Debattenmagazin liberal 1.2016

Embed Size (px)

Citation preview

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    1/56

    DEBATTEN ZUR FREIHEIT

    www.li

    2,9

     AUSSERDEM BEITRÄGE VON: 

    WLADIMIR KAMINER, JAN FLEISCHHAUER,

    WOLFGANG SOF SKY, RONJA VON RÖNNE

    SCHWERPUNKT:

    PROBLEMZONE INFRASTRUKTUR

    I N T E R V I E W M I T C H R I S T I A N L I N D N E R

    „SIE HASSEN

     UNSERE FREIHEIT“  D E R F D P - B U N D E S V O R S I T Z E N D E Ü B E R D E N

    T E R R O R I N P A R I S , D I E F L Ü C H T L I N G S F R A G E U N D

      I N V E S T I T I O N E N A L S C H A N C E F Ü R D I E Z U K U N F T

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    2/56

    WOLFGANG GERHARDT

    Herausgeber liberal

    Erscheint 6x im Jahr

    Online-Bestellung

    www.libmag.de/abo

    Auch als kostenfreie APP

    liberal bittet Freigeister wie

    Vince Ebert, Jan Fleisch-

    hauer, Wladimir Kaminer,

    Necla Kelek, Harald Marten-

    stein, Terry Pratchett, ChristianUlmen und Wolfram Weimer

    in die Arena.

    liberal ist laut Leserpost ein

    „intelligentes und mit spitzer

    Feder geschriebenes,

    exquisites Magazin“.

    liberal wird herausgegeben von

    der Friedrich-Naumann-Stiftungfür die Freiheit.

    Kos ten frei abonnieren

    „ LIBERAL IST

    DAS MAGAZIN

    FÜR SELBSTDENKER.

    ES BEKENNT SICH ZUFREIHEIT, FAIRNESS

    UND FORTSCHRITT.“

    DEBA T TEN ZUR FRE IHEI T

     A U S SERDEM BEI TRÄGE  VO

    N: 

     WLADIMIR KAMINER, JAN FLEI

    SCHHAUER, 

     WOLFGANG SOFSK Y, RONJA  V

    ON RÖNNE 

     SCH WERP UNK T: 

    PROBLEMZONE INFRAS TRUK T

    UR 

    I N T E R V I E W  M I T   C H R I S

     T I A N   L I N DN E R 

    „ S I E  H A S S E N

      U N S E R E  F R E I H E I T “

      D E R   F D P - BU N D E S V O R S

    I T Z E N D E   Ü BE R   D E N 

     T E R R O R   I N  P A R I S ,   D I E  

    F L Ü C H T L I N GS F R AG E   U N

    D

      I N V E S T I T I ON E N   A L S   C H

    A N C E   F Ü R   DI E   Z U K U N F T

    liberalDEBATTEN ZUR FREIHEIT

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    3/56

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    4/56

    Problemzone InfrastrukturModerne Verkehrswege und schnelle Anbindungen — die Infrastruktur war

    einmal ein wichtiger Standortvorteil Deutschlands. Doch das einstige Rückgrat

    der Industrie ist längst zu einer großflächigen Problemzone geworden und bedarfdringend einer Generalüberholung. Doch dabei hakt es an allen Ecken und Enden.

    liberal legt den Finger in die Wunde und zeigt Auswege aus der Krise.

    22

    DIE KRUX MIT DER PLANUNG Dieter Posch, früherer Staatsminister für

     Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung in

    Hessen, über Investitionsstau, Bürgerbeteiligung

    und Public-Private-Partnerships.

    VON BORIS EICHLER

    24

    INTERNATIONAL ÜBERHOLT

    Längst machen andere Staaten Deutschland

     vor, warum sich Investitionen in die

    Infrastrukur der Zukunft lohnen.

    26

    UDSSR VS. BRD Züge, von denen nicht einmal der

    Lokführer weiß, wo sie halten werden, u

    überdimensionale Pfützen, in denen ganze

     verschwinden — so war das in der UdSS

    Und Deutschland? Deutschland ist eine Bausagt Wladimir Kaminer, der es wissen m

    denn er kennt beide Welten.

    VON WLADIMIR KAMINER

    S C H W E R P U N K T

    S T A N D A R D S

    3 EDITORIAL

    4

    INHALT/IMPRESSUM

    28

    ZENTRALMOTIVBrücke ohne Wert

    30 FUNDSTÜCK

    30

    WUTPROBEMündelsicher

    31

    AUTOREN DER FREIHEITJoachim Huber

    40

    MIERSCHS MYTHEN

    Ist die Sonne jetzt rechts?

    50

    BÜCHER

    54 ZITATE DER FREIHEIT

    Ronja von Rönne

     Audio

     Bildergalerie Link

    Leseprobe Video

    A P P - V E R S I O N

    liberal ist auch als iPad-

    und Androidversionerhältlich und enthält

    multimedialesZusatzmaterial:

    4 1.201

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    5/56

    6  FREIHEITSBEKENNTNIS

    FDP-Chef Lindner im Interview.

    VON BORIS EICHLER

    12  STIMMUNGSWANDEL

     Warum keine andere Partei

    die FDP beerben kann. 

    VON JAN FLEISCHHAUER

    14 UNTERWEGS

    Über die Motive der Flüchtlinge.

    VON WOLFGANG SOFSKY

    18 KIRON ALS CHANCE

     Wie eine Online-Uni Flüchtlingen hilft.

    VON FELIX S. SCHULZ

    20 LAUSCHANGRIFF ABGEWEHRT

    Sabine Leutheusser-Schnarrenbergers

     große Stunde.

    VON EWALD GROTHE

    32  UNTERNEHMEN KLOSTER

     Wie die Benediktinerabtei St. Bonifaz

    das Kloster Andechs auf Erfolg

    trimmt und dabei stets im Blick

    hat, glaubwürdig zu bleiben.

    VON CHRISTINE MATTAUCH

    38 EUCKEN IST MODERN

     Als Leiter des Walter Eucken Instituts

    spricht Lars Feld mit liberal über

    den Mindestlohn, die Kanzlerin

    und die Liberalen in den USA.

    VON CHRISTINE MATTAUCH

    42  60 JAHRE POLIO-IMPFUNG

    Der erfolgreiche Kampf des US-Fors

     Jonas Salk gegen die Kinderlähmung

    ist ein Beispiel für liberale Tugenden

    VON ANDREAS SPIEGELHAUER

    46 SCHMUGGLER DER FREIHEIT

    Heiße Ware USB-Sticks: Wie Kang

    Chol-Hwan Nordkorea befreien will.

    VON JAN-PHILIPP HEIN

    48 FREIHEITSFILME

    Bogie als Freiheitskämpfer und

    fünf weitere Filmtipps für Cineasten

    VON ULRICH KRIEST

    52  DIE NEUE UNÜBERSICHTLICHKE

     Was Freiheit in Zeiten von Terror,

    Flüchtlingsströmen und Angst bede

    VON WOLFGANG GERHARDT

       F   o   t   o   s   :   W   e   r   n   e   r   S   c   h   u   e   r   i   n   g ,

       M   C   P   H   O   T   O ,   M

       e   h   d   i   T   a   a   m   a   l   l   a   h   /   d   d   p   i   m   a   g   e   s

    P O L I T I K W I R T S C H A F T G E S E L L S C H A F T

    52

    liberal • Debatten zur Freiheit. Das Magazin

    der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

    Reinhardtstraße 12, 10117 Berlin

    Telefon 030/28 87 78 59, Fax 030/28 87 78 49

    www.libmag.de

    Kontakt: [email protected]; [email protected],

    [email protected]

    Begründet von Karl-Hermann Flach

    und Hans Wolfgang Rubin

    Herausgegeben von Dr. Wolfgang Gerhardt,

    Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué, Manfred Richter,

    Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,

    Dr. Wolf-Dieter Zumpfort

    Beirat: Dr. Bernd Klaus Buchholz,

    Karl-Ulrich Kuhlo, Helmut Markwort

    Gesamtleitung:  Kirstin Härtig

    Redaktion Friedrich-Naumann-Stiftung

    für die Freiheit:

    David Harnasch (Chefredakteur, v.i.S.d.P.), Boris

    Eichler (Chef vom Dienst), Thomas Volkmann

    Autoren dieser Ausgabe: Gérard Bökenkamp, Boris

    Eichler, Jan Fleischhauer, Wolfgang Gerhardt, Ewald

    Grothe, Kirstin Härtig, David Harnasch, Jan-Philipp

    Hein, Joachim Huber, Wladimir Kaminer, Ulrich Kriest,

    Christine Mattauch, Michael Miersch, Ronja von

    Rönne, Felix S. Schulz, Wolfgang Sofsky, Andreas

    Spiegelhauer

    Gesamtherstellung:

    corps. Corporate Publishing Services GmbH,

    ein Unternehmen der Verlagsgruppe Handelsblatt

    Kasernenstraße 69, 40213 Düsseldorf

    Tel. 0211/542 27-700, Fax 0211/ 542 27-722

    www.corps-verlag.de

    Verlagsgeschäftsführung:  

    Andrea Wasmuth (Vorsitzende), Thorsten Giersch,

    Holger Löwe

    Redaktionsleitung:Mirko Hackmann

    Gestaltung: Ernst Merheim (Grafik), Achim Meissner

    (Bildredaktion), Werner Schuering (Titelbild)

    Objektleitung: Jana Teimann

    Anzeigen:

    Tatjana Moos-Kampermann, Tel. 0211/542 27-671,

    [email protected] (Le

    Georgios Giavanoglou, Tel. 0211/ 542 27-663,

    [email protected]

    (Anzeigen-Marketing),

    Christine Wiechert, Tel. 0211/ 542 27-672,

    [email protected] (Disposit

    Litho: TiMe GmbH

    Druck: 

    Bechtle Druck & Service GmbH & Co. KG

    Zeppelinstraße 116, 73730 Esslingen

    Namentlich gekennzeichnete Artikel geben

    nicht unbedingt die Meinung von Herausgebe

    und Redaktion wieder.

    Vertrieb: DPV Network GmbH www.dpv.de

    Bezugsbedingungen:  Abonnement bis auf W

    ruf kostenfrei; Preis des Einzelheftes 2,90 Eur

    landspreis, zzgl. 2,50 Euro Porto und Verpack

    Näheres über [email protected]

    liberal im kostenlosen Abonnement: 

    alles dazu auf Seite 2

    6 32

    liberal 1.2016

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    6/56

    Herr Lindner, Deutschland hat viele Jahre

     gebraucht, um für sein Afghanistan-Enga-

     gement das Wort „Krieg“ in den Mund zu

    nehmen. Nach den Anschlägen von Paris

    hingegen war das Wort „Krieg“ umgehend

    in aller Munde. Befinden wir uns im

    Kriegszustand?

    Nein, denn in Paris hatten wir es mit Mördernzu tun und nicht mit Soldaten. Diese Terroris-ten greifen unsere westliche Lebensart an. Siehassen unsere Freiheit, Demokratie und dieoffene Gesellschaft. Dabei schrecken sie nicht vor Morden an Unschuldigen und Unbewaff-neten zurück. Wir müssen uns gegen islamisti-

    sche Sekten zur Wehr setzen.

    Die Terroristen hassen unsere Freiheit

    zutiefst. Aber wie ist es um unsere Liebe

    zur Freiheit bestellt?

    Der Kern unserer westlichen Lebensart ist das Vertrauen in den einzelnen Menschen, inseine Eigenverantwortung, seine Aufgeklärt-

    heit, seine Vernunft. Aber in der Praxis schät-zen wir diese Werte zu gering undkonterkarieren sie geradezu. Die massiveBürokratisierung unseres Alltagslebens ersetztklare rechtsstaatliche Regeln. Mit immer mehrstaatlichen Eingriffen fummelt die Politik inunserem Wirtschaftsleben herum — undrichtet oft Schaden an. Und die Toleranz undOffenheit im Umgang untereinander drohtdurch Ängstlichkeit und Ressentiments unter- graben zu werden.

     Welche Konsequenzen ziehen wir daraus?

     Wenn Terroristen die Grundlagen unserer

    Gesellschaft angreifen — wann, wenn nichtdann, sollten wir den Mut und die Kraft finden,uns zu unserer Freiheit und der innerenLiberalität unserer Gesellschaft neu zu beken-nen? Jenen, die unsere Lebensart bekämpfen,stellen wir entgegen, dass wir jetzt umsoentschiedener zu unseren Überzeugungenstehen.

