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Der Künstler als UnternehmerGerald Braun / Martin French (Hrsg.)
Hochschule für Musik und Theater RostockHanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität Rostock
In Kooperation mit:
Culture Entrepreneurship - Der Künstler als Unternehmer
Gerald Braun / Martin French (Hrsg.)
Dokumentation der 5. HIE-RO Ringvorlesung zu
Unternehmertum und Regionalentwicklung
„Culture Entrepreneurship – Der Künstler als Unternehmer“
an der Universität Rostock im
Wintersemester 2008/2009
1. Auflage
Universität Rostock
2010
Herausgeber: Gerald Braun, Martin French
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and
Regional Development an der Universität Rostock
Redaktion: Martin French, Thomas Wolff
Lektorat: Martin French
Kurztitelaufnahme: Braun, Gerald / French, Martin (Hrsg.) (2010):
Culture Entrepreneurship - Der Künstler als Unternehmer.
ISBN: 978-3-00-029921-6
© HIE-RO Institut, Universität Rostock,
18051 Rostock.
Jede Form der Weitergabe und Vervielfältigung
bedarf der Genehmigung des Herausgebers.
Kontakt: Universität Rostock
HIE-RO - Hanseatic Institute for Entrepreneurship
and Regional Development
Ulmenstraße 69 – Haus 3
18051 Rostock
www.hie-ro.de und www.ringvorlesungen.de
Layout & Druck: WOLFF MEDIA
Rudolf-Seiffert-Str. 16
10369 Berlin
www.wolffmedia-berlin.de
Titelbild: © James Steidl - Fotolia.com
5
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockInhaltsverzeichnis
5
Inhalt
Inhaltsverzeichnis� 5
Prof.�Dr.�Gerald�Braun�(Geschäftsführender�Direktor�HIE-RO)�
Vorwort� � 9
Martin�French�(Projektverantwortlicher�HIE-RO�Ringvorlesungen)�
1.�Culture�Entrepreneurship�–�Der�Künstler�als��Unternehmer� 13
Dr.�Bastian�Lange
2.�Culturepreneurs�in�der�Kreativwirtschaft:��Markt�-�Raum�-�Szene�
� 27
Angelika�Bühler
3.�Zwischen�Kunst�und�Kommerz:�Existenzgründung�von�Künstle-
rinnen�und�Künstlern�–�Das�Fallbeispiel��Career�&�Transfer�Service�
Center�an�der�Universität�der�Künste�Berlin� � 67
Prof.�Dr.�Klaus-Dieter�Müller
4.� Selbständig� in� der� Kreativwirtschaft:� Das� Fallbeispiel� Media�
Exist�–�Das�Gründer/innen-Zentrum�Medien�an�der�HFF�Hochschu-
le�für�Film�und�Fernsehen�„Konrad�Wolf“�Potsdam-Babelsberg� 81
Dr.�Ingo�Stein
5.�Planung�und�Finanzierung�von�Live-Entertainment-Projekten�
� 105
66
Bettina�Heinrichs
6.� Selbstständigkeitsambitionen� Studierender� der� Studienrich-
tung� Mode-Design,� Textil-Design� und� Bekleidungstechnik� nach�
Studienabschluss�-��Ergebnisse�einer�Untersuchung/Befragung�in�
Berlin�und�Riga� 121
Dr.�Christoph�Schönfelder�/�Henrik�Cohnen
7.� Künstler� –� Prädestiniert� für� erfolgreiches� unternehmerisches�
Handeln�� � 141
Dr.�Johann�Gerdes�/�Frauke�Lietz
8.� Zwischen� Lebensinhalt� und� Lebensunterhalt:� Evaluation� des�
Projekts� � „Die� Kunst� von� Kunst� zu� leben� –� Ein� Professionalisie-
rungsprojekt�für�Künstlerinnen�in�Mecklenburg-Vorpommern“�
� 153
Andreas�Pasternack�/�Tilman�Schubert
9.�Musiker�als�Dienstleister�auf�einem�Markt�-�Ein�Überblick�über�
die�Musikerszene�in�Mecklenburg-Vorpommern� 205
Heiko�Brunner
10.�Chancen�und�Umsetzung�von�Kultur-Konzepten�in�regionalen�
Räumen�-�Das�Beispiel�der�Schwaaner�Kunstmühle� � 217
Thomas�Kohler
11.�Innovative�und�interaktive�Museumskonzepte�–�� �
Das�Fallbeispiel�Müritzeum�Waren�(Müritz)� � 237
7
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockInhaltsverzeichnis
7
Manfred�Keiper
12.� Ei� oder� Henne?� Was� steht� am� Anfang� von� Kultur-Konzepten:�
Sinn�oder�Zweck?� � 255
Steffen�Steglich
13.�Der�Künstler�ist�eine�Ware�und�seine�Kunst�ein�Produkt!?�Das�
Persönlichkeitsprofil�Künstler� � 265
Prof.�Dr.�Sebastian�Nordmann�
14.� Karriere-� und� Projektplanung� für� Musiker� –� Musikmanage-
ment�an�der�HMT�Rostock� � 275
Prof.�Dr.�Birger�Petersen�/�Prof.�Peter�M.�Wolf�
15.�Festivalplanung:�Prozesse�und�Risiken� � 283
Autoren-�und�Referentenverzeichnis�� 303
Kooperationspartner�und�Förderer� � 309
8
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockVorwort
9
Prof.�Dr.�Gerald�Braun�(Geschäftsführender�Direktor�HIE-RO)
Vorwort
10
Nach konventioneller Weisheit gibt es nichts Gegensätzlicheres als ‚den’ Künst-
ler und ‚den’ Unternehmer. Künstler gelten gemeinhin als desorganisierte Bo-
hemiens, die mittellos in den Tag hineinleben, spontan und planlos, während
Unternehmer, durchorganisiert und hochrational, langfristige Geschäftspläne
umsetzen – stets mit dem Ziel, Profite zu maximieren.
Diese schlichte Weltsicht ignoriert zunächst die Legion geschäftlich äußerst
erfolgreicher Künstler-Unternehmer, von Rembrandt und Michelangelo bis
zu Picasso und Baselitz in der bildenden Kunst. Und im Musikgeschäft sind
Richard Wagner, Leonhard Bernstein oder Elvis Presley keineswegs verarmt ge-
storben, um einige willkürliche Beispiele zu nennen.
Mehr noch: Nicht die Gegensätze, sondern die Gemeinsamkeiten im Persön-
lichkeitsprofil von Künstlern und Unternehmern sind in der Entrepreneurship-
Forschung von Interesse. Einige Merkmale sind dabei besonders augenfällig:
Der ‚wahre’ Künstler wie auch der ‚wahre’ Unternehmer sind nur dann Künstler
bzw. Unternehmer, wenn sie Neues in die Welt bringen, d.h. Neuerungen bzw.
Innovationen durchsetzen. Der österreichische Ökonom Joseph Schumpe-
ter geht sogar so weit, einen Unternehmer, der keine Neuerungen am Markt
durchsetzt, als ‚Rentier’ zu bezeichnen. Und Neues in die Welt zu bringen, setzt
stets Wagemut, Risikobereitschaft und Leistungsmotivation voraus – wie auch
den unbedingten Willen zur Selbstbehauptung. Soweit die Gemeinsamkeiten
auf der Persönlichkeitsebene.
Auf der volkswirtschaftlichen Ebene wird die sogenannte ‚Kreativwirtschaft’,
d.h. die Summe aller künstlerischen Aktivitäten, ihrer Lieferanten wie Ab-
nehmer, zur ‚Großen Hoffnung des 21. Jahrhunderts’ – um den großen Wirt-
schaftssoziologen Jean Fourastié zu paraphrasieren. Tatsächlich produziert die
Kreativwirtschaft in postindustriellen Ökonomien - je nach Definition und Ab-
grenzung – bis zu 15 Prozent des Sozialprodukts, sichert Beschäftigung und
bringt (nicht zuletzt) täglich Neues in die Welt. In jüngster Zeit rückt daher die
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockVorwort
11
Entwicklung und Förderung von Clustern der Kreativwirtschaft ins Zentrum ei-
ner zukunftsorientierten Kultur- und Wirtschaftspolitik.
Die vorliegende Veröffentlichung ist aus Vorträgen einer Ringvorlesung „Der
Künstler als Unternehmer“ hervorgegangen, die im Wintersemester 2008/2009
am Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development (HIE-
RO) der Universität Rostock gehalten wurden.
Nach den Ringvorlesungen „Life Cases - Unternehmertum und Existenzgrün-
dung“ 2004, „Unternehmerethik im globalen Zeitalter“ 2005, „Regionalent-
wicklung und Innovationsstrategien“ 2006 und „Social Entrepreneurship –
Unternehmerische Ideen für eine bessere Gesellschaft“ 2008 setzt das HIE-RO
damit seine Tradition fort, ein breites Forum zu Fragen des Unternehmertums
(Entrepreneurship) und der Regionalentwicklung für Wirtschaft, Wissenschaft
und Politik zu bieten.
Ich danke den engagierten Autorinnen und Autoren, meinem Mit-Herausge-
ber Martin French, der bei der Konzeption, Initiierung und Betreuung der Ver-
anstaltungsreihe seine unternehmerischen Kompetenzen zum wiederholten
Male unter Beweis stellte, sowie allen weiteren an der Ringvorlesung beteili-
gten Mitarbeitern des HIE-RO Instituts, hierbei vor allem Markus Damm, Marc-
Alexander French, Gabriele Klein, Stefan Klafehn und Cathleen Soltow .
Abschließend gilt noch ein besonderer Dank allen Förderern und Unterstüt-
zern, die diese Publikation durch die Bereitstellung finanzieller, sachlicher oder
wissensbasierter Mittel erst möglich gemacht haben.
Rostock, Januar 2010 Prof. Dr. Gerald Braun
12
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 1: Culture Entrepreneurship – Der Künstler als Unternehmer
13
Martin�French�(Projektverantwortlicher�HIE-RO�Ringvorlesungen)
Culture Entrepreneurship – Der Künstler als Unternehmer
14
Einleitung
Im Wintersemester 2008/2009 wurde an der Universität Rostock, wieder einmal
sehr erfolgreich, die bereits 5. HIE-RO Ringvorlesung durchgeführt, dieses Mal
mit dem Thema „Culture Entrepreneurship – Der Künstler als Unternehmer”.
Unter der Führung des Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional
Development at the University of Rostock (HIE-RO) gestalteten hierzu Experten
der Region Rostock und Umgebung sowie Mecklenburg-Vorpommern, aber
auch national und international anerkannte Referenten Vorlesungen mit ver-
schiedenen Themen und unter unterschiedlichen Gesichtspunkten von kul-
turellem und künstlerischem Engagement und diesbezüglicher unternehm-
erischer Maßnahmen. Dabei galt wie immer das Motto: Eine akademische
Vorlesung ist dazu da, Ergebnisse des denkenden Forschens durch Wissen-
schaftler bzw. des forschenden Denkens durch Praktiker in individueller Rede
hörbar und wechselseitig diskutierbar zu machen.
Das Hauptinteresse der Ringvorlesung war es diesmal im Speziellen, das vor
allem in Deutschland noch relativ unbekannte wissenschaftliche Feld des
CULTURE ENTREPRENEURSHIP, auch CULTUREPRENEURSHIP, bekannt zu ma-
chen und darüber hinaus verstärkt die Chancen und Risiken von kulturell-kün-
stlerischem Unternehmertum aufzuzeigen. Die Ringvorlesung bot hierzu, wie
bereits erwähnt, ein Potpourri bekannter Referenten aus der hiesigen Kunst-
und Kulturszene, wie zum Beispiel den wohl bekanntesten Jazz-Musiker Meck-
lenburg-Vorpommerns, Andreas Pasternack, aus bereits erfolgreich gegründe-
ten Kultur- und Kunst-Unternehmen, wie zum Beispiel den Besitzer einer der
innovativsten Buchläden Rostocks, Manfred Keiper, und aus der Hochschul-Eb-
ene, unter anderem den Culture-Entrepreneurship-Experten Dr. Bastian Lange.
Alle Referentinnen und Referenten haben sehr eindrucksvoll aufgezeigt, dass
es durchaus sehr effektiv und sinnvoll ist, eine Verbindung zwischen kün-
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 1: Culture Entrepreneurship – Der Künstler als Unternehmer
15
stlerischem Streben und kultureller Entwicklung sowie unternehmerischen
Ideen herzustellen.
Um einen möglichst großen Kontext des Themenfeldes CULTURE ENTREPRE-
NEURSHIP abzudecken hat die Ringvorlesung thematisch vor allem folgende
Punkte besonders hervorgehoben:
» den entwicklungshistorischen Hintergrund des Wissenschaftsfeldes CUL-
TURE ENTREPRENEURSHIP bzw. CULTUREPRENEURSHIP,
» die Finanzierungskonzepte für Culturepreneurs, hierbei vor allem der An-
satz des Culture Venture Capital,
» die Hauptakteure des Kultur- und Kreativunternehmertums in Deutsch-
land,
» die Chancen erfolgreicher Implementierungen von kulturell-künstle-
rischen Ideen in Unternehmensgründungen,
» die aktuelle Situation von Freiberuflern, Non-Profit-Organisationen, Ver-
einen oder Einrichtungen mit kulturellem und künstlerischem Hinter-
grund in Mecklenburg Vorpommern und Deutschland allgemein,
» das spezielle Persönlichkeitsprofil von unternehmerischen Künstlern
bzw. Kreativen, also von Culturepreneurs usw.
Basierend auf der Tatsache, dass es eine Vielzahl von „kulturell-künstlerischen
Unternehmern“ und ihren Organisationen bzw. Vereinen gibt, welche alle un-
terschiedliche Leitziele verfolgen, präsentierte die 5. HIE-RO Ringvorlesung
stets einen Mix an unterschiedlichsten konzeptionellen Orientierungen in den
verschiedenen Vorlesungen. Diese waren u. a.:
» Konzepte des Kulturmanagements,
» Konzepte der Finanzierung in der Kultur- und Kreativwirtschaft,
» Konzepte des Projektmanagements für Kulturmanager,
» Konzepte des Kulturmarketings,
16
» Konzepte der Gestaltung erfolgreicher Kulturbetriebe,
» Konzepte des Karriereziels Kultur-, Musik- oder Kunstmanagement,
» Konzepte (nicht-/semi-)professioneller Kunst,
» Konzepte kultureller Veranstaltungen und das differenzierte Zielpubli-
kum in der Globalisierung,
» Konzepte des „stetig neuen“ und „unplanbaren“ Konsumentenverhaltens
bei kulturellen Veranstaltungen,
» Konzepte der Kulturvermittlung zwischen kultureller Bildung und Kultur-
marketing,
» Konzepte der Leistungserstellung im Kultur-, Musik- und Kunstmanage-
ment,
» Konzepte spezifischer Kulturbusinesspläne,
» Konzepte des regionalspezifischen und kommunalen Kulturmanage-
ments,
» Konzepte zum interkulturellen Austausch durch Culturepreneurship,
» Konzepte des Managements von Ehrenamtlichen in Kulturinstitutionen usw.
Dabei ist es der 5. HIE-RO Ringvorlesung in diesem Jahr wie nie zuvor gelungen,
ein enorm heterogenes Publikum anzusprechen und zum Diskurs anzuregen.
Vor allem Akteure und Netzwerke der folgenden Themenbereiche partizipi-
erten mit regem Interesse und intensivem Dialog an den Veranstaltungen:
» Bildung und Wissenschaft (Dozenten, Wissenschaftler, Forscher, Studie-
rende, etc.),
» Wirtschaft und Verbände (Freiberufler, Kulturschaffende, Vereine, Non-
Profit-Organisationen, Non-Government-Organisationen, Unternehmer,
Unternehmensgründungs- und Technologieförderung, etc.),
» Politik und Verwaltung (Kunst- und Kulturwesen, Kulturmanagement
und -politik-Entwicklung, etc.).
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 1: Culture Entrepreneurship – Der Künstler als Unternehmer
17
Die intra-/interpersonelle Symbiose zwischen Künstler(n) und
Unternehmer(n) – Widerspruch oder Chance in der Globalisierung?
Spricht man von der (möglichen) Symbiose zwischen Künstler(n) und
Unternehmer(n)/Entrepreneuren, sei sie im Menschen selbst oder interper-
sonal stattfindend, so spricht man zwangsläufig von der adäquaten Ver-
mischung differenter „sozialer Prototypen“1 einer Gesellschaft, also letztlich
den Merkmalsattributen, die eben diesen beiden Gruppen von der Gesell-
schaft zugewiesen werden. „Der Kreative“ verkörpert dabei in erster Linie die
Attribute des Irrationalen, des Ziel-, Rast- und Planlosen, des Verrückten oder
auch des Unbelehrbaren, während „der Unternehmer“ bzw. „der Manager“
eher mit Erfolgen, Macht und Reichtum sowie auch mit dem mythisch auf-
gebauten „Bild eines nüchternen, tatkräftigen und zugleich pragmatischen
Menschen“2 verbunden wird.
Die personale Kongruenz bzw. Schnittmenge beider „sozialer Prototypen“ liegt
meinem Erachten nach in dem Paradigma des (Neu-)Schaffungsprozesses,
welcher beide ausmacht und bestimmt. Hierbei setzen sich beide, Künstler
und Unternehmer, Ziele, formulieren Arbeitsstrategien, akquirieren Materi-
alien bzw. „Schaffenswerkzeuge“, bauen sich ein ungefähres zeitliches Gerüst
für ihre Arbeit und verfolgen eben diesen Schaffensprozess bis sie ihn letzt-
endlich erfolgreich abschließen können oder kreieren Sachverhalte zwisch-
en-durch neu und orientieren sich anderweitig, auch hinsichtlich externer
Rahmenbedingungen. Die, aus meiner Sicht, einzig wirklich entscheidenden
Unterschiede, wenn auch natürlich nicht pauschal für alle geltend, sind hierbei
sicherlich, dass eben dieser Prozess in der Regel bei Künstlern wesentlich of-
fener und kreativer und beim Unternehmer in höherem Maße geordnet und
strukturiert erscheint. Letztlich sind jedoch beide stets und ständig einem
1 Vgl. Zembylas 2005, S. 6.2 Ebd., S. 6.
18
oder mehreren Zielen „ausgeliefert“, welche(s) sie erreichen wollen, monetär
gesehen oft sogar müssen, um damit ihre „innere Unruhe“ bzw. ihren „Verän-
derungstrieb“ zu besänftigen.
Will man letztlich die Chancen, welche die Vernetzung bzw. etwas konkreter
die intra- oder auch interpersonelle Symbiose von künstlerisch-kreativem Han-
deln und wirtschaftlichem Denken mit sich bringen kann, zusammenfassen, so
sind hierbei explizit zwei entscheidende Fragen zu beantworten: Erstens, was
kann der Ökonom vom Künstler lernen, nämlich z. B. „den Geist zu öffnen für
neue Denk- und Herangehensweisen“3 und zweitens, was können künstlerisch
Kreative von der Wirtschaft lernen, wobei hier vor allem die adäquate Pla-
nung des Lebensunterhalts mit Fragen zur zielgerichteten „Vermarktung (für
Künstler unter Umständen ein Unwort) und Management“4 als Hauptfaktoren
genannt werden können.
Die Gefahr, welche dabei stets beachtet und der entgegengewirkt werden
muss, ist, dass „das wirtschaftliche Denken […] im Wesentlichen quantita-
tiv ausgerichtet [ist], weil normative Fragestellungen sowohl von der Main-
stream-Ökonomie als auch von der Betriebswirtschaftslehre weitgehend ab-
gelehnt werden“5. Hierbei kann weiterhin attestiert werden, dass „kulturelle
Artikulationen und Praktiken […] zwar eine symbolische Dimension [haben
und meines Erachtens auch stets haben sollten], aber sobald sie sich in ei-
nem ökonomischen Tauschprozess befinden, werden sie zu gewöhnlichen
Wirtschaftsgütern“6.
Soll es daher annähernd vernünftig bzw. optimal gelingen, Kultur- und
Kreativprozesse mit der Wirtschaft zu verknüpfen, heißt es also stets die Wider-
sprüche zwischen Mainstreaming der Kultur und dem zwingenden Anspruch
an den kreativen Individualismus, zwischen öffentlicher Förderungspolitik und 3 Rahe 2007, S. 5.4 Ebd., S. 5.5 Zembylas 2005, S. 3.6 Ebd., S. 3.
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 1: Culture Entrepreneurship – Der Künstler als Unternehmer
19
unternehmerischer Gewinnorientierung und zwischen dem marktwirtschaftli-
chen und dem historischem Wert von Kunst und Kultur für sich selbst aber
auch in der Gesellschaft auszuloten.
Culturepreneurs – Kreative Unternehmer oder unternehmerische Kreative?
