Debatten und Praxen des Anarchismus - #11

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  • 8/3/2019 Debatten und Praxen des Anarchismus - #11

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    Debatten und PraxDebatten und Praxen des Anaren des Anarchismchismusus(A(Ausgabe Nusgabe Nr. 11, 1. Nr. 11, 1. Noovvember 2011)ember 2011)

    kl

    Die elfte kritisch-lesen-Ausgabe ist der erste Teil eines (vorlug)

    zweiteiligen Schwerpunktes zum Thema Anarchismus. Er ist auch der

    erste Schwerpunkt, der berwiegend von Autor_innen aus dem

    Autor_innen- und Sympathisant_innen-Kreis (ASK) geplant und

    zusammengestellt wurde. Der zweite Anarchismus-Schwerpunkt

    soviel sei vorweg verraten wird im April 2012 erscheinen und sich

    mit Zeugnissen des Anarchismus beschftigen. Darunter verstehen

    wir (Auto)biograen, Memoiren, Werksammlungen, Tagebcher, etc.Die erste Anarchismus-Ausgabe beschftigt sich mit vielerlei

    unterschiedlichen Debatten und Praxen des Anarchismus und ist

    ebenso pluralistisch und heterogen wie der Anarchismus selbst.

    Den Beginn macht Sebastian Friedrichs Rezension Sehhilfe fr

    Vielschichtigkeit des Anarchismus ber das Buch Hier und Jetzt von

    Uri Gordon. Das Buch und die Rezension nhern sich der

    gegenwrtigen anarchistischen Bewegung im Kontext der

    globalisierungskritischen Bewegung von vielen verschiedenenRichtungen und Blickwinkeln. Weiter geht es mit einem zweiten Buch

    voll anregender Reexionen zum Anarchismus in Theorie und Praxis:

    Regina Wamper stellt in Verteidigung des Anarchismus berlegungen

    zu Gabriel Kuhns Buch Vielfalt Bewegung Widerstand an. Um

    dem Vergessen weniger bekannter Anarchist_innen entgegenzuwirken,

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    http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/sehhilfe-fur-vielschichtigkeit-des-anarchismushttp://www.kritisch-lesen.de/2011/11/sehhilfe-fur-vielschichtigkeit-des-anarchismushttp://www.kritisch-lesen.de/2011/11/verteidigungen-des-anarchismus/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/verteidigungen-des-anarchismus/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/sehhilfe-fur-vielschichtigkeit-des-anarchismushttp://www.kritisch-lesen.de/2011/11/sehhilfe-fur-vielschichtigkeit-des-anarchismus
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    hat der Wanderverein Bakuninhtte e.V. eine Gedenkschrift zu Fritz

    Scherer verentlicht. Sebastian Kalicha bespricht diese Schrift in

    Der Anarchist und der Alpenverein. Etwas theoretischer wird es bei

    Gabriel Kuhns Rezension Anarchismus Old School zu Hans Jrgen

    Degens Buch Das Paradies ist oen, in der Kuhn die Frage stellt, wieinnovativ die in dem Buch dargelegten Gedanken tatschlich sind. Eine

    historische und theoretische Abhandlung zum Anarchafeminismus

    einem besonders wichtigen Thema in der anarchistischen Bewegung

    ndet sich in Der doppelte Kampfvon Regina Wamper: Sie bespricht

    das deutschsprachige Standardwerk zum Thema von Silke

    Lohschelder, Liane M. Dubowy und Ins Gutschmidt. Gabriel Kuhns

    zweite Rezension Vorkriegsantifa beschftigt sich mit einem

    historischen Thema des deutschen Anachosyndikalismus: der

    anarchosyndikalistischen Arbeiterwehr Schwarze Scharen, die gegen

    den Faschismus in Deutschland Widerstand leistete. Philippe

    Kellermann hat schlielich die bahnbrechende Studie zu Bakunins

    Konikt mit Marx von Wolfgang Eckhart rezensiert, wobei er nach

    der Lektre satter 1239 Seiten zu einer Reihe interessanter

    Schlussfolgerungen kommt. Wie dieser epochale Aufeinanderprall

    zweier unterschiedlicher Auassungen des Sozialismus in einem

    anderen Teil der Welt tragische Realitt wurde und welche

    Auswirkungen dies hatte, bespricht Sebastian Kalicha in seinerRezension Bakunin versus Marx auf kubanisch.

    Darber hinaus hat die Redaktion vier weitere Rezensionen zu anderen

    Themen ausgewhlt. Zunchst bespricht Heinz-Jrgen Vo in Vom Gay

    Pride zum White Pride den von Koray Yilmaz-Gnay herausgegebenen

    Band Karriere eines konstruierten Gegensatzes: zehn Jahre Muslime

    versus Schwule, in dem die Autor_innen am Beispiel Berlin

    rassistische Entwicklungen nachzeichnen, wenn etwa Kriege und

    Menschenrechtsverletzungen mit dem Kampf fr Rechte vonHomosexuellen und Frauen begrndet werden. Anschlieend richtet

    Fritz Gde anhand des Buchs Die arabische Revolution? von Bernhard

    Schmid den Blick auf Nordafrika und die Frage, wie sich die Lage

    dort fern von vorherrschenden Medienberichten darstellt. Adi Quarti

    geht in Gewalt und Nichtstun Slavoj Zizeks abseitigen Reexionen zu

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    http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/der-anarchist-und-der-alpenverein/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/anarchismus-old-school/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/der-doppelte-kampf/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/vorkriegsantifa/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/marx-und-bakunin-zum-%E2%80%9Eurkonflikt%E2%80%9C-von-marxismus-und-anarchismus/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/bakunin-versus-marx-auf-kubanisch/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/vom-gay-pride-zum-white-pride/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/vom-gay-pride-zum-white-pride/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/wird-es-eine-arabische-revolution/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/gewalt-und-nichtstun/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/gewalt-und-nichtstun/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/wird-es-eine-arabische-revolution/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/vom-gay-pride-zum-white-pride/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/vom-gay-pride-zum-white-pride/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/bakunin-versus-marx-auf-kubanisch/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/marx-und-bakunin-zum-%E2%80%9Eurkonflikt%E2%80%9C-von-marxismus-und-anarchismus/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/vorkriegsantifa/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/der-doppelte-kampf/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/anarchismus-old-school/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/der-anarchist-und-der-alpenverein/
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    Gewalt auf den Grund. Schlielich kritisiert Fritz Gde in Entbeintes in

    Brhe Gtz Alys Versuch, den deutschen Antisemitismus aus dem Neid

    zu erklren.

    Wie stets an dieser Stelle: Wenn ihr immer rechtzeitig ber die neusteAusgabe informiert werden wollt, dann tragt euch gern in der Spalte

    rechts fr den Newsletter ein, freundet euch mit uns bei Facebook an

    oder haltet einfach sonst die Augen auf.

    Viel Spa beim kritischen Lesen!

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    http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/entbeintes-in-bruhe-die-neue-erklarungsmethode/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/entbeintes-in-bruhe-die-neue-erklarungsmethode/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/entbeintes-in-bruhe-die-neue-erklarungsmethode/http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/entbeintes-in-bruhe-die-neue-erklarungsmethode/
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    SehhilfSehhilfe fr Ve fr Vielschichielschichtigktigkeieit des Anart des Anarchismchismusus

    Uri Gordon

    Hier und jetztAnarchistische Praxis und Theorie

    Von Sebastian Friedrich

    Der Aktivist und Publizist Uri Gordon legt mit Hier und Jetzt eineBestandaufnahme gegenwrtiger anarchistischer Bewegungen vor.

    Zu Beginn des Jahrtausends wehte ein frischer Wind

    antikapitalistischer Perspektiven. Der Widerstand gegen das WTO-

    Treen in Seattle im Dezember 1999 mobilisierte viele Menschen, die

    die Verhltnisse nicht mehr einfach hinnehmen wollten, sondern aktiv

    an Ort und Stelle ihrer Wut Ausdruck verliehen. Aus dem Wind wurde

    zwar kein Sturm, aber die globalisierungskritische Bewegung war weit

    mehr als ein laues Lftchen. Seattle war kein Ausnahmefall, auchkurz vorher in Kln, in Prag 2000, in Genua und Gteborg 2001, in

    Gleneagles 2005 und vielleicht als bisher letzter grerer Ausdruck

    der Bewegung in Heiligendamm im Juni 2007 trafen tausende

    Menschen mit unterschiedlichen Hintergrnden, Vorstellungen und

    Aktionsformen zusammen, um sich gemeinsam zu widersetzen oder

    zumindest ihren Protest auszudrcken. Einer von ihnen war Uri

    Gordon. Er kam im Oktober 2000 nach Europa, eigentlich um eine

    Doktorarbeit ber Umweltethik zu schreiben. Doch ihm kam beimSchreiben die weltweite antikapitalistische Bewegung dazwischen.

    Pragmatisch brachte er sowohl sein Promotionsvorhaben als auch

    seine politische Arbeit zusammen und schrieb seine Doktorarbeit

    kurzerhand ber die aktuellen Formationen des Anarchismus.

    Herausgekommen ist das 2010 in deutscher bersetzung bei Nautilus

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    http://www.kritisch-lesen.de/author/sebastian-friedrich/http://www.kritisch-lesen.de/author/sebastian-friedrich/
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    erschienene Buch Hier und Jetzt, das in englischer Sprache unter

    dem Titel Anarchy Alive! bereits 2008 bei Pluto Press erschien.

    AnarAnarchismchismus als polius als politische Ktische Kulturultur

    Es geht dem Autor weniger darum, Antworten auf die brennendenProbleme der anarchistischen Bewegung zu liefern, vielmehr mchte

    er die entscheidenden Fragen mit ihren Hintergrnden und Facetten

    formulieren. Er versucht, das wabernde, manchmal endlos verknotet

    zu scheinende Verwickelte zu entwirren. Zur Entwirrung und -wicklung

    soll zunchst die viel gestellte und noch huger beantwortete Frage

    nach dem, was Anarchismus eigentlich ist, beitragen. Anarchismus

    wird von Gordon als politische Kultur gefasst, weil Anarchismus so

    verstanden weniger als theoretische Einheit mit ideologischerKonformitt oder als lineare Struktur erscheinen kann. Anschaulich,

    verstndlich und hervorragend strukturiert teilt Gordon die

    anarchistische Kultur in vier Bereiche auf: Organisationsformen,

    Aktionsrepertoires, gegenkulturelle Ausdrucksformen und politische

    Sprache. In der knappen, aber dennoch erhellenden Nachzeichnung

    zentraler Diskussionen innerhalb der anarchistischen Bewegung

    kommt der Autor auf den Konikt zwischen altem und neuem

    Anarchismus zu sprechen. Whrend beim alten Anarchismus

    weniger Wert auf herrschaftsfreie Strukturen in der Gegenwart und

    stattdessen auf Mehrheitsentscheidungen und Hierarchien (zum

    Beispiel in konkreten Positionen in Organisationen) gesetzt wird,

    zeichnet sich der neue Anarchismus durch Breite und Diversitt aus

    mit horizontalen Strukturen, schwer eingrenzbar und oen. In Hier

    und Jetzt wird wenig berraschend die neue Schule fokussiert,

    zugleich aber auf die Knstlichkeit der Unterteilung hingewiesen, denn

    die Grenzen sind nicht nur schwer zu ziehen, sondern es gibt breite

    Solidaritten zwischen den Schulen und weitreichendeberschneidungen.

    Markierungen anarMarkierungen anarchistischer Inhaltechistischer Inhalte

    Was sind die wichtigsten Themen anarchistischer Aktivist_innen?

    Gordon benennt drei zentrale Inhalte. Zu bekmpfen ist erstens jede

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    Form der Herrschaft und damit ist nicht ausschlielich die von Staat

    und Kapital gemeint. Vielmehr sind die verschiedenen Formen der

    Unterdrckung zusammen zu denken. Diese Perspektive geht zum

    Beispiel auf die Kmpfe Schwarzer Feministinnen in einer an der

    weien Norm orientierten Frauenbewegung in den 1970er Jahrenzurck. Es zeigt(e) sich deutlich, wie sich strukturierende Kategorien

    wie Rasse, Klasse und Gender nicht nur in der

    Mehrheitsgesellschaft widerspiegel(te)n, sondern auch innerhalb

    linker Kreise. Daran zeigt sich, dass Herrschaft viele Facetten hat: das

    System der Entlohnung, das Patriarchat und die weie Vorherrschaft

    etwa (vgl. dazu auch ausfhrlicher den kritisch-lesen.de-Schwerpunkt

    von Ausgabe 10).