     // INTERVIEW // BORIS EICHLER  // FOTOS // WERNER SCHUERING

    „Sie hassenunsere Freiheit“Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner spricht im

    liberal -Interview über die Folgen der Terroranschläge von

    Paris, über die inneren und äußeren Feinde der Freiheit und über

    Lösungen für die Flüchtlingskrise. Er hält es für wichtig, „dass wir

     jetzt umso entschiedener zu unseren Überzeugungen stehen“.

    INTERVIEW CHRISTIAN LINDNER

    6   1.20

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    7/56

    Z U R P E R S O N

    CHRISTIAN LINDNER, geboren 1979,

    studierte Politikwissenschaft, Öffentliches

    Recht und Philosophie in Bonn. Selbststän

    diger Unternehmer von 1997 bis 2004.

    Landtagsabgeordneter in NRW von 2000

    bis 2009 sowie seit 2012. Generalsekretär

    des Landesverbandes der FDP von 2004

    bis 2012 sowie des Bundesverbandes von

    2009 bis 2011. Seit 2012 Vorsitzender des

    Landesverbands und der Landtagsfraktion

    der FDP, seit 2013 Bundesvorsitzender der

    FDP.

    liberal 1.2016

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    8/56

    Gehört dazu nicht auch ein allgemeines

     verbales Abrüsten, zum Beispiel in den

    sozialen Medien? Dort bedienen sich

    inzwischen viele, vor allem aus der

    Pegida-Ecke, einer hasserfüllten Sprache,

    die sich nicht wesentlich von jener der

    Terroristen unterscheidet …

    Die Angriffe auf unsere Freiheit kommen

     von verschiedenen Seiten: von außen durch

    Terrorismus, aber auch autoritäre Regime.

     Von innen durch die Verrohung unserer

    Debattenkultur. Dabei sind gerade jene, die vor der vermeintlichen Islamisierung des

     Abendlandes warnen — das tragen die Pegi-

    da-Leute ja im Namen —, die schlechtesten

     Verteidiger unserer Freiheit. Sie verstehen

    anscheinend nicht, was Aufklärung im Sinne

    Kants oder Lessings Ringparabel bedeuten.

     Wir werden auf keine der aktuellen Bedro-

    hungen der Freiheit mit neuen Ressenti-

    ments oder der Abschottung unserer Gesell-

    schaft antworten. Das käme ja der Preisgabe

    unserer Freiheit gleich.

    Muss es nach den Anschlägen der

     jüngsten Zeit eine weltweite Allianz

     gegen den Terror geben? Zum Beispiel

    mit Russland, was angesichts der Ent-

     wicklung im Land einem moralischen

    Spagat gleichkäme …

    Zunächst muss der Westen, also Europa und

    die USA, selbst zu mehr Einigkeit gelangen.

    Und wir müssen unsere europäischen

    Grundwerte stärken. Denn wenn wir die Ent-

     wicklungen in Polen, Ungarn und Griechen-

    land sehen, gibt das Anlass zur Sorge. Euro-

    pa muss sich zu Menschenrechten,Rechtsstaatlichkeit und marktwirtschaftli-

    cher Ordnung bekennen. Und wir brauchen

    in der Tat einen Neubeginn des Verhältnis-

    ses zu Russland, das im Kampf gegen den

    Terrorismus wichtiger Partner sein kann.

    Das bedeutet nicht, zu akzeptieren, dass

     Wladimir Putin eine neoimperiale Politik

     betreibt, indem er das Selbstbestimmungs-

    recht von Staaten wie der Ukraine ein-schränkt. Aber wir müssen zu einem Dialog

    zurückfinden.

    Das dürfte nicht einfach sein, der Westen

    müsste auf Putin zugehen …

     Wer sich eine Veränderung der russischen

    Politik wünscht, wird die nicht erreichen,

    indem er versucht, dem russischen Pr

    denten einen Gesichtsverlust beizufüg

     Wir sollten mittels neuer Angebote an

    land eine Einladung zur Rückkehr ins

    päische Haus aussprechen — bei voller

    Geltung der Hausordnung. Wir könnte

    Idee eines Freihandels von Vancouve

     Wladiwostok wiederbeleben.

    Die Zersplitterung Europas zeigt si

    augenfällig im Umgang mit der Flü

    lingsfrage. Zunächst einmal müsste

    als Liberalen jedoch freuen, dass h

    lande weniger der Staat als die Zivi

    sellschaft zur Bewältigung der Her

    forderung beiträgt.

    Das bürgerschaftliche Engagement un

    Improvisationsvermögen in den Kom

     beeindrucken uns alle. Aber das anhaStaatsversagen in der Flüchtlingskrise

    nicht auf Dauer aus der Mitte der Gese

    schaft heraus kompensiert werden. W

     brauchen eine gemeinsame und abge

    te Flüchtlings- und Asylpolitik in Euro

    Europäer sollten wir uns auch gemein

    darum bemühen, die Lage der Flüchtl

    „Wir könnten

    die Idee eines

    Freihandels vonVancouver bis

    Wladiwostok

    wiederbeleben.“

    INTERVIEW CHRISTIAN LINDNER

    8   1.20

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    9/56

    der Türkei, in Syrien, dem Libanon und in

     Jordanien zu verbessern. Nur so lässt sich

    die enorme Sogwirkung insbesondere nach

    Deutschland mindern. Und wir müssen in

    Deutschland wieder zu einer konsequenten

     Anwendung des Rechts gelangen …

    … das Einwanderung aber im Prinzip

    nicht kennt.

    Leider ja. Deutschland braucht ein liberales

    Einwanderungsgesetz. Wir unterscheiden

     jedoch zwischen humanitären Verpflichtun- gen einerseits und unseren berechtigten

    Interessen bei der Zuwanderung in den

     Arbeitsmarkt andererseits. In der gegenwär-

    tigen Debatte wird beides vermengt. Das

     Asylrecht ist aber kein Ersatz für ein

    Einwanderungsgesetz.

    Sie plädieren für ein Modell analog zum

    Umgang mit den bosnischen Flüchtlin-

     gen in den 1990er-Jahren. Was bedeutet,

    dass Flüchtlinge wieder in ihre Heimat

    zurückkehren werden, sobald das mög-

    lich ist. Das wird zu Härtefällen führen,

     gerade unter jenen, die sich besonders

     gut integriert haben. Findet das in Ihrem

    Modell Berücksichtigung?

    Menschen, die vor Bomben und Kriegsfol-

     gen flüchten, genießen humanitären Schutz

     bei uns. Wir schlagen vor, eine Möglichkeit

    des europäischen Rechts in Deutschland zu

    aktivieren, die für den Fall eines Massenzu-

    stroms gilt, wie wir ihn ja gerade erleben. Sie

    sieht ohne langwieriges Asylverfahren die

    sofortige Erteilung einer Aufenthaltsgeneh-

    migung sowie den zügigen Beginn vonIntegrations- und Fördermaßnahmen vor —

    aber eben nur solange die Bedrohung an-

    hält. Der Fehler in den 1990er-Jahren war,

    dass es nach zum Teil langwierigen Verfah-

    ren den Aufenthaltsstatus der Duldung gab

    und dass Menschen ohne legale Einwande-

    rungsperspektive dann irgendwann zurück-

     geschickt wurden. Jetzt müssen wir beides

    kombinieren: sofortigen, unbürokratischen

    und humanitären Schutz, dazu gute Integra-

    tionsmaßnahmen. Denjenigen, die nach

     Wegfall der Bedrohung bei uns bleiben

     wollen und integrationsbereit oder integriert

    sind, sollten wir Möglichkeiten eröffnen.

    Das war schon seinerzeit die

    FDP-Position …

     Ja, 1997 hat Peter Caesar, der damalige libera-

    le Justizminister von Rheinland-Pfalz, den

    Entwurf eines Einwanderungsgesetzes in

    den Bundesrat eingebracht, der aber ge-

    scheitert ist. Jetzt hätten wir die historische

    Gelegenheit, dieses Defizit zu beseitigen.

    Doch die Große Koalition bleibt in dieser

    Frage untätig. Unsere Forderung ist, nicht

    irgendwann, sondern jetzt zu einem neuen

    Einwanderungsrecht zu kommen. Nach Vorbild etwa Kanadas würde es legale Mög-

    lichkeiten der Zuwanderung nach Deutsch-

    land eröffnen und den Menschen, die be-

    reits hier sind, eine Perspektive verschaffen

    – und zwar unabhängig von ihrer Bedro-

    hung. Maßgeblich wären die jeweilige Quali-

    fikation, die Bereitschaft, sich zu integrieren

    sowie unsere wohlverstandenen Eige

    essen. Deutschland ist auf qualifizierte

    Zuwanderung angewiesen.

    So unkompliziert die Zivilgesellsch

    erste Not der Flüchtlinge lindern k

    so schwierig wird es für den Staat s

     Wohnraum für sie zu schaffen und

    in Schulen bereitzustellen …

    Die Bundeskanzlerin hat ja von deutsc

    Flexibilität gesprochen. Das darf aber

    allein auf die Verwaltungsverfahren bschränkt sein. Wir sollten das in einem

    umfassenden Sinne ernst nehmen. W

     wir uns mehr Flexibilität und Eigenin

    eröffnen, profitieren davon nicht nur Z

    derer, sondern wir alle.

     Wir befassen uns in dieser Ausgabe

    intensiv mit der Infrastruktur in

    Deutschland. Oder, böse formulier

    dem, was davon übrig ist. Fest steh

    ist viel verbummelt worden. Ein Th

    für die FDP?

     Allerdings, und dies nicht allein in Bez

    die Verkehrsinfrastruktur. Straßen sow

    Schienen- und Wasserwege sind in ein

     bedauernswerten Zustand. Ich bin we

    der anstehenden Landtagswahlen geg

     wärtig viel in Rheinland-Pfalz, Sachsen

     Anhalt und Baden-Württemberg unte

    Es geht auch um unsere Zukunftsstruk

    die digitalen Netze. Wer in Stuttgart la

    und nach Heilbronn mit dem Auto fäh

     wird nicht ohne Unterbrechung telefo

    können. Durch die Digitalisierung ist e

    fundamentale Veränderung der globa Wirtschaftsordnung im Gange. Davon

    auch der Weltmarktführer auf der Sch

    schen Alb betroffen. Wenn der keinen

     gang zu den weltweiten Marktplätzen

     wenn wir als Privatnutzer keinen Zuga

    haben zu den neuen Plätzen der Mein

     bildung, werden wir abgehängt. Diese

    „Unsere Forderung

    ist, nicht irgend-

    wann, sondern

     jetzt zu einem Ein-

    wanderungsrecht

    zu kommen.“

    liberal 1.2016

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    10/56

    strukturelle Schlüsselaufgabe ist in den

    öffentlichen Haushalten noch nicht ausrei-

    chend abgebildet.

    Die Investitionsquoten sinken, es

     gibt viele bürokratische Hemmnisse —

    zum Beispiel für öffentlich-private

    Partnerschaften ...

     Wir könnten in der Tat mehr privates Kapital

    für Investitionen in die Infrastruktur mobili-

    sieren. Mein konkreter Vorschlag: Bei den

    Lebensversicherungen oder Versorgungs- werken sind etwa zwei Billionen Euro hinter-

    legt. Aufgrund der staatlichen Anlagebestim-

    mungen fließt dieses Geld überwiegend in

    Beton oder in Staatsanleihen. Jene werden

    immer noch privilegiert als angeblich risiko-

    los, obwohl im Zuge der Eurokrise niemand

    mehr davon ausgehen kann. Das Motiv dafür

    liegt auf der Hand: Die Politik will weiter

     Wohltaten auf Pump finanzieren. Wie wäre

    es aber, wenn dieses Anlagekapital in der

    Größenordnung von nur ein oder zwei

    Prozent in rentierliche Infrastrukturmaßnah-

    men oder hochinnovative Start-up-Unter-

    nehmen flösse? Wir reden hier von 20 bis

    40 Milliarden Euro im Jahr, also von einem

    richtigen Investitionsschub zum Vorteil der

     Volkswirtschaft, aber auch zum Vorteil jener

    Sparer, die aktuell unter den künstlich nied-

    rigen Zinsen leiden.