Um die Unternehmerpersönlichkeit eines Culturepreneurs, also eines kulturell-
künstlerischen Unternehmers bzw. eines unternehmerischen Künstlers zu
beschreiben, reicht es nicht aus, ihm nur ökonomisches Know-How und kün-
stlerische Kreativität und Einfallsreichtum zuzusprechen. In der Diskussion ste-
hen bei Culturepreneurs eine Vielzahl an Persönlichkeitsmerkmalen, die ihn bei
der erfolgreichen und nachhaltigen Umsetzung seiner Ideen beeinflussen, u. a.:
» Künstler verfügen in der Regel über ein überdurchschnittlich hohes Aus-
bildungsniveau,
» Künstler verfügen über ein geringeres Einkommen als vergleichbare Be-
rufsgruppen mit ähnlichem Qualifikationsniveau,
» Künstler gehen in der Regel mehrfachen, unterschiedlichen, zeitlich
terminierten Beschäftigungen nach und haben in starkem Maße ausge-
prägte Patchwork-Biographien,
» für den unternehmerischen Erfolg von Künstlern wird ein geeignetes
Umfeld bzw. eine geeignete Organisation benötigt, welche eine nach-
haltige Entwicklung für die Kulturregion bzw. -umgebung und der damit
verbundenen Rahmenbedingungen anstrebt,
» für die erfolgreiche Durchführung von kulturellen und künstlerischen
Projekten müssen vor allem mit Methoden des Spendenmanagements,
des Fundraisings und des Direktmarketings finanzielle und materielle
Ressourcen angezogen werden.7
7 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2008a-c, 2009 und Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit 2004.
20
Quo vadis cultura M-V: Potenziale der Kultur- und Kreativwirtschaft in
Mecklenburg-Vorpommern
Viele, auch eher schwach regional strukturierte Regionen der Welt, vor allem
in Europa, haben es in den letzten Jahren vorgemacht: Das partiell enorme
Prosperieren der Kultur- und Kreativwirtschaft kann ein entscheidender Motor
bzw. die nachhaltige Triebkraft sein, um Wachstum und Beschäftigung in so-
wohl urbanen, als auch ruralen Räumen zu optimieren. Hierbei kann die schier
unbegrenzte Kreativität von Kulturschaffenden enorme Arbeitsmarktimpulse
setzen und die Wettbewerbsfähigkeit von Städten und Regionen stärken.8
Dieses ist auch eine enorme Chance für das Flächenland Mecklenburg-Vor-
pommern. Einem Bundesland, welches trotz oder vielleicht sogar gerade we-
gen seiner teils unberührt wirkenden und oft fast melancholisch dahinsiech-
enden „Kleinheit“, vor allem in den Bereichen von Festivals, der Jazz-Musik,
des Theaters und der musikalisch-pädagogischen Ausbildung vielerorts in
der Welt angesehen und geschätzt wird. So finden in dem mannigfaltigen,
facettenreichen und wunderschönen Naturraumpotenzial Mecklenburg-Vor-
pommerns jedes Jahr zahlreiche Open Airs statt, wie zum Beispiel die Fest-
spiele Mecklenburg-Vorpommern, das Usedomer Musikfestival, die Greifs-
walder Bachwoche, der Schönberger Musiksommer oder das Brücken-Festival
für Neue Musik. Vor allem im musikalischen Genre des Jazz hat das struktur-
schwächste Bundesland Deutschlands zudem einige herausragende Exempel,
Bigbands und Musikgrößen zu bieten, so zum Beispiel die Eldenaer Jazz Eve-
nings, den Neubrandenburg Jazzfrühling, den OstseeJazz oder die Rostocker
Pasternack-Bigband. Auch im Theaterwesen ist Mecklenburg-Vorpommern
zweifelsohne eine ernst zunehmende kulturelle Adresse. So sind es vor allem
das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin, das Volkstheater Rostock, das
8 Vgl. als Ansatz regionaler Entwicklungspotenziale LASA Brandenburg 2007, S. 2ff.
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 1: Culture Entrepreneurship – Der Künstler als Unternehmer
21
Theater Vorpommern Greifswald/Stralsund/Putbus, die Theater & Orchester
GmbH Neubrandenburg/Neustrelitz und die deutsche Tanzkompanie Neus-
trelitz, welche hier stark hervorzuheben sind. Ist man als Künstlerin oder
Künstler „jung, talentiert und auf der Suche nach einer musikalischen oder
schauspielerischen Ausbildung“9, so ist die Hochschule für Musik und Theater
Rostock mittlerweile auch für eine Vielzahl an ausländischen Studierenden
aus Übersee eine führende Adresse in der Welt, wobei die „große Zahl an in-
ternationalen Preisträgern und die an das Studium anschließenden Erfolge
der Absolventen – ob als Künstler oder Pädagoge – […] Zeugnis von der ho-
hen Qualität der Ausbildung“10 geben. Auch das Institut für Kirchenmusik und
Musikwissenschaft der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald ist weiterhin
als musikpädagogisches Aushängeschild Mecklenburg-Vorpommerns zu nen-
nen.11
Als gebürtiger Rostocker ermutige ich alle Menschen, die in diesem von
faszinierenden Naturspektakeln, zahlreichen Refugien der Ruhe und Erholung
gesegneten sowie teils mit noch schlummernden und sehr individuellen Kul-
tur- und Kreativpotenzialen versehenen Bundesland wohnen, arbeiten oder
Urlaub machen und für die Kultur ein wichtiges „gesellschaftliches Gut“ ist,
den Exempeln zahlreicher erfolgreicher Netzwerke, Kooperationen und Part-
nerschaften nachzueifern und eventuell auch schon bestehende hier vor Ort
weiterauszubauen, um somit letztlich auch die Vernetzungen zwischen Kultur
und Wirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern und deutschlandweit nachhaltig
zu stärken.12
Hierbei ist es bedeutend, dass „es nicht ´nur eine´ womöglich auch ´einzig 9 Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern 2007, S. 5.10 Ebd., S. 39.11 Vgl. ebd., S. 3ff. sowie auch Klatschmohn Verlag 2009.12 Vgl. als Ansatz regionaler Entwicklungspotenziale LASA Brandenburg 2007, S. 2ff. sowie auch wei-
terführend Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2008a-c, 2009 und Bundesministe-rium für Wirtschaft und Arbeit 2004.
22
richtige´ Sichtweise“ der kulturwirtschaftlichen Entwicklung in Mecklenburg-
Vorpommern gibt, sondern dass die regional sehr breit verstreuten, meist sehr
kleinen Kulturorganisationen partiell stark abweichende multiple Identitäten
nachweisen und uns somit auffordern, „sie in ihrer [räumlichen] Komplexität
und ihren inhärenten Widersprüchen zu sehen“.13 Paraphrasierend formuliert
zieht das, vor allem in den Bereichen der Kulturförderung14, der Kulturpolitik
und des Kulturmanagements „mentale Offenheit, Leidenschaft, inhaltliche
Stringenz und Kühnheit“15 nach sich, sollen Kulturorganisationen in Mecklen-
burg-Vorpommern adäquat unterstützt werden. Dann gelingt es nämlich auch
den Kreativen und Kulturschaffenden, die auf den ersten Blick „nicht einmalige
Kulturschätze als Grundkapital besitzen, ein klares unverkennbares Profil zu
formen und zu kommunizieren“16 und somit z. B. auch die Hürden potenziell
sehr erfolgreicher Existenzgründungen17 in der Kultur- und Kreativwirtschaft
nachhaltig zu meistern.
13 Zembylas 2005, S. 3.14 Vgl. Rahe 2007, S. 4ff.15 Zembylas 2005, S. 5.16 Ebd., S. 5.17 Vgl. hierzu u. a. Frucht 2007 und KfW Bankengruppe 2007.
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 1: Culture Entrepreneurship – Der Künstler als Unternehmer
23
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 1: Culture Entrepreneurship – Der Künstler als Unternehmer
25
26
27
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 2: Culturepreneurs in der Kreativwirtschaft: Markt - Raum - Szene
Dr.�Bastian�Lange
Culturepreneurs in der Kreativwirtschaft: Markt - Raum - Szene
28
0. Einleitung
Der folgende Beitrag führt zwei jüngere Diskussionsstränge zusammen; den
zu aktuellen Fragen wie sich Stadtforschung ihrem Gegenstand Stadt nähert
und den, wie Kreativwirtschaft jenseits normativer Überhöhungen und affir-
mativer Zuschreibungen als ein raumsensitives Modell von neuen Vergemein-
schaftungen und Arbeitsformen anzusprechen ist. Dabei wird dem Begriff der
Kreativität wie dem der Szene im Folgenden eine besondere Bedeutung zuteil
kommen. Exemplarisch wird dieser Konnex am Fall der Stadt Berlin vorgestellt,
wobei gezeigt wird, wie sich Formen der Raumaneignung in Teilmärkten (De-
sign) der Kreativwirtschaft vollziehen und welche Erkenntnisse sich dabei bzgl.
der Konstitutierung von Raum, Entrepreneurship, Kreativszenen und Stadt zu
erkennen geben.
1. Stadtforschung und Kreativwirtschaft
„Die Stadt ist der Star – Filmgrößen kommen nicht nur wegen der Berlinale. Sie
haben den Mythos des neuen Berlin mitgeprägt“ (Tagesspiegel v. 15.2.2007,
11), war im Februar 2007 anlässlich der 57. Internationalen Filmfestspiele in
der Berliner Tageszeitung „Der Tagesspiegel“ zu lesen. Auch die überregionale
Presse würdigte zu gleicher Zeit die offensichtlichen Wechselwirkungen von
Kulturereignis und Stadtentwicklung (s. Frankfurter Rundschau v. 15.2.2007,
24), die sich vor allem in den zurückliegenden zehn Jahren voll entfalten konn-
ten und Berlin zu einer international anerkannten Kreativmetropole haben
werden lassen.
Von Seiten der Stadtforschung geben Creative-City-Konzepte, Kreativität und
Stadt, kreative Milieus bis hin zu Creative Governance zum einen Aufschlüsse
über verschiedene Politiken der Sichtbarkeit des Städtischen. Zum anderen
29
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 2: Culturepreneurs in der Kreativwirtschaft: Markt - Raum - Szene
wird „Stadt“ als visuelles Produkt vermarktet, um als Code, als aufgeladene Idee
des Lokalen auf einer europäischen und globalen Landkarte wahrgenommen
zu werden. Damit stellt sich zum einen das Problem ein, wer von dieser Form
der Repräsentation mit eingeschlossen wird, sich in Beziehung zu den Raum-
codierungen und visuellen Codes setzen kann und wer daran nicht mitwirkt.
Zum anderen stellt sich für einen Begriff von „Stadt“ für die Stadtforschung im
Fall der von „creative city“-Verständnissen ein konzeptionelles Problem ein: Die
in jüngster Zeit zu beobachtende erhebliche Konjunktur und Aufmerksamkeit
des Creative-City-Konzepts operiert relativ unhinterfragt mit einem homoge-
nitätsorientierten Verständnis von Stadt. Dabei wird versucht, das Objekt Stadt
als Einheit in Beziehung zu anderen Städten global zu positionieren (Ander-
sen/Lorenzen 2005, Helbrecht 1998, Hospers/van Dalm 2005). Es werden Stra-
tegien verfolgt, die stark auf visuelle Vermittlung von oft kurzfristig relevanten
sowie hochgradig milieuspezifischen Codes ausgerichtet sind. Zu erkennen
sind Besonderungsstrategien, die das Ziel verfolgen, eine Differenz zum her-
kömmlichen Bild einer Stadt herzustellen. Insbesondere Martina Löw und
Helmuth Berking haben diese Strategien als Ausgangspunkt für ihr konzeptio-
nelles Verständnis des Städtischen unter den Bedingungen der Nachmoderne
gestellt (Berking /Löw 2005).
Ein wesentlicher Ausgangspunkt ist die Hinwendung zu Formen der städ-
tischen Individualität, von urbanem Charakter, von Biographie der Städte, von
Geschichte von unten, ein regelrecht Doxa-Boom, d.h. eine auf Fraglosigkeit
und Vertrautheit basierende Einstellung zu Welt (Berking 2008, 24). Damit wird
nicht eine geodeterministische Weltsicht reaktiviert, sondern vielmehr da-
rauf verwiesen, wie das Verhältnis der räumlichen Dimension der Lebenswelt
zu begreifen ist, wie es sich zwischen den Dingen, wie sie sind und wie man
sie macht, artikuliert. Es geht dabei nicht um natürliche Orte, sondern um die
Feststellung, wie signifikante Orte zu erklären sind, wie sie sich beschreiben
30
und ansprechen lassen. Die dabei im Vordergrund stehende These lautet, dass
Städte aus der Perspektive ihrer Eigenlogik zu rekonstruieren und anzuspre-
chen sind. Man weist Städten eine Form der Individualität zu, man beschreibt
ihren Sound, ihren Stil und ihren Geschmack. Dieses Verständnis betont eine
Kongruenz zwischen räumlichen Formen – gewissermaßen der gebauten Welt
– und habituellen Dispositionen. Detroits gebaute Stahl- und Schwerindustrie
war die räumliche Vorlage für den Industrial Sound der elektronischen Mu-
sik. D.h. dass räumliche Strukturen in der körperlich handelnden Praxis ihren
Ausdruck und ihre Realisierung finden. Diese Regeln sind nicht irgendwelche
Regeln, sondern stadtspezifische, gleichsam habitualisierte Regeln. Der Indus-
trial Sound ist für den Sound Ibizas nicht adaptionsfähig. Habitualisierte Ge-
sten, Gewohnheiten, Handlungen und Urteile sind Ausdruck eines praktischen
Sinns. Erkennbar werden diese Praxisformen dann am Individuum in Form von
bestimmten Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata. Auf der
Ebene der Stadt wiederum geben die sich als ortsspezifische Wahrnehmungs-,
Bewertungs- und Handlungsschemata. Kurz: es zeigen sich eigenlogische Pro-
zesse städtischer Vergesellschaftung.
Eigenlogik ist dabei nicht als eine rationale Gesetzmäßigkeit zu verstehen, son-
dern Eigenlogik gibt in einem praxeologischen Verständnis die verborgenen
Strukturen der Städte zu erkennen (Löw 2008). Dieses Eigene der Städte ent-
wickelt sich aufgrund historisch geleiteter Erzählungen als auch aufgrund re-
lationaler Beziehungen zu anderen Städten. Eigenlogik ist auch nicht nur als
eine Einladung zu verstehen, Städte aus sich selbst heraus zu deuten, sondern
immer auch in ihrem Konnex, ihrem relationalen Verhältnis zu anderen Städten
und anderen Kontextbedingungen, zu sehen. Die synchronen Reaktionen in
den „Global Cities“ haben in den Monaten Oktober und November 2008 in der
Wirtschaftskrise gezeigt, wie Beziehungsnetze zwischen Städten Einfluss auf
die lokale Struktur haben können.
31
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 2: Culturepreneurs in der Kreativwirtschaft: Markt - Raum - Szene
Eigenlogiken artikulieren sich auf der Basis praktischen Wissens, in der Praxis
des Hier-Wohlfühlens, und Dort-Fremdfühlens, in körperlicher Ent- wie An-
spannung, in Irritation oder Freude über materielle Substanz. Diese Praxis des
Erfahrens verdichtet sich zu lokalen Pfaden, Erzählungen und Strategien, das
Eigene zu erfahren, herzustellen und zu reproduzieren. Es ergeben sich also,
um mit Bourdieu zu sprechen, sogenannte „Ortseffekte“, d.h. es existieren Deu-
tungsmuster, Praktiken und Machtfigurationen, die an „diesen“ Orten höhere
Plausibilität aufweisen als an „jenen“ Orten (Bourdieu 1998).
Dagegen könnte man nun einwenden, dass es „die“ eine Wahrnehmung und
„die“ eine Deutung von Stadt nicht gibt: Diese Wahrnehmungen sind mili-
euspezifisch oder geschlechtsspezifisch, werden aber übergreifend von städ-
tischen Strukturen durchzogen. Eine Eigenlogik kann aber durchaus dominant
sein und z. B. Gegenkulturen prägen: So unterscheiden sich subkulturelle Lo-
giken zwischen Hamburg, Berlin und Wien, wenngleich sie eindeutige über-
greifende Bezüge untereinander aufweisen. Eigenlogik funktioniert darüber
hinaus nicht wie eine Imagekampagne, bei der eine Expertengruppe agieren
und Setzungen betreiben kann. Die Eigenlogik von Städten ist gleichsam po-
lyphon und mehrstimmig.
Nachdem nun der Grundbegriff Eigenlogik erläutert wurde und darauf verwie-
sen wurde, dass es nicht um eine verräumlichte Auffassung von zukünftiger
Gesellschaft in einer sodann zukünftigen Stadt gehen kann, wird der Blick auf
konkretere Ebenen der Artikulation dieser Eigenlogiken gerichtet: Wo also
schauen wir hin, wenn wir Material und Argumente suchen, um prognostizie-
ren zu können, was in einer Stadt angemessen funktionieren könnte und was
nicht?
D.h. dass einerseits diagnostiziert wird, dass Städte Tendenzen aufweisen ei-
nander ähnlicher zu werden; das wird als Prozess der Homogenisierung ver-
standen. Andererseits zeigt sich, dass Städte einer Eigenlogik folgen. D.h. es
32
existieren Regeln und Gewissheiten über das Besondere der jeweiligen Stadt
sowie über das Funktionieren von bestimmten Ritualen, Sprachcodes und
Weltanschauungen. Eigenlogik ist quasi die Grammatik einer Stadt und eines
Ortes, durch die bestimmt wird, was in dieser Stadt überhaupt möglich ist, wo-
rin also im Alltäglichen das Spezifische liegt.
Diese Feststellung gilt im Besonderen für die Orte, aber auch die Arbeitskon-
texte der Kreativwirtschaft. Richtet man den Blick durch die Brille der Markt-
teilnehmer, geben sich genaue Erwartungshaltungen bzgl. Ort und Arbeit zu
erkennen. Das „‘look and feel’ of the location“ entscheidet über den Erfolg. Orte
haben also eine Eigenlogik, die durch soziale Netzwerke der Kreativakteure
getragen und gesteuert wird. Dies inszenieren Ereignisse, die Orte als soziales
Feld auf einer städtischen Karte auftauchen lassen, um soziale Gefolgschaften
sowie Handlungssicherheit für ihre unternehmerischen Praktiken zu erlangen.
Die dabei zu Tage tretenden Repräsentationsformen eröffnen Rückschlüsse
auf eine adäquate Verwendung eines Begriffs von Stadt als „creative city“, der
weniger affirmativ und unkritisch einem neuen gesellschaftlichen Imperativ
des „be creative“ aufsitzt. Es geht darum, nach den Herstellungsmodi und An-
eignungsformen von Stadt zu fragen sowie nach den Wissens- und Erfahrungs-
ressourcen, die Orte als Ausdruck ihrer kumulativen Struktur lokaler Kulturen
zu erkennen geben. Daraus lässt sich das entscheidende fundamentale Mate-
rial für Handlungs- und Zukunftsentwürfe des Städtischen ableiten.
2. Kreativität und Stadt
Creative-City-Konzepte, Kreativität und Stadt, kreative Milieus bis hin zu Cre-
ative-Governance-Formen haben in jüngster Zeit auch in der sozialwissen-
schaftlichen Raumforschung erhebliche Aufmerksamkeit erhalten (Abolafia /
White 1998, Andersen /Lorenzen 2005, Balducci 2004, Franke /Verhagen 2005,
33
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 2: Culturepreneurs in der Kreativwirtschaft: Markt - Raum - Szene
Helbrecht 2004, Hospers 2003, Hospers /van Dalm 2005, Scott 2006, Kunz-
mann 2006). Sie sind zum einen angestoßen und motiviert durch die Thesen
des US-amerikanischen Regionalökonomen Richard Florida, die besagen, dass
eine sog. „kreative Klasse“ für die Wettbewerbsfähigkeit von global konkurrie-
renden Städten verantwortlich ist (Florida 2002; 2005). Zum anderen wird die-
se vielschichtige Debatte mit Fragen um die Ausrichtung eines Arbeitsmarkts
in der Wissensökonomie überlagert und somit mit Fragen, wie in den jungen,
flexiblen und schnell umbrechenden Projektkulturen Wissen gespeichert, Er-
fahrungen genutzt und gesichert sowie Innovation und Lernerfolge aufgrund
kurzfristiger Projektverbünde ermöglicht werden (Bender 2004, Grabher
2004a; b). Gerade Symbolproduzenten und ihre Professionen stehen im Mit-
telpunkt, wenn Fragen der Arbeitsorganisation, deren organisatorische Ver-
fasstheit (Koppetsch /Burkart 2002, Lange 2007a) und des gesellschaftlichen
Stellenwerts von Kreativität (Bröckling 2004, Rauning /Wuggenig 2007, Rot-
hauer 2005) als maßgeblicher Arbeits- und Wissensfaktor verhandelt werden.