    Zweitens bestimmt Gordon die vorwegnehmende Politik alswesentlichen Bestandteil anarchistischer Kultur. Demnach werden

    Vision und Praxis zusammen und nicht getrennt gedacht und die freie

    Gesellschaft nicht auf die Zeit nach der Revolution vertagt.

    Vorwegnehmende Politik bedeutet aber nicht allein, sich im

    Individualismus und endlosen Reexionsschleifen zu verlieren (eine

    Gefahr brigens, die Gordon zu wenig ausfhrt), sondern sowohl das

    Selbst als auch das Ganze zu denken, sowohl die persnliche Befreiung

    in einer unterdrckenden Gesellschaftsordnung als auch dieZerstrung und berwindung ebendieser.

    Drittens wird bei der Frage nach dem, was werden soll, auf Vielfalt und

    Ergebnisoenheit gesetzt. Revolution wird also als Prozess verstanden,

    auch weil sich nicht einfach nach geglckter Revolte pltzlich

    Unterdrckungsstrukturen in Luft ausen. So muss davon

    ausgegangen werden, dass auch in einer nicht-kapitalistischen

    Gesellschaft patriarchale und rassistische Strukturen vorhanden sind.

    Diese beiden dargestellten Kapitel umfassen etwa das erste Drittel des

    Buchs und haben einleitenden Charakter. Ich halte diesen einleitenden

    Teil fr den strksten des Buchs, denn es gelingt Gordon

    ausgezeichnet, auf etwa 70 Seiten zentrale Diskussionslinien des

    Anarchismus nachzuzeichnen und zugleich durch eine weite Fassung

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    http://www.kritisch-lesen.de/2011/10/uberschneidungen-von-unterdruckungen/http://www.kritisch-lesen.de/2011/10/uberschneidungen-von-unterdruckungen/http://www.kritisch-lesen.de/2011/10/uberschneidungen-von-unterdruckungen/http://www.kritisch-lesen.de/2011/10/uberschneidungen-von-unterdruckungen/
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    von Anarchismus aufzuzeigen, dass wir es mit der vielleicht grten

    weltweiten anarchistischen Bewegung seit den 1930er Jahren zu tun

    haben. Die weite Denition und vielleicht sogar die damit verbundene

    Vereinnahmung vieler Teile von Bewegungen, die sich selbst nicht

    als anarchistisch fassen ist sicher kritikwrdig und problematisch,aber dennoch zeugen die politischen Kulturen gegenwrtiger

    Bewegungen durchaus von anarchistischen Praxen. Ob sich nun alle

    als Aktivist_innen unter der schwarz-roten Fahne und dem A im Kreis

    sehen oder nicht so ist es zumindest bemerkenswert, dass es ein

    breites Verstndnis von politischem Aktivismus fuend auf

    Freiwilligkeit und horizontalen Strukturen gibt und somit autoritrem

    Avantgardismus etwas entgegengesetzt wird.

    Zurck zu Hier und Jetzt. Im Hauptteil versucht Gordon aus derPraxis heraus Perspektiven, Dilemmata und Kontroversen auszuloten,

    die in anarchistischen Kmpfen fr Vernderungen auftreten. Im Sinne

    eines vorwegnehmenden Aufbaus einer Rezension sei an dieser Stelle

    bereits gesagt, dass Gordon dies nicht immer berzeugend gelingt.

    MachMacht und Gewaltt und Gewalt

    Zunchst geht es um die Frage nach Macht innerhalb anarchistischer

    Zusammenhnge. Macht zeigt sich etwa bei der ungleichen Verteilungvon politischen Ressourcen. Dieses Problem sei jedoch relativ einfach

    zu lsen, wenn Ressourcen konsequent geteilt und kollektiviert

    werden. Problematischer wird es bei den unsichtbaren Mechanismen

    von Macht, wenn sich in informellen Strukturen Fhrungsklassen

    entwickeln. Wie soll aber eine Kontrollinstanz geschaen werden,

    wenn gerade in informellen Strukturen (also in der Unsichtbarkeit)

    auch sinnvolle Aspekte liegen? ber einige nicht immer

    nachvollziehbare Umwege schlgt Gordon eine Kultur derSolidaritt vor, die er jedoch nur sehr knapp auf zwei Seiten ausfhrt

    und dabei kaum den Allgemeinplatz verlsst.

    Mehr Erkenntnisgewinn liefert das Kapitel, das sich mit der

    unangenehmen Frage nach der Gewalt auseinandersetzt. Gordon

    meint, dass es sich bei dem weitgehendenden Konsens der Vielfalt

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    der Taktiken nur scheinbar um eine Errungenschaft handelt. Gewalt

    wie auch immer deniert als politischer Ausdruck werde innerhalb

    pazistischer und nicht-pazistischer Anarchist_innen zwar akzeptiert,

    jedoch sei der Konsens um den Preis einer Leugnung der Spannungen

    erzielt worden, die unter der Oberche nach wie vor bestehen (S.122). Gordon mchte sich weder fr noch gegen Gewalt aussprechen,

    sondern die Debatten und Argumente aufdrseln, damit sich

    Aktivist_innen individuell mit der Gewaltfrage auseinandersetzen

    knnen. Er untersucht kritisch verschiedene Gewaltdenitionen und

    entwirft einen eigenen, eher weiten Begri von Gewalt: Ein Akt ist

    als Gewalt zu bezeichnen, wenn ihn derjenige, gegen den er sich

    richtet, als Angri oder absichtliche Gefhrdung erlebt. (S. 140) Die

    fr Anarchist_innen entscheidende Frage ist die nach der

    Vereinbarkeit von vorwegnehmender Politik und Gewaltanwendung,

    geht es doch um die Herbeifhrung einer grundstzlich anderen

    (gewaltfreien) Gesellschaft. Gordon individualisiert die Frage nach der

    Gewaltanwendung, die jede_r fr sich entscheiden msse. Wenn die

    Entscheidung reektiert getroen wird und ein oener Umgang mit

    der Frage stattndet, komme doch wieder das Prinzip von der Vielfalt

    der Taktiken zu tragen. Ausgesprochen schwach ist ein Zusatz des

    Kapitels, in dem es um Ermchtigung, Rache und den bewaneten

    Kampf geht. Das Unterkapitel verharrt auf einer sehr oberchlichenund spekulativen Ebene und hat im Grunde nichts mit dem ansonsten

    weitgehend schlssigen Argumentationsstrang zu tun.

    TTechnik und schlielich: Iechnik und schlielich: Israel/Psrael/Palstinaalstina

    Gordon widmet sich anschlieend dem Thema Technologie, genauer

    gesagt dem Verhltnis von anarchistischer Praxis zum Thema Technik.

    Er gesteht eingangs, dass er zwar Sympathien mit anarcho-

    primitivistischen Strmungen hegt, sich aber aufgrund derkontroversen Debatten innerhalb der anarchistischen Bewegung

    weniger auf solche Perspektiven beziehen mchte. Der Autor schlgt

    drei Strnge fr eine anarchistische Technologie-Politik vor: Erstens

    msse es darum gehen, auf alle mgliche Arten neuen

    technologischen Wellen einen Widerstand entgegenzusetzen, wenn sie

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    darauf ausgerichtet sind, Machtkonzentration und soziale Kontrolle,

    Ungleichheit und Umweltzerstrung zu verstrken (S. 188). Zweitens

    biete zwar das Internet vielseitige Mglichkeiten der Kommunikation

    und des Informations- und Wissensaustausches, dennoch sei das Netz

    skeptisch zu betrachten, da nicht nur ungleiche Zugangsmglichkeitenbestnden, sondern die Technologie trotz aller vermeintlicher

    Dezentralitt eine im hohen Mae zentralisierte sei, deren Produktion,

    Instandhaltung und Weiterentwicklung autoritative Koordination

    voraussetze. Auerdem beute die Computer-Industrie sowohl Mensch

    als auch Umwelt aus. Schlielich appelliert Gordon drittens fr eine

    Verlangsamung vielfltiger Low-Tech-Innovationen. Auch wenn ich mit

    Gordons Technikskeptizismus wenig anfangen kann, regen mich einige

    seiner Ausfhrungen zu diesem Thema vielseitig an, handelt es sich

    doch um eine Frage, bei der innerhalb der Linken beinahe nur Pole

    sichtbar scheinen: Ein unnachgiebiger Fortschrittsglaube auf der einen

    Seite und eine primitivistische Vorstellung auf der anderen. Zwar ist

    Gordon auch entsprechend angepolt, aber Positionen fern der Binaritt

    erscheinen zumindest in Umrissen.

    Schlielich widmet sich Gordon der Frage nach den nationalen

    Befreiungsbewegungen am Beispiel Palstina/Israel. Anhand einer

    Kritik an Wayne Price, der der Meinung ist, der erste Schritt sollteimmerder sein, sich auf die Seite der Unterdrckten zu begeben, fhrt

    Gordon aus, dass eine solche unreektierte Positionierung eine typisch

    linke Form von Judeophobie und Antisemitismus in Nordamerika und

    Europa sei. Aber anders als einige andere Linke (besonders im

    deutschsprachigen Raum), hrt er nach dieser Erkenntnis nicht auf

    zu denken (und zu handeln). Als Aktivist von Anarchists Against the

    Wall wei er sehr genau zu dierenzieren. Selbstverstndlich benden

    sich Anarchist_innen in einem Widerspruch, wenn sie einerseits anti-

    national eingestellt sind, sich auf der anderen Seite aber mitPalstinenser_innen, die fr einen eigenen Staat kmpfen,

    solidarisieren. Gordon merkt dazu an: Zunchst einmal, denke ich,

    sollten wir dazu stehen, dass hier tatschlich ein Widerspruch besteht,

    dass aber in der Situation, wie sie ist, Solidaritt auch zum Preis der

    Inkonsequenz unumgnglich ist. (S. 224) Letztlich ist die Debatte

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    ber die Frage, ob Anarchist_innen einen palstinensischen Staat

    untersttzen sollen, nicht mehr als eine akademische bung:

    Der alltgliche Widerstand, an dem sich Anarchisten in

    Palstina beteiligen und den sie verteidigen durch dasWegrumen von Straenblockaden oder den Schutz von

    Bauern vor den Siedler-Attacken bei der Olivenernte und

    vieles mehr trgt dazu bei, das berleben und die Wrde

    von Menschen zu bewahren und nicht, sie einem eigenen

    Staat nher zu bringen. (S. 226)

    FFaziazitt

    Hier und Jetzt wurde mittlerweile breit rezipiert und von vielen

    Seiten gefeiert. Die meisten Rezensent_innen sehen in Gordons Buch

    keine Einfhrung zum gegenwrtigen Anarchismus, sondern eine

    Sammlung durchschlagender Positionierungen in Bezug auf die

    Streitthemen anarchistischer Theorie und Praxis. Fr mich ist Hier

    und Jetzt jedoch an den Stellen besonders lesenswert, an denen

    Entwicklungen und Diskussionen gebndelt zusammen getragen und

    Strukturierungen vorgenommen werden. In den Ausfhrungen zu den

    Streitthemen verzettelt sich Gordon hin und wieder oder bearbeitet

    Themen zu oberchlich (was angesichts der vielen angesprochenenGrundsatzdebatten auf knapp 250 Seiten kaum zu vermeiden ist).

    Leider ist in der Version von Nautilus nicht ganz ersichtlich, auf was

    sich Gordon sttzt. Der Verlag hat sich fr eine Fassung entschieden,

    in der nur unzureichend (hug auch fehlerhaft) und grundstzlich

    ohne Angabe der Seitenzahl nach den vielen verwendeten Zitaten die

    Quellen angegeben werden. Das verringert den Nutzen von Hier und

    Jetzt als ansonsten ausgezeichnetes Nachschlagewerk.