    Zu den von Ihnen angedeuteten Wohlta-

    ten gehört die Rente mit 63 — wenige

    profitieren heute davon, künftige Gene-

    rationen gar nicht. Die Babyboomer-

    Generation wurde aufgefordert, fürs

     Alter anzusparen. Nun fragt sie sich, wie

    das ohne Zinsen gehen soll. Ist dieses

    Missverhältnis noch reparabel?

    Die Rente mit 63 einzuführen war ein schwe-

    rer Fehler. Sie ist eine Stilllegungsprämie für

    erfahrende Fachkräfte. Und sie ist unge-

    recht, denn es profitiert nur eine Generation.

    Es zahlen die Jüngeren und übrigens auch

    die heutigen Rentner, weil deren Rentenstei-

     gerungen geringer ausfallen, als das sonstder Fall wäre. Wir müssen die Altersvorsorge

    auf eine andere Basis stellen.

     Also auf an die Börse?

    Es geht vor allem um Flexibilität. An die

    Stelle des starren Renteneintrittsalters

    sollten maßgeschneiderte Lösungen für den

    Einzelnen treten. Die Möglichkeit, selb

    Zeitpunkt des Renteneintritts zu wähl

     würde der Individualität der Mensche

     gerecht werden. Wer von seiner Alter

    sorge leben kann, der sollte frei über s

    Ruhestandseintritt entscheiden könn

    mathematisch exakten Abschlägen, oh

    Bürokratie und ab einem gewissen Ze

    punkt mit an den Arbeitnehmer ausge

    ten Arbeitgeberanteilen für die Arbeit

    und Rentenversicherung. Warum sch

     wir nicht mehr Selbstbestimmung?

    Darf man mit einem FDP-Vorsitzen

    noch über das Thema Steuern spre

    Das muss man sogar! Denn obwohl es

     gend nötig wäre, will außer der FDP d

    Thema niemand mehr ansprechen. W

     Weil die niedrigen Zinsen eine enorm

    Umverteilungswirkung mit sich bringe

    der allein der Staat profitiert: Die zwei

     gen Milliardenbeträge an ersparten Zi

     gleichen Wolfgang Schäuble den Haus

    fast von alleine aus. Aber es zahlen die

    Sparer, die auf Zinserträge verzichten.

     wäre ein Gebot der Fairness, dass der

    zumindest seinen Finanzierungsvorte

    die Bürgerinnen und Bürger zurückgi

    Doch nichts passiert. Stattdessen bere

    sich der Staat über die kalte Progressi

    Gehaltserhöhungen, der Solidaritätsz

    soll bis zum Sankt Nimmerleinstag gez

     werden und in Rede steht jetzt auch n

    eine massive Verschärfung der Erbsch

    steuer zulasten des Mittelstandes sow

    Millionen Arbeitsplätze dort. Hinzu ko

    die Abschaffung der Abgeltungsteuer.für jeden, der mehr als 25 Prozent Ste

    zahlt, nichts anderes als eine massive

    Steuererhöhung.

    Massiv, aber versteckt. Die Mängel

    Infrastruktur und die Flüchtlingsp

    me liefern doch sicher bald eine ar

    „Die Rente mit 63

    einzuführen war

    ein schwerer

    Fehler. Sie ist eine

    Stilllegungsprämie

    für erfahreneFachkräfte.“

    Viel zu besprechen: Boris Eichler (links), CvD von

    liberal traf FDP-Chef Christian Lindner in Berlin.

    INTERVIEW CHRISTIAN LINDNER

    10   1.20

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    11/56

    mentative Steilvorlage für alle, die Steu-

    ern nochmals erhöhen wollen — und

    zwar offen …

    Das befürchte ich auch. Wir verzeichnenstark steigende Staatseinnahmen, unsereExportwirtschaft profitiert vom künstlichniedrig gehaltenen Außenwert des Euro, dieBabyboomer stehen noch voll im Erwerbsle-ben — ein derart günstiges wirtschaftlichesUmfeld wird es voraussichtlich — jedenfallszu meinen Lebzeiten — kein zweites Mal geben. Wann, wenn nicht in dieser Lage,sollte ein Staat mit seinem Geld auskommen,hinreichend investieren und überdies darauf

     verzichten, seine Bürgerinnen und Bürger weiter zu belasten? Wir sollten ein Moratori-um für neue Staatsaufgaben und neueStaatsausgaben beschließen.

    Eine Selbstverpflichtung des Staates

    auf Bescheidenheit?

     Ja, aber seit 2013 erleben wir das Gegenteil:

    eine Art andauerndes Erntedankfest. Es wird verteilt und gefeiert. Minister Gröhe und denMinisterinnen Nahles und Schwesig wurdenoch kein zusätzlicher Ausgabenwunschausgeschlagen. Aber die damit verbundenenKosten sind nicht seriös finanziert. Jetzt, beiden ersten Krisenanzeichen, stellen wir fest:Es gibt keinen Risikopuffer, alle Ausgaben gehen voll zulasten der Zukunftsinvestitio-nen. Das kann so nicht sein. Wir brauchen wieder Vorrang für Investitionen und eineStärkung der privaten Hand.

    Zur Lage der FDP: Die Zeit der Nabel-

    schau nach der Niederlage bei der Bun-destagswahl 2013 scheint vorüber. Auch

    die Medien beschäftigen sich intensiver

    mit den Inhalten der Freien Demokraten

    als mit der Befindlichkeit der Partei …

    Die FDP hat sich selbst befreit: von kleinemDenken und der Ängstlichkeit, was anderesagen könnten. Statt opportunistisch zu sein,

    haben wir die Dosis Liberalismus erhö Wir betonen die Bedeutung der Bildulitik, denn sie ist die zentrale Voraussedafür, dass Menschen ihr Leben selbsstimmt gestalten können. Wir orientieuns in der Wirtschaftspolitik an der Zukunftsfähigkeit unseres Landes und aSicherung eines fairen Wettbewerbs. Unatürlich beschäftigt uns intensiv das der bürgerlichen Freiheitsrechte. Das Frage unserer Zeit angesichts einer De

    die berechtigte Sicherheitsinteressen schal und ohne Verhältnismäßigkeitspfung wichtiger nimmt als die Privataumie und unser Recht auf eine geschütPersönlichkeitssphäre.

    Die FDP war häufig dem Vorwurf a

    setzt, sie sei in Wahrheit eine reine

    schaftspartei und würde freie Wirt

    und Bürgerrechte nicht zusammen

    ken. Die prominenten Neueintritte

    Partei sind unter diesem Gesichtsp

    interessant: Wirtschaftskapitäne u

    frühere Mitglieder der Piratenpart

    Das Prinzip Freiheit funktioniert nur d wenn man gesellschaftliche und wirtsche Freiheit miteinander verbindet. DNeueintritte belegen, dass es uns geluist, die Einheit dieser Themen zu untechen. Wenn zwei ehemalige Bundesvozende der Piraten, Sebastian Nerz undSchlömer, zu uns kommen, weil sie daGefühl haben, dass die FDP es ernst mmit der positiven Gestaltung der Digitrung und unseren bürgerlichen Freih

    rechten, und wenn mit Jürgen Hambrund Hans-Georg Näder von Otto Bock gleich zwei führende Köpfe der deuts Wirtschaft in die Partei eintreten, danuns das, dass wir auf dem richtigen Wsind. Und es unterstreicht: Wir begreifLiberalismus nicht als Spartenprogramsondern als umfassenden Ansatz. ●

    liberal 1.2016

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    12/56

     // TEXT // JAN FLEISCHHAUER

    Wie ist die Lage der FDP? Mit den führen-

    den Leuten habe ich wenig Umgang,

    da kann ich die Stimmung schlecht ein-

    schätzen. Christian Lindner habe ich vor ein

    paar Wochen zufällig in Berlin bei einemKongress der Tourismuswirtschaft getroffen(wo sonst?). Er schien guter Laune, aber dasist er eigentlich immer. Wichtiger ist, dassauch die Leute an der Basis Hoffnung schöp-fen. Man kann sich als Anhänger der FDP wieder in die Öffentlichkeit trauen, ohne gleich beschimpft zu werden. Das ist kein geringer Fortschritt.

    Man darf in Deutschland alles Mögliche wählen, ohne dass dies größere Nachfragenauslöst — Grün, Rot, zur Not auch malSchwarz. Selbst die Linkspartei mit ihremTraum vom bankenfreien Sozialismus, wo jeder beim Staat sein Konto hat, findet in dendeutschen Leitmedien noch ihre Verteidiger.Nur ein Bekenntnis zur FDP setzte einen verlässlich dem Verdacht aus, nicht mehralle Tassen im Schrank zu haben. Ich weiß, wovon ich rede: Ich bin nach Rudolf Aug-stein vermutlich der einzige Spiegel-Redak-teur, der öffentlich bekannt hat, FDP gewähltzu haben.

     Wer nach den Gründen für den Absturzder FDP fragt, wird auf die zahllosen Enttäu-

    schungen verwiesen, die sie den Wählernnach dem Einzug in die Regierung 2009bescherte. Mich hat das nie überzeugt. Auchandere Parteien enttäuschen nach der Wahl,die Enttäuschung des Wählers gehört zurDemokratie wie die Kollekte zum Gottes-dienst. Die SPD hat nach ihrem Wahlsieg2005 die Agendapolitik verabschiedet, die

    Grünen haben den Weg für den erstenKriegseinsatz nach dem Zweiten Weltkriegfreigemacht. Gegen diese Zumutungen sinddie Beibehaltung des Entwicklungshilfemi-

    nisteriums oder die Verschiebung einerSteuerreform Kleinigkeiten.Die meisten Menschen suchen die

    Zustimmung ihres Umfelds, nicht die Ableh-nung — hier liegt der wahre Grund, warumdie FDP so tief gefallen ist. Wäre die FDP einelinke Partei, würden ihre Anhänger den Verurteilungskonsens als Bestätigung sehen,dass sie richtig liegen. Im bürgerlichenUmfeld, aus dem sich die Freidemokratiespeist, ist das ideologische Rückgrat hinge- gen eher unterentwickelt. Das macht dasGespräch mit liberal gesinnten Leutenangenehm, weil sie einem nicht ständig ihreÜberzeugungen um die Ohren hauen müs-sen. Es hat aber für die organisierte Politikden großen Nachteil, dass die Wähler schnell verunsichert sind, wenn sich das Meinungs-klima gegen sie wendet.

    Die gute Nachricht für die FDP ist, dassdie Idee des Liberalen nach wie vor alsetwas Positives gilt. Tatsächlich wird sie weitüber die FDP hinaus offenbar als so attraktivempfunden, dass die Konkurrenz gerneetwas davon abhaben würde. Die Partei, die

    sich besondere Mühe gibt, sich als legitimerNachlassverwalter der Freidemokratie zupräsentieren, sind die Grünen. „Unsere Armesind weit offen“, hat deren Parteivorsitzen-der Cem Özdemir schon im Handelsblatt  erklärt, als die FDP noch im Bundestag saß. Vor einem Jahr haben die Grünen in Berlinextra einen „Freiheitskongress“ veranstaltet,

    auf dem sie sich gegenseitig bestätigtesie die eigentlichen Liberalen sind.

     Auf den ersten Blick mag einiges f Annahme sprechen, dass die Grünen

    FDP beerben könnten. Ihre Anhängertieren sich in großer Zahl aus einem Mdas mit dem der Liberalen viele Gemekeiten aufweist: Sie sind wie dieseüberdurchschnittlich gebildet, überduschnittlich gut verdienend und politisinteressiert. In ihrem Wesenskern sindGrünen allerdings das Gegenstück zu liberalen Partei, da hilft auch kein Freikongress. Es ist wahnsinnig schwer, sic Verbieten abzugewöhnen, wie sich ze

    Die andere Partei, die sich zwischelich anschickte, die FDP zu ersetzen, is

     AfD. In der Zeit nach dem AusscheideFreidemokraten aus dem Bundestag gein langes Dossier, warum die AfD die Heimat liberaler Wähler sei. Ich hielt dimmer für Unsinn, aber auch für Leut geschwankt haben mögen, hat sich di Alternative erledigt. Spätestens seit ihSpaltung ist die AfD keine wirkliche Korenz mehr. Dass der Furor der Presse neues Objekt gefunden hat, hilft den Llen mehr, als sie ahnen: Schlimmer, alsFDP zu stehen, ist es in Deutschland im

    noch, als rechts zu gelten. Je länger die Freidemokraten aus

     großen Politik verbannt sind, desto mfällt das Urteil über sie aus. Viele Menssehnen sich nach der Stabilität der altBundesrepublik zurück, dazu gehört fauch die Partei, die seit den Anfängen war. Nostalgie mag unter Experten nic

    STIMMUNGS

    12   1.201

    POLITIK LAGE DER FDP

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    13/56

    JAN FLEISCHHAUER weiß, wov

    spricht: Seit er seine Sympathie

    die Freunde der Freiheit erkenn

    ließ, wird er regelmäßig aufgef

    sich in Therapie zu begeben.