Konkret lässt sich die Kultur- und Kreativwirtschaft wie folgt differenzieren:
34
Tabelle 1: Abgrenzungen der Kultur- und Kreativwirtschaft
Kultur- und Krea-
tivwirtschaft diffe-
renziert nach…
Teilmärkten … Branchen… Wirtschaftszwei-
gen…
Literatur-, Buch-
und Pressemarkt,
Kunstmarkt, Film-,
TV- und Videowirt-
schaft,, Kulturelles
Erbe,, Musikwirt-
schaft, Darstel-
lende Kunst
Musikwirtschaft,
Verlagsgewer-
be, Kunstmarkt,
Filmwirtschaft,
Rundfunkwirt-
schaft, Architektur,
Designwirtschaft
Verlagsgewerbe.
Filmwirtschaft,
Rundfunkwirt-
schaft, Musik,
visuelle und
darstellende Kunst,
Journalisten/Nach-
richtenbüros, Mu-
seumsshops/Kunst-
aus-stellungen,
Einzelhandel mit
Kulturgüterrn,
Architekturbüros,
Designwirtschaft
Anwendung in
der Praxis
Anwendung in
Kultur-wirtschafts-
berichten z. B. von
Hessen (2003)
geplant für den
Bund, momentan
in der Diskussion
EU-Abgrenzung
der Kultur-
wirtschaft
Quelle: Ertel 2006, 18-20
35
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 2: Culturepreneurs in der Kreativwirtschaft: Markt - Raum - Szene
Der Begriff Kreativität ist im Zuge der Expansion der sogenannten Kultur- und
Kreativwirtschaft zu einem unhinterfragten Erwartungsmythos geworden:
Mit ihm verband sich die Hoffnung auf neue Ökonomien, neue Lebensstile,
neue Innovationen und selbstbestimmte Arbeit. Kreativität muss daher als ge-
sellschaftlich wirkungsmächtiges Narrativ entflochten werden. Erste wissen-
schaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Kreativität führte dazu,
dass das elitäre Verständnis sowie der elitäre Begriff von Genie im Laufe des
20. Jahrhunderts durch den weniger elitären Begriff Talent ersetzt und dabei
sukzessive entmystifiziert wurde. Gleichwohl hat sich trotz Verwissenschaftli-
chung und vermeintlich rational-objektiver Kreativitätsforschung bis heute ein
„vormodernes“ Verständnis bzgl. des Sozialverhaltens, des Wirkens und Agie-
rens kreativer Menschen erhalten und als kollektiv stabil erwiesen. Ihnen wird
nach wie vor ein besonderes Verhältnis zur Gesellschaft, zur Arbeit, zum Sein
und zur sozialen Welt eingeräumt (Rothauer 2005). Gleichwohl hat die tradi-
tionelle Domäne und Hochburg der Kreativität – die Künste – v.a. durch die
nordamerikanische Pop-Art von Andy Warhol sowie durch Manifeste wie das
von Joseph Beuys – „Jeder ist ein Künstler“ im Jahr 1972 auf der Doku menta 5
in Kassel – daran gearbeitet, die exklusive gesellschaftliche Position der Künste
und der Künstler zu relativieren.
Aus einer organisationssoziologischen Perspektive hat insbesondere der Ein-
fluss der so genannten New Economy seit Ende der 1990er Jahre in unter-
schiedlichsten Formen „Kreativität“ für die Bewerkstelligung ihrer Personal-
und Organisationsentwicklung reklamiert (Florida 2002); kritisch dazu: Lange
2005, Peck 2005, Rauning /Wuggenig 2007. Dabei zeigt sich, dass sich ein si-
gnifikanter und paradigmatischer Wandel des Verständnis sowie Einsatzes von
Kreativität vollzieht. Die Benennung von individuellen und originär personen-
bezogenen kreativen Fähigkeiten in Form des Genies oder Künstlers hat sich
in einer kulturalisierten wissensbasierten Gesellschaft hin zu programmatisch
36
unternehmerischen Losungen und betrieblich-kollektiven Sozialtechniken
verschoben (Teece 2003, 895 ff; kritisch dazu Bröckling 2003, 19 ff., Bröck-
ling 2004, 139–144). Institutionell hat sich dadurch die Definitionshoheit des
originär mit Kreativität assoziierten gesellschaftlichen Teilsegments „Kunst“
hin zur Wirtschaft verlagert, wobei die institutionellen Logiken (Flexibilität,
Wandlungsbereitschaft, Technologien des Selbst) mit in diese neuen Bereiche
„transportiert“ und vermittelt wurden. Dies zeigt sich anhand neuer normati-
ver Zuschreibungen im Verständnis von individueller Arbeit und der betrieb-
lichen Inwertsetzung der Ressource Humankapital/Arbeitskraft. Dieser Prozess
ist gerade bei der Herausbildung der Kreativwirtschaft äußerst markant und
kulminiert in einem veränderten Verständnis zwischen individueller und orga-
nisationeller Kreativität (Schwaninger 1999; Scott 1999).
2.1�Die�Kreativen:�Neue�professionelle�Vermittler?
Neuen, auf Kreativität ausgerichteten Berufsfeldern wird seit mehreren Jahren
von Seiten der Politik und der Wirtschaft eine zukunftsweisende Rolle für die auf
Information, Kreativität und Innovation basierenden Ökonomien zugewiesen.
Vermittelt über diese neuen Akteure soll sich eine politisch motivierte Moder-
nisierungspraxis anbahnen. Flankiert durch einen global zu beobachtenden
Bedeutungsgewinn der urbanen Kulturindustrien erklärt sich ihre Funktion für
Stadtentwicklung zum einen als lebensweltliche Einbettungsstruktur und An-
ker für verschiedene kreative Wissensmilieus, zum anderen auch als Chance
zum Aufbau einer in diesem Segment angesiedelten Berufskarriere. Gerade für
Städte in Strukturkrisen wie Berlin erhofften sich Politiker, Investoren, Forscher
und Wirtschaftsfachleute unter dem Begriff „Creative Industries“ seit Ende der
1990er Jahre neue Arbeitsformen und -plätze sowie innovative Märkte (vgl.
überblicksartig für Berlin: Büttner/ Lange u.a. 2004; Krätke 2002; 2004, für Ko-
37
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 2: Culturepreneurs in der Kreativwirtschaft: Markt - Raum - Szene
penhagen: Andersen /Lorenzen 2005, Hansen/ Andersen u.a. 2001).
Das dabei artikulierte Schlagwort eines „neuen Unternehmertums“ verweist
in Berlin in der Situation der stetig wachsenden sozioökonomischen Struktur-
krise auf individualisierte Existenzstrategien oder Ausgrenzung aus sozialen
Arbeitskontexten (McRobbie 2002; 2005). Dabei zeigt sich, dass die Kommo-
difizierung der Kultur zur Herausbildung neuer sog. „Professionals“,„Cultural
Broker“ (Welz 1996, 26-29), d.h. sog. „Intermediaries“ (Negus 2002) oder hybri-
den „Culturepreneurs“ (Lange 2007a) führt. Sie vereinen einerseits unterneh-
merische Rationalitätskriterien, andererseits kulturelle Wertsysteme. Sie sind
für die mediale, performative und ästhetische Vermittlung von Produkten der
Kulturökonomie verantwortlich (Featherstone 1991, 43 ff.;). Dadurch geht mit
der globalen Kommodifizierung der Kultur (…) eine radikale Pluralisierung
von Kreativität einher, deren Repräsentation und Artikulationen nicht mehr
funktionalen Eliten vorbehalten ist (Liep 2001, 5). Der Bedeutungsgewinn von
Werbung und neuen Medien mit ihren Symbolwelten in neuen (spät-)moder-
nen Zeichensystemen war dafür verantwortlich, dass Kreativität sowie kreative
Akteure zu einem Wettbewerbsfaktor in das Blickfeld von Wirtschaft und Poli-
tik rückten.
Wie in kaum einem anderen Wirtschaftszweig besteht im Bereich der Kreativ-
wirtschaft die Möglichkeit für Individuen, kurzfristig gesellschaftlichen Sta-
tusgewinn zu erreichen. Professionen mit hohen Kreativitätsanforderungen
haben in der Spätmoderne sodann den Effekt, ein hohes gesellschaftliches
Prestige zu erlangen. Sie verkörpern expressive Werte und wirken an der Ver-
mittlung und Formulierung von gesellschaftlichen Rollenmodellen mit (Kop-
petsch /Burkart 2002, 531–533).
38
2.2�Zwischenfazit:�Kritik�der�Kreativität
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Kreativität eine leitmoti-
vische Gesellschaftsfunktion eingenommen hat. Kreativität bündelt heutzuta-
ge Aspekte, die vormals mit Persönlichkeitsmerkmalen, wie Flexibilität, Erfin-
dungsreichtum, Gestaltungsfreiheit, Autonomie sowie Selbstverwirklichung
verbunden waren und weitestgehend mit dem Berufsbild des Künstlers assozi-
iert wurden (Althans/ Audehm u.a. 2008). Auf dem Weg vom gesellschaftlichen
Rand dieser Positionen in deren heutige gesellschaftliche Mitte wurde Krea-
tivität systematisch entmystifiziert und als strategische Ressource entdeckt.
In diesem aktuellen Prozess ist der Begriff Kreativität mit kollektiven Sozial-,
professionsspezifischen Optimierungs- und normativen Repräsentationstech-
niken verknüpft worden. Er ist an unternehmerische und gesellschaftliche So-
zialtechnologien des Selbstmanagements gekoppelt (Lazzarato 1998, Negri/
Lazzarato u.a. 1998; Lorey 2007). Parallel erfolgt im Zuge dieser Entgrenzung
aber auch eine unterschwellige Übernahme der Normen und Wertzuschrei-
bungen der strukturellen Lebens- und Berufsbedingungen des Künstlers.
Deren flexible und unvorhersehbare Entwicklungswege wurden nicht als not-
wendiges Übel angesehen, sondern vielmehr positiv zum Gegenstand gesell-
schaftlicher Maximen der Berufsbedingungen gerade von Arbeitsbereichen in
der Kreativwirtschaft erklärt (Rothauer 2005, 8).
Im Bereich von Stadtpolitiken haben u.a. Richard Florida und Charles Landry
den Versuch unternommen, städtische Steuerungs-, Verfahrens- und Ziel-
gruppenpolitiken über die Ressource Kreativität zu formulieren (Florida 2002,
Landry 2001). Die Praxen der professionellen Leitfiguren sowie das Vorhanden-
sein und Wirken symbol- wie imageproduzierender Dienstleistungsbereiche
versprechen Imagewirkung, Modernität und Zukunftsorientierung. Diese
gründen auf Differenz und Kreativität. Ihre Protagonisten können demzufolge
39
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 2: Culturepreneurs in der Kreativwirtschaft: Markt - Raum - Szene
als die Macher und Konstrukteure dieser urbanen Differenz – also als Differenz-
macher – des Städtischen angesprochen werden.
Zusammenfassend heißt dies, dass die Kreativwirtschaft durch ihre Fuzziness
besticht und sie gerade dadurch ihr strategisches Potential entfaltet, da es
übertragbar auf andere Handlungsfelder ist, wie z.B. die Regenerierung von
Städten oder neuen Formen des Wissensmanagement. Es weist dabei auf Ver-
antwortungsabgaben des Staats hin, hin zu den freien Kräften des Marktes
oder zu denen, die das Wissen und die Fähigkeiten haben, sich in diesen krea-
tiven Aktionsfeldern versiert zu bewegen, zu positionieren und zu verstehen.
Letztlich setzt das die Kreativwirtschaft hinsichtlich der Städteentwicklung
unter Legitimationsdruck, denn es besteht nicht nur auf der Ebene der Metro-
polregionen, sondern auch auf der Ebene der Mittelstädte erheblicher Strate-
giebedarf, für den es eigentlich noch kein adäquates Steuerungswissen gibt.
Angetrieben wird dieser Prozess durch neue Akteure mit neuen Praktiken der
Raumproduktion, also neue Creative professionales, die als Vorreiter im Vor-
dergrund der Debatte stehen und die ein neues Verhältnis zwischen Arbeit
– Sozialität – Wissenskompetenzen verkörpern. Gleichwohl sollte das dabei
im Vordergrund stehende Kreativitätsverständnis, das auf einem euro-ameri-
kanischen Modell der Vorstellung von Zeit und Handlungsführung basiert, zu
einem generell skeptischen Umgang mit diesem Begriff verpflichten.
3. Berlin – arm, aber sexy!
Mit der Aussage arm aber sexy beschrieb der Regierende Bürgermeister Berlins
Klaus Wowereit im Jahr 2003 einen zentralen kulturellen Code seiner Stadt. Er
verwies damit auf ein Verständnis zukünftiger metropolitaner Kreativökono-
mien und ihrer Protagonisten: Sozio-ökonomisch prekär, aber erregungsreich,
institutionell nicht repräsentiert, aber mit hohen gesellschaftlichen Status-
40
gewinnen ausgezeichnet. Wowereit verwies auf die Formierungslogiken der
sogenannten Kreativmärkte innerhalb einer global ausgerichteten urban-
kulturellen Ökonomie. Die Kulturwirtschaft der Stadt, definiert man sie in An-
lehnung an EU-Standards, umfasste im Jahr 2005 über 22.547 zumeist kleine
und mittelständische Unternehmen mit einem Umsatz von über 18,5 Mrd. €
(Umsatzplus von 22,5 % zwischen 2000-2005), in denen 84.246 sozialversiche-
rungspflichtig Beschäftigte arbeiten. Der dabei zwischen 2000 und 2005 zu
verzeichnende Rückgang der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um
11,4 % wird „kompensiert“ durch einen hohen und wachsenden Anteil von
Freien Mitarbeitern und Selbständigen, die 2005 39 % des faktischen Arbeits-
kraftpotentials in der Kreativwirtschaft ausmachten (Senatsverwaltung 2006).
Zwischen 1998 und 2004 ist die absolute Anzahl der Unternehmen im Kreativ-
sektor um rund 4.000 gestiegen, meist Neugründungen von Mikrounterneh-
men (rd. 18 %). Vor allem die Teilmärkte Software (+1.280 Unternehmen/+109
%), Presse- und Buchmarkt (+1.120 Unternehmen/+31 %), Film- und Fern-
sehwirtschaft (+312 Unternehmen/+25 %) und Musikwirtschaft (+300 Un-
ternehmen/+26,5 %) verzeichneten starke Zuwächse, während sich die Zahl
der Architekturbüros deutlich verringerte (Senatsverwaltung 2005). Der Kul-
turwirtschaftsbericht Berlin aus dem Jahr 2005 weist des Weiteren darauf hin,
dass Berlin mit 12 % der Designateliers in Deutschland die Hauptstadt des De-
signs ist (Senatsverwaltung 2005, 67). Jährliche Messen und regelmäßig be-
spielte Ausstellungsorte unterstreichen dies, sie sind auch ein erster Schlüssel,
um Prozesse der Imagebildung Berlins zu begründen.
Räumlich betrachtet ist die Kreativwirtschaft, auf den ersten Blick, zentrenaffin.
Ein großer Teil der Berliner Unternehmen siedelt innerhalb des S-Bahnrings.
Ausnahmen bilden nicht nur historisch gewachsene Standorte wie Berlin-
Adlershof, das innenstadtnahe Gelände am Berliner Funkturm oder der Stand-
ort Potsdam-Babelsberg. Wissensbasierte „Strategieräume“ der Stadt sind
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 2: Culturepreneurs in der Kreativwirtschaft: Markt - Raum - Szene
aber nicht nur die „hippen“ oder „coolen“ Locations von Berlin-Mitte. Auch im
früheren Arbeiterbezirk Tempelhof-Schöneberg gibt es vorhandene Potenziale
kreativer Industrien und Dienstleistungen, die ausgebaut werden sollen (Hes-
se /Lange 2007). Rückgrat dieser Aktivitäten ist die Potsdamer Straße, südlich
angrenzend an den Potsdamer Platz. Dieses Areal ist heute Standort von über
400 Unternehmen aus dem Feld der Medienwirtschaft, die beiderseits der Stra-
ße ansässig sind. Dazu gehören ein breites Spektrum von Unternehmen der
Film- und Fernsehbranche, Grafik, Design und Layout, IT sowie Werbung, Mar-
keting und PR; auch der Tagesspiegel als großes Westberliner Zeitungshaus ist
an der Potsdamer Straße ansässig. Die zentrale Lage der Straße wenige Kilo-
meter vom Potsdamer Platz entfernt sowie relativ günstige Gewerbemieten
machen sie für die Mehrzahl der Unternehmen attraktiv, für die ein hot spot
in Mitte oder am Spreeufer in Friedrichshain kaum erschwinglich wäre. Institu-
tionell stellen insbesondere das Projekt „Zukunft“ der Senatsverwaltung Wirt-
schaft, Technologie und Frauen sowie das selbstorganisierte Netzwerk „Create
Berlin“ Antworten auf intermediäre Steuerungsanforderungen dar: Ersteres
ist ein Projektverbund der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und
Frauen, der Vernetzungsprozesse mit thematisch passenden Teilprojekten und
Technologie- und Medienförderung zwischen Verwaltung, Unternehmern und
wissensbasierten Institutionen ausbauen will. Informations- und Marketing-
kampagnen unterstützen diese Prozesse. Letzteres ist ein selbstorganisiertes
Netzwerk von Designern, das sich seit 2005 der weltweiten Vermarktung von
Berliner Designprodukten angenommen hat.
Die absolute Zahl der Tätigkeitsgruppe „Designer“ hat sich zwischen 1993 und
2003 durch Neugründungen verdreifacht. 80% davon weisen eine Beschäf-
tigtengröße von 1-5 Personen auf, d.h. Kleinst- und Mikrounternehmer sowie
unternehmerisch Selbständige dominieren. Die Zahl der Akteure ist stetig ge-
stiegen, ihr Einkommen aber, und das deutet die Höhe des individuellen Um-
42
satzes, pendelt wohl zwischen dem monatlichen Durchschnittseinkommen
der Künstler, ca. 850 € und dem Betrag, der nach Abzug von Steuern, Material,
Versicherungen, Miete etc. von den hier ermittelten 25.000 € Jahresumsatz
noch übrig bleibt. Arbeitsortzuweisungen dieser Akteure zeigen, dass sie sich
in vier zentral gelegenen Bezirken – Charlottenburg, Kreuzberg, Prenzlauer
Berg und Mitte – ansiedeln. Das wundert nicht, es stellt sich vielmehr die Frage,
wie diese Akteure diese Bezirke attraktiv und erregungsreich gemacht haben,
oder wie sie dort ihre zunehmend auch existenzsichernden Kontexte erfüllt
sehen, die sie bemächtigen gerade dort ihrer Tätigkeit nachzugehen?
4. Fragestellung und Forschungsdesign
Fragestellung
Das Interesse gilt also der Frage, wie symbolische Produkte sowie Innovationen in der
Kreativwirtschaft nicht nur generiert werden, sondern wie sie als spezifisch „Berliner“
Produkt entfaltet, kommuniziert und in sozialen Arenen verhandelt werden?
Wie gelang es also jungen Designern diesen Markt zu erschließen und dabei ein
Mikrounternehmen zu gründen, dieses zu entfalten und dabei Zugänge zu einem
jungen, wenig etablierten, wenig einsehbaren, letztlich instabilen, kurzfristigen und
informell operierenden Markt zu entwickeln?
Zur Überprüfung dieser neuen kulturellen Geographie steht daher die Ver-
bindungen zwischen Wissen, sozialen wie wissensbasierten Praktiken und
Raum. Es wird dabei weniger von einem uni-direktionalen Verhältnis eines
essentiellen Raumes oder Ortes ausgegangen, als vielmehr von einem non-
direktionalen, dann symbolisch codiertem, kommunikativ oder erlebnisbasiert
vermittelten, also konstruktionsbedürftigem Verhältnis zur Herstellung von
Sozial- oder in diesem Fall Unternehmerräumen.
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 2: Culturepreneurs in der Kreativwirtschaft: Markt - Raum - Szene
Die forschungsleitende Frage lautet demzufolge: Wie vollziehen junge Unter-
nehmensgründer Marktzugänge und welche Bewertungsmuster von Raum
liegen diesen Prozessen zugrunde? Es wird dahingehend argumentiert, dass
Gründungsprozesse aus der Perspektive von „Wirtschaft als Szene“ zu verste-
hen sind (Schallberger 2003). Szene, so wird im Folgenden gezeigt, ist aber nur
aus einer räumlichen Perspektive zu verstehen, wobei soziale oder kommuni-
kative Prozesse nicht als eine separate Struktur neben Raum zu denken sind.