    Die hier formulierten Kritiken sollen jedoch auf keinen Fall das

    Verdienst des vorliegenden Buchs schmlern! Uri Gordon schat mit

    seiner tiefgreifenden Befrwortung von Vielfltigkeit einen Blick auf

    Anarchismus im Hier und Jetzt, der optimistische Perspektiven

    ermglicht. Es gelingt vorzglich, das weite und umfassende Feld

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    anarchistischer Theorie und Praxis darzustellen. Ein Feld, das

    aufgrund der Vielschichtigkeit oft unsichtbar erscheint.

    Uri Gordon 2010: Hier und jetzt. Anarchistische Praxis und Theorie.

    Edition Nautilus, Hamburg.ISBN: 978-3-89401-724-8. 256 Seiten. 18.00 Euro.

    [Link zum Artikel]

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    VVerteidigungen des Anarerteidigungen des Anarchismchismusus

    Gabriel Kuhn

    Vielfalt - Bewegung - WiderstandTexte zum Anarchismus

    Von Regina Wamper

    Gabriel Kuhn nimmt in dem Buch Vielfalt Bewegung Widerstand

    Stellung zu unterschiedlichen inneranarchistischen Diskussionen. EineLektre, die sich lohnt. Anarchismus bedeutet Vielfalt, Bewegung und

    Widerstand. (S. 141) Mit diesem Statement endet der letzte Beitrag

    der Aufsatzsammlung von Gabriel Kuhn, in dem sich acht Aufstze

    und zwei Interviews zum zeitgenssischen Anarchismus nden. Den

    Aufstzen ist gemein, dass sie Respekt einfordern fr unterschiedliche

    anarchistische Traditionen, Schwerpunkte und Perspektiven, aktuelle

    Debatten aufgreifen und einen solidarischen Umgang darin

    vorschlagen. Wer Kuhns Buch Neuer Anarchismus in den USAgelesen hat, wird in dieser Aufsatzsammlung einige spannende

    Ergnzungen und Stellungnahmen zu US-amerikanischen

    Auseinandersetzungen nden. Das Buch sei jedoch auch allen anderen

    ans Herz gelegt, denn dass die meisten hier angesprochenen Debatten

    hauptschlich in US-amerikanischen Kontexten stattnden, macht

    diesen Band nicht weniger interessant fr deutschsprachige

    Diskussionen. Zum einen nden wir zu etlichen US-amerikanischen

    Kontroversen ihre hiesigen Pendants, zum anderen werden hier von

    Gabriel Kuhn etliche Prinzipien prsentiert, die dazu beitragen knnen,

    anarchistische Politik solidarischer, oener, glaubwrdiger und damit

    strker zu machen.

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    Akademische LabelAkademische Label

    In Bakunin vs. Postanarchismus, ursprnglich im Bakunin Almanach

    erschienenen, setzt sich Gabriel Kuhn mit dem Label des

    Postanarchismus auseinander und fragt vor allem, was denn daran

    post sei. Vier postanarchistische Theoretiker und deren

    Hauptschriften werden dargestellt und deren zentrale Thesen

    zurckgewiesen. Sie alle sind sich weitestgehend darin einig, dass

    der Poststrukturalismus dem klassischen oder traditionellen

    Anarchismus dessen vorgeblichen Essentialismus nehmen, whrend

    der Anarchismus den Poststrukturalismus um dort vermeintlich

    fehlende Konzepte der Ethik und des Widerstandes bereichern knnte.

    Der konstatierte Essentialismus Bakunins wird von Kuhn ebenso

    kenntnisreich bezweifelt wie festgestellt wird, dass derPoststrukturalismus durchaus relevante ethische Prinzipien vertritt.

    hnlich wie bei der Begrisschpfung des neuen Anarchismus

    werde, so Kuhn, mit Postanarchismus suggeriert, etwas Neues

    erfunden zu haben, was sogar so neu sei, dass es eines neuen Begris

    bedrfe. Das vermeintlich Alte wird damit zugleich als monolithisch,

    kontroverslos und erstarrt dargestellt, aber:

    Der Poststrukturalismus, der im Postanarchismus

    prsentiert wird, ist um nichts anarchistischer als derPoststrukturalismus der 70er Jahre, und der Anarchismus,

    der in ihm prsentiert wird, ist in seinen

    Grundberzeugungen kein anderer als der, der er immer

    schon war. (S. 31)

    Die Kritik am Begri des Postanarchismus soll hier aber freilich keine

    Ausschlielichkeit zwischen Poststrukturalismus und Anarchismus

    vermitteln. Sowohl kann es zu sinnvollen poststrukturalistischen

    Lesarten des Anarchismus kommen, als auch kann der

    Poststrukturalismus (...) als eine der theoretischen Ausdrucksformen

    des Anarchismus (S. 37) analysiert werden. Postanarchistische

    Theoretiker_innen allerdings sollten sich, so die Quintessenz des

    Beitrags, besser auf die Reexion ihres akademischen Habitus

    Seite 13 von 72

  • 8/3/2019 Debatten und Praxen des Anarchismus - #11

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    konzentrieren, der zur Debatte mageblich beigetragen habe, statt

    anarchistische Traditionen, revolutionre Lebensformen, konkrete

    Kmpfe und Kmpfer_innen dieser akademischen Kritik preiszugeben.

    Der folgende Aufsatz, Anarchismus, Postmoderne undPoststrukturalismus, erstmals verentlicht im Contemporary

    Anarchist Studies Reader ergnzt den vorherigen Text um einige

    Aspekte. Vor allem wird hier expliziert, wie poststrukturalistische

    Theorie anarchistische Praxis bereichern kann. Genannt werden u.a.

    Foucaults Machttheorie, Derridas Dekonstruktion, Guattaris und

    Deleuzes Schizoanalyse, die Kritik des Subjekts, das Denken in

    Mannigfaltigkeiten, die Ablehnung des Wahrheitsanspruchs und der

    Reprsentationspolitik, die Betonung des Minoritren, das Konzept der

    normadischen Einheit und die Konzentration auf unmittelbare Kmpfe.Diese Ideen seien vielversprechend, um anarchistische Kmpfe zu

    inspirieren und sie zu unserem Leben in Beziehung zu setzen. (S. 56)

    SolidariSolidaritt statt Ftt statt Fraktioraktionskmpfnskmpfenen

    Weniger deutlich positioniert sich Gabriel Kuhn in dem Konikt um

    den neuen Anarchismus, der sich in Folge der Anti-WTO-Proteste in

    Seattle 1999 entwickelte. Aber hier geht es wohl auch nicht schlicht

    um eine akademische Neudenition des Anarchismus, sondern umunterschiedliche anarchistische Praxen. In dem Beitrag Neuer

    Anarchismus, ursprnglich 2003 bei dem brigens sehr zu

    empfehlenden Online-Portal Alpine Anarchist Productions

    (http://www.alpineanarchist.org) erschienen, stellt sich Kuhn zwischen

    die Sthle. Zwar stellt er sich eindeutig gegen post-linke Ansichten

    des neuen Anarchismus, verteidigt aber auch subkulturelle

    Prioritierungen in der Auseinandersetzung zwischen sogenannten

    Lifestyle-Anarchist_innen und Sozialanarchist_innen (also zwischenPolitisierung des Privaten und Klassenkampf). Der Autor pldiert auf

    gegenseitige Achtung und Respekt, denn: Es ist einer der

    bedauerlichsten Aspekte linker Geschichte, dass sektiererische

    Tendenzen und Fraktionskmpfe das Wachstum und die Entwicklung

    linker Bewegung verhindert, sie gespalten und geschwcht und ihres

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  • 8/3/2019 Debatten und Praxen des Anarchismus - #11

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    revolutionren Potentials beraubt haben. (S. 70) Alle Anarchist_innen,

    ob klassisch oder neu sollten in einer starken Bewegung

    zusammennden knnen (S. 71)

    Der Text Militanz und Schwarze Blcke diskutiert die Gewaltfrage,die in deutschsprachigen anarchistischen Debatten ebenso immer

    wieder aufscheint, wie in US-amerikanischen Kontexten. Auch hier

    wird vom Autor auf Solidaritt statt Grabenkampf gesetzt. Zum einen

    kritisiert Kuhn, dass sich die Argumente anarchistischer Pazist_innen,

    mit denen Militanz abgelehnt wird, oftmals kaum von denen

    brgerlicher Kritik unterscheiden, zum anderen kritisiert er ein

    unverantwortungsvolles Vorgehen mancher Militanter. In jedem Falle

    helfen Polemiken und Dogmatismus solidarischer Debatte nicht weiter:

    Allgemein gesagt halte ich Menschen, die sich im Besitz dermoralischen Wahrheit glauben, fr weit gefhrlicher als Leute, die ihre

    Gesichter hinter Tchern verbergen, um Nike-Symbole von Mauern

    zu reien. (S. 76) Pragmatische pazistische Kritik an der Rolle von

    Militanz hingegen hlt Kuhn fr einiges sinnvoller als moralische, denn

    bei letzterer stellt sich schlielich die Frage, ob es gute moralische

    Grnde dafr gibt, vom Einschlagen einer McDonalds-Filiale

    abzusehen. (S. 75) Solidarische Kritik an bestimmten militanten

    Praxen msse sagbar bleiben, an Trivialisierungen von Gewalt ebensowie an Mackertum und Ritualisierungen.

    Ein Pldoyer fr internationale Solidaritt ist der Text Anarchismus in

    den Philippinen und transnationale Politik, der in der philippinischen

    Zeitschrift Gasera erstverentlicht wurde. Kuhn diskutiert Formen

    der Zusammenarbeit, die sich der verschiedenen gesellschaftlichen

    und sozialen Positionen der Akteur_innen bewusst sind, gleichzeitig

    aber nicht paternalistischen und (neo)kolonialen Praxen Vorschub

    leisten. Der Aufsatz beschftigt sich vor allem mit den internationalenDimensionen anarchistischer Politik und prsentiert Vorschlge zu

    einer solidarischen transnationalen Politik, die globalen konomischen

    Ungerechtigkeiten zu trotzen vermag.

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  • 8/3/2019 Debatten und Praxen des Anarchismus - #11

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    Back to the rBack to the roots?oots?

    In einem folgenden Interview mit der Feministin Claudia von Werlhof

    kritisiert diese anarchistische Praxen hinsichtlich inhaltlicher

    Leerstellen und sthetisch/kultureller Dimensionen. Zum einen msse

    sich der Anarchismus strker mit Subsistenzfragen beschftigen, zum

    anderen sei die anarchistische Szene stark mnnlich geprgt. Von

    Werlhof meint damit nicht nur die zweifellos vorhandene mnnliche

    Dominanz des historischen und zeitgenssischen Anarchismus,

    sondern sie attestiert anarchistischen Frauen, sich als Mnner oder

    als soetwas hnliches wie Mnner beweisen zu mssen (S. 97). Kurz:

    Anarchistische Frauen lachen nicht, so die zweifelhafte Beobachtung

    von Werlhofs. Um die fr die Interviewte vom Anarchismus

    unbeantwortete Frage Wie knnen wir das Leben neu organisieren?(S. 101) dreht sich das Interview mit einem Agenten des US-

    anarchistischen CrimethInc.-Kollektivs. Der CrimethInc.-Aktive

    erlutert, wie durch militante Arbeitslosigkeit jenseits von

    Lohnarbeit Potentiale entfaltet werden knnten, die

    antikapitalistischen Widerstnden zu Gute kmen. Es geht ihm darum,

    auerhalb bestehender konomien (soweit das geht) revolutionre

    Experimente anzustrengen, eine Gesellschaft jenseits autoritrer

    Institution und Massenproduktion nicht nur zu denken, sondern zu

    leben.

