werden wrde, aber sie warnicht der Meinung, da es schon fertig war, was immer das bedeutenmochte (ein sardonischer Imitator erwachte in ihrem Verstand und sagtemit einer Orson-Welles-Stimme: Wir werden keine Zeile schreiben,bevor wir fertig sind). Dennoch zehrte die Rastlosigkeit an ihr, und alleAnzeichen waren da: fehlende Geduld mit Bchern, mit Musik, mit ihrselbst. Eine Neigung abzuschweifen - und dann sah sie die Schreibma-schine an und wollte sie zu einem Traum erwecken.

    Auch Peter schien rastlos zu sein, er kratzte an der Tr, um hinausge-lassen zu werden, fnf Minuten spter kratzte er, weil er wieder hereinwollte, er trottete durchs Haus, legte sich hin, stand wieder auf.

    Niedriger Luftdruck, dachte Anderson. Das ist alles. Macht uns beiderastlos, launisch.

    Und ihre verdammte Periode. Normalerweise war sie heftig und hrtedann einfach auf. Als drehte man einen Hahn zu. Diesmal ging sieeinfach weiter. Am zweiten Tag des Regens sa sie kurz nach Einbruchder Dunkelheit vor der Schreibmaschine, ein leeres Blatt eingespannt.Sie fing an zu tippen, und heraus kamen eine Menge X und O und dannetwas, das wie eine mathematische Gleichung aussah... und das wardumm, denn der letzte Mathematikunterricht, den sie gehabt hatte, warAlgebra II an der High School gewesen. Heutzutage diente das X dazu,ein falsches Wort durchzustreichen, und das war alles. Sie zog das Blattheraus und warf es weg.28

  • Am dritten verregneten Tag rief sie nach dem Mittagessen das Engli-sche Seminar der Universitt an. Jim unterrichtete seit acht Jahren nichtmehr dort, aber er hatte Freunde, mit denen er Kontakt hielt. Muriel imBro wute gewhnlich, wo er sich aufhielt.

    So auch diesmal. Jim Gardener, informierte sie Andersen, hatte andiesem Abend, dem vierundzwanzigsten Juni, eine Lesung in Fall River,anschlieend zwei Abende in Boston, danach Lesungen und Vortrge inProvidence und New Haven - alle Teil einer Veranstaltungsreihe, diesich New England Poetry Caravan nannte. Mute ein Unternehmen vonPatricia McArdle sein, dachte Anderson und lchelte ein wenig.

    Und er wird zurck sein... wann? Am vierten Juli?Himmel, ich wei nicht, wann er zurck sein wird, Bobbi, sagte

    Muriel. Du kennst doch Jim. Seine letzte Lesung ist am dreiigstenJuni. Mehr kann ich nicht mit Sicherheit sagen.

    Anderson dankte ihr und legte auf. Sie betrachtete nachdenklich dasTelefon und beschwor Muriel in Gedanken herauf - auch eine irischeMaid (aber Muriel hatte das rote Haar, das man erwartete), die geradedas hintere Ende ihrer besten Jahre erreichte, rundes Gesicht, grneAugen, ppiger Busen. Hatte sie mit Jim geschlafen? Wahrscheinlich.Anderson versprte einen Funken Eifersucht - aber keinen groenFunken. Muriel war in Ordnung. Schon nachdem sie mit Muriel gespro-chen hatte, fhlte sie sich besser - mit jemandem, der wute, wer siewar, die sie sich als reale Person vorstellen konnte, fr die sie nicht nureine Kundin auf der anderen Seite des Ladentisches eines Eisenwarenla-dens in Augusta war oder jemand, zu dem man am Briefkasten Hallosagte.

    Sie war von Natur aus einzelgngerisch, aber nicht einsiedlerisch, undmanchmal hatte der schlichte Kontakt zu anderen Menschen die Wir-kung, sie zu befriedigen, auch wenn sie gar nicht wute, da sie Befriedi-gung brauchte.

    Und sie vermutete, da sie nun wute, warum sie mit Jim hatteKontakt aufnehmen wollen - wenigstens das hatte das Gesprch mitMuriel bewirkt. Das Ding im Wald war ihr nicht aus dem Kopf gegan-gen, und die Vorstellung, da es sich um einen verborgenen Sarghandeln knnte, war zur Gewiheit geworden. Sie war nicht rastlos, weilsie schreiben, sondern weil sie graben wollte. Sie hatte es nur nicht alleintun wollen.

    Sieht aber so aus, als mte ich das, Pete, sagte sie und setzte sichauf den Schaukelstuhl am Ostfenster - ihren Lesestuhl. Peter sah siekurz an, als wollte er sagen: Was immer du willst, Baby. Pltzlich lehntesich Anderson vor und sah Pete an - sah ihn wirklich an. Peter erwiderteden Blick frhlich, sein Schwanz pochte auf dem Boden. Einen Augen-blick schien es, als wre etwas an Peter anders.. .etwas so Offensichtli-ches, da sie es sehen mute.

    29

  • Aber selbst wenn es so war - sie sah es nicht.Sie lehnte sich zurck und schlug ihr Buch auf - eine Doktorarbeit von

    der Universitt von Nebraska, an der der Titel das Aufregendste war:Weidekrieg und Brgerkrieg. Sie erinnerte sich, da ihr vor ein paarNchten der Gedanke gekommen war, da ihre Schwester Anne denkenwrde: Du wirst so komisch im Kopf wie Onkel Frank, Bobbi. Nun...vielleicht.

    Wenig spter war sie in die Doktorarbeit versunken und machte sichgelegentlich Notizen auf dem Block, der neben ihr lag. Drauen regnetees noch immer.

    2

    Der folgende Tag dmmerte klar und hell und makellos: ein Sommertagwie auf einer Postkarte, gerade soviel Wind, da das Ungeziefer aufDistanz blieb. Andersen machte sich bis gegen zehn Uhr im Haus zuschaffen, wobei sie sich des wachsenden Drucks bewut wurde, den ihrVerstand auf sie ausbte, dorthin zu gehen und zu graben. Sie sprteauch, wie sie sich bewut gegen diesen Druck wehrte (wieder OrsonWelles: Wir werden niemanden ausgraben, bevor... Ach, sei still,Orson). Die Zeit, in der sie einfach dem Drang des Augenblicks folgte,eine Lebensweise, die einst durch das khne Motto Wenn es gut ist,dann tu es gekennzeichnet wurde, war vorbei. Bei ihr hatte sie nie gutfunktioniert, diese Philosophie - tatschlich hatte beinahe allesSchlechte, das ihr zugestoen war, seinen Ursprung in einer impulsivenHandlung. Die Leute, die ihr Leben impulsiv lebten, waren fr sie nichtmit einem moralischen Stigma behaftet; vielleicht war ihre eigene Intui-tion nur einfach nicht so gut gewesen.

    Sie verzehrte ein gewaltiges Frhstck und fgte Peters Gravy Trainnoch ein Rhrei hinzu (Peter fra mit mehr Appetit als sonst, wasAnderson auf das Ende der Regenperiode zurckfhrte), dann erledigtesie den Abwasch.