Die Hauptthese lautet daher, dass das Gründungsgeschehen in wissensba-
sierten Dienstleistungsökonomien – und dazu zählt die Designbranche – aus
einer spezifisch räumlichen Konstellation zu verstehen ist. Die räumliche Di-
mension als verstehende Perspektive von Gründungsgeschehen einzuführen,
heißt, Markt als eine kulturelle, mit Hilfe von Praktiken verhandelte Formation
anzusprechen (Lange /Mieg 2008, Berndt /Pütz 2007, Lange 2007b). Strategien
und Praktiken dieser Trägergruppen weisen Markt als performativen, verhan-
delbaren und dadurch sozial-räumlichen Gegenstand aus. Wenn Markt als kul-
turelle Formation verstanden wird, dann heißt dies, Verfahren, Bedeutungszu-
weisungen und Praktiken von Unternehmen darauf hin zu analysieren, wie sie
soziale Beziehungen räumlich verdichten, begrenzen, aber auch entgrenzen
können, und wie dadurch Zugänge zu Markt- und Produktwissen verhandelt
werden (Barnes 2008).
Im Zusammenhang mit dem Bedeutungsgewinn von symbolproduzierenden
Dienstleistungssegmenten haben Simon / Ford am Fall London Ende der
1990er Jahre einen möglicherweise neuen Sozialraumtypus diagnostiziert, der
für derartige Prozesse verantwortlich sein könnte (Davies /Ford 1999): den Cul-
turepreneur. Sie sprachen eine neue professionelle Trägergruppe als quasi un-
ternehmerische Brückenbildner im Übergangsbereich immaterieller Produkti-
on auf der einen und Wirtschaft auf der anderen Seite an. Die neue Typstruktur
vereint – so ihre These – vormals getrennt verortete Wertkonzepte. Zum einen
44
künstlerisch-kreative Wertvorstellung und zum anderen betriebswirtschaft-
lich-zweckrationale Wissensformen.
Auf den ersten Blick könnte man vermuten, dass sich diese Typik aufgrund der
gestiegenen Zahl von unternehmerisch Selbständigen auch in Berlin wieder
finden lässt. Die folgende Argumentation überprüft zum einen, inwiefern der
Begriff geeignet ist, die neuen Übergangsfelder zwischen Markt und Kultur,
Ökonomie und Symbolwelten durch die Brille der Designerproduzenten adä-
quat zu erfassen. Des Weiteren wird analysiert, wie übertragbar der Begriff auf
die Akteure in Berlin ist, wie diese Unternehmer also Märkte formieren und Zu-
gänge zu diesem Markt mittels räumlicher Mikropolitiken verhandelt werden.
Mikropolitiken, im Sinne von Silke Steets (Steets 2005), d.h. zugleich absichts-
vollen sowie subtilen unternehmerischen Raumpraktiken der Grenzziehungen
und –öffnungen mit verfügbaren raumbezogenen Ressourcen: Also Ausstel-
lungen, Produktpräsentationen, Feiern etc., deren Performativität Sozialräume
initiiert, mitstrukturiert, wodurch in der Folge Zugänge zu Märkten formiert
und gelenkt werden. Soziale Praktiken basieren in dem hier vorliegenden
Verständnis auf der kognitiven Lesbarkeit sowie der körperlichen Erlebbar-
keit räumlicher Codierungen. Es geht, wie dies Ilse Helbrecht formulierte, um
das „‘look and feel’ of the location“ (Helbrecht 2004). Darüber hinaus bestand
das Interesse auch darin, die Struktur und Chemie dieser locations sowie ihre
strukturierende Wirkung und Anziehungskraft – also die stickiness - auf Trä-
gergruppen zu ermitteln (Markusen 1996). Der Fokus richtete sich daher auf
die Frage der Konstituierung von Raum als Produkt sozialer und unternehme-
rischer Praktiken. Es wird gezeigt, wie mittels Mikropolitiken Zugänge zu Ar-
beitsmärkten verhandelt, und dadurch Wissensvorsprünge und Marktanteile
erzielt werden können.
45
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 2: Culturepreneurs in der Kreativwirtschaft: Markt - Raum - Szene
Forschungsmethode
Dafür war es wichtig ein Forschungsdesign zu entwickeln, das im Besonderen
ermöglichte, das Feld dieser Trägergruppen von innen heraus systematisch
aufzuschließen. Notwendig ist dazu eine Analysemethode, die Prozesse und
Dynamiken von Unternehmern bei ihrer Markterschließung zu erfassen im
Stande ist. Vor diesem Hintergrund sind hermeneutische Fallrekonstruktionen
(Hildenbrand 2004, Matthiesen 2002, Wernet 2000) im Besonderen geeignet,
da sie
1. aus der Sprache des Falls eine spezifische Sinn- und Strukturgestalt nach-
zeichnen und dabei die Begründung eines Handlungsablaufs in Begriffen
des konkreten Handlungskontextes analysieren.
2. räumt ein rekonstruktionslogisches Interpretationsverfahren dem em-
pirischen Gegenstand die Möglichkeit ein, in der Sprache des Falls das
Verhältnis zu bspw. Milieus und Netzwerken zu formulieren. Gewonnene
Hypothesen werden dabei am Fall fortschreitend überprüft.
3. Dieses Interpretationsverfahren weist dem empirischen Feld die heuri-
stische Möglichkeit ein, etwas Neues als Neues zu beschreiben.
Diese Methode wird hier auch als Methode der Raumanalyse angesprochen, da
sie die Konstruktionsleistung und Anordnungspraxis von Sozialbeziehungen
systematisch in den Vordergrund stellt (Löw 2001). Dabei wird die Produktion
von Raum aus dem praktischen Bewusstsein der Handelnden abgeleitet, wo-
durch die Prozesse der Konstituierung von Raum anhand erfolgter Synthese-
leistungen benannt werden.
Forschungsdesign
Für die folgenden vorgestellten Fallanalysen wurden vier Unternehmen ausge-
wählt. Auswahlkriterien waren, dass, sie
A.) zwischen 2001 und 2002 eine Unternehmensgründung vollzogen und so-
46
mit eine Statuspassage (Kluge 2001) durchlaufen haben, dass sie
B.) im Segment der Symbolproduktion tätig sind und dass sie
C.) einen Arbeitsstandort in Berlin aufweisen.
Die Auswahl der jeweiligen Unternehmen erfolgte regelgeleitet, nach einem
Einstiegsfall, anhand minimaler und maximaler Kontrastierungsregeln. Als Da-
tenmaterial wurden – auf der Grundlage von unstrittigen Datengrundlagen
– drei weitere Datentypen generiert: Zum einen transkribierte Experten-Inter-
views zur Unternehmerwerdung und ihren Strategien, des weiteren Beobach-
tungs- und Feldprotokolle von Events, Ausstellungen, Lesungen, Parties und
Happenings der Unternehmer sowie zuletzt Mikrokartografien, d.h. Mappings
der Arbeits- und Präsentationsräume, wie sie im Sinne der Workplace-Studies
generiert werden (Knoblauch 1996; 2000). Aus den sodann vorliegenden Da-
ten konnten systematisch Typiken gebildet sowie Strukturmerkmale am Fall
rekonstruiert werden. Die Fallhypothesen wurden anhand minimaler und
maximaler Konstrastierungen einerseits im Forschungsprozess andererseits
rückwirkend überprüft. Zentrales Erkenntnisziel der Fallanalyse war es, anhand
der Prozesse der Raumproduktionen, Erkenntnisse über Marktformierung zu
erhalten.
5. Raumproduktion durch Mikropolitiken
In drei Schritten werden nun thesenartig zentrale Ergebnisse vorgestellt: Zu-
nächst (1.) wird anhand eines Referenzfalls erläutert, wie sich die rekonstru-
ierten Mikropolitiken vollziehen, anschließend werden (2.), die Raumprodukti-
onsprozesse der Designszenen vorgestellt, die zugleich Funktionslogiken der
Unternehmerwerdung anhand von Eckpunkten der kulturellen Geographie
Berlins aufzeigen und abschließend wird (3.) die rekonstruierte Typik „Culture-
preneur“ diskutieren:
47
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 2: Culturepreneurs in der Kreativwirtschaft: Markt - Raum - Szene
5.1�Referenzfall
Der Referenz-Fall: Drei Männer haben in Köln bis Mitte 2000 Graphik-Design
studiert. Aufgrund unzufriedener Arbeitsbedingungen, schlechter Auftrags-
lage und dem Wunsch nach Neuorientierung ziehen sie nach Berlin um und
arbeiten dort als Selbständige von zu Hause für ihre alten Kunden und nehmen
an Wettbewerben teil. Ende 2001 beziehen sie in Prenzlauer Berg ein altes La-
denlokal und gründen ein Büro.
Abbildung 1a: Grundriss der Arbeitsräume des Referenzfalls
48
Abbildung 1b: Grundriss der Arbeitsräume des Referenzfalls (Quelle: Eigene Darstellung)
Abbildung 1c: Grundriss der Arbeitsräume des Referenzfalls (Quelle: Eigene Darstellung)
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 2: Culturepreneurs in der Kreativwirtschaft: Markt - Raum - Szene
Die Abbildungen 1a-c zeigen den Grundriss ihrer Arbeitsräume, basierend auf
Mikrokartierungen. Abbildung 1a zeigt die Anordnung in ihrem Büro, dessen
monatliche Miete ca. 500 Euro beträgt. Zu Beginn renovieren die Protagonisten
die Räumlichkeiten selbst, bringen ihre Technik mit, organisieren Tischplatten,
stellen eine Netzverbindung per frei hängendem Kabel über den Innenhof zu
einem anderen Büro gegenüber her. Nach der Eröffnung programmieren sie
ihre Arbeitsräume temporär zu einer Sushibar (Abb. 1b) um und laden dazu
Konkurrenten und Kollegen ein. Diese Abbildung zeigt die veränderte Anord-
nung, Codierpraktiken sowie die eingesetzten Mittel. Wenige Wochen später
wird der Arbeitsraum zu einer Galerie umprogrammiert (Abb. 1c), bei der eine
Bekannte ihre Arbeiten ausstellt, für die sie Buchlayout und Corporate Design
erarbeitet haben. Bei beiden Events entgrenzt sich ihr Arbeitsraum zur Partylo-
cation. Was zeigt sich an diesem Referenz-Fall?
Die Neuprogrammierung – vom Arbeitsraum zum Ausstellungsraum – er-
zeugt zunächst Irritation und Unsicherheit, sie spielt mit gewohnten Wahrneh-
mungen, macht neugierig und gibt Anlass für Gespräche über das scheinbar
andere. Mikropolitiken sind also zunächst inszenierte Ereignisse, die Orte als
soziales Feld auftauchen lassen. Ein Ereignis zieht Trägergruppen an einen so-
zialen Ort zusammen, und die dabei sich vollziehenden Praktiken geben den
codierten Ort als soziales Feld zu erkennen. Ebenso schnell – so zeigen die
Feldbeobachtungen – taucht das soziale Feld aber wieder ab, Ereignisse wer-
den verlagert und ausgelagert. Dadurch wird eine Differenz zur alltäglichen
Wahrnehmung hervorgerufen, Gewohnheiten und Routinen vermieden, aber
auch subtil verlangt, Integration zu erarbeiten. Die von mir beobachteten un-
geplanten Zeitrhythmiken der Ortsinszenierungen verschaffen diesen jungen
Unternehmern ein Maß an struktureller Autonomie, in dem sie soziale Massen-
bildungen reflexiv für ihre Zwecke beeinflussen. Sie versuchen dadurch soziale
Gefolgschaften sowie Handlungssicherheit für die Vorstellungen ihrer Selbst
50
sowie ihrer Produkte zu erlangen.
Mikropolitiken erzeugen dabei soziale Intensitäten und erregungsreiche Ver-
dichtungen, die Aufmerksamkeiten nach sich ziehen und als Effekt darauf
abzielen, Trends, Stile und Codes, kurzum: immaterielle und symbolische Pro-
dukte, in soziale Beziehungsnetze hineinzufiltern. Diese Mikropolitiken zielen
zunächst also auch darauf ab, Produkte – Sounds, Bilder, Texte, Techniken, Gra-
fiken – auf ihre performative Wirkung hin zu testen. Der soziale und perfor-
mative Prozess des Testens vollzieht sich in den temporären Räumen dieser
Akteursnetze. Dabei können sich die performativen Qualitäten von immateri-
ellen Produkten in Netzwerksozialitäten entfalten und sodann verhandelt wer-
den. Somit werden Bündnisoptionen aber auch Marktbeobachtung möglich.
Zusammenfassend heißt dies, dass Mikropolitiken als räumliche Praktiken zu
verstehen sind, da sie privat-gemeinschaftliche Räume temporär öffnen und
entgrenzen, um dadurch Anlässe zu geben, diese als strukturierendes Element
von Szeneformationen wirken zu lassen.
Die strategische Verflüssigung von bestehenden Raumgrenzen eröffnet eine
Differenz zur alltäglichen Wahrnehmung. Die sich an diese Ereignisse angela-
gerten Erlebnisdimensionen werden als wichtig aufgefasst, da erst dadurch das
kommunikative Vokabular generiert werden kann, mit dem dann ausgespro-
chen werden kann, worin die Erlebnisqualität eines dabei ausgestellten und
somit charismatisierten Gegenstandes, also eines zum Testen bereitgestellten
immateriellen Produktes, überhaupt liegt. Mikropolitiken sind in ihrer Wirkung
selektiv sowie subtil. Selektiv, weil einerseits gezielt soziale Massenbildungen
bezweckt werden. Subtil, weil andererseits temporäre Integration in die soziale
Formation „Szene“ auf körperlich-intuitiven Dimensionen des sich Einlassens
und einlassen Könnens basiert.
Gerade die letztere Dimension der rekonstruierten Mikropolitiken führt zu der
Frage, wie sich dieses Erfahrungswissen erklärt, Sozial-Räume in dieser Art und
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 2: Culturepreneurs in der Kreativwirtschaft: Markt - Raum - Szene
Weise zu produzieren, zu organisieren, zu eröffnen und zu begrenzen? Die Ant-
wort, so könnte man paraphrasierend sagen, liegt im Raum, präziser, in Erleb-
nis- und Erfahrungsdimensionen des Städtischen.
5.2�Die�Raumproduktionsprozesse�der�Designszene
Im zweiten Ergebnisteil werden die Raumproduktionsprozesse der Designsze-
nen vorgestellt, wobei gezeigt wird, welche Muster von gelebter wie erlebter
Stadt diesen skizzierten Raumpraktiken zugrunde liegen. Im Vordergrund
steht dabei die Frage, wie sich die Protagonisten zu der Fremdzuschreibung
„kreativ“ verhalten. Da der Begriff kreativ einerseits ein Begriff aus der All-
tagssprache ist, andererseits eine Beschreibungskategorie von professionell
Tätigen, stellt sich ein eindeutiger Bezug zu den Symbolproduzenten des
Designbereichs her. Sich mit diesen Trägergruppen, ihren Formen der Verge-
meinschaftungen zu beschäftigen, heißt aber nicht, auf den originär kreativen
Schaffensakt, der zur Produktion eines Zeichens, Codes und Symbols führt, zu
fokussieren. Vielmehr erscheint ein direktionales Ich-Welt-Verhältnis, wie es die
Aussage von Ilse Helbrecht „Look and Feel“ suggeriert (Helbrecht 2004) proble-
matisch, da sie unterstellt, dass ein direkter Zugriff auf Welt möglich ist. Spra-
che, Kultur und Wissen sind aber Elemente der Triade zwischen Ich-Kultur-Welt.
Daher lieferten die mit dem Begriff Kreativität einhergehenden Diskurse und
diskursive Verfahren zunächst Attribute wie Nonkonformismus, Expressivität,
Flexibilität und Originalität, die professionssoziologisch Künstler zugewiesen
wurden (Koppetsch /Burkart 2002), die in verstärktem Maße in unternehmens-
bezogenen Professionen, Verständnissen von Entrepreneurship aber auch be-
trieblichen Optimierungstechnologien wirkungsmächtig werden. Die Effekte
dieses Wertetransfers zeigen sich in all ihrer Ambivalenz gerade bei diesen
jungen Selbständigen als Dienstleister in den sog. kreativ-urbanen Wissensö-
52
konomien: Implementierte Raumbilder wie Cool Britannia, Generation Berlin
und City of Design sind sodann Imaginationen eines ästhetisch begründeten
sowie erregungsreichen National- und Stadtraums, von dem aus sich Auffor-
derungen an das Individuum ableiten, im Zuge des Umbaus des ehemals vor-
sorgenden Wohlfahrtsstaates hin zu einem unternehmerischen neoliberalen
National- und Stadtregime proaktiv für sich selbst unternehmerisch Sorge zu
tragen. Dies verkoppelt sich ideal mit dem skizzierten Wertetransfer: Sei du
selbst, entdecke die Stadt, heißt aber auch, die Kehrseite, das Scheitern, oder
Verharren in soziökonomisch prekären Lebenslagen zu verantworten: Die von
mir empirisch identifizierten Selbstcharismatisierungen der Unternehmer sind
daher als notwendige Selbst vergewissernde Akte innerhalb eines Marktes zu
verstehen, in dem das Selbst strategisch artikuliert werden muss.
Daran zeigt sich, dass die Gültigkeit von kodifizierten Bildungserträgen – also
kodifizierten Wissen- und Kompetenzerträgen – abnimmt und formalisierte in-
stitutionelle Rahmungen der Vergewisserung noch kaum existieren. Als Alter-
native gegenüber einem anthropologischem Kreativitätsverständnis wird es
analytisch als zielführender erachtet, „organisationale Kreativität“ (DiMaggio /
Powell 1983) in den Fordergrund zu stellen, die ihre Relevanz in spezifischen
Vergemeinschaftungen, d.h., sozialräumlichen Netzwerken zu erkennen ge-
ben. Diese basieren auf mittels Sprache und Körper initiierten Interaktionen.
Daher ist ein Begriff von Wissen hilfreich, der neben der Dualität von kodifi-
ziertem und implizitem Wissen auch Alltagswissen, institutionelles Wissen, Ex-
pertenwissen und Milieu- und Netzwerkwissen im Stande ist zu berücksichti-
gen (Matthiesen /Bürkner 2004).
Die Untersuchungen zeigten , dass die rekonstruierten Marktformierungen
im Wesentlichen auf subkulturellem, also Milieuwissen, basieren, dass maß-
geblich an Bedeutung bei der Formierung einer Unternehmensgründung
gewonnen hat. Die untersuchten Trägergruppen geben in ihren Äußerungen
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 2: Culturepreneurs in der Kreativwirtschaft: Markt - Raum - Szene
Wissensbestände zu erkennen, die ihren Ursprung in generationell geteilten
Erlebnissen des Städtischen haben. Damit gibt sich ein spezifisches Muster
Berlins zu erkennen, dessen Ausgangspunkte und dessen Ursprung in hetero-
genen Spontankulturen der Berliner Nachwendezeit liegt. Diese erzählen von
kurzen utopischen Momenten, die sich einstellten, als die politische Wende
der Stadt und ihren Bewohnern unvorbereitet Raum anbot. Tanz-, Party-, Sub-
und Musikkulturen der frühen 1990er Jahre waren regelrechte Befreiungsbe-
wegungen aus der damaligen räumlichen und politischen Enge. Spontane
Raumaneignungen auf frei gesetzten Orten der Stadt verbanden sich zu Prak-
tiken der temporären Nutzung und Umprogrammierung. Diese losen Verge-
meinschaftungen vollführten in dieser offenen Situation eine mäandrierende
Bewegungs- sowie Entdeckungspraxis durch die Stadt und schufen so einen
szenespezifischen Erlebnisraum Stadt. Diese Praxis synthetisierte sukzessiv
neue Räume und repräsentierte neue kulturelle Geographien. Mit ihnen for-
mierten sich kollektiv geteilte Narrative eines entgrenzten wie entgrenzbaren
Erlebnisraums Stadt. Entgrenzt, weil Orts- und bestehende Territorialgrenzen
kurzfristig verflüssigt wurden; entgrenzbar, weil eine junge Generation aus be-
stehenden sozialen Positionen ausbrach, um in mäandrierenden Vergemein-
schaftungen körperlich in dem Erlebnisraum Stadt aufzugehen.
Diese Erlebnisse sedimentierten zu wirkungsmächtigen Deutungsschemata
über das Städtische, einer Aufbruchs- und Ausbruchszeit in unerwartete und
unbestimmte Möglichkeitsräume. Dieses Muster hat sich aber von seiner sub-
jektorientierten Funktion im Verlauf der Zeit zu einer Formkategorie sozialen
Wissens über das Städtische innerhalb heterogener Szenen transformiert, si-
cherlich dabei globalisiert, territorial entgrenzt und mythologisiert.