    Rewilding or Regressing? darum geht es in Kuhns Aufsatz zum

    wohl umstrittensten zeitgenssischen anarchistischen Phnomen, dem

    Anarchoprimitivismus. Die Auseinandersetzung mit dieser

    berwiegend US-amerikanischen Bewegung, mit ihrem antilinken

    Habitus, mit ihren Ideologisierungen und mit dem Anspruche einer

    reaktionren berwindung der Reaktion (S. 120) kritisiert zugleich

    gewisse Anwrfe gegen Primitivist_innen, die diese allzu leichtfertigder Rechten zurechnen,

    denn der Wille und die berzeugung eine bessere Welt

    zu schaen, eine Welt ohne Herrschaft, Ausbeutung,

    Patriarchat oder Rassismus, eine Welt, die von

    Seite 16 von 72

  • 8/3/2019 Debatten und Praxen des Anarchismus - #11

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    Selbstbestimmung, Egalitt und Solidaritt geprgt ist,

    drfen wir den PrimitivistInnen nicht absprechen. (S.

    120)

    Kuhn resmiert, dass der Primitivismus, will er es vermeiden insreaktionre Lager abzudriften, ein klares Bekenntnis zu progressiver

    Politik ablegen msse.

    Wer bis hierhin gelesen hat, was durchaus nicht schwer fallen drfte,

    wird mit zwei weiteren ausgezeichneten Aufstzen am Ende des

    Buches belohnt. Die bisher vertretenen starken Prinzipien der

    Solidaritt, der Pluralitt und der Abwehr von Ideologisierung werden

    hier konsequent auf den Punkt gebracht.

    OffOffenheienheit, Dynamik und Dit, Dynamik und Divversiersitttt

    Anarchistische Visionen diskutiert die Dierenzen zwischen

    sogenannten Individual/Lifestyle-AnarchistInnen und

    SozialanarchistInnen, Debatten, wie wir sie mitunter zwischen

    Subkultur und Syndikalismus nden. Gabriel Kuhn wehrt sich gegen

    pauschale und selbstgerechte Zuschreibungen, die je nur das eigene

    als politisch beschreiben und dem je anderen das Politische

    absprechen oder gar die Deutungshoheit ber den Anarchismusbeanspruchen. Sich auf anarchafeministische Theoretikerinnen

    beziehend, pldiert Kuhn fr einen Umgang, der die gemeinsame

    Vision einer befreiten, herrschaftsfreien Gesellschaft als verbindendes,

    starkes Band unter Anarchist_innen begreift, statt sich eitlen

    Rivalitten hinzugeben.

    Der letzte Text der Sammlung wurde vom Autor auf dem Anarchie-

    Kongress in Berlin 2009 prsentiert. Anarchismus im 21.

    Jahrhundert? Herausforderungen, Mglichkeiten, Perspektivendiskutiert vor allem Anforderungen, die die anarchistische Bewegung

    an sich selbst stellen sollte, mit ihrer weien, mnnlichen, sozial

    privilegierten Dominanz umzugehen. Zu einer selbstkritischen Analyse

    gehrt ein glaubwrdiger Umgang mit diesen Fakten. Statt

    Verleugnung, Lamentierung oder paternalistischen

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  • 8/3/2019 Debatten und Praxen des Anarchismus - #11

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    Rekrutierungsversuchen wird eine Verbndeten-Politik

    vorgeschlagen, in der anarchistische Mnner feministische Kmpfe

    untersttzen und weie Anarchist_innen solche von People of Color.

    Untersttzung meint eine Solidarittsform, die keinesfalls eine

    leitende Rolle beansprucht. Als glaubwrdige Verbndete zu agieren(S. 135) begnstigt auch eine Oenheit der Szene und jede Szene

    protiert von Oenheit, Dynamik und Diversitt. (S. 135)

    Bndnisfhig zu sein heit auch, von Separatismus-Vorwrfen

    abzusehen, wenn es zu autonomen Organisierungsvorgngen unter

    Frauen oder People of Color kommt. Solche Vorwrfe haben

    hchstens zur Folge, dass alle Bindungen reien und unberbrckbare

    Grben aufbrechen. (S. 136) Neben der Frage nach mglichen

    Bndnissen wird auch in diesem Text auf mitunter unsolidarische

    Debatten zwischen Anarchist_innen bezglich Fragen nach Militanz,

    Lifestyle, Organisierungsform, Technologiekritik etc. eingegangen und

    respektvoller Austausch statt Feindseligkeit gefordert. Das

    vereinende anarchistische Band darf nie aus den Augen verloren

    werden, wenn wir eine eektive politische Bewegung sein wollen.

    (S. 138) Gabriel Kuhn fasst zusammen, dass es heute zwei wichtige

    Aufgaben des Anarchismus gibt. Die eine liegt im Aufbau und in der

    Pege internationaler Netzwerke, die andere darin, Exklusivitt und

    Uniformitt zu berwinden, denn Anarchismus bedeutet Vielfalt,Bewegung und Widerstand. (S. 141)

    Gabriel Kuhn 2009: Vielfalt - Bewegung - Widerstand. Texte zum

    Anarchismus. Unrast, Mnster.

    ISBN: 978-3-89771-497-7. 141 Seiten. 13.00 Euro.

    [Link zum Artikel]

    Seite 18 von 72

    http://www.kritisch-lesen.de/?p=3069http://www.kritisch-lesen.de/?p=3069
  • 8/3/2019 Debatten und Praxen des Anarchismus - #11

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    Der AnarDer Anarchist und der Alpenchist und der Alpenvverereinein

    Wanderverein Bakuninhtte e.V. (Hg.)

    Rebellen-Heil"Fritz Scherer: Vagabund, Wanderer, Httenwart, Anarchist.

    Von Sebastian Kalicha

    Der Wanderverein Bakuninhtte e.V. sorgt mit der Herausgabe der

    Gedenkschrift Rebellen-Heil dafr, dass der BerlinerAnarchosyndikalist, Vagabund und Httenwart Fritz Scherer nicht in

    Vergessenheit gert.

    Die Geschichte hat viele bekannte Persnlichkeiten und Klassiker

    des Anarchismus zu bieten, die zum Glck und zurecht nicht vergessen

    werden. Weil die anarchistische Bewegung sich aber nicht auf solche

    Ikonen beschrnken sollte, wenn sie ihre Geschichte dokumentiert

    und an diese erinnert, tut es gut, wenn Bcher publiziert werden,

    die sich Menschen widmen, die schon fast in Vergessenheit geratensind und auch nie den Rang von VIPs in der Bewegung hatten. Der

    Berliner Anarchosyndikalist, Buchbinder, Vagabund und Httenwart

    der Bakuninhtte in Meiningen, Fritz Scherer (19031988), ist einer

    davon. Um dem Vergessen entgegenzuwirken, hat der Wanderverein

    Bakuninhtte e.V. eine Gedenkschrift verentlicht.

    FFriritz Schertz Scherer und die Bakuninher und die Bakuninhttette

    Die Htte, von der Scherer ab 1930 immer wieder Httenwart warund die von der Meininger Ortsgruppe der Freien Arbeiter-Union

    Deutschlands (FAUD) ab 1925 gebaut und nun vom Wanderverein

    Bakuninhtte e.V. wieder revitalisiert wurde, hat eine lange und

    abenteuerliche Geschichte von der Entstehung, dem dazu

    gegrndeten Siedlungsverein zur gegenseitigen Hilfe (der aus

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    FAUD-Mitgliedern aber auch aus Leuten aus der Umgebung bestand,

    die keine Mitglieder waren) bis zur Konszierung durch die Nazis. Den

    besten Eindruck von dieser Geschichte ebenso wie von Scherers Zeit

    als Httenwart erhlt man in dem von ihm selbst verfassten Artikel

    Bakunin-Htte. Hier hat er eher anekdotenhaft seine Erinnerungenzu diesem Thema niedergeschrieben. Der Rest des Buches besteht

    aus Gedichten Scherers und Nachrufen. Letztere sind teilweise recht

    rhrend geschrieben und verleiten einem beim Lesen immer wieder

    zum Schmunzeln. So schreibt beispielsweise Rolf Raasch:

    Fritz Scherer war ein Veteran anarchosyndikalistischer

    Polit-Geschichte und zugleich Mitglied des Alpenvereins.

    Damit war er fr uns Junganarchos Mitte der 1970er Jahre

    eine Art personizierter Kulturschock. Diese Kombinationaus politischer Radikalitt und heimattreuer

    Naturverbundenheit beschreibt drastisch den

    vermeintlichen kulturellen Spagat, den Fritz zeitlebens in

    den Augen von Subkulturanarchos vollzogen haben muss.

    (S. 54)

    Hans Jrgen Degen schildert in seinem Nachruf eine Begegnung mit

    Fritz Scherer als er selbst noch als Neuer und Nachwuchs in der

    Berliner Anarcho-Szene galt:

    Unversehens hechtete Fritz wieselink (was seine Natur

    war) von seinem groen Bcherregal hin und her, zog

    Buch fr Buch heraus und trmte sie vor mir

    kommentierend auf: Das sind die Werke von Bakunin, das

    ist Souchys Spanienbuch! Und so ging das weiter. Mir

    blieb nur das Staunen. Was sollte ich schon sagen. Fast

    alles war fr mich Neuland.Verschmitzt lchelnd genossFritz sichtlich meine Verblung. Na, junger Freund, was

    sagen Sie nun? Alles von den Nazis gerettet. Die

    wenigsten Bcher sind von mir selbst. Meine Bcher

    haben die Nazis kassiert. Aber wenn ein Genosse stirbt,

    hole ich seine Bcher ab, sonst landen sie bei der

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    Stadtreinigung. () Ein Jahr spter, nach sehr vielen

    Begegnungen mit Fritz: So, lieber Freund, jetzt kennen

    wir uns genau ein Jahr. Wir knnen uns jetzt duzen. Ich

    bin der alte Fritz. (Das Duzen war zur damaliger Zeit

    auch unter Genossen noch nicht automatisch blich.) ZurFeier des Tages gab es eine Flasche Bier. Eine groe Geste

    von Fritz, dem eingeschworenen Alkoholgegner. Und Fritz

    trank mit. (S. 49)

    Obwohl einer Gedenkschrift inhaltlich sicherlich Grenzen gesetzt sind,

    vermisst man ganz generell im Buch jedoch zwei Dinge: a) eine

    gehaltvolle (Kurz)Biograe von Fritz Scherer und b) etwas

    Vergleichbares zur Geschichte der Bakuninhtte. Das, was zu Beginn

    die stichwortartige Lebenschronik Scherers zu bieten hat, htte,mit etwas Bearbeitung, ein schnes Portrait dieses engagierten

    Anarchosynikalisten werden knnen etwas, was man ohnehin kaum

    oder berhaupt nicht ndet.

    Der FilmDer Film

    hnliches knnte auch ber die VagabundInnenbewegung gesagt

    werden, bei der Scherer mindestens ebenso engagiert war wie in der

    FAUD. Dieser Themenbereich wird aber glcklicherweise durch denFilm abgedeckt, der mit dem Buch auf einer DVD mitgeliefert wird.

    Scherers Wanderschaften brachten ihn bis nach Budapest und da er

    sich als Teil der damaligen VagabundInnenbewegung verstand, ist er

    auch Teil des Films Landstrae, Kunden, Vagabunden, der neben

    Scherer einige weitere VertreterInnen der VagabundInnenbewegung

    oder Kunden (Selbstbezeichnung von Menschen, die sich als Teil der

    VagabundInnenbewegung sahen), wie Gerhart Bettermann, Jo Mihaly,

    Jonny Rieger und Hans Bnnighausen, zu Wort kommen lsst. Da manim Buch kaum etwas ber diese anarchistisch inspirierte Bewegung

    ndet, ist es gut, dass die DVD beigelegt wurde. So erhlt man viele

    wichtige Informationen, die in der Gedenkschrift selbst nicht dargelegt

    werden. In der ausgezeichneten zweiteiligen Dokumentation erfhrt

    man u.a. einiges ber Gregor Gog (eine zentrale Figur der

    Seite 21 von 72

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    VagabundInnenbewegungen) und seine inhaltliche Kehrtwende vom

    Anarchisten hin zum Parteikommunisten (mit einhergehender

    Schwchung der sich zu organisieren beginnenden

    VagabundInnenbewegung), ber den Vagabundenkongress von 1929

    (von Gog organisiert, bei dem auch Scherer teilnahm, der von vielenKunden aber kritisch betrachtet wurde) oder ber die vielfltige

    Kunstszene, die sich in und aus der Bewegung entwickelte.

