Upload
pia-beutel
View
218
Download
1
Embed Size (px)
Citation preview
Der Bindungsstil - Personenmerkmal oder Beziehungsmerkmal?
Ina GrauBielefeld
Bindungstheorie (Bowlby, 1975)• Bindungsverhalten (hat Nähe der
Bezugsperson zur Folge, z.B. Schreien, Nachlaufen)
• Fürsorgeverhalten (komplementär dazu)• Bindung (Resultat vieler Interaktionen mit
Bindungs- und Fürsorgeverhalten)• Bindungsstile (interindividuelle Unterschiede)
Bindungsstile bei Kindern• sicher: leiden bei Weggang der Mutter, lassen sich nach
deren Rückkehr leicht trösten, haben feinfühlige Mütter• ängstlich: leiden auch, lassen sich nicht trösten, sind
sowohl ärgerlich als auch klammernd, Mütter sind inkonsistent im Fürsorgeverhalten
• vermeidend: lassen sich bei Weggang der Mutter nichts anmerken, begrüßen sie nicht nach deren Rückkehr, zeigen aber heftige physiologische Reaktionen, Mütter vermeiden Körperkontakt und sind eher zurückweisend
• ängstlich-vermeidend (desorganisiert): zeigen Verhalten ängstlicher und vermeidender Kinder, bizarre widersprüchliche Verhaltensweisen, z.B. Annäherung mit abgewendetem Kopf, Mütter haben gehäuft Verlust- oder Missbrauchserfahrungen
Bindungsstile bei Erwachsenen• sicher: suchen in angemessener Weise Hilfe und
Unterstützung• ängstlich: zeigen zu viel Bindungsverhalten,
befürchten, zurückgewiesen oder verlassen zu werden
• vermeidend: zeigen kaum Bindungsverhalten, fühlen sich schnell eingeengt, wollen ihre Probleme selbst lösen, vermeiden emotionale Nähe aus Desinteresse
• ängstlich-vermeidend: vermeiden emotionale Nähe aus Angst vor Zurückweisung
Bindungstheorie (Bowlby, 1975)Vermeidung
Angst
vermeidend ängstlich - vermeidend
ängstlich - ambivalentsicher
Grundannahmen• Auch Erwachsene zeigen Bindungsverhalten, z.B.
gegenüber den Eltern, Geschwistern, Freunden und insbesondere in Paarbeziehungen.
• Die Erfahrungen aus der Kindheit beeinflussen das Bindungsverhalten im Erwachsenenalter.
• Hypothesen:Bindungsstile sind über die Zeit stabil und generalisieren über verschiedene Bezugspersonen.
Mutter – Mutter – Mutter – Mutter | Vater | Geschwister | Freund | Partner
Zeit
Innere Arbeitsmodelle• kognitive Schemata über sich selbst, die
Bezugsperson, die Beziehung, wahrscheinliche Interaktionsabläufe, die vorausschauend geplant werden können
• ändern sich nur bei gravierenden Erfahrungen (Tod der Bezugsperson, Trennung)
• bestätigen sich immer wieder selbst durch Selbst-erfüllende-Prophezeiungen
• Schemata sind Merkmale der Person, nicht der Beziehung – kann man von Persönlichkeits-merkmalen sprechen??
Ergebnisse zur Stabilität• Bei Kindern ändern sich Bindungsstile, wenn sich
die Eltern trennen, sehr krank werden oder sterben.
• Bei Erwachsenen liegt die Stabilität bei 70% (Bindungsstile) bzw. r = .50 (Bindungs-dimensionen bzw. Grad der Bindungssicherheit).
• Bei Erwachsenen ändern sich Bindungsstile in Abhängigkeit von der Persönlichkeit und von Lebensereignissen (neue Partnerschaft, Trennung, Heirat)
• Fazit: Bindungsstile ändern sich, wenn sich Beziehungen ändern, Bindungsstil als Beziehungsmerkmal?