    [email protected]

     gelten, aber es ist wertvoller, als man mesollte. Bevor die Leute anfangen, sich füInhalte zu interessieren, lassen sie sich eeinmal davon leiten, wen oder was sie sy

    pathisch finden.Dem einen oder anderen wird bei nrer Betrachtung möglicherweise auch alen, dass keine der im Bundestag vertrenen Parteien es mit der Freiheit wirklichernst meint. Es gibt nach meiner Erfahreinen einfachen Test, um den Freiheitsgeiner Partei zu bestimmen: Man muss ndas Programm schauen und suchen, wadort zu Steuern steht. Je geringer dasZutrauen in die Mündigkeit des Bürgersdesto größer die Neigung, sein Geld für auszugeben.

    Steuern, hat Cem Özdemir von denGrünen neulich erklärt, seien eine Fürsomaßnahme des Staates, um die vermögderen Bürger vor zu viel Geld und dami Abwegen zu bewahren: „ÜberschüssigeLiquidität kann schließlich ins Gefängniführen“, sagte er. So habe ich die Dinge nnie gesehen, muss ich zugeben. Ich wüsandere Möglichkeiten, mit meiner überschüssigen Liquidität fertigzuwerden, albei Leuten wie Özdemir abzuliefern. Abich bin ja auch kein Grüner. ●

    WANDELD ie F DP  ju st

     ie rt  s ic h  neu

    F  r a n k f u rte r  A l l ge me i ne

     Auf   zu r  neue n F  re i he it

     ZEIT -O n l i ne

    Neue r T e a m ge i st  i n 

    de r I nd iv idu a l i ste n p a rte i

    W  i rt sc h af t sW oc he

    Neue K  l a r he it ,  a lte W e rte

     Süddeut sc he  Ze itu n g

    Me h r I n h a lte , we n i ge r E n

     ge l

    t a ge s sc h au.de

    L i be r a le Le be n s ze ic he n

     SPIEGEL o n l i ne

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    14/56

     // TEXT // WOLFGANG SOFSKY

    Manchmal geht es um Sekunden, um Minu-ten. Bomben explodieren, eine Flutwellerollt heran, in Panik stürzen die Menschendavon. Andere Gefahren lassen sich Zeit.

    Feinde rücken näher, Dürre überzieht das Land. Hunger,Seuchen und Elend vertreiben die Bewohner aus derGegend. Menschen fliehen vor plötzlichem Unheil und vor langsamen Bedrohungen. Bricht Panik aus, laufen sieüberstürzt davon. Schwillt die Gefahr allmählich an,bedarf es einer Entscheidung, um den falschen Trost derIllusionen endlich hinter sich zu lassen. Immer jedoch

    befiehlt der Fluchtimpuls: Fort, weg von der Gefahr. Esist die Angst vor einem wahrgenommenen oder erwarte-ten Unheil, die Menschen in die Flucht jagt. Nicht immersind Weg, Richtung oder Ziel klar. Oft wissen Flüchtlingenicht, wohin sie sich wenden sollen. Aber sie wissen:Bleiben ist lebensgefährlich.

    Nicht jede große Wanderung ist eine Flucht. VieleMenschen verlassen Haus, Hütte, Land oder Lager mit

     gemischten Absichten und Gefühlen. Ihr Antrieb inicht Angst, sondern Hoffnung, Berechnung oder zweiflung. Sie sehen keine Aussicht auf Besserunghaben nichts zu verlieren. So setzen sie alles auf eiKarte und brechen auf. Andere wollen endlich zu  Verwandten in der Fremde, wieder andere erwartirgendwo ein Auskommen. Eine Chance suchen si Arbeit, Wohlstand, einen Studienplatz, eine Perspe

    Unter Migranten finden sich neben Flüchtlingauch manche Auswanderer. Flüchtlinge sind Mensdie nirgendwo einen Platz haben, an dem sie sicheleben können. Sie laufen um ihr Leben. Auswandeindes, so dürftig ihre Lebensumstände oft sind, be

    sich nicht in Todesgefahr. Sie suchen keinen Platz Überleben, sondern einen Platz für ein besseres L

     Was als eilige Flucht beginnt, geht nicht selten Wanderung über. Nach der ersten Etappe gelangt Flüchtling in eine halbwegs sichere Zuflucht, ein Amelager jenseits der Grenze, eine Bleibe in einem oder einem Container. Doch wenn die Hoffnung aHeimkehr schwindet, droht das ortlose Provisoriu

    U N T E R

    In der überfälligen

    Debatte um Flucht

    und Migration neigen

    wir zur Verein-

    fachung, möchten

    unterscheidenzwischen „guten“

    unmittelbar verfolgten

    und „schlechten“

    „Wirtschaftsflücht-

    lingen“, zwischen

    „sicheren“ und „un-

    sicheren“ Herkunfts-

    ländern. Wolfgang

    Sofsky beschreibt

    eindrücklich, wie die

    Motive des Flüchtlings

    sich während seiner

    Reise verschieben.

    14 1.20

    POLITIK FLÜCHTLINGE

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    15/56

    Dauerzustand zu werden. Der Krieg hat kein Ende, die

    Heimat ist verwüstet, das alte Haus zerstört. So machen

    sich viele Menschen erneut auf den Weg. Aus Fliehenden

     werden Migranten.

    Fluchtangst ist bestimmt von der Präsenz unmittel-

     barer Gefahr. Die Wanderung verschiebt den Fokus.

     Viele haben nun ein fernes Ziel vor Augen, ein Land

     jenseits der Wüstenei, eine Route in die Zukunft. Hoff-

    nung hilft über die Strapazen unterwegs hinweg. Flie-

    hende schauen zurück auf das, was ihnen im Nacken

    sitzt. Jeder Kilometer, der sie vom Gefahrenherd trennt,

    erhöht den Sicherheitsabstand. Migranten indes haben

    einen Weg vor Augen, eine Straße mit vielen Etappen,

    Stationen, Barrieren. Jeder Kilometer bringt sie ihremZielort näher, an dem sich die Sehnsüchte erfüllen sollen.

    Flucht ist selten geplant. Schlagartig verändert sie

    das Verhältnis des Menschen zu den Dingen. Die Zeit

    drängt. Nur das Nötigste lässt sich in der Eile zusammen-

    packen: Geld, Schmuck, ein Dokument, eine Fotografie,

    ein Mobiltelefon, eine Isomatte, Medikamente, ein Ku-

    scheltier. Fast alles müssen Flüchtende zurücklassen. Die

    Dinge ihres bisherigen Lebens sind auf einmal unnütz,

    ein Ballast, der rasches Fortkommen behindert. Manche

    schleppen einen Koffer, einen Rucksack mit Habseligkei-

    ten mit sich. Aber viele haben nur, was sie auf der Haut

    und in Händen tragen. Je länger der Weg, desto schwerer

     werden die Dinge. Flucht entwertet die gewohnte Ding-

     welt radikal. Umso stärker heftet sich die Erinnerung an

    einen Fetisch: Diese eine Fotografie wird der Flüchtling

    niemals aus der Hand geben. Es ist das letzte Objekt

    seiner Geschichte.

     Wanderung ist keine Reise, ihre Dauer ist oft völlig

    ungewiss. Sie kann Wochen, ja Monate dauern. Viele sind

    zu Fuß unterwegs. Hunderte, Tausende Kilometer sind

    es bis zum Ziel. Umwege müssen einkalkuliert werden,natürliche oder politische Grenzen sind zu überwinden.

    Zäune müssen umgangen, Gebirgspässe überwunden,

    Meere überquert werden. Von den Hindernissen hatte

    man beim Aufbruch nur eine vage Vorstellung. Jedes

    Transportmittel verkürzt die Zeit und spart Kräfte, ein

    Fuhrwerk, ein Lkw, ein Schiff oder Zug. Oft kostet die

    Fahrt ein Vermögen. Ortskundige Schleuser und Schlep-

    W E G S

       F   o   t   o   :   U   P   I   P   h   o   t   o   /   e   y   e   v   i   n   e

    liberal 1.2016

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    16/56

    per lassen sich ihre Dienste teuer bezahlen. Wer nichts

    hat, kommt nicht weiter, bleibt zurück und muss es

    erneut versuchen, sobald er das Geld beisammen hat.

    Flucht ist keine stete, lineare Bewegung. Das Tempo

     wechselt, es gibt Phasen der Beschleunigung, des Still-

    stands, des endlosen Ausharrens, der Mutlosigkeit, der

     Wut, wenn eine Route in einer Sackgasse endet.Dem Wechsel der Orientierungen, Bewegungen und

     Affekte entspricht der Wechsel der Sozialformen. Großes

    Unheil löst eine Massenflucht aus. In der Panik kämpft

     jeder gegen jeden. Wer im Wege steht, wird niederge-

    trampelt. Jeder ist für sich. Unter den vielen gilt das

    Gesetz des Stärkeren. Eine andere Gesellschaft entsteht

     bei langsamen Gefahren. Die Angst verbreitet sich all-

    mählich. Je mehr aufbrechen, desto größer erscheint das

    Unheil und desto stärker ist die Sogkraft des Trecks.

     Auch wer bis zuletzt ausgeharrt hat, packt schließlich das

    Bündel, wenn nebenan der Nachbar aufbricht.

    Eine Zeit lang hat die Massenbewegung eine egalisie-

    rende Wirkung. Die Gefahr bedroht nicht nur den Einzel-

    nen, sondern eine Vielzahl. Jeden kann es treffen. Die

     Angst verteilt sich auf viele Schultern, die Gegenwart

     vieler verspricht vorläufige Sicherheit. Die Masse wirkt

    selbst wie ein Zufluchtsort. Sie stiftet Gleichheit, ja Soli-

    darität. Wer stürzt, wird aufgerichtet, wessen Kräfte sich

    zu erschöpfen drohen, der wird eine Zeit lang von ande-ren gestützt. Der Drang der individuellen Selbsterhaltung

    scheint für einen Moment aufgehoben.

    Die Standardform der Massenwanderung ist der Zug.

    Mit großer Beharrlichkeit bewegt er sich dem fernen Ziel

    zu. Man bleibt zusammen, der Weg ist weit, man teilt

     Wünsche und Hoffnungen. Oft sind die Widrigkeiten so

    immens, dass die Verzweiflung erneut durchdringt, der

    Hunger, die Kälte, die Klagen. Doch nimmt unterw

    Gleichgültigkeit zu. Flüchtlingskolonnen sind kein

    des Mitgefühls und Zusammenhalts. Die Mensche

     gehen nicht miteinander, sondern hintereinander

    Langsamen werden überholt. Jeder versucht, den

    schluss zu halten. Wer zurückfällt, wird am Ende s

    selbst überlassen, ein bedauernder Seitenblick, dezieht weiter, passiert die Toten früherer Trecks, die

    aufgehäuften Erdhügel. Gegen den Anblick des Sch

    ckens wappnet sich der Wandernde, um seine Zuv

    sicht nicht zu verlieren. Dennoch schlägt die Fluch

    immer neue Wunden.

     Je länger der Marsch andauert, desto brüchige

     werden die sozialen Bande. Das Soziale schmilzt a

    einige Kerne der Solidarität zusammen, auf die jun

    Männer, die gemeinsam aufgebrochen sind und si

    damals im Dorf Treue geschworen haben, auf die

    lie, ein paar Verwandte, auf den engsten Freund o

    Kameraden. Doch nicht wenige sind allein unterwdarunter Kinder und Jugendliche, die keinen Ansc

    an einen Schutzherrn oder eine Gruppe Gleichaltr

     gefunden haben.