    Obwohl man sich beim Lesen der Gedenkschrift teilweise

    ausfhrlichere Informationen zu bestimmten Themen gewnscht htte,

    ist Rebellen-Heil inklusive der DVD ein schnes Stck

    anarchistischer Geschichte, das an einen Menschen erinnert, dem

    man, nach der Lektre, sehr gerne auch selbst einmal begegnet wre.

    Wanderverein Bakuninhtte e.V. (Hg.) 2010: Rebellen-Heil". Fritz

    Scherer: Vagabund, Wanderer, Httenwart, Anarchist. Karin Kramer

    Verlag, Berlin.

    ISBN: 978-3-87956-350-0. 64 Seiten. 19.80 Euro.

    [Link zum Artikel]

    Seite 22 von 72

    http://www.kritisch-lesen.de/?p=3072http://www.kritisch-lesen.de/?p=3072
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    AnarAnarchismchismus Ous Old Schoolld School

    Hans Jrgen Degen

    Das Paradies ist offen"ber das Elend des Individuums

    Von Gabriel Kuhn

    Hans Jrgen Degen, einer der bewhrtesten zeitgenssischen Autoren

    zum Anarchismus in Deutschland, legt einen neuen Beitrag zur

    anarchistischen Debatte vor. Aber wie viel daran ist wirklich neu?

    Einerseits ist es sympathisch, sich intellektuellen Moden nicht zu

    beugen. Andererseits kann es auch bedeuten, wichtige intellektuelle

    Entwicklungen zu verpassen. Wo Hans Jrgen Degens Ausfhrungen

    zum Verhltnis von Individuum und Gesellschaft aus anarchistischerSicht anzusiedeln sind, wird von den jeweiligen theoretischen

    Vorlieben der Leser_innen abhngen.

    Degen ignoriert die soziologischen Studien zur Individualisierung der

    letzten dreiig Jahre ebenso wie die philosophischen Infragesetzungen

    des autonomen Subjekts bzw. Individuums. Selbst breit rezipierte

    Autoren wie Ulrich Beck oder Michel Foucault nden bei ihm keine

    Erwhnung. Auch anarchistische Diskussionen zum Thema bleiben

    unerwhnt, etwa Jrgen Mmkens grundlegender Beitrag Freiheit,Individualitt und Subjektivitt. Staat und Subjekt in der Postmoderne

    aus anarchistischer Perspektive (2003). Degens theoretische

    Referenzpunkte sind jene der 1960er und 1970er Jahre: Herbert

    Marcuse, Erich Fromm, Christopher Lasch, Albert Camus. Einige

    Aussagen des Buches erscheinen so anachronistisch, dass ihnen ein

    Seite 23 von 72

    http://www.kritisch-lesen.de/author/gabriel-kuhn/http://www.kritisch-lesen.de/author/gabriel-kuhn/
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    gewisser Charme nicht abgesprochen werden kann. So wird das

    Individuum als der absolute Mittelpunkt der Gesellschaft bezeichnet

    (S. 9) bzw. als eine Einheit, die nicht in einzelne Bestandteile ()

    aufzulsen ist (S. 13).

    Degen betont: Letztlich ist ein freies Individuum nur frei in einer

    freien Gesellschaft. (S. 7) Das ist schn. Nur: Wer wrde dem

    widersprechen? Ein solches Credo ist kaum Anarchist_innen

    vorbehalten, auch Brger_innen sehen das so. Insofern wrde es

    zumindest einer innovativen Auseinandersetzung mit dem Begri der

    Freiheit bedrfen, um der Behauptung Leben einzuhauchen. Leider

    kommt es zu einer solchen in dem kleinen, schnell zu lesenden

    Bchlein von knapp 90 Seiten nicht. Stattdessen folgen ein paar

    weitere Wiederholungen anarchistischer Glaubensstze, die von ErichMhsams Aufruf zur Befreiung der Gesellschaft vom Staat (S. 9) ber

    die Feststellung, dass die Macht des Staates alle Lebensbereiche der

    Gesellschaft durchsetzt und bestimmt (S. 54), zur Erinnerung reichen,

    dass ohne Solidaritt () der Zusammenhalt einer freien Gesellschaft

    nicht mglich ist (S. 80).

    AAuuthenthentizitizitt und Andertt und Andereses

    Degens von kurzen, stakkatoartigen Stzen geprgter Text wirkt oftsehr apodiktisch. Etwa wenn es um die Beschreibung des Internets und

    seiner Anwender_innen geht:

    Das Internet schrt Freiheitsillusionen fr die Vielen:

    Indem die Individuen das Private entlich machen,

    entblen sie sich. Dass sie es tun, ist schon Ausdruck

    ihres Manipuliertsein: Ausleben des Narzissmus in der

    kapitalgesteuerten narzisstischen Gesellschaft. Die

    narzisstische Massenentblung als Ersatz fr die

    pfsche Ohrenbeichte? Die Gestndnisse (oft noch mit

    eigenen Steckbriefen) entbehren nicht religisen

    Gehabes. Alles das hat mit Freiheit nichts zu tun. Im

    Gegenteil. Wer das Private zerstrt, unterwirft sich dem

    Seite 24 von 72

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    Diktat des Konformismus. Zugespitzt: Im Internet gehe

    ich verloren als Mensch (Je Spalko). (S. 22)

    Nicht viel besser als die Internetsklaven (ebd.) kommen die

    Marxisten-Leninisten weg, die als eingeschworene ideologischeNur-Kollektivisten prsentiert und wie folgt beschrieben werden:

    Alles ist ihnen zuwider, was nur nach Selbstdenken, nach

    individuellen, autonomen Entscheidungen riecht. Als

    Staatsfetischisten knnen sie nicht anders. (S. 65) Eine solche

    Charakterisierung von Marxist_innen macht es kaum leichter, den

    Anarchismus gegen die altbekannten Anklagen analytischer

    Undierenziertheit zu verteidigen.

    Zu der zentralen Frage des Buches, dem Verhltnis von Individuumund Gesellschaft, sagt Degen wenig Falsches, aber auch wenig Neues:

    der eindimensionale Mensch (S. 38), die domestizierten Individuen

    (ebd.), die atomisierte, konformistische, entsolidarisierte

    Gesellschaft (S. 10), das Sich-Absondern-Wollen und Sich-selbst-

    Gengen (S. 16) sind schlecht; Individualitt als Negation des

    Bestehenden bzw. als Verneinung von Fremdbestimmung (S. 15),

    authentischer Individualismus (S. 45), die ursprngliche [vor-

    staatliche] Gesellschaftlichkeit (S. 53) sind gut.

    Mit deutlichen begriichen Oppositionspaaren hat Degen im

    Allgemeinen keine Probleme. So gibt es neben dem authentischen

    Individualismus einen Pseudo-Individualismus (S. 10) ebenso wie

    es eine Pseudofreiheit (S. 36) oder auch ein falsches Bewusstsein

    (S. 58) gibt. Selbst der authentische Egoist wird dem genormten

    Egoisten gegenbergestellt (S. 67). Warum manche Anarchist_innen

    bis heute meinen, den Begri des Egoismus retten zu mssen, ist mir,

    bei allem Respekt fr die philosophischen Leistungen Max Stirners,rtselhaft. Degens Aufteilungen verschiedener Formen von

    Individualismus und Gesellschaftlichkeit in authentische und nicht-

    authentische bleiben im brigen unbegrndet. Aber vielleicht stren

    sich daran nur philosophische Pedanten.

    Seite 25 von 72

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    Hans Jrgen Degen hat sich in vielfacher Hinsicht um anarchistische

    Reexionen im deutschsprachigen Raum verdient gemacht. Es ist

    erfreulich zu sehen, dass er zu diesen weiterhin beitrgt, auch wenn in

    Das Paradies ist oen ein wenig mehr oen bleibt als das Paradies.

    Eine Bereicherung stellt das dem Buch beigefgte Nachwort JochenKnoblauchs dar. Knoblauch bespricht Degens Thesen im Kontext

    konkreter Gesellschaftsfelder, etwa dem Sport, der Mode, dem

    Tourismus oder der Bio-Industrie. Diesem Versuch ber das

    Individuum ist viel abzugewinnen.

    Hans Jrgen Degen 2011: Das Paradies ist oen". ber das Elend des

    Individuums. Verlag Edition AV, Lich/Hessen.

    ISBN: 978-3-86841-048-8. 98 Seiten. 10.00 Euro.

    [Link zum Artikel]

    Seite 26 von 72

    http://www.kritisch-lesen.de/?p=3077http://www.kritisch-lesen.de/?p=3077
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    Der doppelte KampfDer doppelte Kampf

    Silke Lohschelder / Liane M. Dubowy / Ins

    GutschmidtAnarchaFeminismusAuf den Spuren einer Utopie

    Von Regina Wamper

    Mit AnarchaFeminismus. Auf den Spuren einer Utopie liegt ein

    exzellenter Einfhrungsband vor, der nichts an Aktualitt eingebthat. Lngst nicht nur als historische Betrachtung ist das 2009 in der

    zweiten Auage erschienene Buch AnarchaFeminismus. Auf den

    Spuren einer Utopie fr anarchistisches Denken und herrschaftsfreie

    Praxis relevant. Etliche Positionen historischer Anarchistinnen, die

    darin vorgestellt werden, sind hochaktuell fr libertre

    Zusammenhnge. Kurz gesagt: Diese exzellente Einfhrung in

    anarchafeministische Theorie und Praxis ist ein Muss fr alle

    Anarchist_innen, die Antisexismus nicht in ein postrevolutionres

    Morgen vertagen und gleichsam fr die, die sich wundern, dass eine

    solche Praxis ihre verdiente Kritik erfhrt.

    Silke Lohschelder, Liane M. Dubowy und Ins Gutschmidt unterteilen

    das Buch in drei Teile. In Anarchistische Theorie,

    Geschlechterverhltnis und Frauenrollen werden nach einer kurzen

    allgemeinen Einfhrung in anarchistische Theorie die Ideen und

    Kurzbiographien Proudhons, Bakunins und Kropotkins dargestellt. So

    beeindruckend diese Ideen und die jeweiligen Kmpfe sind, soerschreckend sind die von diesen Herren formulierten Standpunkte

    zur Geschlechterpolitik. Whrend Proudhon sich durch expliziten

    Antifeminismus hervortut, bekennt sich Bakunin zwar theoretisch zur

    Gleichberechtigung, lehnt aber eine konkrete Untersttzung der

    Kmpfe von Frauen ab. Kropotkin schlielich formuliert zwar den

    Seite 27 von 72

    http://www.kritisch-lesen.de/author/regina-wamper/http://www.kritisch-lesen.de/author/regina-wamper/
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    Anspruch der Gleichberechtigung, verbleibt aber in den

    gesellschaftlichen (patriarchalen) Rahmenbedingungen seiner Zeit.

    Lohschelder fasst zusammen, dass im historischen Anarchismus

    Frauen zwar mitunter mitgedacht wurden, das Wissen um faktische

    soziale Ungleichheit aber schlicht keine Konsequenz nach sich zogoder feministische Kmpfe gar als brgerlich diamiert wurden.

    ZZwischen Fwischen Feminismeminismus und Anarus und Anarchismchismusus

    Im zweiten Teil des Buches werden Anarchistinnen und anarchistische

    Frauenorganisationen vorgestellt und ihre Ideen historisch

    eingebettet. Louise Michel, Anarchistin und Kmpferin der Pariser

    Kommune, sah den Kampf der Frauen als Teil anarchistischer

    Auseinandersetzungen. Eine Integration von Frauen in bestehendeMachtverhltnisse lehnte sie ab. Michel bestritt so wie viele

    Anarchistinnen einen doppelten Kampf. Als Anarchistin kmpfte die

    gegen den Staat, als Frau kmpfte sie gegen ihre eigenen Genossen.