Ergebnisse zur Generalisierung• Cook, 2000
La Guardia, Ryan, Couchman und Deci, 2000mäßige Korrelationen zwischen der Bindungssicherheit zu verschiedenen Bezugspersonen
• Cozzarelli, Hoekstra und Bylsma, 2000mäßige Korrelationen zwischen allgemeinem und partnerbezogener Bindungssicherheit
• Ross und Spinner, 2001mäßige Korrelationen (max. r = .50) in Bindungsskalen zu 4 selbst ausgewählten Personen und der allgemeinen Bindungssicherheit
Methodische Möglichkeiten
(Collins & Read, 1990)
• Korrelationen der Bindungssicherheit zu verschiedenen Bezugspersonen
• Korrelationen zwischen allgemeiner und beziehungsspezifischer Bindungssicherheit
Menschen allgemein
Mutter Vater Bruder Freundin Ehemann
Methodische Probleme• Korrelationen der Bindungssicherheit zu
verschiedenen Personen haben keinen Grenzwert, ab wann man davon sprechen kann, dass es sich um ein und dasselbe Konstrukt handelt.
• Besser: Mittels Strukturgleichungsmodellen Anzahl der Faktoren prüfen.
Methodische Probleme• Messung der generalisierten Bindungssicherheit
setzt bereits voraus, dass diese generalisiert. Die Sinnhaftigkeit eines solchen Konstrukts muss erst nachgewiesen werden.
• Fragen nach der generalisierten Bindungssicher-heit kaum beantwortbar, ohne an konkrete Personen zu denken (z.B. an einen weiteren Freund).
• Befragte versuchen Redundanz zu vermeiden und über weitere Personen Auskunft zu geben, die vermutlich keine Bindungspersonen sind.
• Besser: allgemeine Bindungssicherheit als Summe der Einzelangaben berechnen, Reliabilität und Validität prüfen.
Stichprobe• 130 Personen mit allen 5 Beziehungen
(281 gesamt)• 43 Männer, 87 Frauen• Alter 19-48, MW=28• bis auf 3 alle mit Abitur• 60 in Ausbildung / Studium, 30 halbtags,
37 ganztags berufstätig, 3 arbeitslos
Messinstrument• Bindungsfragebogen (1999)
mit den Skalen Angst und Vermeidung bezogen auf Partner, Freund, Mutter, Vater, Geschwister
• Allgemeine Angst und Vermeidung als Mittelwert über die fünf Beziehungen
• Beziehungszufriedenheit
Partner
F1
A1
A2
A3
A4
A5
E1
E2
E3
E4
E5
Freund
F2
A6
A7
A8
A9
A10
E6
E7
E8
E9
E10
Mutter
F3
A11
A12
A13
A14
A15
E11
E12
E13
E14
E15
Vater
F4
A16
A17
A18
A19
A20
E16
E17
E18
E19
E20
Geschwister
F5
A21
A22
A23
A24
A25
E21
E22
E23
E24
E25
Konfirmatorische FA Angst
5 Faktoren Mutter = Vater alle Cov = 1
Chi² 602.39 *** df 265
785.29 ***df 266
1669.18 ***df 275
Chi²-Differenz
182.9 (krit. 3.84)
1066.79 (krit. 18.31)
RMSEA 0.0993 0.1230 0.1982
CFI 0.8496 0.7685 0.3784
NNFI 0.8297 0.7389 0.3219
NFI 0.7631 0.6912 0.3436
Interkorrelation der Faktoren (A)
Freund Mutter Vater Geschwister
Partner .20 .41 .25 .28
Freund .28 .26 .34
Mutter .53 .53
Vater .40
Konfirmatorische FA Vermeidung
5 Faktoren Mutter = Vater alle Cov = 1
Chi² 838.81 ***df 265
908.76 ***df 266
1151.11 ***df 275
Chi²-Differenz 69.95 (krit. 3.84)
312.3 (krit. 18.31)
RMSEA 0.1296 0.1369 0.1572
CFI 0.6425 0.5995 0.4541
NNFI 0.5953 0.5483 0.4045
NFI 0.5597 0.5230 0.3957
Interkorrelation der Faktoren (V)
Freund Mutter Vater Geschwister
Partner .33 .36 .26 .48
Freund .36 .20 .45
Mutter .73 .68
Vater .68
Innere Konsistenzen
Skala Angst (n = 117) Vermeidung (n = 118)
Gesamtskala * .76 .73 Partner .91 .78Freund .90 .79Mutter .88 .89Vater .91 .89Geschwister .93 .85