Die Fallanalysen zeigen, dass diese Wissensdimension aber nach wie vor Ori-
entierungswissen für Gegenwart und Zukunft bereitstellt, und gibt sich in
Form von Raumpraktiken und erfahrungsabhängigen Erwartungsstrukturen
54
der jungen Unternehmer zu erkennen. Sie artikulieren sich in Events – die
hier als Mikropolitiken angesprochen wurden – also unternehmerischen Op-
tionen, um sich Vergewisserungen zu verschaffen, Sinnvergewisserungen im
Prozess der Unternehmensgründung und der Entwicklung von Produktion
zu erlangen und indirekt daran zu wirken, dass kollektive Auffassungen wei-
ter bestehen. Auch 15 Jahre nach der Wende kehren somit, überspitzt gesagt,
kulturell-räumliche Berliner Erwartungshaltungen nach Berlin zurück. Dieser
Erfahrungsraum und Mythos der Nachwendezeit ist das kulturelle Leitmotiv,
dessen versierte Bedienung als eine wesentliche Eintrittskarte aufgefasst wird,
um in einen instabilen Markt zu gelangen. Was bedeutet dies zusammenge-
fasst für die unternehmerische Praxis und die Formierungslogik des Design-
marktes von Berlin?
Szenepraktiken infiltrieren nicht nur den Prozess der Unternehmerwerdungen,
sie sind zur maßgeblichen Bedingung ihrer Formierung avanciert. Vormals in-
formelle Netzwerke transformierten sich zu Professionsszenen, die ein Mindest-
maß an individueller und kollektiver Vergewisserung leisten. Die Ambivalenz
ihrer Raumpraktiken besteht darin, dass ihre Lebensentwürfe und Projektbe-
ziehungen einerseits auf hohe soziale und berufliche sowie transnationale Mo-
bilität ausgerichtet sind, also regelrecht ortlos in Beziehungsnetzen operieren.
Andererseits weisen sie regelrecht klientilistische Inklusionsmerkmale auf. Zu-
gänge dazu beruhen auf der Kennerschaft von Zeichen und ihrer Erfahrbarkeit.
Nicht zuletzt dadurch ergeben sich nicht unproblematische Kompetenzkon-
stellationen, auf die am Ende eingegangen wird.
5.3�Szene
Die Prozesse der Raumproduktion sprechen somit auch für einen kontextsensi-
tiven Umgang des Begriffs Szene. Zusammenfassend zeigt sich, dass Szene als
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 2: Culturepreneurs in der Kreativwirtschaft: Markt - Raum - Szene
eine sozialräumliche Strukturkategorie anzusprechen ist. Sie weist flexible, er-
eignisbasierte Interaktionsformen mit erhöhter Binnenkommunikation auf, die
durch implizites, geteiltes Wissen um gemeinsame Praxisformen geprägt sind.
Szenen eröffnen nicht nur Erwerbsoptionen, sie strukturieren aufgrund ihrer
Raumpraktiken professionelle Beziehungsnetze. Anhand dieser Eckpunkte des
Szeneverständnisses erfolgt eine Abgrenzung zu anderen Szenedefinitionen,
die Inszenierungspraktiken, wie dies bspw. Ronald Hitzler macht, entweder ne-
ben Raum stellen und Raum als Behälterraum neben Soziales denken oder ihn
ganz ignorieren (Hitzler/ Bucher u.a. 2001, Hitzler /Pfadenhauer 2004). Andere
benennen anhand des Szenischen die Unmittelbarkeit des Städtischen (Hasse
2002; 2008, Janson 2004). Dabei wird meiner Auffassung nach die strukturie-
rende Wirkung von Szenewissen und Szeneerfahrungen auf sozialräumlicher
Ebene außer Acht gelassen. Das hier im Vordergrund stehende Potential des
Szeneverständnisses erweist sich somit auch als Konzept zur Analyse von Raum.
Die Leistungsfähigkeit besteht gerade darin, die durch Anordnungspraktiken
initiierten informellen Vergemeinschaftungen auf ihre Raum strukturierenden
Effekte hin zu überprüfen. Thematische Szenen strukturieren sich somit um Or-
ganisations- und Professionseliten, die im Wesentlichen durch Protagonisten
getragen werden, die hier mit dem Begriff Culturepreneur, eingeführt wurden.
5.4�Culturepreneur
Der Begriff ist hybrid, er stellt gewissermaßen eine These dar. Sie besagt, dass
sich zwei vormals schwer vereinbare Wertkonzepte, zum einen repräsentiert
durch zweckrationales Unternehmertum sowie zum anderen Künstlerattri-
bute, zu einer neuen Unternehmertypik vereint haben. Aufgrund der Ergeb-
nisse der Fallrekonstruktionen in Berlin ist aber nicht von einer nachhaltigen
Hybridisierung im Sinne einer gleichberechtigten Integration der beiden Wer-
56
tekonzepte auszugehen: Gerade auf der Ebene des Wissensmanagements
zeigt sich, dass sich betriebswirtschaftliches Wissen systematisch kaum zu er-
kennen gibt. Vielmehr sind Beziehungsressourcen zu vormals subkulturellen
Milieus wichtiger. Das ist der prekäre Punkt dieser jungen Trägergruppen, den
die Fallrekonstruktion benennen konnten: Unternehmerisches Verfahrenswis-
sen wird durch clubaffine und somit subkulturelles Netzwerkpraktiken kom-
pensiert. Dabei artikuliert sich ein Spiel mit der Differenz des örtlich partiku-
laren. Die rekonstruierten Praktiken der Raumaneignung lassen sich aber nicht
als kreativ im Sinne schöpferischen Tuns auffassen. Vielmehr entfalten die
Trägergruppen ortskompatible Praktiken, die ihnen Marktzugänge eröffnen.
Da die hier zur Debatte stehenden beruflichen Praktiken sich in einen extrem
informellen Kontext eines jungen Marktes entfalten – der kein formalisiertes
Regelwerk sowie keine wirkungsmächtigen Institutionen bereithält – führt
dies dazu, dass sich kontextbedingt variationsreiche und abwechslungsreiche
Praktiken einstellen, deren Begründung in milieuspezifischen Erfahrungen
der Clubsozialisation verortet werden. Daraus resultieren für die Trägergrup-
pe Effekte, die ihnen passende Positionierungen am Markt erst ermöglichen,
die relevant für ihre unternehmerische Existenz sind. Da die Absatzmöglich-
keiten in Berlin aufgrund der nach wie vor schwachen Haushaltslage und der
nach wie vor schwachen ökonomischen Entwicklung des Gesamtmarktes, v.a.
im Vergleich zum Beispiel der Situation Londons, gering sind, führt dies dazu,
dass diese Kreativszenen notwendigerweise im radikalen Spiel mit der Diffe-
renz verharren. Nicht weil das Spaß macht, sondern weil Arbeitskraftüberan-
gebote sowie fehlendes Finanzkapital und ein immenser Innovationsdruck
aufgrund der rasant abnehmenden Halbwertzeit der Gültigkeit von Innovati-
onen, einen prägenden und bestimmenden Rahmen dieses Marktes darstel-
len. Bildlich gesprochen führt das dazu, dass die Professionsszenen dadurch
in ihrem Variationsreichtum blühen, blühen müssen, im Grunde genommen
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 2: Culturepreneurs in der Kreativwirtschaft: Markt - Raum - Szene
aber soziökonomisch auf dem Trockenen sitzen. Aus dieser Sicht ist es nicht zu
einer Etablierung einer breiten Schicht von Kreativunternehmern gekommen,
die marktkonforme Produkte global anbieten können.
Ihre ökonomische Prekarität steht sodann mit den flexiblen Raumpraktiken in
einem interdependenten Verhältnis: Die sog. Kreativszene Berlins – hier exem-
plarisch am Fall der Designszene vorgestellt – arbeitet zweifelsohne am Image,
der Imagination und der Konstitution der Stadt. Von einer Creative City, bei der
die Präsenz von Symbolproduzenten zu ökonomischen Folgeeffekten für die
Stadt führt, im Sinne der These von Richard Florida (Florida 2005), kann aber
keine Rede sein.
6. Ausblick
Alternativ könnte man den Berliner Typus nach dem Institutionsökonom Bir-
ger Priddat (Priddat 2005) als „unvollständigen Akteur“ ansprechen. Also nicht
Hybridität, sondern notwendige Adaptionsoffenheit. Gerade in komplexer
werdenden und krisenbehafteten Ökonomien sind kulturelle Unübersicht-
lichkeiten und Marktunsicherheiten ernstzunehmende Kontextparameter. Sie
nehmen in subjektiven und sozialen Positionierungsbeschreibungen dieser
Unternehmer und ihren Perspektiven auf Marktprozesse eine zentrale Rolle
ein. Nicht nur in Berlin, sondern auch in Großstädten Ostdeutschlands und Ost-
europas, in denen sich vormals wohlfahrtsstaatliche, ostfordistische und spät-
kapitalistische Raum- und Institutionsstrukturen mit globalisierten verzahnen
und dadurch von verlässlichen Kontextrahmungen keine Rede sein kann. Am
Wissensobjekt Berlin konnte somit gezeigt werden, dass gerade der eupho-
rische Diskurs in der Stadt- und Wirtschaftsgeographie über eine sog. „krea-
tive“ Stadt und „kreative Trägergruppen“ – hier exemplarisch am Fall der „City
of Design“ – zunächst auf seine vielschichtigen Bedingtheiten kontextsensitiv
überprüft werden muss.
58
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 3: Zwischen Kunst und Kommerz: Existenzgründung von Künstlerinnen und Künstlern –
Das Fallbeispiel Career & Transfer Service Center an der Universität der Künste Berlin
Angelika�Bühler� �
�
Zwischen Kunst und Kommerz: Existenzgründung von Künstlerinnen und Künstlern – Das Fallbeispiel Career & Transfer Service Center an der Universität der Künste Berlin
68
Das Career & Transfer Service Center an der UdK Berlin (CTC) ist bundesweit
das erste Career Center an einer künstlerischen Hochschule; es informiert und
berät die Student/innen und die Absolvent/innen der Universität der Künste
Berlin (UdK), der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, der Hochschule für Mu-
sik „Hanns Eisler“ und der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ über
ihre Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt, über ihre spezifischen Kompetenzen,
begleitet sie auf dem Weg in die Selbständigkeit und unterstützt damit ihre
Positionierung auf dem Kunst-, Musik-, Medien- und Kulturmarkt.
1. Hintergrund
Im Juni 2001 konnte das Career & Transfer Service Center (CTC) durch die Kofi-
nanzierung aus EFRE-Strukturfondsmitteln an der Universität der Künste Berlin
implementiert werden. Die durch diese Mittel finanzierten Personalmittel wur-
den für den Schwerpunkt individuelle Beratung genutzt und parallel wurden
weitere Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) eingeworben, die für
das Programm Toolbox for Work and Living im Rahmen von Workshops einge-
setzt werden. Die Drittmittelfinanzierung ist in Berlin auf alle Career Center an
den Hochschulen angewandt worden.
Seit Januar 2004 wurde die Kooperation mit den drei anderen künstlerischen
Hochschulen Berlins institutionalisiert und weiter verstärkt.
In den Jahren 2003 bis 2008 wurden am CTC an der UdK sechs Programme
umgesetzt, die in der folgenden Darstellung des Konzeptes und Angebotes
beschrieben werden. In diesen Projekten wurden fast 550 ausführliche – oft
mehrstündige – Beratungen durchgeführt und es haben mehr als 2.800 Teil-
nehmerinnen und Teilnehmer die Workshops besucht.
69
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 3: Zwischen Kunst und Kommerz: Existenzgründung von Künstlerinnen und Künstlern –
Das Fallbeispiel Career & Transfer Service Center an der Universität der Künste Berlin
2. Aufgabe und Konzept des Career & Transfer Service Centers (CTC)
Das Career & Transfer Service Center an der UdK Berlin hat zum Ziel, die Stu-
dentinnen und Studenten aller Fakultäten und die Absolventinnen und Absol-
venten der künstlerischen Hochschulen Berlins über ihre Perspektiven in der
Kultur- und Kreativwirtschaft zu informieren und zu beraten. Am CTC werden
alle Dienstleistungen angeboten, die den Übergang zwischen Studium und
Beruf begleiten und unterstützen.
An den künstlerischen Hochschulen Berlins streben pro Jahr ca. 600 Studen-
tinnen und Studenten den Abschluss ihrer Ausbildung an. Die meisten verlas-
sen die Hochschule mit dem Titel: Diplom, Master oder Meisterschüler/in und
mit künstlerischen Erfahrungen, die sie aufgrund des ganz speziellen Rufs und
Renommees ihrer Hochschulen machen konnten. Obwohl sie während des
Studiums in allen Fakultäten Gelegenheiten hatten, den Kontakt zu Galerien,
Opernhäusern etc., aber auch zu Unternehmen zu knüpfen, benötigen die Stu-
denten/innen wie die Absolventen/innen aller künstlerischen Universitäten
weitere zusätzliche arbeitsmarktrelevante Fähigkeiten, die sie durch das Ange-
bot des CTC erhalten können. Das Career und Transfer Service Center der UdK
Berlin versteht sich als Clearing-Stelle zwischen Hochschule/Universität und
Arbeitswelt/-markt. Aufgabe des CTC ist es gemeinsam mit den Studentinnen
und Studenten, den für sie optimalen Weg ins Erwerbsleben zu finden – als
Selbständige, als Solounternehmer/in, als Angestellte oder als Start-Up sowie
die dazu nötigen Schritte einzuleiten.
Leitgedanken des Career & Transfer Service Centers sind:
» Der erfolgreiche Einstieg ins Berufsleben hängt entscheidend von der
vorangegangenen Praxiserfahrung und den Zusatzqualifikationen,
wie bspw. organisatorischen, sozialen, persönlichen, informationstech-
70
nischen und/oder sprachlichen Kompetenzen ab.
» Soft Skills wie Team- und Kommunikationsfähigkeit, systematisches kon-
zeptgeleitetes Denken, Innovationsfähigkeit und soziale Kompetenz gel-
ten als Voraussetzungen für den erfolgreichen Einsteig ins Arbeitsleben.
» Der Berufseinstieg funktioniert immer häufiger über Zeitverträge, Prakti-
ka und freie Mitarbeit. Es gibt kaum noch ein Kontingent von freien Stel-
len in den traditionellen Feldern, um die Studentinnen/Studenten sich
bewerben können. Im Gegenteil, auch die Wirtschaft und die öffentliche
Hand bieten in dem Angebot der Projektarbeit, in der Teamarbeit Mög-
lichkeiten für offene, junge Menschen.
» Mit ausgeprägten Handlungskompetenzen können Anfänger/innen und
Absolventen/innen beim Berufseinstieg glänzen.
3. Programme und Angebote des Career & Transfer Service Centers (CTC)
1. Individuelle Beratung - „Find your Individual Pathway!“
2. TOOLBOX for WORK and LIVING
3. Existenzgründung für Künstler/innen - zwischen Kunst und Kommerz
4. Kompetenzplattform für Künstler/innen
5. Selbstpositionierung von jungen Künstler/innen durch Qualifizierung
und Coaching
6. Sommerintensivkurse für die Culturepreneurs der UdK
7. Marketing und Selbstpositionierung für Künstler/innen durch Qualifizie-
rung und Coaching
8. Unterstützung der Akteure der Kultur- und Kreativwirtschaft bei ihrer
Selbstpositionierung
9. Weiteres Serviceangebot
71
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 3: Zwischen Kunst und Kommerz: Existenzgründung von Künstlerinnen und Künstlern –
Das Fallbeispiel Career & Transfer Service Center an der Universität der Künste Berlin
3.1�Die�Beratungsangebote�im�CTC
Da der Einstieg ins Erwerbsleben Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert, die im
Studium nicht direkt und fokussiert vermittelt werden, können Studentinnen
und Studenten, aber auch Absolventinnen und Absolventen der UdK diese Zu-
satzqualifikationen im Programm des CTC erwerben. Dabei baut das CTC auf
einem Beratungskonzept auf, das das jeweilige Individuum (sprich die Künst-
lerin, den Künstler) in den Mittelpunkt aller Aktivitäten stellt. Es werden detail-
lierte Profile der Ratsuchenden erstellt, die den weiteren Verlauf der Beratung
und die Auswahl der zur Verfügung stehenden Qualifizierungsangebote und
den jeweiligen individuellen Nutzen zur Profilschärfung in den Mittelpunkt
stellen.
Die Beratung steht unter dem Motto „Unterstützung zur Selbsthilfe“ – sie ist
an den individuellen Fragen der Einzelnen ausgerichtet und orientiert sich an
den speziellen Bedürfnissen der Ratsuchenden. Das Spektrum reicht von der
Beantwortung reiner Informationsfragen, der Erarbeitung von Recherche- und
Einstiegsstrategien oder Verbesserungsvorschlägen für bereits geplante Vor-
gehensweisen bis zur Reflexion der eigenen Biographie oder dem Abgleich
zwischen Berufsvorstellungen und inhaltlicher und ökonomischer Realität in
diesen Berufen. Ergänzt wird die Beratung durch Informationen, welche wei-
teren Quellen, Einrichtungen und Personen über das Angebot des CTC hinaus
beraten und weiterhelfen können.
Es handelt sich um eine individuell unterstützte Beratung,
» die das Anliegen der Ratsuchenden versteht und möglichst ganzheitlich
erörtert,
» die bedarfs-orientiert an den jeweiligen konkreten Fragen der Stu-
denten/innen anknüpft und dazu Auskunft erteilt,
72
» die ökonomie-orientiert die Marktchancen mit den betreffenden Stu-
denten/innen prüft, eine Planung (und Vision) entwirft,
» und die prozess-orientiert durch die verschiedenen Stadien begleitet.
3.2�TOOLBOX�for�WORK�and�LIVING
Im Rahmen der eigens entwickelten Veranstaltungsreihe „Toolbox for Work
and Living“ können Student/innen und Absolvent/innen zusätzliche Quali-
fikationen und „Werkzeuge“ für den Berufseinstieg und die berufliche Selb-
ständigkeit erwerben. Die Toolbox for Work and Living umfasst Workshops
zur beruflichen Orientierung und Zielsetzung, Präsentieren und Verhandeln,
Projektmanagement und Eigen-Sponsoring, Neue Medien und Presse- und Öf-
fentlichkeitsarbeit sowie Recht, Finanzen und Steuern, die in variabler Reihen-
folge besucht werden können.
Die Toolbox for Work and Living umfasst zudem Kurse, die seit der Gründung
des CTC in Absprache mit internen (den Studiengängen und Fachbereichen
der UdK) und vor allem externen Kooperationspartnern (Theatern, Opernhäu-
ser, kleinen und mittleren Unternehmen (KMUs), Beratungsgesellschaften, Un-
ternehmensberatungen, Fachexperte/innen) entwickelt wurden.
3.3�Existenzgründung�für�Künstler/innen�-�zwischen�Kunst�und�Kommerz
Um gezielt Absolventen/innen der künstlerischen Hochschulen Berlins auf ihr
zukünftiges eigenes Unternehmen vorbereiten zu können (und damit Insol-
venzen, Verarmung und Scheitern vorzubeugen), stellt das CTC an der UdK seit
2005 den Absolventen/innen ein gezieltes Beratungsangebot und Qualifizie-
rungsangebot „Existenzgründung“ zur Verfügung.
Die Beratungs- und Qualifizierungsangebote bauen aufeinander auf und
können auch unabhängig von einander genutzt werden. Sie beinhalten die
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 3: Zwischen Kunst und Kommerz: Existenzgründung von Künstlerinnen und Künstlern –
Das Fallbeispiel Career & Transfer Service Center an der Universität der Künste Berlin
folgenden Teile: Beratung, Qualifizierung und Coaching (in Einzelfällen auch
Nachbetreuung).
Das Leistungsangebot umfasst:
1. Beratung und Begleitung: individuell und praxisorientiert, der „Arbeits-
welt“ der Künstler/in entsprechend vor, während und nach der Existenz-
gründung
2. Qualifizierungen (Workshops) für ein Existenzgründer-Know-how
Mit den folgenden Fragen kommen die „Freiberufler/innen“ zum Career Center
der UdK in die Beratung:
» Woher bekomme ich Infos über die Selbstständigkeit?
» Wie fülle ich den Betriebsfragebogen des Finanzamtes aus?
» Was bedeutet es, wenn mir das Finanzamt Liebhaberei unterstellt?
» Wer ist Freiberufler/in und wer braucht einen Gewerbeschein?
» Wofür benötige ich ein Unternehmenskonzept?
» Wie baue ich allgemeine Geschäftsbedingungen auf?
» Wie optimiere ich mein Marketing?
» Wie ermittle ich mein Honorar? Wie kalkuliere ich „meinen“ Preis?
» Wie bekomme ich detaillierte Informationen über meine Kunden und
Konkurrenten?
» Wie mache ich mein Unternehmen in der Öffentlichkeit bekannt?
» Welche Versicherungen benötige ich?
» Wie buche ich Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben? Rechnungen
stellen, Einnahmen, Ausgaben – Was muss man wissen? Was ist eine Ein-
nahme-Überschuss-Rechnung?
» Muss ich die Mehrwertsteuer abführen?