    Dieser Fakt zieht sich durch die Biograen aller hier vorgestellten

    Frauen und wird etlichen Leserinnen bekannt vorkommen.

    Ins Gutschmidt beleuchtet die Geschichte von Anarchistinnen und

    Sozialrevolutionrinnen im zaristischen Russland und erlutert den

    Prozess, der zum Ausschluss der Frauen von direkten Aktionen fhrte.An einer 1879 stattndenden Konferenz, die die Ttung des Zaren

    vorbereitete, durften sie nicht teilnehmen. Mit der Fokussierung auf

    den Zarenmord wurden neben der Idee der Gleichberechtigung auch

    die Prinzipien der Dezentralisierung, des Respekts vor dem Einzelnen

    und der Einzelnen, der Konsensstrukturen und der Volksbezogenheit

    ber Bord geworfen. Sie mussten dem einen Ziel weichen. Um

    Spaltungen zu vermeiden ordneten sich die sozialrevolutionren

    Frauen dieser Linie unter, konstatierten aber gleichsam: unsere(n)Herzen sprachen anders. (S. 60) Obgleich beispielsweise die

    Revolution 1917 mit spontanen Massendemonstration und

    Massenstreiks von Textilarbeiterinnen begann, obwohl Frauen immer

    an revolutionren Momenten beteiligt waren, blieb ihnen auch in

    Russland die Anerkennung ihrer Genossen verwehrt. Abgerundet wird

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    dieses spannende Kapitel mit der Vorstellung der russischen

    Sozialrevolutionrin Vera Figner, einer Frau der Tat, eine[r]

    Pragmatikerin der sozialen Revolution. (S. 77)

    In dem Kapitel zu der wohl bekanntesten Anarchistin Emma Goldman werden nicht nur deren Ansichten zur Geschlechterpolitik deutlich,

    sondern ebenfalls und auch das zieht sich durch alle vorgestellten

    Zusammenhnge die Diskrepanz zwischen entlich vertretener

    Theorie und privat gelebter Praxis im Leben anarchistischer Mnner

    (S. 83). Johann Most beispielsweise kommt nicht wirklich gut weg, geht

    es um Geschlechterfragen. Goldman hingegen war darum bemht,

    ihre politischen berzeugungen praktisch in ihrem eigenen Leben

    umzusetzen. Sie betonte den Wert des politischen Verhaltens im

    persnlichen Umfeld. In Ablehnung des auch in anarchistischenKreisen herrschenden Hauptwiderspruchsdenkens waren Goldman

    politische Reformen nicht suspekt. Die sofortige Verbesserung der

    Lebensbedingungen von Frauen stehe dem Kampf um eine befreite

    Gesellschaft nicht entgegen eine Position, die auch zeitgenssische,

    allzu binr gefhrte Debatten um Reform und Revolution bereichern

    kann. Auch Goldmans Ausfhrungen zu Ehe, Kleinfamilie, Sexualitt

    und Prostitution sind heute lange nicht obsolet. Obwohl Emma

    Goldman wenige Verbndete in der mnnlich und patriarchaldominierten anarchistischen Bewegung hatte, obwohl sich ihre

    Genossen allzu oft als ihre politischen Gegner entpuppten, schloss ihre

    Utopie die Befreiung der Mnner immer mit ein.

    AnAntiftifeminismeminismusus

    In deutschen anarchistischen Kontexten so wird es in dem Kapitel

    Die namenlose Geschichte der Frauen in der deutschen

    anarchistischen Bewegung beschrieben sahen sich Frauen miteinem proletarischen Antifeminismus konfrontiert.

    Frauen wurden in der Arbeiterschaft als (Billig)-

    Konkurrenz am Arbeitsmarkt betrachtet, wurden vom

    Kapital nur zu oft als industrielle Reservearmee zum

    Lohndumping eingesetzt. So waren die Mnner in der

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    Arbeiterbewegung oftmals die vehementesten Vertreter

    der Zuweisung von Frauen in den huslichen Bereich. (S.

    101)

    Die sich Anfang der 1920er Jahre grndenden syndikalistischenFrauenbnde sahen sich zudem dem Vorwurf der Spaltung, des

    Dualismus und des Separatismus ausgesetzt. Die stetige Sabotage

    mnnlicher Anarchisten brachte die Bnde schon Mitte der 1920er

    zum Erliegen.

    In Spanien sah es nicht besser aus. Im Text Mujeres Libres die

    Freien Frauen werden hnliche Anfeindungen gegen autonome

    Organisierungen anarchistischer Frauen beschrieben. Nicht die

    patriarchalen Verhaltensweisen, sondern die daraus resultierendeseparate Organisierung wurde von den Mnnern der CNT als

    Zwietracht empfunden. Auch die Frauen der Mujeres Libres

    befanden sich permanent im Zwiespalt zwischen Ablehnung der

    brgerlichen Frauenbewegungen und mnnerdominierter

    anarchistischer Zusammenhnge. Der zweite Teil des Buches endet

    mit einer Darstellung des anarchistischen Feminismus in Italien der

    1970er und 1980er Jahre und einiger ausgewhlter Biographien.

    ReflexioReflexion statt Rekrun statt Rekrutierungtierung

    Im dritten Teil des Buches werden zunchst in aller Krze

    feministische Positionen um Gleichheit und Dierenz und um das

    Verhltnis von sex und gender dargestellt und Radikalfeminismus,

    kofeminismus und Schwarzer Feminismus beschrieben, wobei

    Lohschelder konstatiert, dass letzterer mit dem Anspruch, alle

    Unterdrckungsverhltnisse zu beenden, berschneidungen zu

    anarchafeministischen Anstzen auf[weist]. (S. 155) Von diesen

    theoretischen Einfhrungen aus erlutert Lohschelder das in den

    1970ern entworfene Konzept anarchafeministischer Theorie nach

    Peggy Kornegger und Carol Ehrlich. In vier Punkten wird die

    anarchafeministische Grundsatzerklrung zusammengefasst: 1.

    Feministinnen sind natrliche Anarchistinnen (was Lohschelder

    zurckweist). 2. Anarchismus und Feminismus entsprechen und

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    ergnzen sich. Beide befrworten die permanente Revolution. 3. Der

    Anarchismus kann dem Feminismus ein Revolutionskonzept geben. 4.

    Der Feminismus bereichert den Anarchismus um die Einbeziehung

    unterschiedlicher Unterdrckungskonzepte. Dabei, so Lohschelder,

    weicht der Feminismusbegri Korneggers und Ehrlichs deutlich vonden in den 1970er Jahren gngigen Denitionen und Realitten ab und

    bersieht, dass ein Groteil feministischer Bewegungen brgerlich

    und wei war und oftmals schlicht um eine Gleichstellung innerhalb

    des brgerlich-kapitalistischen Systems kmpfte.

    Diesen Grundthesen jedenfalls folgt ein Vorschlag zur Praxis, die sich

    auf drei Ebenen abspielen msse: auf der erzieherischen (also der

    des gegenseitigen Austauschs), auf der konomisch/politischen (durch

    Sabotage, Streik und Boykott) und auf der persnlich/politischen(durch das Experimentieren mit alternativen Lebensformen). Auch

    diese Darstellung des selbstverstndlichen Zusammenspiels zwischen

    sozialanarchistischen und individualanarchistischen Praxen kann,

    so denke ich, aktuelle, teils polemisch gefhrte Debatten entschrfen.

    Dieses anarchafeministische Konzept wurde in anarchistischen

    Zusammenhngen der BRD stark rezipiert, allerdings, so stellt es

    Lohschelder fest, eher um sich den Feminismus einzuverleiben als

    auf Grund einer selbstkritischen Auseinandersetzung der

    mnnerdominierten anarchistischen Szene. Mehr noch: Die

    feministische Bewegung wurde sich einverleibt, indem Feminismus als

    genuin anarchistisch aufgefasst wurde. Die anarchistische Diskussion

    um den Anarchafeminismus geriet so zur arroganten mnnlichen

    Spitze gegen den Separatismus der autonomen Frauenbewegung und

    wurde in diesem Sinne () begeistert aufgegrien, (S. 156) so wird

    Friederike Kamann zitiert. Statt sich dezidiert mit dem eigenen

    Sexismus auseinanderzusetzen, setzte sich also der Vorwurf derSpaltung fort.

    Lohschelder resmiert, dass anarchafeministische Konzepte sowohl

    ihre Entsprechungen in den Kmpfen der hier vorgestellten Frauen

    und Frauenorganisationen nden, als auch neuere feministische

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    Diskussionen um beispielsweise Intersektionalitt

    anarchafeministischen Anstzen entgegenkommen. Der Anarchismus

    allerdings muss den Feminismus als gleichwertige Theorie begreifen,

    statt ihn sich als quasi natrlichen Bestandteil einzuverleiben. Und

    er darf sich nicht in Theorie erschpfen sondern muss (endlich)praktische Konsequenz aus den Kmpfen anarchistischer Frauen

    ziehen und die weitgehende geschlechterpolitische Ignoranz hinter

    sich lassen, die urschlich fr separate Organisierungen war und ist.

    Silke Lohschelder / Liane M. Dubowy / Ins Gutschmidt 2009:

    AnarchaFeminismus. Auf den Spuren einer Utopie. 2. Auage. Unrast,

    Mnster.

    ISBN: 3-89771-200-8. 196 Seiten. 13.00 Euro.

    [Link zum Artikel]

    Seite 32 von 72

    http://www.kritisch-lesen.de/?p=3079http://www.kritisch-lesen.de/?p=3079
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    VVoorkriegsanrkriegsantifatifa

    Helge Dhring

    Schwarze ScharenAnarcho-Syndikalistische Arbeiterwehr (1929-1933)

    Von Gabriel Kuhn

    Helge Dhring prsentiert ein wichtiges, jedoch oft vergessenes

    Kapitel anarcho-syndikalistischer Geschichte: die Schwarzen Scharen,

    Arbeitermilizen nahe der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD),

    die den Nazis bereits vor deren Machtbernahme mit militantem

    Widerstand begegneten. Helge Dhring hat sich um die

    Geschichtsbeschreibung des Syndikalismus in Deutschland bereits

    mehrfach verdient gemacht, unter anderem mit ausfhrlichen

    regionalen Studien zu Wrttemberg und Bayern. Das historische

    Kapitel, das er sich diesmal vorgenommen hat, ist ausgesprochen

    spannend. Es geht um die Schwarzen Scharen, Arbeitermilizen, diesich um die Freie Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) Ende der

    1920er Jahre im Kampf gegen die Nationalsozialisten und andere

    faschistische Krfte formierten. In der Regel in achtkpgen Gruppen

    organisiert, schtzten die Schwarzen Scharen syndikalistische

    Veranstaltungen und versuchten, bewaneten Widerstand im Falle der

    nationalsozialistischen Machtbernahme vorzubereiten.

    Bedauerlicherweise konnten sie jedoch der starken Repression nach

    1933 nicht widerstehen und wurden zerschlagen bzw. lsten sich auf.

    Dhring zeichnet die Geschichte der Schwarzen Scharen in mehreren

    regionalen Kapiteln nach, von Berlin ber Schlesien, wo sie besonders

    aktiv waren, zu Stdten wie Kassel, Bochum und Aachen.

    Mitgliederzahlen werden ebenso prsentiert wie die Themen

    geschtzter Vorlesungen sowie die Verentlichungen und Statuten

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    http://www.kritisch-lesen.de/author/gabriel-kuhn/http://www.kritisch-lesen.de/author/gabriel-kuhn/
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    einzelner Ortsgruppen. In dem abschlieenden Kapitel Der Kampf

    danach geht Dhring dem Schicksal einiger Mitglieder der Schwarzen

    Scharen nach, die ihren Kampf gegen den Faschismus nach der

    Machtbernahme der Nazis fortsetzten. Dabei ruft er einen der

    grten Skandale der Bundesrepublik in Erinnerung: DieWiderstandskmpfer wurden nicht geehrt, interviewt und schrieben

    auagenstarke Bcher. Sie wurden auch nach 1945 wie

    selbstverstndlich gedemtigt (). (S. 151) Dhrings Buch beinhaltet

    auch interessante Abbildungen sowie eine detaillierte Mitgliederliste

    einiger Ortsgruppen, die auf polizeilichen Aufzeichnungen beruht.