    Wenn jetzt noch ihr Trpfeln aufhren wrde, wre alles in Ordnung.Vergi es; wir werden keine Periode beenden, bevor es Zeit ist. Richtig,Orson?

    Bobby ging nach drauen, setzte einen alten Cowboy-Strohhut aufund verbrachte die folgende Stunde im Garten. Drauen sah alles besseraus, als es in Anbetracht des Regens von Rechts wegen aussehen sollte.Die Erbsen kamen gut, und der Mais machte sich, wie Onkel Frankgesagt haben wrde.

    Um elf hrte sie auf. Schei drauf. Sie ging ums Haus herum zumSchuppen, holte Spaten und Schaufel, hielt inne und fgte noch einBrecheisen hinzu. Sie verlie den Schuppen, kehrte noch einmal um und

    30

  • holte einen Schraubenzieher und einen verstellbaren Schraubenschls-sei aus dem Werkzeugkasten.

    Peter lief wie immer neben ihr her, aber diesmal sagte Anderson:Nein, Peter, und deutete zum Haus zurck. Peter blieb mit verletzterMiene stehen. Er winselte und machte einen zgernden Schritt aufAnderson zu.

    Nein, Feter.Peter gab auf und trottete zurck, er hatte den Kopf gesenkt und lie

    den Schwanz niedergeschlagen herabhngen. Es tat Anderson leid, ihnso gehen zu sehen, aber Peters Reaktion auf die Platte im Boden warschlimm gewesen. Sie blieb noch einen Augenblick auf dem Pfad stehen,der zum Waldweg fhrte, den Spaten in der einen und die Schaufel unddas Brecheisen in der anderen Hand, und sah zu, wie Peter die Stufenhinaufging, mit der Schnauze die Hintertr aufschubste und ins Hausging.

    Sie dachte: Etwas an ihm war anders... ist anders an ihm. Was ist es?Sie wute es nicht. Aber einen Augenblick lang erinnerte sie sich fastunterbewut an ihren Traum - dieser Pfeil giftigen grnen Lichts...und ihre Zhne, die alle ohne Schmerzen aus dem Zahnfleisch herausfie-len.

    Dann war es vorbei, und sie machte sich zu der Stelle auf, an der es sichbefand, dieses seltsame Ding im Boden, und sie lauschte den Grillen,welche ihr unablssiges Gerusch auf der kleinen Wiese hinter demHaus machten, die bald zum ersten Mal gemht werden konnte.

    3

    Um drei Uhr nachmittags war es Peter, der sie aus dem halb benomme-nen Zustand ri, in dem sie gearbeitet hatte, und der ihr bewut machte,da sie in zweifacher Hinsicht verdammt nahe dran war: verdammt naheam Verhungern und verdammt nahe an der Erschpfung.

    Peter heulte.Der Laut rief auf Andersons Rcken und Armen eine Gnsehaut

    hervor. Sie lie die Schaufel fallen, mit der sie gearbeitet hatte, und wichvon dem Ding in der Erde zurck - dem Ding, das keine Platte, keineKiste und auch sonst nichts war, das sie verstehen konnte. Sie wute nureines mit Sicherheit, nmlich, da sie in einen seltsamen, gedankenlosenZustand verfallen war, der ihr ganz und gar nicht gefiel. Diesmal hattesie mehr als nur das Gefhl fr die Zeit verloren; ihr war, als htte sie dasGefhl fr sich selbst verloren. Es war, als wre jemand anders in ihrenKopf gestiegen, so wie ein Mann auf einen Bulldozer oder Gabelstaplerstieg, und htte einfach einen Motor angelassen und die richtigen Hebelbettigt.

    31

  • Peter heulte mit zum Himmel emporgerichteter Schnauze - lange,schauerliche Klagelaute.

    Hr auf, Peter! rief Andersen, und Peter hrte gndigerweise auf.Noch mehr davon, und sie htte sich wahrscheinlich umgedreht undwre davongelaufen.

    Statt dessen bemhte sie sich um Beherrschung und hatte Erfolg. Siewich einen weiteren Schritt zurck und schrie auf, als etwas gegen ihrenRcken flatterte. Auf ihren Schrei hin stie Peter ein weiteres kurzes,klffendes Gerusch aus und verstummte dann wieder.

    Anderson griff nach dem, was sie berhrt hatte, und dachte, esknnte... nun, sie wute nicht, was es vielleicht sein knnte, aber nochbevor sich ihre Hand darum schlo, fiel ihr ein, was es war. Sie erinnertesich verschwommen daran, da sie gerade lange genug innegehaltenhatte, um ihre Bluse an einem Ast aufzuhngen; das war sie.

    Sie nahm sie und zog sie an, wobei sie beim ersten Versuch die Knpfefalsch schlo, so da eine Kante unten berhing. Sie knpfte sie neu zuund betrachtete die Ausgrabung, mit der sie begonnen hatte, und nunschien dieser archologische Ausdruck genau auf das zuzutreffen, wassie tat. Ihre Erinnerung an die ungefhr viereinhalb Stunden, die siegegraben hatte, glich der Erinnerung daran, da sie die Bluse an denStrauch gehngt hatte - sie war verschwommen und bruchstckhaft. Eswaren keine Erinnerungen, es waren Fragmente.

    Als sie sich nun ansah, was sie getan hatte, versprte sie Ehrfurcht undAngst gleichermaen ... und ein zunehmendes Gefhl der Erregung.

    Was immer es war, es war riesig. Nicht nur gro, sondern riesig.Spaten, Schaufel und Brecheisen lagen in einem viereinhalb Meter

    langen Graben im Waldboden. In regelmigen Abstnden hatte sieordentliche Hufchen von schwarzer Erde und Steinen aufgetrmt. Ausdiesem Graben, der an der Stelle, wo Anderson ber etwa sieben Zenti-meter vorstehendes graues Metall gestolpert war, gut einen Meter tiefwar, ragte die Oberkante eines titanischen Gegenstandes empor. GrauesMetall... irgendein Gegenstand...

    Normalerweise htte man das Recht, von einer Schriftstellerin etwasBesseres, Eindeutigeres zu erwarten, dachte sie und wischte sichSchwei von der Stirn, aber sie war nicht mehr sicher, da es sich beidem Metall um Stahl handelte. Sie glaubte mittlerweile, da es sich umeine ausgefallenere Legierung handeln konnte, vielleicht Beryllium,Magnesium - und, Zusammensetzung beiseite, sie hatte keine Ahnung,was es war.

    Sie begann, die Jeans aufzuknpfen, um die Bluse hineinzustecken,dann hielt sie inne.

    Der Schritt der verblichenen Levis war mit Blut getrnkt.Jesus. Jesus Christus. Das ist keine Periode. Das sind die Niagaraflle,Einen Augenblick hatte sie Angst, echte Angst, dann ermahnte sie

    32

  • sich, keine Zimperliese zu sein. Sie war in eine Art Benommenheitverfallen und hatte ein Arbeitspensum bewltigt, auf das vier krftigeMnner htten stolz sein knnen... Natrlich lief sie ber. Es ging ihrprchtig - eigentlich konnte sie froh sein, da nur das Blut herausschound sie nicht auch noch Krmpfe hatte.

    Meine Gte, wie realistisch wir heute sind, Bobbi, dachte sie und stieein schroffes, kurzes Lachen aus.