» Wie teile ich die Kosten eines privat und geschäftlich genutzten Telefon-
74
anschlusses auf?
» etc.
Diese Fragen zeigen beispielhaft auf, wie notwendig ein strukturiertes inte-
griertes Konzept zur Existenzgründung speziell und individuell für Künstler/
innen ist.
3.4�Kompetenzplattform�für�Künstlerinnen�und�Künstler
Die Kompetenzplattform des CTC informiert, unterstützt, sammelt und struk-
turiert Informationen und Wissensbausteine sowohl für Künstler/innen, die
sich in die Selbständigkeit begeben, als auch für Kreative, die sich mit ihren
Portfolios und Kompetenzpässen auf dem Markt direkt bewerben. Die meisten
der Absolventen/innen landen nicht sofort in Anstellungen und sie gründen
auch nicht sofort ihr eigenes Unternehmen. Die Übergangszeit kann genutzt
werden, um Kompetenzen zu analysieren, die sich für den Markt eignen, und
zu recherchieren, wie sich künstlerisches Know-how vermarkten und gegen
den Mainstream verwerten lässt.
Die Möglichkeiten, die die Plattform den Absolventen/innen der vier künstle-
rischen Hochschulen bietet, wird sie im Wettbewerb als gleichwertige Partner
arbeiten lassen.
Ein wichtiges Ziel ist die Möglichkeit für Studenten/innen und Alumni ihr per-
sönliches (Kompetenz)Portfolios zu erstellen.
Ein solches Portfolio der Nutzer/innen der CTC der UdK enthält:
» einen Lebenslauf, der den europäischen Maßstäben entspricht;
» ein Dossier, d.h. eine repräsentative Sammlung eigener Schlüsselqualifi-
kationen, die etwas über den Künstler oder die Künstlerin und seine bzw.
75
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 3: Zwischen Kunst und Kommerz: Existenzgründung von Künstlerinnen und Künstlern –
Das Fallbeispiel Career & Transfer Service Center an der Universität der Künste Berlin
ihre besondere Ausprägung und Qualität aussagen; dazu kann im Laufe
der Zeit eine Biografie kommen mit Selbst- und Fremdeinschätzungen
sowie erworbenen weiteren Qualifikationen;
» einen Kompetenzpass, in dem die Teilnehmer und Teilnehmerinnen ihre
Kompetenzen umfassend dokumentieren und so dem potentiellen Kun-
den oder Arbeitgeber in Kurzform einen Überblick über den Umfang der
Kompetenzen vermitteln. Außerdem gibt er eine Selbsteinschätzung
entsprechend dem europäischen Referenzrahmen ab.
3.5�Selbstpositionierung�von�jungen�Künstler/innen�durch�Qualifizierung�und�
Coaching
Die Veranstaltungsreihe bietet ein breites Workshopangebot, innerhalb des-
sen fachübergreifende Fähigkeiten und „Werkzeuge“ für den Berufseinstieg
und die berufliche Praxis erworben werden können. Themen wie Mediapla-
nung, Pressearbeit und Fundraising stehen neben Informationen zur sozialen
Absicherung sowie Rechts- und Steuerfragen im Mittelpunkt.
Mit diesem Programm etabliert das CTC ein Unterstützungssystem für Absol-
venten/innen, die sich im Kunst- und Kulturbereich selbstständig machen wol-
len. In Workshops werden mit Experten/innen u.a. fachliche, kaufmännische,
persönliche und gesetzliche Voraussetzungen für eine selbständige Tätigkeit
erarbeitet. Ein individuelles Coaching begleitet den Prozess der Selbstvermark-
tung und Existenzgründung.
3.6�Sommerintensivkurse�für�die�Culturepreneurs�der�UdK
Die Sommerakademie Marketing ist ein Vorhaben, das Marketing und Kompe-
tenzerweiterung für die Student/innen und Absolvent/innen der vier Berliner
künstlerischen Hochschulen in den Fokus setzt.
76
Erstmals setzt das CTC ein kompaktes Programm um, das exakt auf die Bedürf-
nisse der Künstler/innen zugeschnitten ist – mit dem Ziel, sowohl solides Me-
thodenwissen als auch Erfahrungswissen zu präsentieren. Die Dozent/innen
sind Unternehmer/innen und Freiberufler/innen, Wissenschaftler/innen und
Praktiker/innen.
Das notwenige Sich-zeigen und Sichtbar-machen, bei der Wirkung von Kunst
und Kultur die ökonomischen Spielregeln kennen – all das wird nach dem
Studium notwendiger Bestandteil des künstlerischen Alltags. Überall wird es
sonst Marketing genannt, aber für die Kreativschaffenden muss Marketing an-
ders sein. In den Intensivwochen wird aufgezeigt, dass Marketing bzw. Selbst-
vermarktung Spaß machen und die Lebensfreude steigern kann. Dazu werden
aktuelle Erscheinungsformen und Entwicklungen des Marketings ebenso the-
matisiert wie erfolgreiche Strategien und Methoden für unterschiedliche Be-
rufsgruppen. Marketing auf dem Kunst- und Kulturmarkt ist die Aufgabe aller
Künstler/innen, aber noch nicht ihr Anliegen – dazu wollen jedoch die Inten-
sivwochen mit ihren spezifischen Angeboten beitragen.
Die Workshops sprechen dementsprechend Künstler/innen aller Disziplinen
an und werden unterteilt in
» Grundlagenwissen,
» aufbauende, fachspezifische Workshops,
» und Werkstätten.
3.7� Marketing� und� Selbstpositionierung� für� Künstler/innen� durch� Qualifizie-
rung�und�Coaching�unterstützen
„Selbstpositionierung“ ist im Sprachgebrauch des CTC und seiner Zielgruppe
der generelle Markteintritt, ohne sofort einzuteilen in „zukünftige Angestellte“
oder „zukünftige Unternehmer/in“.
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 3: Zwischen Kunst und Kommerz: Existenzgründung von Künstlerinnen und Künstlern –
Das Fallbeispiel Career & Transfer Service Center an der Universität der Künste Berlin
Alle Angebote und Formate, die in diesem Projekt angeboten werden, bau-
en auf dem Wissen auf, dass sich die Arbeits- und Einkommenssituation von
Künstler/innen folgendermaßen gestalten: sie haben einen Vertrag, sie sind
gleichzeitig Freiberufler/in und arbeiten zusammen mit anderen bereits in
einem nächsten lokalen oder internationalen Projekt. Sie sind trotzdem Ein-
zelpersonen, also diejenigen, die durch ihr Schaffen Urheber- und Leistungs-
schutzrechte erwerben, die am Anfang aller Wertschöpfungsketten stehen
(vgl. Kulturpolitische Tagung Berlin, November 2007).
Die Qualifizierungen, sprich Workshops, wenden sich sowohl an potentielle
„Angestellte“ und „Existenzgründer/innen“ und die Schnittmenge derjenigen,
die bereits sowohl freiberuflich als auch angestellt oder in Projekten arbeiten.
In der Beratung und im Coaching, die für die/den einzelne/n Teilnehmer/in den
Qualifizierungsanteil begleiten, werden ein individuelles Übergangsmanage-
ment von der Hochschule in die Selbstständigkeit oder aber in Berufsfelder wie
Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation, Architektur, Bühnenbild, etc.
oder in das Angestelltendasein – mit dem klaren Konzept, dass sich eine solche
Position in kürzester Zeit wandeln kann – entwickelt, dabei wird berücksichti-
gt, dass eigene Marketing-Strategien einen entscheidenden Anteil haben.
Das Leistungsangebot umfasst somit:
» Beratung und Begleitung: individuell und praxisorientiert, der „Arbeits-
welt“ der Künstler/in entsprechend (Coaching),
» Vermittlung notwendiger Qualifizierungen und Informationsweitergabe,
» Vernetzung und Kooperation in die Kreativwirtschaft Berlins.
78
3.8�Akteure�der�Kultur-�und�Kreativwirtschaft�bei�ihrer�Selbstpositionierung�un-
terstützen
Das aktuelle Programm des CTC will Existenzperspektiven für die Akteure der
Kultur- und Kreativwirtschaft entwickeln, die ihnen eine nachhaltige und er-
folgreiche Positionierung entsprechend der akademischen Qualifizierung auf
dem Kunst-, Kultur- und Medienmarkt ermöglicht. Dabei steht nicht nur die
Existenzgründung im Mittelpunkt, sondern ebenso die Existenzsicherung.
Ziele sind hierbei u.a.:
» Unterstützung von Freiberufler/innen,
» Unterstützung bei der Gründung innovativer Solounternehmen,
» Unterstützung beim Wachstum der Solounternehmen,
» Begleitung von GbRs und anderen Unternehmensformen bei der Ent-
wicklung wirtschaftlicher Geschäftsbereiche.
Die gezielte, bedarfs- und zielgruppenorientierte Beratung und Qualifizierung
bleibt natürlich ein Hauptbestandteil der Arbeit des CTC.
3.9�Das�weitere�Serviceangebot�des�Career�&�Transfer�Service�Centers
Vor Ort und „virtuell“ können beim CTC die folgenden Serviceleistungen ge-
nutzt werden:
» Information über regionale, nationale und internationale Praktika- und
Stellenangebote,
» Online-Recherchen zu aktuellen Ausschreibungen von Stipendien und
Wettbewerben,
» Vermittlung von Kontakten zu Gründernetzwerken,
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 3: Zwischen Kunst und Kommerz: Existenzgründung von Künstlerinnen und Künstlern –
Das Fallbeispiel Career & Transfer Service Center an der Universität der Künste Berlin
» Vermittlung von Kontakten in der Kultur- und Kreativwirtschaft,
» Literatur zur Berufsorientierung und Bewerbung: offen zugänglich für
alle,
» virtueller InfoPark zu Themen wie Einstiegsgehalt, Ateliersuche etc.,
» Online-Bewerbungen,
» offene moderierte Abendveranstaltungen zum Erfahrungsaustausch,
» Ausdruck der Bewerbungsunterlagen,
» Brennen von CD/DVD mit Bewerbungsunterlagen und Werkdarstel-
lungen.
So wird für Studentinnen und Studenten und Absolventinnen und Absol-
venten der vier künstlerischen Hochschulen Berlins ein gemeinsames Struktu-
rangebot geschaffen, das es ihnen ermöglicht, zum Ende ihres Studiums ihre
Fähigkeiten, Erfahrungen und ihr Wissen auf einem sich ständig wandelnden
Arbeitsmarkt innovativ zu präsentieren, dabei stetig pendelnd zwischen der
individuellen künstlerischen Entfaltung und dem kommerziellen Streben.
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 4: Selbständig in der Kreativwirtschaft: Das Fallbeispiel Media Exist – Das Gründer/innen-Zentrum Medien
an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ Potsdam-Babelsberg
Prof.�Dr.�Klaus-Dieter�Müller
Selbstständig in der Kreativwirtschaft: Das Fallbei-spiel Media Exist – Das Gründer/innen-Zentrum Me-dien an der HFF Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ Potsdam-Babelsberg
82
1. Kreativwirtschaft – was ist das? Welche gesamtgesellschaftliche Bedeu-
tung hat die Kreativwirtschaft in Deutschland?
Kreativ(wirtschaft) kann vieles sein, hierbei ist es nicht immer einfach, klar und
vor allem eindeutig abzugrenzen. Abbildung 1 stellt hierzu zunächst eine erste
Kategorisierung der Branchen in der Kreativwirtschaft heraus.
Abbildung 1: Branchen der Kreativwirtschaft
Creative Industries (Kreativwirtschaft)
Branchen der Kulturwirtschaft
• Verlagsgewerbe• (Buchverlage,Presseverlage, • Tonträger- und Musikverlage)• Filmwirtschaft (Film-, TV-Film-, • Video-Produktion, Verleih, Vertrieb, • Filmtheater) • Rundfunkwirtschaft (privater Hörfunk, • Fernsehen)• Musik, visuelle und darstellende Kunst• Journalisten- und Nachrichtenbüros• Museumsshops, Kunstausstellungen• Einzelhandel m. Kulturgütern• Architekturbüros• Designwirtschaft
Kreativbranchen
• Werbung• Software/Games
Die Creative Industries sind dabei keineswegs gesamtwirtschaftlich unbedeu-
tend, sondern einer der signifikantesten Wirtschaftszweige in der Bundesre-
publik Deutschland. Vor allem bei der Betrachtung aktueller Entwicklungen
in der Automobilindustrie, aber auch in der Chemischen Industrie, rücken die
kreativen Berufe und Unternehmen immer mehr in den Mittelpunkt volkswirt-
schaftlichen Interesses.
83
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 4: Selbständig in der Kreativwirtschaft: Das Fallbeispiel Media Exist – Das Gründer/innen-Zentrum Medien
an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ Potsdam-Babelsberg
Zum Vergleich der Tragkraft der Kultur- und Kreativwirtschaft kann die Brut-
towertschöpfung in Deutschland 2004 herangezogen werden (IBB 2008: 10):
» Chemische Industrie: 46 Mrd. €
» Creative Industrie: 58 Mrd. €
» Automobilindustrie: 64 Mrd. €.
2. Berufsperspektiven in Deutschland
Durch den starken technologischen und ökonomischen Wandel auf den nati-
onalen und internationalen Medienmärkten unterliegen die Berufe und Tätig-
keitsfelder der Medienschaffenden einer permanenten Veränderung.
Immer vielfältigere mediale und künstlerische Anwendungsbereiche mit sehr
speziellen Ausbildungsanforderungen, immer stärkerer internationaler Wett-
bewerb und hoher Rationalisierungsdruck bei den Unternehmen haben maß-
gebliche Auswirkungen auf die Berufsperspektiven. Wachsende Erwartungen
an Flexibilität und Mobilität und ein hohes Maß an Selbstständigkeit bei Be-
rufseinsteigern gewinnen immer mehr an Bedeutung.
In der gesamten Dienstleistungsbranche gehen Unternehmen mehr und mehr
dazu über, ganze Geschäftsbereiche, kreative Arbeitskraft und besonderes Wis-
sen auszulagern. Die Folge sind immer weniger befristete Arbeitsverträge, statt-
dessen Teilzeitbeschäftigung, Telearbeit, vor allem aber ausgelagerte freie und
gewerblich tätige Mitarbeiter. Diese „neuen Beschäftigungsmodelle“ machen in
Deutschland zurzeit bereits ca. 1/3 aller Beschäftigungsverhältnisse aus.
In der Kreativwirtschaft ist dieser Effekt deutlich verstärkt wahrzunehmen. 44
% der kulturwirtschaftlich Erwerbstätigen arbeiten in Selbstständigkeit, wie
der Kulturwirtschaftsbericht der Stadt Berlin aufzeigt. Die Film- und Fernseh-
wirtschaft sowie die Werbung führen mit 62 % bzw. 54 % Selbstständigenan-
teil diesen Trend an (Senat Berlin 2008: 24).
84
Die stetig wachsende Dynamik dieses Veränderungsprozesses ist zur Heraus-
forderung für die Organisation und Durchführung von Hochschulstudiengän-
gen in Medienberufen und künstlerischen Disziplinen geworden. Es bedarf im-
mer größerer Anstrengungen, die akademische Vermittlung fachspezifischer
Kompetenzen mit den Anforderungen einer auf den Arbeitsmarkt ausgerich-
teten Berufsorientierung der Hochschulabsolventen in Einklang zu bringen.
3. Gründer/innen-Beratung an deutschen Kunsthochschulen immer noch
unterbewertet! Kunst und Markt – Ein gespaltenes Verhältnis.
„Bei den Kreativen tickt der Markt nicht nur nach den üblichen Mecha-
nismen, weil Kunst ein sehr eigenes Gut ist, für das andere Werte gelten.“
(Marketing-Agentur THE MARKETING CATALYSTS 2009).
Es gibt über 80 Gründungsprofessuren an deutschen Universitäten und Hoch-
schulen, keine an einer Medien- und Kunsthochschule. Media Exist ist das er-
ste Gründungszentrum an einer deutschen Medien- und Kunsthochschule im
Rahmen des EXIST-Förderprogramms von Bundesregierung und EU.
Gibt es an Kunsthochschulen zu viele Vorurteile gegen Kunst und Kommerz?
Nehmen Künstler/innen die Angebote nicht wahr? Media Exist ist im Mai 2009
18 Monate am Start. Bei nur 500 Studierenden insgesamt an der Hochschu-
le haben sich bereits 124 Studierende von uns beraten lassen. 38 Seminare,
Workshops und Lehrveranstaltungen mit insgesamt 900 Teilnehmer/innen
wurden durchgeführt. 13 Gründungen konnten initiiert und begleitet werden.
Die HFF-Hochschulgremien haben wegen der großen Nachfrage beschlossen,
das Media Exist-Seminar „Selbstständig in den Medien“ im Zuge des Bologna-
Prozesses zur Pflichtveranstaltung bzw. in wenigen Studiengängen zur Wahl-
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 4: Selbständig in der Kreativwirtschaft: Das Fallbeispiel Media Exist – Das Gründer/innen-Zentrum Medien
an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ Potsdam-Babelsberg
pflichtveranstaltung zu machen. Bislang ist die Teilnahme an allen Lehrveran-
staltungen dieser Art völlig frei.
Die qualifizierte Vorbereitung auf Berufsleben und gegebenenfalls Selbststän-
digkeit findet auch an Kunsthochschulen Akzeptanz und Nachfrage.
Natürlich gibt es den Konflikt zwischen künstlerischem Anspruch und dem
Markt mit seiner Ausrichtung auf schnellen Absatz und Anpassung der Pro-
dukte und Dienstleistungen an die erforschte Nachfrage. Pierre Bourdieu
spricht von der „antagonistischen Koexistenz zweier Produktions- und Zirku-
lationsweisen, die entgegengesetzten Logiken gehorchen“: An dem einen Pol
macht Bourdieu die anti-´ökonomische´ Ökonomie der reinen Kunst aus, die
auf der obligaten Anerkennung der Werte der Uneigennützigkeit und Inte-
ressenlosigkeit sowie der Verleugnung der ´Ökonomie´(des ´Kommerziellen´)
und des (kurzfristigen) ´ökonomischen´ Profits basiert. „Diese Produktion, die
keine andere Nachfrage anerkennen kann als jene, die von ihr selbst – freilich
nur langfristig – produziert werden kann, orientiert sich an der Akkumulation
symbolischen Kapitals als eines zwar verleugneten, aber anerkannten, also le-
gitimen ´ökonomischen´ Kapitals, eines regelrechten Kredits, der in der Lage
ist, unter bestimmten Voraussetzungen und langfristig ´ökonomische´ Profite
abzuwerfen“. Am anderen Pol herrscht nach Bourdieu die ´ökonomische´ Lo-
gik der künstlerischen Industrien, die aus dem Handel mit Kulturgütern einen
Handel wie jeden anderen machen, vorrangig auf den Vertrieb, den sofortigen
und temporären Erfolg setzen und sich damit begnügen, sich der vorgängigen
Nachfrage der Kundschaft anzupassen. Für Bourdieu sind Netzwerke lediglich
„Kommerzialisierungsnetze“ und Verfahren der Verkaufsförderung (Werbung,
Öffentlichkeitsarbeit usw.) lediglich darauf ausgerichtet, „beschleunigte Profi-
te“ durch eine rasche Zirkulation von Produkten und Werken zu gewährleisten,
da die Gefahr besteht, an die Nachfrage angepasste Produkte würden rasch
veralten. (Bourdieu 2001: 229)
86
Bourdieu und andere irren, wenn sie unterstellen, Marketing setze immer eine
vorweggenommene Anpassung voraus. Marketing soll gerade auch autonom
entwickelte Produkte und Werke einer Vielzahl von potenziell Interessierten
bekannt machen und völlig unangepasst authentisch Nachfrage und Akzep-
tanz schaffen. Gerade der Kunstmarkt in seiner wirtschaftlich erfolgreichen
Vielfalt und Extravaganz hat in den letzten Jahrzehnten bewiesen, dass es kei-
nen einheitlichen Massengeschmack, keine einheitliche Nachfrage gibt, die es
zu bedienen gilt, will man als Künstler/in auch wirtschaftlich erfolgreich sein.
Zudem schlagen die Theorien um die „reine Kunst“ ins Leere, wenn sie weiß
machen wollen, wahre Kunst entstünde ausschließlich im Auge des Künstlers
und die Wechselwirkung mit der Außenwelt spiele keine Rolle. Häufig genug
setzt sich Kunst mit dieser auseinander und fordert die Auseinandersetzung
heraus. Gerade in der Kunst geht es im übrigen sehr viel häufiger um die Per-
sönlichkeiten hinter den Werken und nicht um die Produkte selbst – es geht
um Authentizität und Profil von Persönlichkeiten, ums Selbstmarketing.
Media Exist trainiert, Manager/in in eigener Sache zu sein und so Zeit für Kunst
zu gewinnen. Die Ziele sind hierbei:
» Coaching soll die Künstler/innen und Medienschaffenden in die Lage ver-
setzen, ihr „wahres Ich“ auszudrücken.