* Cronbachs Alpha korrigiert nach Spearman-Brown
Signifikanztest nach Feldt (1980)
Angst VermeidungPartner 7.16* 1.31Freund 6.00* 1.68Mutter 5.73* 8.49*Vater 8.03* 7.85*Geschwister 10.29* 5.49*
* signifikant (getestet gegen t = 1.98), df = 120
Validitätsvergleich (Kriterium Beziehungszufriedenheit)
Angst Partner Freund Mutter Vater Geschw
gleicheBeziehung
-.44** -.46** -.46** -.52** -.45**
4 andere Beziehungen
-.10 -.24** -.38** -.37** -.14
z-Werte 3.63* 2.45* 1.17 2.08* 3.95*
Testverfahren: Steiger, 1980
Validitätsvergleich (Kriterium Beziehungszufriedenheit)
Vermeidung Partner Freund Mutter Vater Geschw
gleicheBeziehung
-.54** -.16 -.47** -.57** -.36**
4 andere Beziehungen
-.11 -.05 -.13 -.08 -.11
z-Werte 4.84* 1.06 5.07* 6.91* 3.70*
Fazit• Methodisch bisher keine Entscheidung möglich, ob
Bindungssicherheit generalisiert, nur indirekte Verfahren.• Ergebnisse sprechen aber gegen Generalisierung.• Kognitive Schemata passen sich offenbar flexibler an die
jeweilige Beziehung an als bisher vermutet. • Bindungsrepräsentationen sollten als
Beziehungsmerkmale, nicht als Personenmerkmale aufgefasst werden.
• Therapeutische Interventionen sollten sich weniger auf die Aufarbeitung der Beziehungsgeschichte als auf aktuelle Beziehungen richten.
• Der Nachweis der diskriminanten Validität der Skalen zur Bindung in Freundschaften und Geschwisterbeziehungen eröffnet weitere Forschungsperspektiven.
Fragen
• Wie stabil sind Bindungsdimensionen?
• Lässt sich die Fluktuation durch die Bindungsdimensionen des Partners erklären?
• Lässt sich die (querschnittlich bekannte) Paardynamik aufzeigen, nach der die Angst des einen Partners die Vermeidung des anderen steigert und umgekehrt?
Längsschnittstudie (55 Paare, 30 J., 12 J. Bez., 1 Jahr Abstand)
Stabilität
• beträgt .70 (außer Angst des Mannes: .80).
• Durchschnittliche Änderung 0.6 Skalenpunkte
• Maximale Änderung 4 Skalenpunkte (Skala 1-7)
B F VermeidungB F Angst
B M AngstR²=.40***
B M VermeidungB M Angst
B F AngstR²=.30***
B F VermeidungB F Angst
B M VermeidungR²=.28***
B M VermeidungB M Angst
B F VermeidungR²=.35***
.32** .50*** .16 .45**
.53*** .03 .68*** -.26
Querschnittlich, 2. Zeitpunkt
A F VermeidungA F Angst
B M AngstR²=.43***
A M VermeidungA M Angst
B F AngstR²=.24**
A F VermeidungA F Angst
B M VermeidungR²=.21**
A M VermeidungA M Angst
B F VermeidungR²=.10
.09 .63*** .23 .34**
.36** .22 .35* -.05
Längsschnittlich
A F VermeidungA F Angst
V M AngstR²=.30***
A M VermeidungA M Angst
V F AngstR²=.24**
A F VermeidungA F Angst
V M VermeidungR²=.14*
A M VermeidungA M Angst
V F VermeidungR²=.01
.18 .47*** .34* .23
.30* .16 .03 -.09
Residuen (Veränderung)
Fazit• Die Stabilität der Bindungsdimensionen beträgt nach
einem Jahr etwa r = .70.• Die Veränderung in den Bindungsdimensionen lässt sich
zu ca. 18% durch die 1 Jahr zuvor erhobenen Bindungsdimensionen des Partners erklären.
• Angst fördert Vermeidung des Partners und umgekehrt.• Befunde sind bei Männern eindeutiger.• Die Dynamik der Bindungssicherheit in Abhängigkeit vom
Partner spricht gegen Grundannahmen der Bindungstheorie.
• Bei Paaren mit kürzerer Beziehungsdauer dürfte die Dynamik noch ausgeprägter sein.