    Sie mute sich nur waschen. Eine Dusche und Umziehen wrdengengen. Die Jeans waren sowieso reif fr den Mll oder die Altkleider-sammlung gewesen. Nun gab es ein Problem weniger in einer sorgen-vollen, verwirrten Welt, richtig? Richtig. Kein Beinbruch.

    Sie knpfte die Jeans wieder zu, ohne die Bluse hineinzustecken - eshatte keinen Sinn, diese auch noch zu ruinieren, obwohl es wei Gottkein Modell von Dior war. Sie verzog das Gesicht, als sie beim Gehen dieklebrige Nsse dort unten sprte. Gott, sie mute sich waschen. Soschnell wie mglich.

    Doch anstatt zum Weg hinaufzugehen, ging sie, wie von ihm angezo-gen, wieder auf das Ding in der Erde zu. Peter heulte, und wieder kam dieGnsehaut. Halt deine verdammte Schnauze, Peter! Sie brllte Peternur uerst selten an, aber der verdammte Kter verschaffte ihr dasGefhl, ein Versuchskaninchen beim Experiment eines Verhaltensfor-schers zu sein. Gnsehaut, wenn der Hund heulte, anstatt Speichelflubeim Luten der Glocke - das Prinzip war dasselbe.

    Als sie so nahe an ihrem Fund stand, verga sie Peter und sahverwundert darauf. Nach einigen Augenblicken streckte sie die Hand ausund berhrte es. Wieder versprte sie dieses eigentmliche Gefhl derVibration - es sank in ihre Hand ein und verschwand dann. Diesmal kamihr der Gedanke, eine Hlle zu berhren, unter der schwere Maschinenlaufen. Das Metall selbst war so glatt, da es sich fast fettig anfhlte -man erwartete, da etwas davon an den Hnden klebenblieb.

    Sie ballte die Faust und klopfte mit den Kncheln darauf. Das Klopfenerzeugte ein dumpfes Gerusch, als schlge man auf einen Mahagoni-klotz. Sie blieb noch einen Augenblick stehen, dann holte sie denSchraubenzieher aus der Gestasche, hielt ihn einen Augenblick un-schlssig in der Hand, dann zog sie, von einem seltsamen Schuldgefhlerfllt - sie kam sich wie eine Vandalin vor - mit der Schneide ber dasMetall. Es gab keinen Kratzer.

    Ihre Augen deuteten zwei weitere Dinge an, aber bei beiden konnte essich um optische Tuschungen handeln. Das erste war, da das Metallvon der Kante bis dahin, wo es in die Erde verschwand, etwas dicker zuwerden schien. Das zweite war, da die Kante leicht gekrmmt zu seinschien. Diese beiden Dinge deuteten - wenn sie zutrafen - auf etwas hin,das gleichermaen aufregend, lcherlich, bengstigend und unmglichwar... und dennoch von einer gewissen Logik erfllt.

    33

  • Sie strich mit der Handflche ber das glatte Metall, dann trat siezurck. Was, zum Teufel, machte sie hier, ttschelte dieses gottver-dammte Ding, whrend das Blut an ihren Beinen hinabflo? Und ihrePeriode war die kleinste Sorge, wenn der Gedanke, der ihr gerade kam,den Tatsachen entsprach.

    Du solltest besser jemanden rufen, Bobbi. Sofort.Ich rufe Jim an. Wenn er zurck ist.Klar. Ruf einen Dichter. Groartiger Einfall. Ebensogut kannst du

    Reverend Moon anrufen. Vielleicht Edward Gorey und Gahan Wilson,damit sie Zeichnungen machen. Dann kannst du ein paar Rockbandsengagieren und hier drauen ein verdammtes Woodstock 1988 veran-stalten. Sei vernnftig, Bobbi. Ruf die Staatspolizei.

    Nein. Zuerst mchte ich mit Jim reden. Ich mchte, da er es sichansieht. Ich mchte mit ihm darber reden. Derweil werde ich nochmehr davon ausgraben.

    Das knnte gefhrlich sein.Ja. Knnte es nicht nur sein, das war es wahrscheinlich - hatte sie das

    nicht gefhlt? Hatte Peter es nicht gesprt? Und da war noch etwas. Alssie heute morgen vom Weg heruntergekommen war, hatte sie ein totesWaldmurmeltier gefunden - war beinahe darauf getreten. Obwohl derGeruch, als sie sich ber das Tier beugte, ihr verraten hatte, da es seitmindestens zwei Tagen tot war, waren keine Fliegen um es herumge-schwirrt, um sie zu warnen. Anderson konnte sich nicht erinnern,dergleichen jemals gesehen zu haben. Es waren keine Anzeichen dafrzu sehen, woran es gestorben war, aber zu glauben, da das Ding in derErde etwas damit zu tun haben knnte, war Bockmist reinsten Wassers.Der alte Murmler hatte wahrscheinlich den vergifteten Kder einesFarmers verspeist und war hier herausgestolpert, um zu sterben.

    Geh nach Hause. Wechsle die Hosen. Du bist voll Blut und du stinkst.Sie wich von dem Ding zurck, dann drehte sie sich um und ging zum

    Weg hinauf, wo Peter unbeholfen an ihr hochsprang und anfing, mit fastrhrendem Eifer ihre Hand zu lecken. Noch vor einem Jahr htte erversucht, zwischen ihren Beinen zu schnuppern, von dem Geruch dortangezogen, aber jetzt nicht. Jetzt konnte er lediglich zittern.

    Das ist deine eigene verdammte Schuld, sagte Anderson. Ich habedir gesagt, du sollst daheim bleiben. Dennoch war sie froh, da Petergekommen war. Wre er nicht gekommen, dann htte Anderson viel-leicht bis zum Einbruch der Nacht durchgearbeitet... und die Vorstel-lung, in der Nhe dieses Dings zu sein, whrend es dunkel war... dieseVorstellung behagte ihr berhaupt nicht.

    Vom Weg aus sah sie zurck. Aus der Hhe hatte sie einen vollstndi-geren berblick ber das Ding. Sie sah, da es in einem leichten Winkelaus dem Boden ragte. Abermals hatte sie den Eindruck, da die Kanteeine leichte Krmmung aufwies.

    34

  • Eine Platte, das habe ich gedacht, als ich mit den Fingern grub. Eine--Stahlplatte, keine Servierplatte, dachte ich, aber vielleicht habe ichschon da, als erst so wenig aus dem Boden ragte, eigentlich an eineServierplatte gedacht. Oder eine Untertasse.

    Eine verdammte fliegende Untertasse.

    4

    Als sie wieder im Haus war, duschte sie, zog sich um und legte eineMaxi-Binde ein, obwohl der heftige Menstruationsstrom bereits wiedernachgelassen zu haben schien. Dann bereitete s ie sich eine gewaltigeMahlzeit aus einer Dose gebackener Bohnen und Knackwurst. Aber siestellte fest, da sie zu mde war, um mehr zu tun, als darin herumzusto-chern. Sie stellte den Rest - mehr als die Hlfte - Peter hin und ging zuihrem Schaukelstuhl am Fenster. Die Doktorarbeit, die sie gelesen hatte,lag immer noch auf dem Boden neben dem Stuhl; die Stelle, bis zu der siegelesen hatte, war mit dem abgerissenen Deckel eines Streichholzbrief-chens markiert. Ihr Notizblock lag daneben. Sie hob ihn auf, bltterteeine Seite weiter und begann dann, das Ding im Wald zu skizzieren, wiesie es bei ihrem letzten Blick zurck gesehen hatte.