    Die Schwarzen Scharen waren unabhngig organisiert, aber eng mit

    der FAUD verbunden. Dhring betont die Tatsache, dass die Bewegung

    mit der Ausnahme Berlins dort am strksten war, wo es keineetablierten FAUD-Strukturen gab, vor allem auch in lndlichen

    Gebieten. Die Erklrung des Autors ist, dass die Grndung der

    Schwarzen Scharen mit einer Neuorientierung der anarcho-

    syndikalistischen Bewegung einherging, die sich mit einem enormen

    Mitgliederschwund konfrontiert sah. Absicht war, dem Stagnieren

    und der Marginalisierung der Bewegung im konomischen Sektor

    bzw. der Nichterfllung gewerkschaftlicher Vorstellungen in den

    meisten Regionen entgegenzuarbeiten (S. 39). Die SchwarzenScharen bemhten sich bewusst um einen Halt in breiten

    Bevlkerungskreisen: der Schritt von einer Sekte zur

    Massenbewegung war zentrales Ziel (S. 72).

    ArbeiArbeiterwiderstand gegen den Nterwiderstand gegen den Natioationalsozialismnalsozialismusus

    Eines der wesentlichen Verdienste von Dhrings Arbeit ist es, einen

    weiteren Beitrag zur Widerlegung des Mythos zu leisten, dass es vor

    1933 keinen organisierten und militanten Arbeiterwiderstand gegendie Nazis gab. Dhring verwendet das Beispiel der Schwarzen Scharen

    auch dazu, fr eine oensive antifaschistische Politik zu werben, die

    nicht wartet, bis faschistische Machtstrukturen etabliert sind, sondern

    prventiv zu wirken versucht. Die Parallelen, die Dhring zur

    gegenwrtigen antifaschistischen Bewegung zieht, sind zum Teil

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    berzeugend: auch diese antwortet oft eher auf rechte Aktivitten

    anstatt eigene politische Akzente zu setzen. Trotzdem teile ich

    Dhrings Kritik an der gegenwrtigen Antifa-Bewegung in ihrer

    Pauschalitt nicht. Wenn er von der rudimentren Substanz heutiger

    Antifaschisten (S. 9) schreibt, davon, dass diesen oftweltanschauliche Klarheit, die Ernsthaftigkeit ihres Engagements und

    () selbstbewusstes und deutliches Auftreten fehlt (S. 138), ja sogar

    davon, dass brgerliche Kultur (unter anderem ausgezeichnet durch

    Merkmale der Feigheit) in ihren Kreisen dominant ist (S. 139), so

    wird die Szene ber einen Kamm geschert, der vielen Genoss_innen

    nicht gerecht wird.

    Auch andere Einschtzungen Dhrings kann ich nicht ganz teilen. Die

    prsentierte Faschismusanalyse bezieht zwar sozialpsychologischeKomponenten (S. 28) mit ein, fokussiert jedoch immer noch stark

    auf den Faschismus als Form brgerlicher Herrschaft (S. 26), was

    blinde Flecken klassischer linker Faschismusanalysen reproduziert.

    Unglcklich scheint es auch, die berechtigte Kritik an der fehlenden

    Erinnerung an die Novemberrevolution bzw. die Ausrufung der

    deutschen Republik am 9. November 1918 mit dem Verweis darauf

    zu illustrieren, dass die Gedenken an die Reichspogromnacht am 9.

    November 1938 klar im Vordergrund stehen (S. 8). Andere Debatten jedoch, etwa jene zur Gewaltfrage, sind dierenziert und

    berzeugend (S. 51). Hilfreich sind auch die Skizzen zu den Grnden

    des FAUD-Niedergangs in den spten 1920er Jahren, den Dhring auf

    uere ebenso wie innere Faktoren zurckfhrt (S. 40f), sowie die

    Vergleiche zwischen den Schwarzen Scharen und der heutigen Freien

    ArbeiterInnen-Union (FAU), in denen er ganz hnliche Probleme einer

    typischen Minderheitenbewegung entdeckt (S. 141).

    Trotz der erwhnen Vorbehalte in Bezug auf einige der im Buchprsentierten Thesen ist Schwarze Scharen. Anarcho-Syndikalistische

    Arbeiterwehr (1929-1933) ein wichtiger und anregender Beitrag zur

    Geschichte und Theorie der syndikalistischen Arbeiterbewegung in

    Deutschland.

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    Helge Dhring 2011: Schwarze Scharen. Anarcho-Syndikalistische

    Arbeiterwehr (1929-1933). Verlag Edition AV, Lich/Hessen.

    ISBN: 978-3-86841-054-9. 184 Seiten. 14.90 Euro.

    [Link zum Artikel]

    Seite 36 von 72

    http://www.kritisch-lesen.de/?p=3086http://www.kritisch-lesen.de/?p=3086
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    Marx und Bakunin: zum Marx und Bakunin: zum UUrkrkoonflikt vnflikt voonnMarxismMarxismus und Anarus und Anarchismchismusus

    Michael BakuninKonflikt mit MarxTeil 2: Texte und Briefe ab 1871

    Von Philippe Kellermann

    Die jngste Arbeit des Bakunin-Experten Wolfgang Eckhardt

    bearbeitet minutis die Auseinandersetzungen innerhalb der

    Internationalen Arbeiter-Assoziation in den Jahren 1871/1872.

    Die knftige Gesellschaft soll nichts anderes sein als die

    universelle Anwendung der Organisation, welche die

    Internationale sich gegeben haben wird. Wir mssen also

    Sorge dafr tragen, diese Organisation so weit wie

    mglich unserem Ideal anzunhern. Wie knnte eineegalitre und freie Gesellschaft aus einer autoritren

    Organisation hervorgehen? Das ist unmglich. Die

    Internationale, Keimzelle der knftigen menschlichen

    Gesellschaft, ist gehalten, schon von jetzt an das treue

    Abbild unserer Grundstze von Freiheit und Fderation

    zu sein und jedes der Autoritt, der Diktatur zustrebende

    Prinzip aus ihrer Mitte zu verstoen.

    Jurazirkular (1871)

    Der Der UUrkrkoonflikt zwischen Anarnflikt zwischen Anarchismchismus und Marxismus und Marxismus in derus in derErsten InErsten Internatioternationale: ein inhaltlicher, knale: ein inhaltlicher, kein persein persnlicher Snlicher Strtreieitt

    Es ist bekannt: Die Geschichte der sozialistischen Bewegung ist durch

    die Konikte zwischen marxistischen und anarchistischen AkteurInnen

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    http://www.kritisch-lesen.de/author/philippe-kellermann/http://www.kritisch-lesen.de/author/philippe-kellermann/
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    tief geprgt worden. Das Terrain, auf dem dieser Konikt explodierte,

    war die Internationale Arbeiter-Assoziation (1864-1877). Mit dieser

    und dem angesprochenen Konikt beschftigt sich der gerade

    erschienene Mammutwlzer Wolfgang Eckhardts: Michael Bakunin:

    Konikt mit Marx, Teil 2, Texte und Briefe ab 1871, herausgegeben imRahmen von Bakunins Ausgewhlten Schriften. berraschenderweise

    stellen die Lesenden bei der Lektre aber schnell fest, dass Bakunin

    als Agierender gar nicht im Mittelpunkt des Geschehens stand. Denn,

    wie Eckhardt betont:

    Die Signalwirkung der Namen Marx und Bakunin,

    jener angebliche Zweikampf zweier Titanen, ist ()

    berwiegend eine Erndung der Nachwelt. Der Konikt

    zwischen Marx und Bakunin hat nicht als Rivalitt zweierKonkurrenten oder als eine von persnlichen

    Ressentiments geprgte Privatfehde Bedeutung

    entscheidend ist, dass sich im Zuge der

    Auseinandersetzung die Gegenstze zwischen partei-

    politisch-parlamentarischen Strategien zur Eroberung der

    politischen Macht und sozialrevolutionren Konzeptionen

    im Sozialismus herauskristallisierten (S. 669)

    Und es sind eine Unzahl von AkteurInnen, die sich um diese Positionen

    gruppierten, sie formulierten, weiter trieben, mit Leben erfllten.

    Schon diese weitgehend Namenlosen zu Wort kommen, sie wieder

    in die Geschichte eintreten zu lassen, ist Leistung genug und sollte

    Eckhardts Band einen festen Platz in jedem Regal sichern. Betrachten

    wir aber die historische Auseinandersetzung. Einer der Streitpunkte

    wurde schon erwhnt: die politische Strategie. Eckhardt hebt drei

    Positionen hervor: a.) Befrworter der Eroberung der politischen

    Macht auf parlamentarischem Weg (Marx/Engels); b.) Vertretersozialrevolutionrer Ideen, die gewerkschaftliche Kampormen

    vorzogen und jede Beteiligung am Parlamentarismus ablehnten

    (Bakunin/Guillaume), sowie c.) Anhnger der Eroberung der

    politischen Macht, bei Ablehnung des Parlamentarismus und des

    gewerkschaftlichen Kampfes (Vaillant) (S. 70f).

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    Diese Streitfrage war fr sich genommen aber keineswegs der Grund

    fr die heftige Form, die die Auseinandersetzung in der IAA

    (Internationale Arbeiter-Assoziation) annahm und schlielich zu ihrer

    Spaltung fhrte. Diese erklrte sich vielmehr aus einer zweiten

    Streitfrage, nmlich nach der Organisationsform. So war es der Versuch allen voran von Marx und Engels ihre politischen

    Vorstellungen als allgemeinverbindliche in der IAA durchzusetzen,

    welcher zu der heftigen Auseinandersetzung fhrte und ihnen von

    breiten Teilen der IAA-Mitglieder, keineswegs nur den AnarchistInnen,

    den Vorwurf eintrug, sich zum Sultan (S. 563) oder Hohepriester

    (S. 93) der IAA aufzuschwingen. Marx und Engels, die sich mit diesem

    Vorgehen frontal gegen die ganze fderalistisch-pluralistische

    Tradition der IAA stellten, lieen von ihrem Vorgehen, trotz

    mehrmaliger Versuche von allen Seiten, sie zur Umkehr zu bewegen,

    nicht ab und provozierten damit letztlich die Spaltung der

    Organisation. Dass berdies der ohnehin problematische Vorsto der

    Beiden unter dubiosen Umstnden auf der nicht reprsentativen

    Londoner Konferenz (1871) zustande kam, machte die Stimmung in

    den Fderationen nicht besser:

    Mit den Forderungen nach Konstituierung der

    Arbeiterklasse als politische Partei und Eroberung derpolitischen Macht wurden zentrale Programmpunkte von

    Marx und Engels zum Ausdruck gebracht, die jedoch auf

    der [Londoner] Konferenz so kaum diskutiert worden

    waren. Besondere Schrfe enthielt Resolution IX. aber vor

    allem durch den Verbindlichkeitsanspruch solcher

    Ttigkeit fr alle Mitglieder der Internationale erst dies

    machte sie zum Richtungsentscheid, der dem bisherigen

    Strmungspluralismus ein Ende setzte. (S.80)

    Gegen diese Gewaltpolitik (Nettlau 1993, S. 126) erhoben sich nun

    keineswegs nur angebliche BakunistInnen oder AnarchistInnen im

    engeren Sinn, sondern alle, die die organisatorische und ideelle

    Grundlage der IAA in Frage gestellt sahen, also jene Autonomie, die

    man sich durch die Assoziationen gerade zu sichern hote (Weber

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    1989, S. 168). Erstaunlich dabei ist, und die von Eckhardt

    versammelten Quellen zeigen dies in aller Eindringlichkeit, wie klar

    sich die Beteiligten des grundstzlichen Charakters dieser

    Auseinandersetzung bewusst waren. So erklrt z.B. Andr Lo in ihrem

    Artikel Der Geist der Internationale:

    [E]s gibt derzeit unter den Menschen einen solchen

    starken Drang, diesem Weg zu folgen, dem von Tradition,

    Erziehung und Gewohnheit, dass man nicht merkt, wohin

    man geht und auf welchem Irrweg man sich bendet. Wir

    beginnen gerade erst zu verstehen, dass die wahre Einheit

    nicht im Verschwinden aller zugunsten eines Einzelnen

    besteht, seltsame Arithmetik, verhngnisvoller Kder, der

    die Menschheit seit so vielen Jahrhunderten narrt! ()Die neue Einheit ist nicht die Einheitlichkeit, sondern ihr

    Gegenteil; die Entfaltung aller Initiativen, aller Freiheiten,

    aller Vorstellungen, verbunden allein durch die Tatsache

    ihrer Wesensgleichheit, die ihr gemeinsames Interesse

    erzeugt, in dem, von sich aus und auf verschiedenen

    Wegen, und wren es Umwege, die freien Krfte

    zusammenstrmen. (S. 687)

    PPoliolitische Stische Strtreieitkultur: (Atkultur: (Auch) eine Such) eine Stilfragetilfrage

    Erschreckend ist jedenfalls der Stil der Auseinandersetzung, wie er

    von Marx und Engels eingefhrt wurde. Dort sah ich, so der

    spanische Delegierte Anselmo Lorenzo ber die Londoner Konferenz,

    wie jener Mann [Marx], den ich in meiner Bewunderung und in meiner

    Achtung so hoch erhoben hatte, auf die Ebene der Gemeinheit

    herabsank (S. 58).