    Migranten bewegen sich als Fremde in fremde

    Land. Schon in der Kolonne wissen die meisten ni

     voneinander. Jenseits der Grenze indes sprechen s

    auch die andere Sprache nicht, kennen die Wege n

    die Gebräuche. Sie treffen auf Einheimische, von d

    einige gastfreundlich sind, aus Furcht oder Neigun

     Andere dagegen zeigen sich abweisend, ja aggress

     vertragen die Flüchtlinge die Nahrung nicht, die m

    ihnen reicht oder zusteckt, verstehen die Worte ni

    den Zuspruch, den Hass. Nirgends gehört der Frem

    dazu. Hin- und hergerissen ist er zwischen Vorsich

    Misstrauen, Dankbarkeit, falscher Vertrauensseligk

     Aber als Fremder widerfährt ihm die Entwertung

    alten sozialen Wissens. Er kann nicht mehr denke

    handeln wie früher, sein Status ist marginal.

     Abgeschnitten von verlässlichen Informatione

     grassieren unter Flüchtlingen zahllose Gerüchte. M

    hört, wo die Verfolger gewütet haben sollen, wo Le

    mittel zu ergattern sind oder Helfer mit Booten wa

    Man hört, wo man willkommen ist und wo nicht. E

    Urheber der Gerüchte ist nirgends auszumachen,

    erzählt es dem anderen, und jener fragt sofort einDritten, ob er es auch schon gehört habe. Je mehr

     glauben, desto glaubhafter erscheint die Botschaft

    Glaubwürdigkeit steigt mit der sozialen Verbreitun

    Nicht sachliche Wahrscheinlichkeit, sondern kolle

    Empfänglichkeit gibt den Ausschlag.

    Im Ausnahmezustand ist jeder Anhaltspunkt w

    kommen. Flucht ist eine Zeit wiederkehrender An

    Unterkunft: 

    Zeltstädte wie diese

    an der Bremer Straße

    in der sächsischen

    Landeshauptstadt

    Dresden bilden

    für Flüchtlinge

    notgedrungen

    ein Zuhause.

    16   1.20

    POLITIK FLÜCHTLINGE

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    17/56

    WOLFGANG SO

    Professor für Soz

    Göttingen und E

    2000 ist er als B

    (www.wscaprich

    wordpress.com),

    Privatgelehrter u

    Schriftsteller täti

    Dieser Text ersch

    kürzlich in der N

    redaktion@libm

    enttäuschter Hoffnungen, hartnäckiger Irrtümer. Dainstitutionelle Regeln, Disziplinen und Gewohnheitenfehlen, wuchern Projektionen und Fantasien. Gerüchte verkehren Tatsachen ins Gegenteil, übertreiben Einzel-heiten maßlos, nähren Illusionen.

    Früher bewegten sich Fluchtzüge oft im Niemands-land der Ungewissheit. Die Menschen wussten nichts vom Schicksal ihrer Angehörigen oder von der Politik

    fremder Behörden. Heute erlaubt die beschleunigteKommunikation manchmal rasche Anpassung undRoutenwechsel, doch ist das Smartphone auch eineQuelle neuer Gerüchte, Befürchtungen, verdichteterIllusionen. Und manchmal setzt sie einen Wettlauf inGang, der den langsamen Zug im Tumult enden lässt.

    Eine Nachricht verbreitet sich, dass ein Land alleZuwanderer aufnehmen will, dass demnächst eine

    Grenze geschlossen wird oder das letzte Boot ablegt.Sofort bricht Unruhe, Rivalität aus. Eine Chance, soscheint es, hat allein der Schnellste. Nur wer sofortaufbricht, die letzte Zaunlücke erreicht oder das Zugab-teil stürmt, gelangt noch ans Ziel. Nicht Todespanik

    ergreift die Menge, sondern Ankunftspanik. Die Men-schen fürchten weniger, nicht mehr davonzukommen,als nicht mehr anzukommen. Diese dramatischen Bilderdes finalen Gedränges, der Überfüllung, der Wut undPanik sind es, die zuletzt das Gefühl aufkommen ließen,ein unaufhörlicher, unaufhaltsamer „Strom“ von Frem-den überflute die Grenzen, Länder und Gesellschaften Alteuropas. ●

    Unterwegs: 

    Auf dem Bahnsteig des

    Bahnhofs im

    oberbayerischen

    Grenzort Freilassing

    warten Flüchtlinge

    unter den Augen der

    Polizei auf einen

    Sonderzug (oben), der

    sie irgendwo hinbringen

    wird – in diesem Jahr

    das Sinnbild für die

    Flüchtlingskrise.

    Mobiltelefone, auf

    denen Bilder von der

    zerbombten Heimat

    gespeichert sind (Fotos

    unten), sind oftmals der

    letzte Kontakt zum

    früheren Leben.

    liberal 1.2016

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    18/56

    Flüchtlingskrise 2015. Wer das Elend der Geflüch-

    teten hautnah erfährt, der wird entweder von

    Ohnmacht übermannt – oder motiviert. Diese

    Erfahrung machten auch Markus Kreßler und

     Vincent Zimmer, Stipendiaten der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF). Sie haben mit den Ge-

    flüchteten gesprochen, mit ihnen gearbeitet. Viele von

    ihnen haben in den Ländern, aus denen sie flüchten

    mussten, studiert. In Deutschland können sie das zu-

    nächst nicht, es fehlen anerkannte Abschlüsse und

    Deutschkenntnisse. Arbeiten dürfen sie auch nicht. Sie

     wissen nicht, wohin mit ihrer Zeit. Sie wissen nicht,

     wohin mit sich. Markus und Vincent haben dieses

    lem erkannt und nach Lösungen gesucht — und sie

    haben eine Lösung gefunden. Auf dem Konvent de

    Stipendiaten der FNF entwickelten sie eine Idee, a

    Kiron wurde.Kiron ist eine Plattform, die Flüchtlingen Zuga

    Universitätsbildung bietet — kostenfrei. Dabei könn

     beispielsweise Zeugnisse nachgereicht werden. Ge

    ist wenig Bürokratie: Zunächst ist nur ein Nachwei

    den Flüchtlingsstatus zu erbringen. Sobald das ges

    hen ist, können die Flüchtlinge ein einjähriges Stu

     generale und eine Spezialisierung ablegen. Die Ku

    Die Flüchtlingskrise ist eine große Herausforderung. Zwei Stipendiaten

    der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit lassen sich davon nicht

    beirren. Sie haben eine Online-Universität gegründet – für Flüchtlinge.

     // TEXT // FELIX S. SCHULZ

    Kiron: Uni als Chance

    Neue Perspektiven

    durch Bildung: Die

    FNF-Stipendiaten

    Vincent Zimmer (links

    und Markus Kreßle

    (rechts) haben die

    Online-Uni Kiron fü

    Flüchtlinge gegründet

    18   1.20

    POLITIK KIRON UNIVERSITY

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    19/56

    finden in den ersten beiden Jahren online

    und hauptsächlich auf Englisch statt.

    Dabei können sich die Studentinnen und

    Studenten eines Pools an Online-Kursen

     bedienen von Universitäten wie Harvard

    oder MIT. Alle Kurse sind frei zugänglich.

    Kiron kombiniert sie mit e-Learning-Toolsund Vernetzungstreffen in Berlin, mit

    Teamwork-Projekten und Mentoring-

    Programmen. Unterstützt wird das Kiron-

    Team durch Partneruniversitäten, zum

    Beispiel aus Aachen, Eberswalde, Heil-

     bronn und die Open University of West

     Africa in Ghana.

    Im dritten Jahr folgt die Spezialisie-

    rung auf einen der fünf Studiengänge wie

    etwa Business, Intercultural Studies oder

     Architecture — das sind derzeit die popu-

    lärsten Studienentscheidungen vonGeflüchteten. Dieses Studienjahr erfolgt an einer der

    Partneruniversitäten vor Ort, bei denen sich die Studen-

    ten nach einem abgeschlossenen Studium generale

     bewerben können. Bereits bei Kiron werden hierfür die

    notwendigen deutschen Sprachkenntnisse geschaffen.

     Bildung ohne bürokratische Hürden

    Durch den Studiennachweis bekommen die Studenten

    automatisch ein Studentenvisum. Die Abschlüsse sind

    international anerkannt, so werden langwierige bürokra-

    tische Hürden umgangen. Während der Studienzeit steht

    Kiron den Studenten zur Seite, sei es durch psychologi-

    sche Betreuung, Internetzugang, Vorbereitungs- und

    Sprachkurse. Das langfristige Ziel: Durch Kiron sollen die

    Flüchtlinge in einer Zukunft leben, in der die Unterstüt-

    zung durch den Sozialstaat überflüssig ist.

    Noch finanziert sich Kiron durch Spenden und

    Förderungen von Stiftungen: als Flagship, das nahezu

     jede große Stiftung zu ihren Projekten zählen will. Um

    den sozialen Sektor zu stärken und um sich selbst mone-

    tarisierende, funktionierende Projekte zu ermöglichen,

     wurde zusätzlich Kiron Ventures gegründet, ein Start-up-

    Inkubator. So sollen Gründungen von und für geflüchtete

    Menschen sowie Projekte, die einen Bezug zum Thema

    Migration aufweisen, unterstützt werden.Neue Perspektiven eröffnen, Hilfe zur Selbsthilfe und

    Selbstermächtigung durch Bildung — das sind die Leitsät-

    ze, die das Uni-Team prägen. Denn Kiron ist kein Einzel-

    projekt. Mit vielen ehrenamtlichen Helferinnen und

    Helfern wie Werbe- und PR-Agenturen, Textern, Pro-

     grammierern und Designern gestalten viele Mittzwanzi-

     ger nach humanistischen Grundsätzen die Mindeststan-

    dards einer zivilisierten Gesellschaft dort, wo die Politik

    noch versagt.

    Markus und Vincent sieht man übrigens nicht an,

     was sie tun. Ihr Tag entspricht dem eines Jungmanagers:

     viele Termine, wenig Schlaf. Kein Wunder: Die Kiron-Idee

    hat Form angenommen, und wie in einem großen Unter-

    nehmen müssen alle Abläufe koordiniert werden. Lang-

    fristig wollen Markus und Vincent mit Kiron Millionen

    Geflüchteten weltweit das Studieren ermöglichen. Dafür

    arbeiten schon jetzt Teams in Deutschland, London,

    Paris, Istanbul und anderen Metropolen. Beide wissen:

    Das Leid ist allgegenwärtig. Ebenso aber der Wille, etwas

    dagegen zu tun, der Wille der Menschen, sich selbst zu verwirklichen. ●

    FELIX S. SCHULZ, 22, arbeitet in

    Berlin als freiberuflicher Art Director.

    Zu seinen Kunden gehören unter

    anderem Parteien, NGOs und

    Flüchtlingsinitiativen.

    [email protected]

    Freiheit duBildung: Ki

    bietet Flüchtling

    Chancen auf

    selbstbestimm

    Leb

       F   o   t   o   s   :   V   i   k   t   o   r   S   t   r   a   s   s   e ,

       p   r   i   v   a   t

    liberal 1.2016

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    20/56

    In der derzeitigen Debatte um die Vorratsdatenspei-cherung werden Erinnerungen an die Auseinander-setzung um den sogenannten Großen Lauschangriff wach. Es ging Mitte der 1990er-Jahre um die akusti-

    sche Wohnraumüberwachung und die in diesem Zusam-menhang diskutierte Ergänzung des Artikels 13 desGrundgesetzes, der die Unverletzlichkeit der Wohnungschützt. Unterschieden vom Großen Lauschangriff wurdedamals der Kleine Lauschangriff, bei dem es um das Abhören von Gesprächen außerhalb der Wohnung in derÖffentlichkeit oder in allgemein zugänglichen Geschäfts-räumen ging.