    Sie konnte nicht besonders gut mit dem Stift umgehen, es sei denn, sieschrieb Worte, aber sie verfgte ber eine gewis se zeichnerische Bega-bung. Doch diese Zeichnung ging ihr nur langsam von der Hand, und dasnicht nur, weil sie sie so exakt wie mglich machen wollte, sondern auch,weil sie so mde war. Um alles noch schlimmer zu machen, kam Peterherber und schubste ihre Hand mit seiner feuchten schwarzenSchnauze an, weil er gestreichelt werden wollte.

    Sie kraulte Peters Kopf abwesend und radierte einen falschen Strichaus, den das Schubsen seiner Nase der horizontalen Linie auf dem Blockzugefgt hatte. Ja, du bist ein guter Hund, ein toller Hund, warumgehst du nicht nach der Post sehen, ja?

    Peter trottete durch das Wohnzimmer und stie die Schwingtr mitder Schnauze auf. Andersen wandte sich wieder ihrer Skizze zu und sahnur einmal auf, um zu beobachten, wie Peter seinen weltberhmtenPost-Heraushol-Trick abzog. Er sttzte die linke Vorderpfote an denPfosten des Briefkastens und fing dann an, nach der Tr des Kastens zuschlagen. Joe Paulson, der Postbote, kannte Peter und lie sie immeroffen. Er bekam die Tr auf, aber dann verlor er das Gleichgewicht,bevor er die Post mit der Pfote heraushakeln konnte. Anderson zuckteetwas zusammen - bis zu diesem Jahr hatte Peter niemals das Gleichge-wicht verloren. Die Post zu holen war seine piece de resistance gewesen,besser als einen toten Vietkong zu spielen oder etwas so Gewhnlicheswie Mnnchenmachen oder um einen Hundekuchen zu bitten. Es

    35

  • brachte jeden zum Staunen, der es sah, und Peter wute das. . . aberneuerdings war das Ritual schmerzlich mit anzusehen. Anderson hattedabei das gleiche Gefhl wie beim Anblick von Fred Astaire und GingerRogers, die so, wie sie heute waren, versuchten, eine ihrer alten Tanz-nummern vorzufhren.

    Es gelang dem Hund, wieder am Pfosten hochzukommen, und diesmalhkelte er die Post heraus - einen Katalog und einen Brief (oder eineRechnung - ja, da das Monatsende bevorstand, war es wahrscheinlicheine Rechnung) -, was ihm mit dem ersten Hieb seiner Pfote gelang. Siefiel zu Boden, und whrend Peter sie aufhob, sah Anderson wieder aufihre Skizze und ermahnte sich, endlich damit aufzuhren, alle zweiMinuten fr Peter die Totenglocke zu luten. Heute abend sah der Hundsogar ausgesprochen lebendig aus; es hatte Abende gegeben, da hatte ersich drei- bis viermal auf die Hinterbeine aufrappeln mssen, bis es ihmgelang, die Post zu bekommen - die fr gewhnlich aus nicht mehr alseiner Gratisprobe von Procter & Gamble oder einer Wurfsendung vomK-Mart bestand.

    Anderson betrachtete die Skizze eingehend und schraffierte abwesendden Stamm der groen Fichte mit der gespaltenen Krone. Sie war nichthundertprozentig akkurat... aber verdammt nahe dran. Sie hatte aufjeden Fall den Winkel des Dinges richtig hinbekommen.

    Sie malte ein Quadrat um das Ding herum, dann machte sie aus demQuadrat einen Wrfel. . . als wollte sie es isolieren. In ihrer Skizze wardie Krmmung deutlich genug, aber war sie wirklich da gewesen?

    Ja. Und das, was sie eine Metallplatte nannte - das war in Wirklichkeiteine Hlle, nicht? Eine glasglatte, nietenlose Hlle.

    Du verlierst den Verstand, Bobbi... das weit du, nicht?Peter kratzte an der Tr, um hereingelassen zu werden. Immer no>

    ihre Skizze betrachtend, ging Anderson zur Tr.Peter kam herein und lie die Post auf einen Stuhl in der Diele fallen.

    Dann wanderte er langsam in die Kche, wahrscheinlich um nachzuse-hen, ob auf Andersons Teller noch etwas war, das er bersehen hatte,

    Anderson hob die beiden Poststcke auf und wischte sie mit einerGrimasse des Ekels am Bein ihrer Jeans ab. Zugegeben, es war ein guterTrick, aber Hundespucke auf der Post war einfach widerlich. Der Katalogwar von Radio Shack - sie wollten ihr ein Textverarbeitungsgert ver-kaufen. Die Rechnung war von Central Maine Power. Das lie sie kurzwieder an Jim Gardener denken. Sie warf beides auf den Tisch in derDiele, ging zu ihrem Stuhl zurck, setzte sich, schlug eine neue Seite aufund kopierte rasch ihre ursprngliche Skizze.

    Sie betrachtete den leichten Bogen stirnrunzelnd; er war wahrschein-lich eine Extrapolation - als htte sie etwa dreieinhalb bis vier Meter tiefgegraben, und nicht nur einen Meter zwanzig. Na und? Ein wenigExtrapolation strte sie nicht; verdammt, das gehrte zum Geschft des36

  • Schriftstellers, und Leute, die der Meinung waren, sie stnde nur demScience-fiction- und Fantasy-Autor zu, hatten einfach nie durch dasandere Ende des Fernrohrs gesehen, hatten nie vor dem Problem gestan-den, weie Flecken auszufllen, die kein Geschichtsbuch liefern konnte -zum Beispiel, was mit den Leuten geschehen war, die Roanoke Island vorder Kste von North Carolina besiedelt hatten und dann einfach ver-schwunden waren, ohne eine Spur hinterlassen zu haben, abgesehen vondem unerklrlichen in einen Baum geschnitzten Wort CROATOAN;oder wie die Steinfiguren auf der Osterinsel entstanden, oder warum dieEinwohner der kleinen Stadt Blessing in Utah an einem Tag im Sommer1884 pltzlich offenbar alle verrckt geworden waren. Wenn man etwasnicht wute, dann durfte man die Phantasie schweifen lassen - es seidenn, man fand etwas anderes heraus.

    Es gab eine Formel, mit der man den Umkreis berechnen konnte,wenn man einen Teil der Krmmung hatte, da war sie ganz sicher.Leider hatte sie vergessen, wie die verdammte Formel lautete. Aber siekonnte sich eine Vorstellung verschaffen - natrlich immer unter derVoraussetzung, da ihr Eindruck, wie stark der Rand des Dinges ge-krmmt war, zutreffend war-, indem sie den Mittelpunkt des Dingesabschtzte...