» Klienten sollen sich professionell selbst in Szene setzen können, um der
Welt zeigen zu können, dass sie sind und wer sie sind.
» Selbstständige sollen die Fallstricke kennenlernen, mit denen es auch
freiberuflich tätige Kreative zu tun haben und sich davor schützen lernen.
» Sie sollen so Zeit und innere Kraft gewinnen für neue Kreativität.
» Sie können sich etablieren, von ihrem Schaffen leben.
87
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 4: Selbständig in der Kreativwirtschaft: Das Fallbeispiel Media Exist – Das Gründer/innen-Zentrum Medien
an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ Potsdam-Babelsberg
Media Exist führt zu veränderten Denkweisen. Die Legende, dass sich hohe
Kreativität und wirtschaftlicher Erfolg ausschließen, widerlegten die von uns
beratenen Gründer/innen schon nach kurzer Zeit.
4. Besonderheiten bei Gründer/innen aus künstlerischen Studiengängen
Gemessen am Zielgruppenpotenzial der ca. 500 Studierenden an der HFF ist
die Zahl von ca. 125 durch Media Exist Beratenen in 18 Monaten eine interes-
sante Quote, wenngleich berücksichtigt werden muss, dass etwa 25% der Be-
ratenen Studierende anderer deutscher Filmhochschulen waren. Als zur Zeit
einziges Beratungsangebot mit Spezialisierung auf Gründungsvorhaben für
den Medienmarkt ist Media Exist derzeit standortübergreifender Ansprech-
partner für medienbezogene Gründungsprojekte.
Eine wesentliche Voraussetzung für erfolgreiches Gründen ist ein tragfähiges
Geschäftsmodell. Das gilt für alle Branchen. Eine Verortung von Gründungsin-
teressierten im Hinblick auf die Tragfähigkeit ihres Geschäftsmodells impliziert
jedoch in der Vorgründungsphase in der Kreativwirtschaft eine nicht immer
einfache Entscheidungsfindung, weil das Beratungsklientel zu diesem Zeit-
punkt mehrheitlich über kein elaboriertes Geschäftsmodell verfügt. Die größ-
te Gruppe der von uns beratenen Studierenden (44 %) stellen die von uns so
typologisierten „unprofilierten Gründer/innen“, die beim Einstieg in die Bera-
tung lediglich eine fragmentarische Vorstellung ihres Vorhabens formulieren
und weder eine prononcierte Geschäftsidee noch eine Marktchance definiert
haben. In vielen Fällen verbirgt sich dahinter ein zunächst freiberufliches In-
teresse. Die freiberufliche Tätigkeit ist in vielen Berufszweigen des Medien-
marktes üblich und für viele Absolventen der Medienhochschulen die – vom
Markt erzwungene – einzige Berufsperspektive.
88
Da knapp ein Viertel dieses Klientels jedoch im weiteren Beratungsverlauf die
Bereitschaft und die Fähigkeit entwickelt, zu einem unverwechselbaren Ge-
schäftsmodell zu gelangen, wird deutlich, dass hier durchaus ein ernst zu neh-
mendes Unternehmensgründungspotenzial vorhanden ist.
Die zentrale Herausforderung für die Beratung in der Vorgründungsphase
liegt also dementsprechend darin, die Persönlichkeitsvoraussetzungen der
Gründungsinteressierten richtig zu identifizieren und darauf hin zu entschei-
den, ob der erhöhte gruppenspezifische Zeitaufwand individuell gerechtferigt
ist, um in intensiver Arbeit mit den Gründungsinteressierten schrittweise ein
Geschäftsmodell zu entwickeln. Wir haben unsere Beratungsdienstleistungen
daher gruppenspezifisch differenziert und unterscheiden nach geschäftsmo-
dellorientierten Gründer/innen, kreativ, angebotsorientierten Gründer/in-
nen, analytisch nachfrageorientierten Gründer/innen und nach unprofilierten
Gründer/innen. (Vgl. hierzu auch Texte zum G-Forum Jahreskonferenz 2008,
Technische Universität Dortmund, www.g-forum.de).
Im übrigen entsprechen die unternehmerischen Entwicklungsmängel den
allgemeinen Erkenntnissen der Entrepreneurship-Forschung. Die wichtigsten
Defizite kreativwirtschaftlicher Gründungsideen sind demnach:
» keine tragfähige Geschäftsidee mit Alleinstellungsmerkmal (USP =
Unique Selling Proposition),
» keine Teampartner mit heterogenen Kompetenzen,
» keine ausreichende Marktanalyse,
» kein ausreichend fundiertes Finanzkonzept,
» kein wirkungsvolles Marketingkonzept,
» zu wenig kaufmännisches Know-how,
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 4: Selbständig in der Kreativwirtschaft: Das Fallbeispiel Media Exist – Das Gründer/innen-Zentrum Medien
an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ Potsdam-Babelsberg
» unzureichende rechtliche Kenntnisse bzw. Beratung.
Wir sprechen hier von den sieben Sünden beim Gründen!
Aus diesen identifizierten Defiziten bei Gründerinnen und Gründern ergibt
sich ein Fragen- und Antwortkatalog, der grundlegendes Rüstzeug für jede/n
Gründer/in darstellt.
5. Was ist der USP einer Geschäftsidee? Beispiele in der Medienbranche.
Das Alleinstellungsmerkmal ist der komparative Konkurrenzvorteil, also das
Leistungsmerkmal, mit dem sich ein Angebot deutlich von denen der Wett-
bewerber abhebt. Die Abgrenzung kann durch die Qualität des Angebotes,
aber auch durch Schnelligkeit, einen attraktiveren Preis oder besseren Service
erreicht werden.
Für die meisten Medienschaffenden mit freiberuflichem Hintergrund stellt sich
in der Konzeptionsphase einer Gründung die Herausforderung, eine Selbst-
ständigkeit nicht nur auf den eigenen erlernten Erfahrungen und dem krea-
tiven Talent aufzubauen, sondern ein Geschäftskonzept zu entwickeln, dass
sich deutlich von dem der zahlreichen Mitbewerber abhebt. Ein Autor, des-
sen einzige Profilierung ist, dass er schreibt oder ein Filmproduzent, der „gute
Filme“ produzieren will, kann sich so aller Wahrscheinlichkeit nach nicht am
Markt durchsetzen. So ist es für Kreative sinnvoll, zwar zunächst von den eige-
nen Fähigkeiten auszugehen, diese dann aber mit einer persönlichen Stärken-
Schwächen-Analyse zu bewerten, die Nachfrageseite zu berücksichtigen und
daraus ein möglichst spezifisches Angebot zu entwickeln, was sich aus der
Masse der Freelancer abhebt.
90
Beispiel Filmproduktion: Rund 6.000 Filmproduktionsfirmen sind auf dem
deutschen Markt. Jedes Jahr treten etwa 60 Studierende die Ausbildung zum
Filmproduzenten an. Das Ziel der meisten Produzenten ist es, lange Kinospiel-
filme zu produzieren. Dabei wurden im Jahr 2006 nur 98 abendfüllende Spiel-
filme produziert (IBB 2008: 13). Es ist also festzuhalten, dass sich äußerst viele
Anbieter in einem kleinen Marktsegment bewegen. Wer hier Erfolg haben will,
braucht eine klare Abgrenzungsstrategie.
Filmschaffende versuchen sich in der Regel durch die Qualität ihrer Arbeit ab-
zugrenzen. Und in der Tat, wer einen Goldenen Bären gewonnen hat, ein Milli-
onenpublikum vor die Leinwand oder den Fernseher gebracht hat oder einmal
mit einem internationalen Topstar gedreht hat, der hat seine Marktchancen
klar verbessert. Aber was ist mit all den anderen, denen ein solcher Erfolg bis-
her nicht vergönnt war? Man möge bedenken, dass es in den letzten Jahren
durchschnittlich nur drei Kinofilme junger Produzenten gab, die überhaupt
mehr als 50.000 Kinobesucher pro Jahr erreichten (vgl. dazu Muck: 2008).
Im Spielfilmbereich bietet es sich zunächst an, das Produkt stärker einzugren-
zen. Wer sich z.B. einer speziellen Zielgruppe widmet, kann dadurch schon an
Profil gewinnen und erleichtert später auch seine Marketingaktivitäten. Bei-
spiele wären der Kinderfilmproduzent oder der Filmemacher für Frauen ab 40.
Ein Verweis auf ein bestimmtes Genre oder eine spezielle Thematik, die dem
Schaffen des Kreativen besonders entgegen kommt, verstärkt die Profilierung.
Ein solches Beispiel wäre die Balkan-Komödie.
All dies stellt allerdings noch kein echtes Alleinstellungsmerkmal dar. Um Un-
verwechselbarkeit zu erreichen, müssen zusätzliche Profilkriterien in den Fo-
kus der Filmemacher/innen geraten. Beispiele sind der bilinguale Kinderfilm,
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der Elemente des Lehr- und des Unterhaltungsfilmes kombiniert oder der Han-
dyfilm, der neue interaktive Techniken nutzt, um die Rezeption zu verändern.
Wer sich dem harten Wettbewerb nicht stellen will, wie er sich z.B. innerhalb
der Spielfilmproduktion darstellt, dem sei empfohlen, zu überprüfen, ob seine
Fähigkeiten auf verwandten Märkten nachgefragt werden könnten.
Beispiel: Ein erfahrener Comiczeichner bietet seine Geschichten internationa-
len NGO´s an, damit diese die Bevölkerung auf ungewöhnliche Art und Weise
unterhaltend mit ihren Inhalten ansprechen können. So basiert eine von Me-
dia Exist begleitete Gründung, die Jakun Media UG, auf der Erkenntnis, dass
der klassische Filmproduktionsmarkt im Entertainment-Bereich gesättigt ist.
Darum bieten die Gründer ihr spezifisches Know-how in einem anderen Markt-
segment und in der Form neuer speziell angepasster Medien an. jakun media
konzipiert unterhaltsame Webserien, die Unternehmensbotschaften transpor-
tieren. Dabei setzen die Gründer ganz auf die Qualität der Medienproduktion,
die sie im klassischen Filmgeschäft gelernt haben, verdichten diese aber auf
das kurze Medienformat Webserie.
6. Transdisziplinarität und innovative Brückenschläge – Partnerschaften
machen Ideen zum tragfähigen Konzept
Es ist besonderes Anliegen von Media Exist, das Know-how verschiedener Dis-
ziplinen in einer Gründung zu vereinigen. Mit dem richtigen „Teambuilding“
entstehen nicht nur besonders belastbare Gründungen, der Innovationsgrad
des Unternehmensangebotes nimmt deutlich zu. Statt in bestehende Märkte
einzutreten, schaffen heterogene Gründungsteams oft originäre Produkte und
können mit ihren Angeboten erst ein Kundenbedürfnis schaffen.
92
Beispiele hierfür aus dem Media Exist-Portfolio sind:
» Ein Filmtonmann, ein Dokumentarfilm-Produzent und ein Maschinen-
bauer entwickeln und vertreiben eine Technik, die es möglich macht,
unter Wasser qualitativ hochwertigen Surround-Ton zu erzeugen. Damit
begegnen die drei Fachleute nicht nur einem Innovationspotenzial in der
Film- und Fernsehbranche, sondern machen auch neuartige Touristikan-
gebote möglich.
» Ein systemischer Berater und eine Kinofilmregisseurin entwickeln ge-
meinsam neue Beratungs- und Trainingsangebote für mittelständische
Unternehmen.
» Zwei Filmproduzenten gehen von ihren Erfahrungen mit der bisherigen
Produktionssoftware aus und konzipieren zusammen mit einem promo-
vierten Informatiker eine Software, die dem täglichen Schaffen der An-
wender gerecht wird.
» Drei künstlerisch-wissenschaftliche Mitarbeiter der HFF kooperieren mit
verschiedenen Technikanbietern und Sponsoren aus dem IT- und Mobil-
funkbereich und schaffen so ein Verfahren zur professionellen Medien-
produktion auf der Grundlage handelsüblicher Handys mit Kamerafunk-
tion, das nun zum Patent angemeldet ist.
» Eine Filmhochschulstudentin, eine Kommunikationswirtin und ein IT-
Fachmann entwickeln ein Vermarktungsmodell für bisher unausgewer-
tete Filme und schaffen so eine Möglichkeit, Filmkunst aus den Archiven
endlich ihrem Publikum zugänglich und einen Kapitalrückfluss möglich
zu machen.
Bei der Suche nach geeigneten Partnern und Partnerinnen gilt also immer der
Grundsatz: Suche einen Partner, der deine Defizite kompensiert, der dich er-
gänzt. Nicht der beste Freund oder die beste Freundin sind die bestmöglichen
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Partner, es geht nicht um persönliche Nähe, sondern um die Abdeckung von
Kompetenzen und damit um die nachhaltige, wirtschaftliche Tragfähigkeit von
Geschäftsmodellen.
7. Marktanalyse
Die Geschäftsidee und die damit verbundenen Produkt- oder Dienstleistung-
sangebote sollten nicht nur die Gründer/innen, sondern auch ihre potenziellen
Kunden begeistern. Um im Vorhinein Aussagen zum Absatzmarkt treffen zu
können, ist es unerlässlich, möglichst viele und genaue Informationen zu po-
tenziellen Kunden und zu den Wettbewerbern zu recherchieren. So kann auf der
einen Seite die Nachfrage skizziert, auf der anderen Seite die Frage beantwortet
werden, mit welchen anderen Unternehmen man sich den Markt teilen muss.
Folgende Fragen sollte ich beantwortet haben, bevor ich eine realistische
Markteinschätzung vornehmen kann:
» Welche vergleichbaren/ähnlichen Produkte und Dienstleitungen gibt es
am Markt? Wettbewerb.
» Wer sind die Konkurrenten? Welche Stärken und Schwächen haben diese?
Mitbewerber.
» Zu welchen Preisen werden von den Mitbewerbern ähnliche Leistungen/
Produkte angeboten? Preisvergleich.
» Welche Produkte/Leistungen wollen die Kunden zukünftig? Trends.
» Welche Probleme haben die Kunden? Kundenwunsch.
» Ist meine Leistung geeignet, die Probleme des Kunden zu lösen? Inwie-
weit unterscheidet sich die eigene Leistung von denen der Mitbewerber?
Lösungen. Mehrwert.
94
» Gibt es funktionierende Netzwerke, Kooperationen am Markt? Mit welchen
potenziellen Lieferanten und Partnern kann ich meine Leistung erbringen?
Networking.
» Welche Absatzwege finden die Leistungen/Produkte? Vertriebswege.
» In welchen Medien wirbt die Konkurrenz mit welchen Inhalten?
Werbestrategien. Content.
Aber wo finde ich Angaben, die mir weiterhelfen? Einige seien hier genannt:
» Statistische Jahrbücher,
» Branchenstatistiken übers Internet (s.u.),
» Branchen-/Berufsverbände,
» Industrie- und Handelskammern (u.a. Branchennewsletter der IHK Berlin),
» Adressverlage (kostenpflichtig), wie Schober,
» Medien der Konkurrenten (Websites, Flyer, Angebote…),
» Sekundärliteratur/Zeitungsdienste, z.B. paperball.de,
» Fachmagazine,
» Wirtschaftsmagazine, wie brand eins,
» Existenzgründungs-Magazine, wie starting up,
» Förderfibeln & -magazine der Länder und Investitionsbanken
(z.B. www.b-p-w.de),
» Fachberater (erfahrene Steuerberater, Unternehmensberater, Anwälte),
» Professoren,
» Diplom-Arbeiten, Dissertationen, Habilitationen (Fachbibliotheken, wie
die HFF-Bibliothek. Frau Dr. Sarnowski und ihre Mitarbeiter/innen kön-
nen weiter helfen),
» Fördereinrichtungen wie Medienboard, Investitionsbanken, KfW Mit-
telstandsbank – Infocenter, ZAB Zukunftsagentur Brandenburg, Wirt-
schaftsförderung der Städte und Landkreise,
» und viele mehr.
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Interessante Links sind hierbei vor allem:
» www.destatis.de: Website des Statistischen Bundesamtes,
» www.marktforschung.de: Portal zur Marktforschung im Internet,
» www.vorlagen.de: Vorlagen (kostenlos) für viele Verträge,
» www.statista.org: Statistikportal, zahlreiche empirische Daten,
» http://scholar.google.de: Suchmaschine für wissenschaftliche Veröffent-
lichungen.
8. Selbstmarketing, Marketingstrategien und Online-Marketing
Der Erfolg einer Gründung zeigt sich letztendlich, wenn die angebotene Lei-
stung Absatz findet. Marketing bedeutet, den Absatz von vornherein mitzu-
denken und sich konsequent am Kunden zu orientieren. Deshalb ist Marketing
mehr als Werbung. Es bedeutet demnach vor allem:
Marktanalyse
Insbesondere in der Kreativwirtschaft, wo zahlreiche Freiberufler mit verwech-
selbaren Leistungen konkurrieren, gilt es, den Gesamtmarkt, die Zielgruppen
der eigenen Leistungen und die Wettbewerber zu kennen. Auf diesem Wissen
bauen die Überlegungen zum Marketing auf.
Produktpolitik
Kann ich es mir leisten, jedem Kunden eine individuelle, kreative Leistung an-
zubieten? Welchem Kunden biete ich welche Leistung an? Oder sollte ich lie-
ber zunächst ein Produkt mit einem klaren USP entwickeln und mir so meine
Kommunikation erleichtern?
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Preispolitik
Was ist meinen Kunden der Mehrwert meiner Leistungen wert? Welche meiner
Kunden haben eine höhere Zahlungsbereitschaft und sollten deshalb eher in
den Fokus des Marketings gerückt werden? Wenn ich auf individuelle, krea-
tive Kundenlösungen setze, dann kann ich nicht mit einer Penetrations-Stra-
tegie hohe Marktanteile erreichen. Für individuelle Leistungen müssen des-
halb entsprechend hohe Preise erzielt werden, um einen Gewinn zu erzielen.
Kommunikationspolitik
Wie kann ich meine Kunden erreichen und ihre Aufmerksamkeit gewinnen?
Welches Image möchte ich transportieren? Welche Instrumente sind geeignet,
um meine kreativen Leistungen den potenziellen Kunden näher zu bringen?
Vertriebspolitik
Wie will ich meine Leistungen vertreiben? Kann ich die Zielgruppe alleine
erreichen oder benötige ich dazu Hilfe: Vertriebsmitarbeiter, externe Ver-
treter, kreative Partner, mit denen ich im Verbund auftrete, oder eine Agen-
tur? Richte ich mich an den Endkunden oder vertreibe ich an eine Firma?
Weiterführend sind die Instrumente der Kommunikationspolitik zu beachten:
„Der moderne Konsument ist täglich über 1.000 Werbebotschaften
ausgesetzt… Der moderne Mensch leidet an akuter Informationsüber-
flutung. Der Anteil nicht beachteter Informationen liegt heute bei über
95%, mit steigender Tendenz.“
(Dr. Christian Schreier, Aufmerksamkeitsforscher, www.morebrains.de)
Gerade Kreativschaffende sollten deshalb genau prüfen, welche Kommunika-
tionsmaßnahmen wirklich für sie Sinn machen und die gängigen Instrumente
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 4: Selbständig in der Kreativwirtschaft: Das Fallbeispiel Media Exist – Das Gründer/innen-Zentrum Medien
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durch innovative Lösungen zu erweitern.
Klassische Werbung in den gängigen Medien ist in der Regel für Jungunter-
nehmen zu kostspielig. Sehr spezielle Dienstleistungen und Produkte lassen
sich über die Massenmedien nur mit hohen Streuverlusten bekannt machen.
Statt Print und Rundfunk bietet es sich an, eher Kommunikationsmaßnahmen
zu wählen, die ein Direktmarketing und Kundenbesuche unterstützen, z.B. Fly-
er und Internetseiten.
Der Vorteil des Direktmarketings ist es, dass Sie relativ schnell Feedback von
den potenziellen Kunden erhalten. Sie erfahren, ob Ihre Zielgruppe den Mehr-
wert des Produktes nachvollziehen kann. Mit diesen Erfahrungen lassen sich
dann evtl. Korrekturen bei der Produkt- und Preispolitik erreichen. Ihr Marke-
ting bleibt flexibel. Voraussetzung ist dafür, dass Sie über ein gewinnendes
persönliches Auftreten verfügen. Neben dem Marketing Ihrer Leistung geht es
auch um ein gelungenes Selbstmarketing.
Mit relativ geringen Kosten kann es auch durch Public Relations gelingen, kre-
ative Produkte zu kommunizieren. Wenn Sie Kontakte zu Journalisten haben,
bauen Sie diese aus und überlegen Sie sich, ob aus Ihren kreativen Leistungen
nicht eine Geschichte werden kann.