    Nachdem sich die Innenministerkonferenz 1995 füreine Grundgesetzänderung ausgesprochen hatte, ver-suchte die damalige Bundesregierung, den GroßenLauschangriff gesetzlich einzuführen. Argumentiert wurde mit der Gefahrenabwehr gegenüber Straftätern,insbesondere in Fällen terroristischer Bedrohung. Dage- gen kündigte die damalige Bundesjustizministerin SabineLeutheusser-Schnarrenberger (FDP) Widerstand an. Am25. September 1995 kam es zu einer Mitgliederbefragungin der FDP. Schon im Vorfeld der Bekanntgabe des Ergeb-nisses herrschte Unruhe. Denn die Justizministerin hatte

    öffentlich geäußert, sie betrachte die Abstimmung alseine „Richtungsentscheidung“, falls die Partei ihre bisheri- ge Ablehnung des Großen Lauschangriffs aufgebe. Trotzaller Bemühungen seitens der Parteispitze ließ sich die Justizministerin nicht umstimmen: „Ich höre dann auf“,erklärte sie, „wie stehe ich sonst da?“ In der Abstimmungsprachen sich dann fast zwei Drittel aller Befragten fürdie Einführung des Großen Lauschangriffs aus. Als Konse-

    quenz aus diesem Ergebnis legte Sabine LeutheussSchnarrenberger am 14. Dezember 1995 ihr Amt alsBundesjustizministerin nieder.

    Die Resonanz auf diesen ungewöhnlichen, abekonsequenten Schritt war groß, und insbesondereMedien wurde die Standhaftigkeit der zurückgetreMinisterin herausgestellt. Im Spiegel-Interview äußsie: „Ich werfe nicht allen, die anderer Meinung sindsie seien keine Liberalen. Aber die Entscheidung fü Abhören von Wohnungen ist ein großer Schritt weKonzept des liberalen Rechtsstaats. Das ist konservSicherheitsdenken, nicht freiheitlicher LiberalismuEiner angeblich behaupteten Effektivität bei der Befung von Verbrechen wird Vorrang vor den Grundten eingeräumt. Der Lauschangriff war der Schluss

    Nicht selten treten Minister zurück, fast immer infolge eines politischen Skandals.

    Ein Rücktritt aus inhaltlichen Gründen ist die absolute Ausnahme. Vor 20 Jahren

    kündigte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger aus Protest gegen die geplante

    akustische Wohnraumüberwachung im Rahmen des Großen Lauschangriffs ihren

    Rücktritt an und schied einen Monat danach aus dem Amt aus.  // TEXT // EWALD GROTHE

    „Im Zweifel für

    die Freiheit“

    Konsequent: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

    erklärt der Presse, dass sie von ihrem Amt als Bundesminis

    der Justiz zurücktritt (14. Dezember 1995).

    20   1.20

    POLITIK LAUSCHANGRIFF

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    21/56

    Ein solches Verhalten eines Regierungsmitglieds, derfreiwillige Rückzug wegen einer Abstimmung in dereigenen Partei, hatte es in der Geschichte der Bundesre-publik bis dahin nicht gegeben.

    Doch ein Schlusspunkt in der Diskussion über denGroßen Lauschangriff war der Rücktritt Ende 1995 keines- wegs. Zwar wurde die entsprechende Grundgesetzände-rung im März 1998 von Bundestag und Bundesrat be-schlossen, aber die öffentliche Debatte verstummte nicht.Nur ein Jahr später, im März 1999, erhoben Sabine Leut-heusser-Schnarrenberger, Burkhard Hirsch, GerhartBaum und weitere FDP-Mitglieder Beschwerde vor demBundesverfassungsgericht gegen die Ergänzung des Artikels 13 des Grundgesetzes, die den Großen Lauschan- griff ermöglicht hatte. Die mündliche Verhandlung vorden Karlsruher Richtern fand am 1. Juli 2003 statt. Am3. März 2004 – also rund sechs Jahre nach der Grundge-setzänderung und fünf Jahre nach der Verfassungsklage– erklärte das Bundesverfassungsgericht zwar die Ände-rung des Grundgesetzes für verfassungskonform, rügteaber zahlreiche Ausführungsbestimmungen und diezusätzlichen Änderungen in der Strafprozessordnung.

    Für die drei prominenten Kritiker der Grundgesetz-

    änderung in der FDP war es ein eindrucksvoller Sieg. DerRechtsstaat habe über den drohenden Überwachungs-staat triumphiert, hieß es. Der Erfolg wurde umso mehrals beachtlich eingestuft, als die allgemeine Debatte nachden New Yorker Terroranschlägen vom 11. September2001 ein solches Urteil nicht erwarten ließ. Die Bundesre- gierung musste ihrerseits reagieren und die KarlsruherEntscheidung umsetzen. Im Juli 2004 gab es den Versuch

    einer ersten Gesetzesänderung, wobei der von MinisterinBrigitte Zypries (SPD) vorgelegte Entwurf nochmalszurückgezogen werden musste. Doch mit den Stimmender rot-grünen Bundestagsmehrheit wurde im Mai 2005das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Orga-nisierten Kriminalität verabschiedet, das die Änderungender Strafprozessordnung revidierte und verfassungskon-form abmilderte. In dieser Form gilt es bis heute.

    Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat 2007 in derFestschrift für Otto Graf Lambsdorff die spektakulären Vorgänge um ihren Rücktritt 1995 und die erfolgreiche Verfassungsklage 2004 Revue passieren lassen. Dabeibetonte sie, dass es bei der Diskussion um den prinzipiel-len Konflikt zwischen den Grundwerten Freiheit undSicherheit gehe. Der vorherrschenden Tendenz, dieses grundsätzliche Spannungsverhältnis radikal zugunstender Sicherheit und zulasten der Freiheit aufzulösen, geltees zu widersprechen und stattdessen zu einer „Ausbalan-cierung“ der beiden Werte zu gelangen. Man müsse den„massiven Abbau konstitutiver freiheitlich-rechtsstaatli-cher Garantien“ verhindern. Eine wie auch immer gearte-te Bedrohung der inneren Sicherheit der Bürgerinnenund Bürger könne nicht die Aushöhlung von Grundrech-

    ten legitimieren. Gegen die „hemmungslose sicherheits-politische Aufrüstung“ des Staates gelte es, den Schutzder Menschenwürde durch Artikel 1 des Grundgesetzeszu betonen.

    Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, das heutige Vorstandsmitglied der Friedrich-Naumann-Stiftung fürdie Freiheit, folgerte schon 2007: „Im Zweifel für dieFreiheit“, müsse die Parole lauten. ●

    Der Historiker

    PROFESSOR

    EWALD GROTHE

    leitet das Archiv

    des Liberalismus

    Friedrich-Nauma

    Stiftung für

    die Freiheit in

    Gummersbach.

    redaktion@libm   F   o   t   o   s   :   d   p   a    /   S   ü   d   d   e   u   t   s   c   h   e   Z   e   i   t   u   n   g   P   h   o   t   o   ;   W .

       R   o   t   h   e   r   m   e   l    /   p   i   c   t   u   r   e   a   l   l   i   a   n   c   e   ;   p   r   i   v   a   t

    liberal 1.2016

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    22/56

     // INTERVIEW // BORIS EICHLER

    Herr Posch, wann haben Sie sich zuletzt

    über unsere Infrastruktur geärgert?

    Gestern erst, auf der Bahnfahrt nach Berlin:

    30 Minuten Verspätung wegen einer Lang-

    samfahrstrecke. Und dann abends erneut,

     bei einer Veranstaltung. Es ging um die

    Luftverkehrswirtschaft und ihre Probleme,

    zum Beispiel die behäbige Planung von

    Flugrouten. Darüber diskutieren wir schonsehr lange und haben dennoch nur wenig

     vorzeigbare Ergebnisse zustande gebracht.

    Böse Zungen behaupten: Das Straßen-

    netz im Westen ist bald schon so marode

     wie vor der Wende im Osten. Züge sind

    immer öfter auf Schleichfahrt unter-

     wegs. Was ist da schiefgelaufen?

    Ganz klar: Wir haben Nachholbedarf. Das

    liegt zum Teil daran, dass es in den vergange-

    nen 25 Jahren im Schwerpunkt um die

    Infrastruktur im Osten ging. In der gleichen

    Zeit wurden zudem die Standards für neue

    Maßnahmen verschärft. Ein Beispiel: die A 44

    Kassel—Eisenach. Als die Strecke nach der

     Wende geplant wurde, ging man von einem

    Kilometerpreis von acht Millionen Euro aus.

    Heute stehen wir bei über 30 Millionen.

    Es ist also nicht das Bauen, sondern das

    Planen, das alles teurer macht?

     Ja. Wir planen heute nicht mehr geradeaus

     von A nach B, sondern sozusagen um die

     Auflagen herum. Das verlängert die Verfah-

    ren und treibt die Kosten in die Höhe. Beider eben erwähnten A 44 mussten wir sage

    und schreibe 62 Alternativen in Teilabschnit-

    ten untersuchen. Das Ergebnis: Stillstand bei

    der Infrastruktur.

    Zugegeben, die Politik steht vor der

    schwierigen Aufgabe, zwei Dinge unter

    einen Hut zu bringen: Die Bürger v

     gen mehr Beteiligung, möchten ab

    auch, dass Bauvorhaben zügig umg

     werden. Wie ist diese Nuss zu knac

    Zunächst einmal setzt nach jeder Planä

    rung eine neue Diskussion mit den Bür

    ein. Bei den Zeiträumen, von denen wi

    sprechen, diskutieren wir ein und dass

    Projekt manchmal mit verschiedenen

    rationen. Und zwar jedes Mal so, als wü

    sich um etwas völlig Neues handeln. DProblem ist derzeit: In jedem Planungs

    ren entsteht ein großer Mischmasch. E

     werden allgemeine verkehrspolitische

    mente eingebracht und zugleich die in

    ellen Rechte der Betroffenen, also vor a

    der Anlieger, ins Feld geführt.

    Daran ist doch nichts Schlechtes. D

     gen, ob eine Autobahn überhaupt b

    tigt wird und wo und wie genau sie

     gebaut wird, sind doch berechtigt.

    Richtig, aber wir suchen die Antworte

    diese Fragen nicht effizient, weil wir d

    Sinnhaftigkeit eines Projektes auch no

    dann diskutieren, wenn wir schon in d

    Detailplanung stecken. Deshalb sollten

    die Beteiligung der Gesellschaft vorve

    und dem Vorhabenträger überlassen.

    könnten wir im Vorfeld vieles klären. D

    Bahn würde über eine neue Strecke a

    zunächst einmal mit allen sprechen. D

     wäre — im Gegensatz zu heute — eine e

    Bürgerbeteiligung. Es folgt eine Grund

    entscheidung für oder gegen den Bau

    einer zweiten Stufe, im Rahmen der Dplanung, werden dann nur noch die A

     ger gehört.

    Sind die verkehrspolitischen Grun

    satzfragen, die Sie ansprechen, nic

    schon im Bundesverkehrswegepla

     geregelt?

    Deutschland ist drauf und 

    dran, seine Standortvorteile 

    zu verspielen. Von bester 

    Bildung ist man, wie wir seit 

    PISA wissen, noch weit ent-

    fernt, Steuern und Sozialab-

    gaben sind hoch, und  jetzt droht dort der Nieder

    gang, 

    wo Qualität eigentlich im-

    mer als Selbstverständlich-

    keit galt – bei der Infrastruk-

    tur. Es ist ein schleichender 

    Verfall, der  jedoch von Jahr 

    zu Jahr mehr zutage tritt: 

    Straßenschäden häufen 

    sich, Verspätungen bei der 

    Bahn sind an der Tagesord-

    nung, eine Internet-Breit-

    bandanbindung ist außer-

    halb der Metropolen oft 

    nicht zu bekommen. Die 

    Infrastruktur ist das Rück-

    grat einer Industrienation – 

    dennoch wird seit Langem 

    auf Verschleiß gefahren. 

    liber al wirft einen Blick 

    auf die nationale Bummel-

    Baustelle. 

    „ Wir planen um die 

     A u flagen herum“ 

    22   1.20

    INFRASTRUKTUR INTERVIEW

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    23/56

    Das ist ein weit verbreiteter Irrglaube. Der

    Bundestag legt im Rahmen des Bundesver-

    kehrswegeplans nur fest, welcher Bedarf

     vorliegt. Ob die darin aufgezählten Projekte

    realisiert werden, ist damit nicht gesagt. Der

     Verkehrswegeplan ist ein Wünsch-dir-was-

    Katalog für die Wahlkreisabgeordneten im

    Bundestag — mehr nicht. Also muss man sich

    nicht wundern, wenn die Inhalte des Plans

    nicht abgearbeitet werden.

     Wer sollte die Entscheidung über die

    Realisierung von Projekten treffen?