    Bobbi ging zur Kommode in der Diele und zog die mittlere Schubladeauf, die eine Art Sammelsurium war. Sie whlte in unordentlichenBndeln bezahlter Rechnungen, leeren Batterien (aus irgendwelchenGrnden hatte sie alte Batterien nie wegwerfen knnen - alte Batterienwarf man in eine Schublade, wei Gott warum, sie war eben der Batte-rienfriedhof anstelle von dem, den die Elefanten angeblich aufsuchten),dnnen Gummiringen und breiten roten Einmachgummis, unbeant-worteten Fan-Briefen (einen unbeantworteten Fan-Brief konnte sieebenso wenig wegwerfen wie eine alte Batterie) und auf Karteikartennotierten Kochrezepten. Auf dem Grund der Schublade befand sich einDurcheinander kleiner Werkzeuge, und dazwischen fand sie, wonach siegesucht hatte - einen Zirkel mit einem gelben Bleistiftstummel an einemEnde.

    Als sie wieder im Schaukelstuhl sa, nahm Anderson ein neues BlattPapier und zeichnete das herausragende Stck des Dings in der Erde zumdritten Mal. Sie versuchte, den Mastab zu wahren, aber diesmal zeich-nete sie es etwas grer, verzichtete auf die umstehenden Bume unddeutete lediglich der Perspektive wegen die Ausschachtung an.Okay, Mutmaung, sagte sie und stach die Spitze des Zirkels unterdem gekrmmten Rand ins gelbe Papier des Blocks. Sie stellte den Armdes Zirkels so ein, da er den Kreis vervollstndigte. Sie sah ihn an, dannwischte sie sich mit dem Handrcken den Mund ab. Ihre Lippen fhltensich pltzlich zu schlaff und zu feucht an.Bockmist, flsterte sie.

    37

  • Aber es war kein Bockmist. Wenn ihre Einschtzung von Krmmungund Mittelpunkt des Dings nicht vllig danebenlagen, dann hatte sie denRand eines Gegenstandes freigelegt, der einen Umfang von mindestensdreihundert Metern hatte.

    Anderson lie Block und Zirkel zu Boden fallen und sah zum Fensterhinaus. Ihr Herz schlug zu heftig.

    5

    Als die Sonne unterging, sa Anderson auf ihrer rckwrtigen Veranda,sah ber ihren Garten hinweg zum Wald und lauschte den Stimmen inihrem Kopf.In ihrem Juniorenjahr am College hatte sie an der Psychologischen

    Fakultt ein Seminar ber Kreativitt belegt. Sie war erstaunt - und ein wenig erleichtert - gewesen, von einer bestimmten Neurose frei zu sein;fast alle phantasievollen Menschen hrten Stimmen. Nicht nur Gedan-ken, sondern tatschliche Stimmen in ihren Kpfen, andere Personen,jede so eindeutig wie die Stimmen in einem altmodischen Hrspiel. Siestammten aus der rechten Gehirnhlfte, hatte der Lehrer erklrt - derHlfte, die blicherweise mit Visionen, Telepathie und der unvergleich-lichen Fhigkeit des Menschen assoziiert wird, Bilder heraufzubeschw-ren, indem man Vergleiche zieht oder Metaphern erfindet.

    Es gibt keine fliegenden Untertassen.Ach, ja? Wer sagt das?Zum Beispiel die Luftwaffe. Sie haben das Buch berfliegende Unter-

    tassen schon vor zwanzig Jahren zugeschlagen. Sie konnten auch alleangeblichen Sichtungen erklren, bis auf drei Prozent, und sie sagten,diese letzten drei wren mit ziemlicher Sicherheit durch ungewhnlicheatmosphrische Bedingungen verursacht worden - Sachen wie Gegen-sonne, klare Luftturbulenzen, Taschen von Klarluftelektrizitt. Ver-dammt, die Lichter von Lubbock machten Schlagzeilen, und dann stelltesich heraus, da sie nichts anderes waren als Schwrme fliegenderFalter, klar? Und die Straenlaternen von Lubbock schienen auf ihreSchwingen und reflektierten groe, bunte, sich bewegende Formen aufdie tiefhngenden Wolkenmassen, die ein Tiefdruckgebiet wochenlangber der Stadt festhielt. Fast das gesamte Land verbrachte diese Wochein dem Glauben, jemand, angezogen wie Michael Rennte in Der Tag, andem die Erde stillstand, kme in Begleitung seines klappernden RobotersGort die Hauptstrae von Lubbock entlanggeschritten und verlangte, zuunserem Anfhrer gebracht zu werden. Und dabei waren es Falter.Gefllt einem das nicht? Mu einem das nicht gefallen?

    Diese Stimme war so deutlich, da es amsant war - es war die vonDr. Klingerman, der das Seminar gehalten hatte. Sie belehrte sie mit38

  • dem unverzagten - wenn auch recht schrillen - Enthusiasmus dalten Klingy. Andersen lchelte und zndete sich eine Zigarette an. Sierauchte heute abend ein bichen zu viel, aber die verdammten Dingerwurden sowieso schal.

    1947 flog ein Captain der Luftwaffe namens Mantell zu hoch, wh-rend er eine fliegende Untertasse verfolgte - oder das, was er fr einefliegende Untertasse hielt. Er verlor das Bewutsein. Sein flugzeugstrzte ab. Mantell kam ums Leben. Er starb, weil er eine Reflexion derVenus auf einer hohen Wolkenbank verfolgte - mit anderen Worten,eine Gegensonne. Also gibt es Reflexionen von Faltern, Reflexionen derVenus, und wahrscheinlich auch Reflexionen in einem goldenen Auge,Bobbi, aber fliegende Untertassen gibt es nicht.

    Was soll das im Boden sonst sein?Die Stimme des Dozenten verstummte. Sie wute es nicht. An ihre

    Stelle trat Annes Stimme, die ihr zum dritten Mal sagte, da sie sokomisch im Kopf wurde, so unheimlich wie Onkel Frank, die ihr sagte,da sie bereits Ma nahmen fr eine dieser Segeltuchjacken, die hintenverschlossen wurden; sie wrden sie in die Irrenanstalt von Bangor oderdie auf dem Juniper Hill schaffen, und da konnte sie dann von fliegendenUntertassen im Wald phantasieren, whrend sie Krbe flocht. Es warwahrhaftig Annes Stimme; sie konnte sie gleich jetzt anrufen und ihrsagen, was geschehen war, und diesen Vortrag kapitel- und versweisebekommen. Sie wute es.

    Aber stimmte es ?Nein. Es stimmte nicht. Anne wrde das weitgehend einzelgngeri-

    sche Leben ihrer Schwester immer mit Irrsinn gleichsetzen, einerlei, wasBobbi sagte oder tat. Und ja, die Vorstellung, da das Ding in der Erdeeine Art Raumschiff war, die war verrckt... aber war es auch verrckt,mit der Mglichkeit zu spielen, wenigstens so lange, bis sie widerlegtwar? Anne wrde das glauben, aber Bobbi glaubte es nicht. Es war nichtschlimm, sich einen offenen Verstand zu bewahren.

    Aber die Schnelligkeit, mit der ihr diese Vermutung gekommenwar. . .