    [K]einerlei Neigung, unter dem Banner dessen zu dienen, der die

    spanische sozialistische Allianz denunziert hat versprte douard

    David, und erklrte: Wie gro sein Genie auch immer sein mag, ich

    kann ihm keine Achtung mehr entgegenbringen nach dem, was er vor

    und whrend des Haager Kongresses getan hat. (S. 591).

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    Schlielich:

    Es handelt sich hier [auf dem Haager Kongress der

    Internationale, 1872] um ein Manver, das ich ohne zu

    zgern als unwrdig bezeichne seitens jener Mnner[Marx und Engels], die ich fr anstndig zu halten pegte

    () Vom ersten Tag an war das hier ein Zentrum gemeiner

    Intrigen; um ihre Antrge durchzubekommen, schrecken

    sie nicht davor zurck, die Internationale zu opfern. ()

    M.[arx] und E.[ngels] legen eine unerhrte Taktlosigkeit

    an den Tag und unvergleichliche Wut gegen jedwede

    Opposition, ihr taktloses Spiel brachte sogar ihre Freunde

    auf. (Jules Johannard, S. 528)

    Wenn man z.B. von Eckhardt bis ins Detail vorgefhrt bekommt, wie

    Engels einen Brief voller Lgen ber die Vorkommnisse innerhalb der

    Internationale nach Italien schreibt, weil er meint, auf die Unkenntnis

    des Adressaten spekulieren zu knnen (S.140f.), versteht man solche

    Reaktionen nur zu gut.

    SchSchwwer erklrbarer erklrbare Angst ve Angst voor Bakuninr Bakunin

    Das Handeln von Marx und Engels, das im brigen nicht nur derInternationale, sondern vor allem auch ihnen selbst geschadet hat es

    endete in einem politischen Scherbenhaufen, wie Eckhardt ausfhrt

    (S. 641) , ist schwer zu erklren und scheint sich vor allem aus einer

    ungeheueren Angst vor Bakunin zu ergeben. Diese Angst wird durch

    die immer wahnhaftere Zge annehmende Vorstellung illustriert,

    wonach Bakunin die Arbeiterbewegung unter russische Leitung

    nehmen wollte (MEW 32, S. 234), wobei man sich berall von blinden

    Werkzeugen und Spionen des Russen umzingelt sah.

    Dies kann allerdings nicht erklren, warum Marx und Engels dieser

    angeblichen Unterwanderungsstrategie Bakunins mit einem neuen

    strategischen Kurs begegneten, der sie dem Groteil der IAA

    entfremdete. Es zeugt jedenfalls von einer entweder absurden

    Arroganz oder einer erstaunlichen Hilosigkeit, wenn sie Bakunins

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    Phantasie-Sozialismus (MEW 18, S. 336) nicht anders als polemisch

    und in der Absicht, ihn lcherlich zu machen, entgegentraten.

    Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass sich Marx

    und Engels auf keinem Kongress einer entlichenAuseinandersetzung mit Bakunin stellten. Stattdessen beriefen sie

    1872 den Kongress in dem Wissen nach Den Haag, dass es Bakunin

    aufgrund polizeilicher Verfolgung nicht mglich sein werde dort

    hinzugelangen, um sich dann spter wiederum ber Bakunins alte

    Unlust, in persnlicher Debatte aufzutreten lustig zu machen (MEW

    33, S. 586).

    Gelegt wurde damit der entscheidende Grund dafr, dass die

    Aucherung des Sozialismus in Sozialdemokratie, Kommunismus und Anarchismus im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts nicht mit

    grerer Sachlichkeit und Transparenz abgelaufen ist (S. 667).

    Die Geheimgesellschaften BakuninsDie Geheimgesellschaften Bakunins

    Was die ominsen Geheimgesellschaften Bakunins angeht, ist

    festzuhalten, dass es diese in der Form nie gegeben hat und

    Geheimgesellschaften als solche in der damaligen Bewegung nicht

    grundstzlich verurteilt wurden. Es entbehrt dann nicht der Komik,dass gerade Marx, der seine Anhnger stra fhrte (S. 486) und eine

    solche Gangart auch in der IAA durchzusetzen versuchte, Vorwrfe

    gegen den autoritren Bakunin erhob, gleichwohl aber mit den stra

    und konspirativen BlanquistInnen ein Bndnis gegen die angeblichen

    BakunistInnen einging (S. 488f). Nichtsdestotrotz ist es fr die

    Bakuninforschung nicht ausreichend, Bakunins Faible fr

    hierarchische Geheimgesellschaften lediglich als Schwche abzutun

    (S. 483), auch wenn Bakunins FreundInnen dieses Faible nicht teilten

    und fr einen persnlichen Tick Bakunins hielten (S. 484). Wenn

    Bakunin jedenfalls zu Recht erklrte, dass Marx und Engels die

    Auseinandersetzung personizieren wrden, um eine inhaltliche

    Diskussion leichter umgehen zu knnen (S. 747), muss man sagen,

    dass er mit seinem Tick ihnen dafr die Gelegenheit gegeben hat.

    Allerdings nderte dies nichts daran, dass der Groteil der IAA den

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    Marxschen Vorwrfen nichts abgewinnen konnte und inhaltlich

    weitgehend auf Bakunins Linie lag.

    FFaziazitt

    Aus anarchistischer Perspektive kann man es sich leicht machen undeinfach mit dem Teilnehmer des Haager Kongresses, Podolinskij,

    erklren:

    Faktisch haben die Zentralisten gesiegt, aber moralisch

    liegt der Sieg eindeutig bei den Anarchisten () und

    wirklich standen fast alle Arbeiter des Kongresses auf der

    Seite der Anarchisten. (S. 552)

    Es ist meines Erachtens schwer, nach der Lektre Eckhardts zu einemanderen Ergebnis zu kommen. Dieses Fazit ist fr sich genommen

    nichts Neues. Schon Brupbachers Marx und Bakunin (1913), das

    seinerzeit ein Skandal dennoch vom kritischen Geist Franz Mehring

    fr seine Marx-Biographie bercksichtigt wurde, oder die Arbeiten

    Max Nettlaus ber die Erste Internationale haben vieles zur

    Aufklrung beigetragen und sich dem gngigen MEW

    18-Geschichtsbild entgegengestellt.

    Bisher hat sich der Marxismus immer wieder einer ernsthaften

    Auseinandersetzung mit solchen Arbeiten verschlossen. Beispielhaft,

    wenn z.B. das Historisch-Kritische Wrterbuch des Marxismus

    (HKWM) in den ersten Bnden kein einziges mal James Guillaume, der

    weitaus mehr als Bakunin der eigentliche Widersacher von Marx und

    Engels gewesen ist, auch nur erwhnt. Wie auch das angefhrte Buch

    Brupbachers fr das HKWMnicht zu existieren scheint.

    Was jedenfalls die Arbeit Eckhardts im Besonderen auszeichnet, istdie Flle der Quellen und die Arbeit am Detail. Mir ist im

    deutschsprachigen Raum nichts auch nur entfernt damit

    Vergleichbares bekannt. An diesem Buch wird niemand vorbeikommen

    knnen, der sich nicht nur ernsthaft mit der Geschichte der

    Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Anarchismus, sondern

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    auch der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts beschftigen will.

    Und man wird sehen: Der Wunsch, dass alle menschlichen Wesen in

    Freiheit und Wrde leben knnen (Francisco Toms, S. 585), musste

    nicht erst von den ZapatistInnen formuliert werden. Das aber macht

    Honung, ber alles Trennende hinweg

    ZZustzlich vustzlich verwerwendete Liendete Literaturteratur

    MEW Gesammelte Werke von Karl Marx und Friedrich Engels

    (Werkausgabe)

    Nettlau, Max 1993 [1927]: Geschichte der Anarchie. Band 2. Bibliothek

    Thlme, Mnster

    Weber, Petra 1989: Sozialismus als Kulturbewegung. Droste,

    Dsseldorf

    Michael Bakunin 2011: Konikt mit Marx. Teil 2: Texte und Briefe ab

    1871. Karin Kramer Verlag, Berlin.

    ISBN: 978-3-87956-342-5. 1240 Seiten. 78.00 Euro.

    [Link zum Artikel]

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    http://www.kritisch-lesen.de/?p=3091http://www.kritisch-lesen.de/?p=3091
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    Bakunin vBakunin versus Marx auf kubanischersus Marx auf kubanisch

    Frank Fernndez

    Anarchismus auf KubaGeschichte einer Bewegung

    Von Sebastian Kalicha

    In Kuba gab es eine vitale anarchistische Bewegung bis zur

    Kubanischen Revolution. Frank Fernndez versucht, diesen beinahe vergessenen Teil anarchistischer Geschichte aus einer libertren

    Perspektive aufzuarbeiten. Heute gibt es nur noch eine Handvoll

    Lnder in denen vorgegeben wird, es herrschten sozialistische/

    kommunistische Ideale vor. China, Nord-Korea, Venezuela und Kuba

    sind die bekanntesten und so unterschiedlich diese Beispiele auch

    sind, zeigen sie doch auf, dass es durchwegs die autoritren, also

    marxistisch beeinussten Varianten des Sozialismus waren, die die

    Oberhand gewannen so man es diesen Lndern berhaupt zugesteht,

    sich sozialistisch oder kommunistisch zu nennen. Doch wo man

    autoritren revolutionren Sozialismus ndet, entdeckt man zumeist

    auch die antiautoritre Variante: Anarchismus.

    Der Exil-Kubaner und Anarchist Frank Fernndez versucht in

    Anarchismus auf Kuba am Beispiel dieses sozialistischen (?) Landes

    die heute kaum noch bekannte Geschichte der kubanischen

    anarchistischen Bewegung zu skizzieren und gegenwrtige

    Entwicklungen aus anarchistischer Sicht zu analysieren. Historischgesehen ist das Beispiel Kuba aus unterschiedlichen Grnden

    spannend. Es gab eine vitale anarchistische (zumeist

    anarchosyndikalistische) Bewegung; diktatorische Herrschaft und

    gegen diese gerichtete revolutionre Bewegungen, an denen auch

    AnarchistInnen teil hatten; schlielich eine erfolgreiche Revolution,

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    http://www.kritisch-lesen.de/author/sebastian-kalicha/http://www.kritisch-lesen.de/author/sebastian-kalicha/
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    die bald in eine marxistisch-leninistische Richtung steuerte und

    AnarchistInnen (wie so oft) mit der Fragen zurcklie, wie man sich

    nun dazu verhalten solle; und zuguterletzt noch die internationale

    anarchistische Bewegung, die zu diesem Thema ebenso Position bezog.

    Die letzten beiden Punkte waren, wie wir noch sehen werden, vonbesonders heftigen Disputen begleitet.

    TTurbulenur