    Ich plädiere dafür, dass auch diese Entschei-

    dungen von Parlamenten getroffen werden.

    Beispiel Energiewende: Der Bundestag

     beschließt eine Nord-Süd-Trasse — aber nur

    im Grundsatz — und übergibt die Angelegen-heit dann an den Stromnetzbetreiber Tennet

    und die Bundesnetzagentur. Dabei ist der

    Trassenverlauf politisch noch gar nicht

     geklärt. Der Bund mag seine Gründe haben,

    den Schwerpunkt der Energieerzeugung

     von Süd- nach Norddeutschland zu verle-

     gen — dorthin, wo der Wind weht. Wenn es

    aber darum geht, die Entscheidung politisch

    zu verantworten, macht er sich auf und

    davon. Die politischen Entscheidungsträger

    müssen Verantwortung übernehmen. Des-

    halb: Die notwendige gesellschaftliche

    Diskussion solcher Fragen hat im Planungs-

     verfahren nichts zu suchen, sie sollte vorher

    abgeschlossen sein. Das eigentliche Pla-

    nungsverfahren könnte dann wesentlich

    straffer durchgeführt werden.

    Bringt uns der Sanierungsstau nicht in

    die Lage, dass für Infrastrukturprojekte

    kein Geld mehr übrig ist? Die Instandhal-

    tung des Bestehenden kann man ja nur

    mit Mühe als Investition etikettieren …

    Die Diskussion „Sanierung statt Neubau“

    halte ich für ziemlich unsinnig. Wir benöti- gen beides. Infrastruktur ist für mich keine

    Frage der Verkehrs-, sondern der Wirt-

    schaftspolitik. Kein Unternehmen geht in

    den ländlichen Raum, wenn es dort keine

    Infrastruktur vorfindet. Und da ist es mit

    einer guten Straßenanbindung nicht getan.

    So haben wir in Hessen die Internet-Breit-

     bandversorgung sehr früh als Thema

    kannt. Es fehlt den Providern natürlic

    an der nötigen Kundenzahl, um ihre I

    tionen zu rechtfertigen. Darum haben

    mit Bürgschaften geholfen. Nur brauc

    Investor natürlich auch eine Straße, u

    seine Produkte abzutransportieren —

    dürfen wir nicht vergessen.

    Lange Zeit galten ja Public-private-nerships als Königsweg aus dem In

    tionsstau. Dabei trägt der private P

    die Verantwortung zur effizienten

    lung der Leistung, während die öff

    che Hand dafür Sorge trägt, dass ge

     wohlorientierte Ziele beachtet wer

    Das Konzept der Public-private-Partne

    ist aus der Not geboren. Betriebswirts

    lich gesehen werden Vorhaben, die au

    dieser Form der Zusammenarbeit ber

    sogar teurer. Der — auch wirtschaftlich

     Vorteil liegt in der schnelleren Fertigs

    der Projekte. Diese Vorteile zeigen sic

    allerdings weniger in der Planungs-, so

    eher in der Realisierungsphase.

    Eine Expertenkommission hat im F

     jahr einen „Bürgerfonds“ als Samm

    le zur Finanzierung von Infrastruk

    projekten angeregt. Daran könnten

     Arbeitnehmer über die vom Arbeit

    mitbezahlten vermögenswirksame

    Leistungen beteiligen und bessere

    ten als etwa bei Sparanlagen erziel

    Eine reizvolle Idee in Zeiten, in dendas Sparbuch nichts mehr bringt?

    Der Grundgedanke, Großprojekte auf

     Weise privat zu finanzieren, ist sinnvo

    richtig. Allerdings hat dieses Thema ei

     gewisse Verwandtschaft zu Alexander

     brindts Maut. Wir müssen erst einmal

     was aus dieser missglückten Idee wird

    Z U R P E R S O N

    Dieter Posch (FDP) war von 1999

    bis 2003 und von 2009 bis 2012

    Hessischer Staatsminister für

    Wirtschaft, Verkehr und Landes-

    entwicklung.

     F o t o : T i n a M e r k a u

    liberal 1.2016

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    24/56

    Zugegeben: Unsere Vergleiche sind nicht immer fair. Dennoch zeigen

     sie: 

    In Deutschland ist eine Infrastruktur, die einer modernen Industrienation 

    angemessen wäre, kaum zu erhalten, geschweige denn auszubauen. 

    Andere Staaten verstehen Infrastruktur inzwischen weltweit als gute 

    Investition – und gehen auf die Überholspur. 

    Auf  der  Über holspur

    Estland ist nicht Gütersloh

    Estland nennt sich zu Recht „e-country“. Von

     Anfang an gab es in dem baltischen Staat eine

     große gesellschaftliche Offenheit für die Digi-

    talisierung und den Willen der Politik, Nägel

    mit Köpfen zu machen — die dortige liberale

    Partei hat großen Anteil daran. Statt ver-

    schämter WLAN-für-alle-Kleinprojekte ist frei-

    er Zugang zum Internet in Estland fast flä-

    chendeckend möglich. Die Daten für die

    Steuererklärung werden vom Finanzamt au-tomatisch bei Arbeitgebern, Banken und an-

    deren Organisationen abgerufen. Die Bürger

    prüfen die Informationen und schicken das

    Formular ab. Zwei Tage danach sind die Rück-

    zahlungen auf dem Konto. Kein Wunder, dass

    inzwischen 90 Prozent der Bürger ihre Steu-

    ererklärung online erledigen. Und die Esten

    können jederzeit sehen, wer ihre Daten wann

    abgerufen hat. Wenn es dafür keinen triftigen

    Grund gibt, steht der Rechtsweg offen. Auch

    die Staatsausgaben werden in Echtzeit im

    Netz veröffentlicht. Die elektronische Patien-

    tenakte gibt es schon längst — aber nicht gegen

    den Willen des Patienten. Und im Supermarkt

    oder an der Kinokasse zahlen die Esten mit

    dem Handy.

    Das Pilotprojekt „Modellkommune

    E-Government“ des Bundes wurde 2014

    mit Gütersloh und Düren sowie dem Land-

    kreis Cochem-Zell gestartet. Am Ende soll

    ein Leitfaden „Weg zur E-Government-

    Kommune“ als Handreichung für Kommu-

    nen erarbeitet werden (Ende 2016).

    San Francisco ist nicht Hamburg

    Die Idee ist eigentlich ganz ein-

    fach: Mit einer App werden Fahr-

     gäste an Fahrer vermittelt. Dafür

    erhebt Uber eine Provision von20 Prozent. Uber wurde 2009 ur-

    sprünglich als Limousinenservice

    in San Francisco gegründet und

    hatte 2013 einen Umsatz von 213

    Millionen Dollar. Der Dienst kam

     bei den Kunden weltweit hervor-

    ragend an. Die Gründe dafür vari-

    ieren je nach Standort. Mal war

    für die Kunden der günstigere

    Preis entscheidend, mal die Ver-

    kürzung der Wartezeit auf einen

    Transport oder die höhere Dichte

    an Angeboten. Entscheidend für

    den Erfolg von Uber sind zweiFaktoren: Im Zeitalter der Digita-

    lisierung lassen sich Fahrgäste

    einfach, zuverlässig und schnell

    mit einer App über das Smart-

    phone vermitteln — personalin-

    tensive Funkzentralen braucht

    man nicht mehr. Und die gängi-

     gen Navigationssysteme machen

    umfangreiche Ortskenntnisprü-

    fungen für die Fahrer überflüssig.

    In Deutschland wurde Uber

    vor den Gerichten ausge-

    bremst. Hier fordern die

    Experten der Monopol-kommission eine Deregu-

    lierung des Marktes. Ers-

    te Stellungnahmen der

    Bundesregierung deu-

    ten jedoch darauf hin,

    dass das Recht der Per-

    sonenbeförderung erst

    einmal auf dem Stand

    aus der vordigitalen

    Zeit bleibt.

    24   1.201

    INFRASTRUKTUR INTERNATIONAL

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    25/56

    Istanbul ist nicht Berlin

    Kaum ein Land investiert so stark in seine In-frastruktur wie die Türkei — allerdings stehtdabei Istanbul im Mittelpunkt. Die U-Bahn-und Straßen-Untertunnelung des Bosporussowie die dritte Bosporusbrücke sind giganti-sche Projekte. Aber jeder, der sich schon ein-mal in Istanbul mit einer der zahlreichen Fäh-ren über die Meerenge gemüht hat, weiß, wiesinnvoll sie sind. Mit dem neuen Großflugha-fen im Norden der Stadt will die Türkei dage- gen nichts reparieren, sondern den Markt der

    Fernflüge vor allem zwischen Europa und Asien aufmischen. Hier machen derzeit dieGolf-Airlines das Geschäft. In Zukunft sollenEuropäer und Asiaten nach dem Willen Anka-ras statt in Dubai in Istanbul umsteigen.Trumpf der halbstaatlichen Turkish Airlinesdabei: Für die Zubringerflüge von und nachEuropa benötigt sie keine großen und teuren

    Langstreckenflugzeuge. Und weil die Flügeohnehin schon von vielen in Westeuropa le-benden Türken gebucht werden, lohnt es sichfür Turkish Airlines, auch kleinere Airports wie Friedrichshafen oder Münster/Osnabrückanzufliegen. Das erfordert einen Großflugha-fen. Grundsteinlegung war 2014, bereits 2018soll der Airport mit einer Kapazität von90 Millionen Passagieren ans Netz gehen. Der Ausbau auf eine Kapazität von 150 Millionenist schon geplant. Dann wird Istanbul über

    den größten Flughafen der Welt verfügen.

    Hauptstadt-Flughafen Berlin-Branden-

    burg: Spatenstich 2006, Eröffnung ge-

    plant für 2007, dann 2011, 2012, 2013, nun-

    mehr (vielleicht) 2017. Geplante Kapazität:

    27 Millionen Passagiere. Passagiere an den

    alten Berliner Airports 2014: 28 Millionen. F o t o : P a n o r a m i c I m a g e s / G e t t y I m a g e s ; W a n g Y a x i o n g / X i n h u a P r e s s / C o r b i s ; M . M a i n k a / d d p i m a g e s / S h o t s h o p ; U b e r

    Rhône-Tal ist nicht Fehmarnbelt

    Das südfranzösische Städtchen Millau warlange Zeit berühmt-berüchtigt für seine gigan-tischen sommerlichen Verkehrsstaus. Das lag

    an der Unterbrechung der Autobahn A75 andieser Stelle durch das tiefe Tal des FlussesTarn. Seit Ende 2014 ist es damit vorbei dankeiner von Norman Foster entworfenen Brückeder Superlative: Sie ist 2.460 Meter lang und343 Meter hoch — die zum Zeitpunkt der Er-öffnung höchste Brücke der Welt, höher alsder Eiffelturm. Daneben ist sie auch die längs-te Multi-Schrägseilbrücke der Welt. Die Rhô-

    ne-Autobahn, eine von zwei zentralen Nord-Süd-Verbindungen des Landes, ist seitdemnicht mehr der Schrecken der Autofahrer.

    Mehr als 20 Jahre vergingen mit der Planung verschiedener Streckenführungen, der Son-dierung des Terrains und der Ausarbeitung von Entwürfen. 2001 wurde der Grundstein gelegt, 2014 war Eröffnung. Das Bauunterneh-men trug die Kosten des Brückenbaus vonrund 400 Millionen Euro und erhielt dafürüber 75 Jahre die Mautkonzession für die Brü-ckenüberfahrt zugestanden. Danach geht das

    Bauwerk in Staatsbesitz über. Die Firmdahin auch für den Unterhalt der Brüständig. Übrigens: Auf die Struktur der

     gibt es eine Garantie. Laufzeit: 120 Jah

    Geplanter Tunnel unter dem Fehma

    zwischen Dänemark und Deutschlan

    binettsbeschluss in Kiel 1999. Wege

    vierender Planungsänderungen vo

    auf deutscher Seite wird mit einer T

    eröffnung nicht vor 2024 gerechn

    sprünglich geplant war 2021.

    liberal 1.2016

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    26/56

    26   1.201

    INFRASTRUKTUR RUSSLAND/DEUTSCHLAND

    In meiner Heimat wurde die Infrastruk-

    tur des Landes der Ideologie unterstellt,

    sie diente der Stärkung des Regimes,

    nicht dem Bürgerwohl. Das beste Bei-

    spiel dafür war die sowjetische Weltraumfor-

    schung; man bekam das Gefühl, es wäre

    einfacher, einen fremden Planeten zu errei-

    chen als die eigene Oma hundert Kilometer

     von Moskau entfernt zu besuchen. Beinahe

     jede Woche flogen unsere Kosmonauten ins

     All. Da oben hingen sie an speziellen Schläu-

    chen und winkten uns in den Abendnach-

    richten aus dem Fernseher zu.