    Sie stand auf und ging hinein. Als sie sich zum letzten Mal an diesemDing im Wald zu schaffen gemacht hatte, hatte sie zwlf Stundengeschlafen. Sie fragte sich, ob sie diesmal mit einem hnlichen Schlafma-rathon rechnen konnte. Wei Gott, sie fhlte sich beinahe mde genug,um zwlf Stunden zu schlafen.

    La es in Ruhe, Bobbi. Es ist gefhrlich.Aber das wrde sie nicht, dachte sie und zog ihr OPUS-FOR-PRESI-

    DENT-T-Shirt aus. Noch nicht.Das Problem des Alleinlebens, hatte sie herausgefunden - und der

    Grund, weshalb es den meisten Menschen, die sie kannte, nicht gefiel,allein zu sein, und sei es auch nur fr kurze Zeit-, war, da die

    39

  • Stimmen in der rechten Gehirnhlfte umso lauter wurden, je lnger manallein lebte. Whrend die Mastbe der Vernunft in der Stille zuschrumpfen anfingen, baten diese Stimmen nicht nur um Aufmerksam-keit, sie forderten sie. Es war leicht, sich vor ihnen zu frchten, zudenken, da sie letzten Endes doch Wahnsinn bedeuten konnten.

    Anne wrde das ganz sicher denken, dachte Bobbi und stieg ins Bett.Die Lampe warf einen sauberen und behaglichen Lichtkreis auf dieSteppdecke, aber sie lie die Dissertation, in der sie gelesen hatte, aufdem Boden liegen. Sie rechnete immer noch mit den Krmpfen, welchenormalerweise ihre gelegentlich verfrhte und heftige Blutung begleite-ten, aber bislang waren sie ausgeblieben. Nicht, da sie sehnlich daraufgewartet htte, da sie in Erscheinung traten...

    Sie verschrnkte die Hnde hinter dem Kopf und sah zur Deckeempor.

    Du bist berhaupt nicht verrckt, Bobbi, dachte sie. D denkst, daGard wunderlich wird, aber mit dir ist alles in Ordnung - ist das nichtauch ein Zeichen dafr, da du spinnst? Es gibt sogar einen Namendafr... Leugnen und Substituierung. Mit mir ist alles in Ordnung,die Welt ist verrckt.

    Stimmte alles. Aber sie fhlte sich immer noch im Vollbesitz ihrergeistigen Krfte, und in einer Hinsicht war sie vllig sicher: Sie war inHaven normaler, als sie es in Cleaves Mills gewesen war, und ganz sichernormaler, als sie es in Utica gewesen war. Noch ein paar Jahre in Utica,noch ein paar Jahre in Annes Gesellschaft, und sie wre total verrcktgewesen. Andersen glaubte sogar, da es Anne als Teil ihrer - was? -Arbeit ansah, nahe Verwandte in den Wahnsinn zu treiben. Nein, nichtsso Gewhnliches. Als Teil ihrer heiligen Mission im Leben.

    Sie wute, was ihr tatschlich Sorgen machte, und das war nicht dieSchnelligkeit, mit der ihr der Gedanke gekommen war. Es war dasGefhl der Gewiheit. Sie wrde sich einen offenen Verstand bewahren,aber die Bemhung wrde dahin gehen mssen, ihn zugunsten dessenoffenzuhalten, was Anne geistige Gesundheit nennen wrde. Dennsie wute, was sie gefunden hatte, und das erfllte sie mit Angst undEhrfurcht und einer rastlosen, bewegenden Erregung.

    Siehst du, Anne, die alte Bobbi ging nicht nach Sticksville und wurdeverrckt; die alte Bobbi ging hierher und wurde geistig gesund. Wahn-sinn begrenzt die Mglichkeiten, Anne, kapierst du das? Wahnsinnheit, sich zu weigern, auf gewissen Pfaden der Spekulation zu schrei-ten, wenngleich die Logik da ist... wie eine Mnze fr den Schlagbaumeiner Schnellstrae. Klar, was ich meine? Nein? Natrlich nicht. Ist dirnicht klar, und wird es niemals sein. Dann geh weg, Anne. Bleib in Uticaund knirsch im Schlaf mit den Zhnen, bis nichts mehr von ihnen brigist, mach von mir aus jene verrckt, die dumm genug sind, in Hrweitedeiner Stimme zu bleiben, aber bleib aus meinem Kopf weg.40

  • Das Ding in der Erde war ein Raumschiff aus dem Weltall.Da. Jetzt war es heraus. Kein Bockmist mehr. Vergi Anne, vergi die

    Lichter von Lubbock und die Tatsache, da die Luftwaffe die Akten berfliegende Untertassen geschlossen hat. Vergi den Gtterwagen oderdas Bermuda-Dreieck oder wie Elias in einem feurigen Rad zum Himmelgetragen wurde. Vergi das alles - ihr Herz wute, was ihr Herz wute.Es war ein Schiff, und es war entweder gelandet oder notgelandet, undzwar vor langer Zeit - vielleicht vor Jahrmillionen.

    Groer Gott!Sie lag im Bett und hatte die Hnde hinter dem Kopf verschrnkt. Sie

    war hinreichend ruhig, aber ihr Herz schlug schnell, schnell, schnell.Dann wiederholte eine andere Stimme das, was Annes Stimme vorhin

    gesagt hatte, und diesmal war es die Stimme ihres toten Grovaters.La es in Ruhe, Bobbi. Es ist gefhrlich.Diese vorbergehende Vibration. Ihre erste, erstickende und gewisse

    Vermutung, da sie die Kante eines unheimlichen Stahlsargs ausgegra-ben hatte. Peters Reaktion. Der verfrhte Beginn ihrer Periode - hier aufder Farm nur schwach, aber wie ein abgestochenes Schwein blutend,wenn sie dort war. Kein Gefhl mehr fr die Zeit, rund um die Uhrschlafen. Und nicht zu vergessen - das Waldmurmeltier. Es hatte nachGas und Verwesung gerochen, aber keine Fliegen. Keine Fliegen amMurmler, knnte man sagen.

    Aber hier gibt nicht eins das andere. Ich akzeptiere die Mglichkeiteines Schiffes in der Erde, weil sie eine gewisse Logik hat, so verrckt siesich auch zunchst anhren mag. Aber der Rest der Sache hat keineLogik; lose Perlen, die auf dem Tisch herumrollen. Wenn du sie auf eineSchnur fdeln kannst, dann akzeptiere ich es vielleicht - denke auf jedenFall darber nach. Okay?

    Wieder die Stimme ihres Grovaters, diese langsame, befehlsge-wohnte Stimme, die einzige im ganzen Haus, die Anne als Kind hattezum Schweigen bringen knnen.

    Alles ist geschehen, nachdem du es gefunden hast, Bobbi. Das istdeine Schnur.

    Nein. Nicht genug.Jetzt war es leicht, ihrem Grovater zu widersprechen; der Mann lag

    seit sechzehn Jahren im Grab. Dennoch war es die Stimme ihres Grova-ters, die ihr in den Schlaf folgte.

    La es in Ruhe, Bobbi. Es ist gefhrlich ...... und das weit du auch.

    41

  • Drittes Kapitel

    Peter sieht das Licht1

    Sie hatte geglaubt, an Peter eine Vernderung festzustellen, hatte abernicht genau sagen knnen, was es war. Als sie am nchsten Morgenaufwachte (ganz normal um neun Uhr), sah sie es beinahe auf den erstenBlick.

    Sie stand am Tisch und schttete Gravy Train in Peters alte roteSchssel. Peter kam wie immer herbeigetrottet, als er das Geruschhrte. Das Gravy Train war ziemlich neu; bis zu diesem Jahr hatte esstets Gaines Meal am Morgen und eine halbe Dose Rival-Hundefutteram Abend gegeben, und dazwischen alles, was Peter im Wald hattefangen knnen.

    Dann hatte Peter aufgehrt, Gaines Meal zu fressen, und Andersonhatte beinahe einen Monat gebraucht, um hinter den Grund zu kommen- Peter hatte es nicht satt, es war einfach so, da er mit seinen Zahnstum-meln die harten Stcke nicht mehr zerbeien konnte. Daher bekam erjetzt Gravy Train - das Gegenstck zu dem poschierten Ei, dachte sie, dasein alter Mann zum Frhstck bekam.

    Sie lie warmes Wasser ber das Gravy Train laufen, dann rhrte siees mit einem alten Lffel um, den sie zu diesem Zweck behalten hatte.Bald schwammen die aufgeweichten Stcke in einer trben Flssigkeit,die tatschlich wie Bratensoe aussah... entweder das, oder etwas auseiner ausgeleerten Klrgrube.

    So, sagte sie und wandte sich von der Sple ab. Peter stand jetzt anseinem blichen Platz auf dem Linoleum - ein Stckchen entfernt, damit AAnderson nicht ber ihn stolperte, wenn sie sich umdrehte - und wedeltemit dem Schwanz. Ich hoffe, es schmeckt dir. Mir persnlich wrde esdenMagen...

    In diesem Augenblick verstummte sie, beugte sich mit Peters roterSchssel in der rechten Hand nach unten, und das Haar fiel ihr ber einAuge. Sie strich es weg.

    Peter? hrte sie sich sagen.Peter sah sie einen Augenblick fragend an, dann tappte er auf seine

    42

  • morgendliche Mahlzeit zu. Einen Augenblick spter schlabberte er siegenuvoll auf.

    Anderson richtete sich auf und betrachtete ihren Hund; sie warfroh, da sie sein Gesicht nicht mehr sehen konnte. In ihrem Kopfsagte ihr die Stimme ihres Grovaters wieder, sie sollte es in Ruhelassen, es sei gefhrlich, und brauchte sie etwa noch mehr Schnur frihre Perlen?

    Allein in diesem Land gibt es etwa eine Million Menschen, die an-gerannt kmen, wenn sie von dieser Art Gefahr Wind bekmen,dachte Anderson. Gott allein wei, wie viele auf der ganzen Welt.Und ist das alles, was es kann? Was meinst du, welche Wirkung esauf Krebs hat?

    Pltzlich wich alle Kraft aus ihren Beinen. Sie tastete sich rckwrts,bis sie einen der Kchensthle sprte. Sie setzte s ich und sah Peter beimFressen zu.

    Der milchige graue Star, der sein linkes Auge bedeckt hatte, war halbverschwunden.

    2

    Ich habe nicht die geringste Ahnung, sagte der Tierarzt an diesemNachmittag.

    Anderson sa auf dem einzigen Stuhl im Sprechzimmer, whrendPeter brav auf dem Untersuchungstisch sa. Anderson erinnerte sichdaran, wie sehr ihr der Gedanke zuwider gewesen war, Peter in diesemSommer zum Tierarzt bringen zu mssen, aber jetzt sah es so aus, alsmte Peter doch nicht eingeschlfert werden.

    Und ich bilde es mir nicht nur ein? fragte Anderson und vermu -tete, da sie in Wirklichkeit nur wollte, da Dr. Etheridge der Anne inihrem Kopf recht gbe oder ihr widersprche: Du verdienst es nichtanders, wo du dort drauen alleine lebst, nur mit deinem stinkendenHund.

    Nein, sagte Etheridge, obwohl ich verstehen kann, warum Sieverblfft sind. Ich bin auch etwas verblfft. Sein grauer Star bildet sichaktiv zurck. Du kannst jetzt herunter, Peter. Peter kletterte vomTisch, zuerst auf Etheridges Stuhl und dann auf den Boden, und kam zuAnderson.

    Anderson legte Peter die Hand auf den Kopf und sah Etheridge genauan, whrend sie dachte: Haben Sie das gesehen? Sie wollte es nicht lautaussprechen. Einen Augenblick begegnete Etheridge ihrem Blick, dannsah er weg. Ich habe es gesehen, ja, aber ich werde nicht zugeben, da iches gesehen habe. Peter war vorsichtig heruntergestiegen, ein Abstieg,der meilenweit von den Hol's-der-Teufel-Sprngen seiner Welpenzeit

    43

  • entfernt war; aber es war auch nicht der zitternde, zaudernde, unsichereAbstieg, den er noch vor einer Woche geschafft haben wrde; damalshtte er den Kopf unnatrlich weit nach rechts geneigt, um zu sehen,wohin er ging, und sein Gleichgewicht wre so unsicher gewesen, daeinem der Herzschlag aussetzte, bis er ohne gebrochene Knochen untenangekommen war. Peter kam mit dem konservativen, aber dennochsoliden Selbstvertrauen eines erfahrenen Politikers herunter, wie er esvor zwei oder drei Jahren getan hatte. Das war zum Teil sicher daraufzurckzufhren, vermutete Anderson, da das Sehvermgen im linkenAuge zurckkehrte - das hatte Etheridge mit einigen einfachen Wahr-nehmungstests besttigt. Aber es war nicht nur das Auge. Der Rest wareine allgemein verbesserte Krperkoordination. So einfach. Verrckt,aber einfach.

    Und der zurckgehende graue Star hatte auch nicht bewirkt, daPeters Schnauze, die fast schneewei gewesen war, pltzlich wiedermeliert wurde, oder? Das war Anderson im Pritschenwagen aufgefallen,als sie nach Augusta gefahren war. Sie war beinahe von der Straeabgekommen.

    Wieviel davon sah Etheridge, ohne bereit zu sein, zuzugeben, da er essah? Eine ganze Menge, vermutete Anderson, aber das lag zum Teildaran, da Etheridge eben nicht Doc Daggett war.