    Dabei konnte man sich durch die kaput-ten Straßen der Hauptstadt kaum bewegen,

    und jenseits von Moskau brauchte man

    einen Traktor, um voranzukommen. Als

     wäre unser Staat daran interessiert gewesen,

    dass wir uns so wenig wie möglich von der

    Stelle rühren. Die Verkehrsinfrastruktur löste

    sich im Nebel der Ungewissheit auf, an jeder

    Haltestelle, an jedem Busbahnhof versam-

    melten sich Menschen und warteten. Nie-

    mand wusste genau, wann welche Busse

     wohin fahren. Für die Autofahrer konnte

     jede Fahrt die letzte sein. Unsere Pfützen

     waren nämlich nicht immer das, was sie

    schienen. Manche verschluckte manches

     Auto, ohne dass es groß spritzte.

    Das gleiche Chaos herrschte im Zugver-

    kehr. Ob der Zug tatsächlich an den ange-

    kündigten Städten vorbeifuhr, wusste nicht

    einmal der Lokführer selbst. Die Liebhaber

    des Fliegens übernachteten oft auf den

    Flughäfen, weil ihre Flüge gestrichen wor-den waren. Nach den Ursachen der Ausfälle

    zu fragen gehörte sich nicht, überhaupt

     waren Fragen im Sozialismus verpönt, sie

    könnten womöglich als Zeichen der Unzu-

    friedenheit mit dem Regime gedeutet wer-

    den. Offiziell lebten wir immerhin im glück-

    lichsten Land der Erde.

     Also passten sich die Bürger den B

     gungen an, bauten ihre Autos zu Jeeps

    und versuchten, unbekannte Pfützen

    meiden. Um ihren Frust über diese Sit

    loszuwerden, erzählten sie sich hinter

    haltener Hand Witze über die sowjetis

    Kosmonauten und ihre Flüge. „Die Fü

    des Landes plant einen neuen Start, u

     Amerikanern zu zeigen, wer im Welta

    Boss ist. Die Amerikaner fliegen zum M

    also werden wir gleich zur Sonne flieg

    sagt die Führung. Die Kosmonauten e

    cken. Da verbrennen wir doch! Wir sin

    nicht blöd, sagt die Führung, wir werd

    nachts fliegen.“

    Menschen als Immobilien des Sta

    Man konnte sich in der Sowjetunion k bewegen, wir lebten in einer geschlos

    Gesellschaft; vom Ausland abgeschott

    inländisch durch die kaputten Straßen

     Wege voneinander abgeschnitten, wa

    im Grunde Immobilien des Staates. So

    die Kosmonauten da oben drehten sic

    im Kreis. Ebenso war unsere Ideologie

    Der Schriftsteller Wladimir Kaminer schreibt 

    für liber al über die Infrastruktur in der 

    Sow jetunion und die in der Bundesrepublik.

     / /  TEXT  //  WLADIMIR KAMINER

    Wir müssen in

    Bewegung bleiben

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    27/56

    liberal 1.2016

    aufgelegt: ein ewig fortdauernder Weg zumKommunismus ohne Essenspausen, nie-mand sprach davon, dass man unterwegsmanchmal auch Hunger hat. Dabei warbaldiges Ankommen nicht vorgesehen.

    Die Energieversorgung der Bevölkerung

    erfolgte ebenfalls auf Befehl des Staatesohne Rücksicht auf das Wetter. Jedes Jahr, ganz egal wie kalt oder warm es draußen war, wurde am ersten Herbsttag die Zentral-heizung in allen Wohnungen des Landesangestellt und am ersten Frühlingstag wie-der aus.

    Ich hielt diese Ordnung nie für die besteder Welt. Als sich 1990 die Möglichkeit ergab,Moskau zu verlassen, fuhr ich nach Deutsch-land, nach Ostberlin. Der Zug, mit dem ichnach Deutschland kam, hatte zwei Stunden

     Verspätung, es war eben ein Montagszug.Diese Verspätung kratzte nicht am deut-schen Ruf der „Pünktlichkeit“, ihre Ursache war der Räderwechsel. Die russischen Gleisesind breiter als die europäischen. Das wurdenoch zu zaristischen Zeiten gemacht, aus Verteidigungsgründen, damit die Deutschennicht in kriegerischer Absicht Russland mitihren Eisenbahnen überrumpeln. Jederrussische Zug bleibt deswegen für einige Zeitan der Grenze stehen, bis er neue Achsenbekommt, die zu den europäischen Gleisenpassen. Das kann sehr schnell oder gar nicht gehen, es hängt ganz und gar von der Launedes russischen Schienenaufsehers ab. Hat er gute Laune, schreit er die Arbeiter wie verrückt an, läuft ihnen hinterher undschaut, dass sie ihren Job möglichst schnellerledigen. Damals fuhren die Züge dreimaldie Woche, man munkelte, die Freitagszüge wären die schnellsten, weil der Schienenauf-seher schnell ins Wochenende wollte. DieMontagszüge dagegen dauerten länger als geplant, so als würde der Aufseher denPassagieren die ganze Sinnlosigkeit ihres

    Reiseunternehmens, gar des ganzen Lebens,bewusst machen wollen. Die Mittwochszüge waren reine Glückssache.

    Berlin blieb mir vom ersten Tag an alsHauptstadt der Baustellen in Erinnerung.Überall an den Kreuzungen wurden tiefeGruben ausgehoben, die Straßenbahnschie-nen erneuert, die Straßen asphaltiert, die

    Häuser planiert und neue hochgezogen.Ich dachte, vor meinen Augen entstehe eineneue Stadt, bald werden sie fertig sein undstatt ihrer schrecklichen Öfen vernünftigeZentralheizungen eingebaut haben, die manzentral im Bundeskanzleramt ein- und

    ausschalten kann. Das ewige Kohlenschlep-pen würde dann vorbei sein. Inzwischen wohne ich seit einem Vierteljahrhunderthier und weiß nicht nur vom Hörensagen:Sie werden nie fertig sein.

    Deutschland ist eine Baustelle 

    Mehr noch, Deutschland ist eine Baustelle,das ist der normale Zustand des Landes. Imöffentlichen Verkehr ist diese These leicht zuerhärten. Als lesereisender Erzähler bin ichseit dem vorigen Jahrhundert jede Woche in

    Deutschland unterwegs. Ich fliege, fahre vielZug, manchmal, wenn ich eine Lesung inBrandenburg habe, also nicht weit vonmeiner Haustür in Berlin entfernt, fahre ichmit dem Auto. Zu manchen Lesungen fahreich mit der Straßenbahn oder gehe zu Fuß.

    Ich weiß die deutsche Infrastruktur zuschätzen. Die deutsche Bahn, die meinzweites Zuhause geworden ist, wird nicht vom lieben Gott, sondern von Menschen gelenkt, und Menschen haben Macken. Vondaher weiß ich, bei dreimal Umsteigen istdie Wahrscheinlichkeit, pünktlich anzukom-men, nahe null. Auf manchen Strecken istdie Bahn überfüllt, auf manch anderen kannman stundenlang nur Schrebergärten ausdem Fenster beobachten. Doch bei allenihren Nachteilen hat die Bahn einen ganz

    klaren Vorteil: Sie fährt. Dass in einer euro-päischen Hauptstadt ein funktionierenderFlughafen geschlossen wird zugunsten einesneuen, den es noch gar nicht gibt, ist aller-dings peinlich.

    Ich glaube, die Entwicklung der Infra-struktur hat mit der Wandlungsfähigkeit desLandes zu tun. Die Chinesen haben die

    Industrialisierung ihres Landes damit gonnen, dass sie einen Löwenanteil ihStaatseinnahmen in den Straßenbau itierten. Über diese Straßen siedelte diKommunistische Partei Chinas fast einhalbe Milliarde Bauern vom Land in d

    Städte um, gab ihnen eine neue Lebenpektive, ein neues Selbstwertgefühl. Drussische Führung hatte dagegen schoimmer Bedenken, dass ihr Volk die Instruktur nutzen könnte, um abzuhaue waren gar nicht weit von der Wahrheentfernt. Mein Großvater hat die schliZeiten des stalinistischen Terrors nur durch überstanden, dass er mit dem Z von Stadt zu Stadt pilgerte. Wenn in eStadt Massenverhaftungen anfingen, kmein Großvater schnell eine Platzkart

    in den nächstbesten Zug und fuhr wohin. Unterwegs hat er nicht wenige Rekennengelernt, die ihr Überleben auf  gleiche Art sicherten.

    Infrastruktur ist nichts anderes alscken in die Zukunft. Einmal hörte ich d

    Bundespräsidenten. Er sprach über Dekratie, als wäre sie ein Fertigprodukt, eSalat aus Werten und Vorstellungen, d jeder Bürger verinnerlichen soll wie eden Haken mit dem Wurm verinnerlicIch halte nichts von dieser Darstellung glaube, die Demokratie ist ein ständigeBasteln an der technischen und sozialInfrastruktur des Landes, ein Prozess dunablässigen demokratischen Erneueder Gesellschaft. Nur flexible Staaten, dden neuen Anforderungen anpassen,

    eine Überlebensperspektive. Wie die Äsagen: Wir müssen in Bewegung bleibe

     F o t o : O S T K R E U Z - A g e n t u r d e r F o t o g r a f e n G m b H

    WLADIMIR KAMINER, 48, privat ein Russe,

    beruflich deutscher Schriftsteller, wohnt in

    Berlin. Sein aktuelles Buch: „Das Leben ist

    (k)eine Kunst“, ist bei Manhattan erschienen.

    [email protected]

    Demokratie ist ein ständiges

    Basteln an der Infrastruktur.

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    28/56

    1.201

    ZENTRALMOTIV

    28

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    29/56

    1 1 . Februar 201Wer mit Bahn oder Auto durch deutsch

    de fährt, hat selten freie Fahrt. Viele Lan

    fahrstellen auf der Schiene oder Tempo

    auf der Straße sind dem maroden Zustan

    Fahrbahndecken und Gleisen geschulde

    Republik fährt auf Verschleiß. Den Invest

    stau hat im Frühjahr erstmals eine Exp

    kommission beziffert – mit 90 Milliarden

    Zum Symbol für die Zustände wurde in d

    Jahr die Schiersteiner Brücke, die Main

    Wiesbaden verbindet. Sie musste im Fekomplett gesperrt werden, weil sich die

    bahn abgesenkt hatte. Als Grund dafür

    sich zwar ein Bauunfall heraus, dennoch

    te der Zwischenfall deutlich, wie abhäng

    von unserer Infrastruktur sind: Das folg

    Verkehrschaos konnte auch durch zusä

    Züge und improvisierte Rhein-Fähren

    gemildert werden. Für den Schwerlastv

    ist die Brücke auch heute noch gesper

    IHK Wiesbaden rechnete aus, dass einem

    Jahr hochgerechneten Schaden durc

    Sperrung der Brücke von 312 Millionen

    Baukosten von 216 Millionen Euro gegen

    stehen. Hier gilt wie fast überall: Es wi

    baut, aber deutlich zu wenig und viel zuNur in einer Hinsicht erwies sich das Brü

    chaos am Rhein als produktiv: Der Karn

    Nick Benjamin landete mit „Der Brigg

    nedd gut“ den Karnevalshit 2015 in Main

    zeichnenderweise schon getextet, bev

    Schiersteiner Brücke gesperrt wurde.

    Foto: Boris Roessler/picture al

    liberal 1.2016

  • 8/20/2019 Debattenmagazin liberal 1.2016

    30/56

    Mündelsicher

    14 Prozent der Deutschen besit-

    zen Aktien oder Aktienfonds.

    Oder anders: 86 Prozent besit-

    zen keine. Kein Wunder, dass

    „die Wirtschaft“ beziehungsweise „die

    Konzerne“ unter Generalverdacht stehen

     bei Leute