    Daggett hatte Peter in den ersten zehn Jahren seines Lebens minde-stens zweimal jhrlich gesehen... und dann natrlich, wenn der Anlaes erforderte. Als sich Peter zum Beispiel mit einem Stachelschweinangelegt hatte, da hatte Daggett die Stacheln einen nach dem anderenentfernt, dabei die Titelmusik aus dem Film Die Brcke am Kwai ge-pfiffen und den zitternden einjhrigen Hund mit einer groen, freund-lichen Hand beruhigt. Ein andermal war Peter mit einer Kehrseite vollSchrot nach Hause gehinkt gekommen - dem grausamen Geschenkeines Jgers, der entweder zu dumm gewesen war, genau hinzusehen,bevor er scho, oder vielleicht sadistisch genug, einem Hund Leid zu-zufgen, weil er kein Rebhuhn oder keinen Fasan finden konnte, demer es zufgen konnte. Dr. Daggett htte alle Vernderungen an Peterbemerkt und wre nicht imstande gewesen, sie zu leugnen, selbst wenner es gewollt htte. Dr. Daggett htte seine Brille mit dem rosa Gestellabgenommen, sie an seinem weien Kittel poliert und etwas in der Artgesagt: Wir mssen herausfinden, wo er gewesen und in was er hin-eingeraten ist, Roberta. Dies ist ernst. Hunde werden nicht einfachjnger, und genau das scheint Peter zu tun. Was Anderson zu derAntwort gezwungen htte: Ich wei, wo er gewesen ist, und ich habeeine verdammt gute Vorstellung davon, was es bewirkt hat. Und dashtte vieles von dem Druck von ihr genommen, nicht wahr? Aber deralte Doc Daggett hatte die Praxis an Etheridge verkauft, der zwar rechtnett, aber dennoch irgendwie ein Fremder geblieben war, und sich in

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  • den Ruhestand nach Florida begeben. Etheridge hatte Peter hufige,gesehen als Daggett - im letzten Jahr viermal, wie es sich ergebenhatte-, denn mit zunehmendem Alter war Peter immer anflliger ge-worden. Dennoch hatte er ihn nicht so oft untersucht wie sein Vorgn-ger... und hatte, vermutete sie, auch nicht einen so scharfen Blick wiesein Vorgnger. Oder so viel Courage wie er.

    In dem Zwinger hinter ihnen brach ein deutscher Schferhund pltz-lich in eine Bellkanonade aus, die sich wie Hundeflche anhrte. An-dere Hunde stimmten ein. Peter stellte die Ohren auf und begann unterAndersons Hand zu zittern. Die Benjamin-Button-Methode hatte sichoffenbar kein bichen auf den Gleichmut des Hundes ausgewirkt,dachte Anderson; nachdem er seine strmische Welpenzeit hinter sichgelassen hatte, war Peter so phlegmatisch geworden, da man ihn bei-nahe als lahm bezeichnen konnte. Dieses aufgeregte Zittern war brand-neu.

    Etheridge lauschte den Hunden mit leichtem Stirnrunzeln - mittler-weile bellten sie fast alle.

    Danke, da Sie uns so kurzfristig empfangen haben, sagte Ander-son. Sie mute die Stimme heben, um gehrt zu werden. Ein Hund imWartezimmer hatte ebenfalls angefangen zu bellen - das kurze, nervseKlffen eines sehr kleinen Tieres... wahrscheinlich ein Spitz oder Pu-del. Das war sehr... Ihre Stimme versagte einen Augenblick. Siesprte eine Vibration unter den Fingerspitzen, und ihr erster Gedanke

    (das Schiff)galt dem Ding im Wald. Aber sie wute, was das fr eine Vibration

    war. Sie hatte sie zwar sehr, sehr selten gesprt, aber es war keinGeheimnis daran.

    Diese Vibration stammte von Peter. Peter knurrte sehr leise und tiefin der Kehle.

    ... freundlich von Ihnen, aber ich glaube, wir sollten jetzt gehen.Sieht so aus, als htten Sie es mit einer Meuterei zu tun. Sie hatte es alsScherz gemeint, aber es hrte sich nicht mehr wie ein Scherz an.Pltzlich war der gesamte kleine Komplex - das quadratische Gebudeaus Schlackensteinen, in dem Etheridges Warte- und Behandlungszim-mer lagen, und das angrenzende Rechteck aus Schlackensteinen, welchesseinen Zwinger und seinen Operationsraum enthielt, in hellem Auf-ruhr. Alle Hunde bellten; auch im Wartezimmer hatten sich ein paarandere Hunde zu dem Spitz gesellt... und ein feminines, klglichesMaunzen, das ohne Zweifel von einer Katze kam.

    Mrs. Alden platzte mit besorgter Miene herein. Dr. Etheridge...Schon gut, sagte er schroff. Wenn Sie mich entschuldigen wollen,

    Miss Anderson.Er entfernte sich eilig und ging zuerst in den Zwinger. Als er die Tr

    aufmachte, schien der Lrm der Hunde sich zu verdoppeln - sie drehen45

  • durch, dachte Andersen, und fr weitere Gedanken hatte sie keine Zeit,denn Peter schnellte beinahe unter ihrer Hand hervor. Das migeGrollen tief in seiner Kehle rauhte sich zu einem wtenden Knurren auf.Etheridge, der bereits den Mittelgang des Zwingers entlangeilte, wh-rend rechts und links von ihm Hunde bellten und die Tr hinter ihmlangsam mit ihrem pneumatischen Arm zuschwang, hrte es nicht, aberAnderson hrte es, und htte sie ihn nicht glcklicherweise noch amHalsband halten knnen, dann wre der Beagle wie aus der Pistolegeschossen durch den Raum geflitzt und dem Doktor gefolgt. Das Zit-tern und das tiefe Grollen... das war keine Angst gewesen, wurdeihr klar. Es war .Wut gewesen - unerklrbar und so gar nicht Peters Art, aber genau das war es gewesen.

    Peters Knurren wurde zu einem erstickten Laut- urrgh! -, als Ander-son ihn am Halsband zurckzog. Er drehte den Kopf herum, und Ander-son sah in Peters rollendem, rotgernderten rechten Auge etwas, das siespter nur als Wut darber bezeichnen konnte, da er von dem Kursabgehalten wurde, den er einschlagen wollte. Sie konnte dieMglichkeit akzeptieren, da auf ihrem Land eine fliegende Untertasseim Boden lag, deren Umfang mindestens dreihundert Meter betrug; die Mglichkeit, da eine Strahlung oder Vibration dieses Schiffes ein Waldmurmeltier gettet hatte, welches das Pech gehabt hatte, ihm ein wenig zu nahe zu kommen, und zwar so vollstndig und unangenehm gettet, da nicht einmal die Fliegen etwas von ihm haben wollten; sie konnte mit einer anomalen Blutung fertig werden, mit dem in Rckbildung begriffenen grauen Star eines Hundes, sogar mit dem sicheren Anschein, da ihr Hund irgendwie jnger wurde.

    Das alles, ja.Aber die Vorstellung, da sie in den Augen ihres guten alten

    Hunde einen wahnsinnigen Ha auf sie, auf Bobbi Anderson, gesehen hatte.. nein.

    3

    Dieser Augenblick war glcklicherweise kurz. Die Tr zum Zwingerfiel ins Schlo und dmpfte die Kakophonie. Ein Teil der Anspannung schienvon Peter abzufallen. Er zitterte immer noch, aber wenigstens setzte er sich wieder.

    Komm, Peter, wir verschwinden von hier, sagte Anderson. Sie war sehr erschttert - viel mehr, als sie spter Jim Gardener gegenberzugab. Denn das zuzugeben, htte mglicherweise wieder zu der Wutund dem Ha zurckgefhrt, den sie in Peters gesundem Auge gesehenhatte.

    Sie kramte nach der ungewohnten Leine, die sie Peter abgenommen

    46

  • hatte, sobald sie im Sprechzimmer gewesen waren (da Hunde angeleinsein muten, wenn ihre Besitzer sie zur Untersuchung brachten, wareine