Neben allgemeinen Regeln des Marketings vermitteln wir bei Media Exist in
unseren speziellen Marketing-Seminaren, die regelmäßig stattfinden und na-
türlich auch von Externen nachgefragt werden können, besondere Kenntnisse
und Fertigkeiten unter Einbeziehung der HFF-spezifischen Möglichkeiten:
» Wir ermitteln und entwickeln unter Einbeziehung neuer medialer Instru-
mente Leitsätze und Leitbilder (Mission Statement).
98
» Sprache, Bewegung, Auftreten – Die Marke ICH
» Teil 1: Atem, Stimme, Haltung
» Teil 2: Kontakt, Konkurrenz und Präsentation
» Renommierte Schauspiel-Professoren und Trainer zeigen neue Wege zu
sich selbst und zum eigenen Ausdruck.
» Die Möglichkeiten des Online-Marketings werden von Profis erläutert
und an Beispielen verdeutlicht.
9. Finanzkonzepte und der Media Exist Investorenpool
44,9 % aller Gründerinnen und Gründer mit Finanzierungsbedarf erhalten in
Deutschland Bankdarlehen (KfW 2008: 58). Diese von der größten deutschen
Förderbank herausgegebene Statistik gibt die Situation aber nur zum Teil
wieder. Viele Gründerinnen und Gründer unterschätzen ihren Finanzierungs-
bedarf, versuchen ohne Fremdmittel den Weg in die Selbstständigkeit und
scheitern viel zu häufig an ihrem unzureichenden Finanzkonzept. Das Institut
Berufsforschung an der HFF hat in einer Studie zur Situation der Gründerinnen
und Gründer in der Metropolregion Berlin/Brandenburg für die Medienwirt-
schaft ermittelt, dass nur 10% aller Gründer/innen einen Bankkredit in An-
spruch nehmen oder diesen erhalten (vgl. IBF 2006). Dieses Ergebnis indiziert
zum einen die Kleinteiligkeit der kreativwirtschaftlichen Gründungen, unter-
legt aber gleichermaßen die mangelnde Finanzierung unserer Gründungen.
Zu viele junge Unternehmen sind unterfinanziert. Das hat nach wie vor mit
dem Zustand unserer Finanzwirtschaft zu tun, denen die Bearbeitung kleiner
Kredite zu aufwendig ist, selbst nach Erhöhung der Margen durch die KfW. Man
kann nur hoffen, dass sich unsere Geschäftsbanken wieder auf den heimischen
Markt konzentrieren werden, nachdem die Ausflüge ins internationale Invest-
mentbanking so kläglich scheiterten. Es bedarf aber auch weiterer auf die
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 4: Selbständig in der Kreativwirtschaft: Das Fallbeispiel Media Exist – Das Gründer/innen-Zentrum Medien
an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ Potsdam-Babelsberg
Medien- und Kulturwirtschaft ausgerichteter Finanzierungsinstrumente, zu
denen auch Einsteiger Zugang finden.
Wir machen zunächst die Angebote unserer Förderbanken transparent und ko-
operieren erfolgreich mit regionalen Sparkassen und Volksbanken. Darüber hi-
naus konzentrieren wir uns mit Media Exist Plus zum einen auf die Vermittlung
privater Investoren, zum anderen auf die Unterstützung unserer Gründerinnen
und Gründer bei der Beantragung des Exist-Gründer/innen-Stipendiums.
Existenzgründer/innen in der Medienbranche benötigen nicht nur Kapital, sie
brauchen vor allem auch etablierte Partner, die den jungen Unternehmen den
Marktzugang erleichtern und Wachstum nachhaltig sichern helfen.
Media Exist Plus ist ein Netzwerk von Professoren, Experten und Unternehmen
aus der Medien- und IT-Branche. Es bietet und vermittelt für den Mediensektor
ausgerichtete Beteiligungsangebote. Dabei kommt uns sehr zugute, dass die
HFF Hochschule für Film und Fernsehen seit Jahrzehnten sehr viele Kooperati-
onen mit nationalen und internationalen Film- und Medienhochschulen unter-
hält. Wir identifizieren mit Hilfe unseres Professoren-Netzwerks an nationalen
und internationalen Medienhochschulen und entsprechenden Studiengän-
gen anderer Universitäten und Hochschulen besonders innovative Geschäft-
sideen, unsere Projektmanager prüfen diese Ideen auf Markttauglichkeit und
Alleinstellungsmerkmale, machen sich ein Bild von den Gründerinnen und
Gründern und ihren potenziellen Partnern und ermitteln die Bedarfe.
Zwei Mal im Jahr und nach Bedarf werden die besten Ideen dann einem aus-
gesuchten Kreis potenzieller privater Investoren aus der Medien- und Finanz-
branche in Potsdam vorgestellt.
Besonders sinnvoll für Gründer und Gründerinnen aus Hochschulen ist das
bereits angesprochene Exist-Gründerstipendium. Es versetzt Studierende und
100
Absolventen unserer Hochschulen mit besonders innovativen Geschäftsideen
in die Lage, diese ohne wirtschaftliche Probleme ein Jahr lang systematisch
vorzubereiten und umzusetzen (siehe Abbildungen 2a-c).
Abbildung 2a: EXIST Gründerstipendium
Förderung des BMWi für gründungswillige:– Studierende (Hauptstudium bzw. MA)– AbsolventInnen der letzten 5 Jahre– Wissenschaftliche Mitarbeiter der letzten 5 Jahre
– Stipendium für die Gründungsphase– Innovative Unternehmensideen– Innovative Gründungen des produzierenden Gewerbes– Wissensbasierte Dienstleistungsangebote
– Voraussetzung: Die Gründung ist noch nicht erfolgt– Ziel: Entwicklung eines tragfähigen Geschäftskonzepts
EXIST Gründerstipendium I
Abbildung 2b: EXIST Gründerstipendium
• Teams und Einzelgründungen (1-3 Personen)• 1 Jahr Förderung
– 800 Euro mtl. für Studierende– 2.000 Euro für Absolventen– 2.500 Euro für Promovierte
• 5.000 Euro für Coaching• weitere Sachkosten (bis 17.000 Euro)
• Antragssteller ist die Hochschule z.B. über MEDIA EXIST
EXIST Gründerstipendium II
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 4: Selbständig in der Kreativwirtschaft: Das Fallbeispiel Media Exist – Das Gründer/innen-Zentrum Medien
an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ Potsdam-Babelsberg
2007 wurden bundesweit 416 Gründer/innen-Stipendien bewilligt, 2008 wa-
ren es 247. Die durchschnittliche Fördersumme pro Team lag bei ca. 72.000,-- €.
Abbildung 2c: EXIST Gründerstipendium
Meilensteine im Exist.Gründerstipendium:
• 1. Monat: Vorlage des Coaching-/Betreuungs-Fahrplans durch den Stipendiaten
• 5. Monat: Vorstellung des Zwischenstands zum Businessplan beim Gründungsnetzwerk
• 10. Monat: Übersendung des endgültigen Businessplans mit Bewertung durch Gründungsnetzwerk
EXIST Gründerstipendium III
10. Zusammenfassung
Media Exist führt zur Veränderung von Denkweisen. Die Legende, dass sich
hohe Kreativität und wirtschaftlicher Erfolg ausschließen, widerlegen die von
Media Exist beratenen Personen schon nach kurzer Zeit. Das gesetzte Ziel, kre-
ative Arbeit durch wirtschaftlich tragfähige innovative Geschäftsmodelle mit
Alleinstellungsmerkmalen umzusetzen, gibt ihnen neues Selbstbewusstsein.
Ein Anliegen von Media Exist ist es, dass das Angebot seine kreative Zielgrup-
pe erreicht. In der Sprache der Medienschaffenden wird das Thema Gründung
praxisnah vermittelt. Das Filmemacher/innen Portal „MEDIA EXIST FRAMES 4
FAME“ wird ab Januar 2010 das Angebot durch ein branchenbezogenes Netz-
102
werks erweitern. Hier entsteht eine exklusive Community von exzellenten Me-
dienschaffenden für andere Medienschaffende, die sowohl die kreative Arbeit
als auch das Selbstmarketing von Kreativköpfen beflügeln soll.
Die besonderen Defizite von Kultur- und Medienschaffenden in Fragen ausrei-
chender Finanzierungen und beim Marketing versuchen wir mit zwei neuen
Ansätzen nachhaltig zu kompensieren:
Der Media Exist Investorenpool stellt eine besondere Partnerschaft mit der
Medienwirtschaft dar, die für unsere Gründer nicht nur Möglichkeiten ausrei-
chender Kapitalversorgung schafft, sondern auch für Marktzugänge sorgt, die
für nachhaltigen Erfolg so wichtig sind.
Neben Seminaren und Workshops zum Thema Marketing bieten wir unseren
Gründerinnen und Gründern die Option, sich und ihre Leistungen über unsere
IBF-Marketinggesellschaft professionell und zu fairen Konditionen dauerhaft
zu vermarkten. Die IBF Medien GmbH als Marketing.- und Vertriebsgesellschaft
ist darüber hinaus ein Modell zur nachhaltigen Sicherung des Media Exist
Gründer/innen-Zentrums an der HFF, da sie ihre Gewinne zu einem großen
Teil an das Institut (Media Exist) abführt.
Es ginge in diesem Zusammenhang zu weit, auf betriebswirtschaftliche Grund-
kenntnisse und die wichtigsten rechtlichen und sozialversicherungsrecht-
lichen Fragen konkret einzugehen. Auch hierzu bieten wir Seminare, z. B. zur
Künstlersozialkasse. Wir laden Sie herzlich nach Potsdam ein, wenn Sie sich in
der Medien- und Kulturwirtschaft eine Selbstständigkeit vorstellen können.
103
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 4: Selbständig in der Kreativwirtschaft: Das Fallbeispiel Media Exist – Das Gründer/innen-Zentrum Medien
an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ Potsdam-Babelsberg
Literatur- und Quellenverzeichnis
IBB – Investitionsbank Berlin (Hrsg.) (2008): Creative Industries benötigen
Creative Finance – Innovative Finanzierungslösungen für die Filmwirtschaft.
Vorabdruck
IBF Medien e.V. (2006): Medienstandort Berlin Brandenburg; unveröffentlicht
KfW Bankengruppe (Hrsg.) (2008): KfW-Gründungsmonitor 2008; Gründungen
in Deutschland: weniger aber besser – Chancenmotiv rückt in den Vordergrund.
Online-Artikel: http://www.kfw.de/DE_Home/Service/Download Center/
Allgemeine_Publikationen/Research/PDF-Dokumente_Gruendungsmonitor/
Kfw_Grundungsmonitor_2008_32_Internet_Langfassung.pdf, abgerufen am
30.03.2009
Bourdieu, Pierre (2001): Die Regeln der Kunst, suhrkamp taschenbuch wis-
senschaft
Muck, Daniela (2008): Chancen deutscher Nachwuchsproduzenten, mit
selbstständiger Filmprojektarbeit ein wirtschaftlich erfolgreiches Produktions-
unternehmen im Kino- oder TV-Bereich aufzubauen. Diplomarbeit HFF Pots-
dam, bisher unveröffentlicht
Senat-Berlin (Hrsg.)(2008): Kulturwirtschaft in Berlin; Entwicklungen und
Potenziale. Online-Artikel: http://www.berlin.de/projektzukunft/fileadmin/
user_upload/pdf/magazine/kuwi_bericht_2008_100.pdf, 01.04.2009
The Marketing Catalysts (2009): Internetseite: http://www.marketing-cata-
lysts.com/de/index.htm, abgerufen am 30.03.2009
104
105
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 5: Planung und Finanzierung von Live-Entertainment-Projekten
Dr.�Ingo�Stein
Planung und Finanzierung von Live-Entertainment-Projekten
Dr. Ingo Stein, bis August 2009 Finanzvorstand des Live Entertainment Veran-
stalters DEAG Deutsche Entertainment AG, seit Oktober 2009 Finanzvorstand
des Sensorenentwicklers und -herstellers Silicon Sensor AG.
106
1. Die Entwicklung der Live-Entertainment-Branche in Deutschland
Der Live-Entertainment-Markt in Deutschland war 2008 von der allgemeinen
Wirtschaftskrise noch nicht nennenswert betroffen. Es bleibt abzuwarten, wie
die weitere Entwicklung im von der Finanzkrise gezeichneten Wirtschaftsjahr
2009 und in den Folgejahren sein wird.
In den vergangenen Jahren konnte ein kontinuierliches Branchenwachstum
verzeichnet werden. Eine Studie des idkv/GfK aus dem Jahr 2007 beziffert das
Marktvolumen für Musik-Veranstaltungen in Deutschland auf 2,88 Mrd. Euro,
was einem Anstieg gegenüber 1995 um 15% bedeutet. Damit liegen die Aus-
gaben für Live-Musik-Veranstaltungen knapp hinter denen von Büchern (2,9
Mrd. Euro), aber deutlich vor denen für Tonträger (1,62 Mrd. Euro), Software/
Games (1,36 Mrd. Euro) und Video (1,23 Mrd. Euro). Nimmt man den Markt
für Nicht-Musik-Veranstaltungen mit 0,9 Mrd. Euro hinzu, dann liegt der ge-
samte Veranstaltungsmarkt mit einem Volumen von 3,8 Mrd. Euro deutlich an
der Spitze. Eine nicht unwesentliche Rolle spielen auch die Nebeneinnahmen:
Durchschnittlich gibt jeder Veranstaltungsbesucher zusätzlich zum Ticketpreis
(33,20 Euro) 9,20 Euro für Gastronomie und 5,60 Euro für Merchandising aus.
Gemäß der Marktforschungsergebnisse ist die Verteilung der Live-Besuche ho-
mogen zwischen den Altersgruppen verteilt. Die wichtigste Rolle spielt dabei
mit 37% die Gruppe der über 60-jährigen. Die beliebtesten Genres sind Mu-
sicals (21%) sowie Konzerte der klassischen Musik (15%), gefolgt von Musik-
Festivals (14%) und Oper/Operette (13%). Der wichtigste Vertriebsweg für Ein-
trittskarten ist immer noch die Vorverkaufsstelle/Theaterkasse (43%), gefolgt
von der Abendkasse (21%) und dem Internet (20%). Die wichtigsten Werbe-
medien sind nach wie vor die Berichterstattung in den Medien (55%), gefolgt
von Empfehlungen durch Freunde (51%), Zeitungsanzeigen (46%) und Plakate
(42%).
107
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 5: Planung und Finanzierung von Live-Entertainment-Projekten
Treiber der Umsatzentwicklung im Veranstaltungsbereich sind u. a. der zu-
nehmende Vertrieb von Tickets über das Internet (in der Altersgruppe 20 - 29
Jahre mit 34% mittlerweile der wichtigste Vertriebsweg), die Verschiebung des
Medienbudgets der Verbraucher hin zu Live-Entertainment, steigende Ticket-
preise, die wachsende Anzahl moderner Spielstätten und in Deutschland die
hohe Beliebtheit nationaler Künstler.
Der Tonträgerbereich verzeichnete dagegen langfristig einen rückläufigen
Trend: Der Tonträgerumsatz betrug in 2008 1,58 Mrd. Euro, gegenüber 1,50
Mrd. in 2007 und 2,65 Mrd. Euro in 1995 (Quelle: Bundesverband Musikindu-
strie; idkv/GfK).
Gegenwärtig ist die Entertainment-Branche im Umbruch. Bedingt durch den
dramatischen Einbruch im Tonträgerbereich, versuchen die Musikmajors ihre
Einkommensquellen zu diversifizieren. Im Rahmen des sogenannten 360-Grad-
Modells sollen neben den Tonträgerumsätzen auch Einnahmen aus Merchan-
dising, Künstlermanagement, Werbe-Erlösen und nicht zuletzt aus dem Veran-
staltungsgeschäft erzielt werden. Gegenwärtig wird diese Diversifikation über
Unternehmenskäufe, Kooperationen sowie dem Eigenaufbau entsprechender
Einheiten vorangetrieben.
Aber auch innerhalb der Live-Entertainment-Branche findet ein Neuordnungs-
prozess statt. Prominentestes Beispiel dafür ist die angekündigte Fusion zwi-
schen dem weltweit größten Live-Entertainment-Konzern „Live Nation“, der
neben dem Agentur- und Tourneegeschäft auch Spielstätten betreibt, und
dem Marktführer für Ticketing-Systeme „Ticketmaster“.
Diese Trends haben eine Reihe von Auswirkungen auf Chancen und Risiken
sowie auf Entscheidungsprozesse der Veranstalter von Live-Entertainment-
Projekten:
108
» Die Einnahmen aus Tourneen sind für die meisten Künstler mittlerweile
die wichtigste Einkommensquelle geworden. Ein Album dient heutzuta-
ge zunehmend der Bewerbung einer Tournee, während es früher umge-
kehrt war. Dies bedeutet, dass der Live-Bereich für den Künstler weiter an
Bedeutung gewinnt. Gleichzeitig nimmt der Wettbewerb im Live-Enter-
tainment-Geschäft durch den Eintritt neuer Marktteilnehmer und durch
Verflechtungen weiter zu, wie Kapitel 2 zeigt.
» Mit zunehmender Bedeutung des Live-Anteils als Einkommensbestand-
teil eines Künstlers wachsen auch die Gagenforderungen. Darüber hinaus
wächst die jährliche Anzahl an Live-Veranstaltungen, Künstler verkürzen
ihre Tourneezyklen. Es besteht die Gefahr der Übersättigung. Gleichzeitig
werden die Produktionen immer teurer, um sich zu differenzieren. Stei-
gende Eintrittspreise sind die Folge, diese werden vom Publikum in zu-
nehmendem Maße nur noch bei Spitzenkünstlern akzeptiert, was die Be-
deutung einer sorgfältigen Finanzplanung und Risikoeinschätzung noch
weiter in den Vordergrund rückt.
109
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 5: Planung und Finanzierung von Live-Entertainment-Projekten
2. Die Player im Live-Entertainment-Markt
Nachfolgendes Schaubild zeigt die einzelnen Marktteilnehmer im Live-Enter-
tainment-Bereich und die Beziehungen zwischen ihnen:
Abbildung 1: Die Player im Live Entertainment MarktAg
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110
» Agenturen vertreten Künstler und vermitteln Tourneen in verschiedene
Territorien, in der Regel gegen Provision.
» Tourneeveranstalter erwerben diese Tourneen im Normalfall für ein be-
stimmtes Land gegen Zahlung einer Gage pro Konzert an die Agenturen.
Sie verkaufen die einzelnen Konzerte dieser Tournee an örtliche Veran-
stalter gegen eine Garantie. Sie stellen die ordnungsgemäße Durchfüh-
rung der Tournee sicher und kümmern sich um die überregionale Pro-
motion.
» Örtliche Veranstalter sind für die Durchführung des Konzertes in der be-
treffenden Stadt zuständig. Dies umfasst beispielsweise die Anmietung
der Halle, das Ticketing, die lokale Werbung, die Bereitstellung von Si-
cherheitskräften, Auf-/Abbauhelfern etc.
» Die Ticketsysteme stellen die Infrastruktur (Software) für den Ticketver-
trieb zur Verfügung und übernehmen teilweise auch das Handling (Ti-
cketversand, Inkasso etc.). Die Veranstalter pflegen die Ticketinforma-
tionen für ein Konzert in dieses System ein, auf das dann zentral über
Vorverkaufsstellen, Abendkassen, Internet, Hotlines etc. gemeinsam zu-
gegriffen wird, um die Kartenwünsche der Zuschauer zu bedienen. Durch
die teilweise sehr hohe Anzahl an Ticketabsätzen und Kundendirekt-
kontakten haben die Ticketsysteme eine hohe Vertriebsmacht. Hierbei
erzielen sie ihre Einnahmen schwerpunktmäßig aus Gebühren: System-
gebühren, Versandgebühren und Vorverkaufsgebühren für den Teil der
Tickets, die über ihre eigenen Portale verkauft werden.
» Die Spielstätten erzielen Einkommen aus Mieteinnahmen (in der Regel
ein Prozentsatz vom Kartenumsatz) sowie aus Nebengeschäften wie
Catering, Garderobe, Vermietung von Parkplätzen etc. Teilweise treten
Spielstätten auch als örtliche Veranstalter auf und haben eigene Ticket-
systeme.
111
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 5: Planung und Finanzierung von Live-Entertainment-Projekten
» Die Musikmajors haben in der Regel in der Anfangszeit den größten An-
teil am Künstleraufbau geleistet. In den letzten Jahrzehnten haben sich
der Tonträger- und der Live-Bereich weitgehend unabhängig voneinan-
der entwickelt, es gab so gut wie keine Überschneidungen. Dies änderte
sich in jüngster Zeit, zumal die Musikmajors aufgrund der sinkenden Ton-
trägerumsätze gezwungen sind, in andere Bereiche zu diversifizieren.
Gegenwärtig findet ein Machtverteilungskampf zwischen den Marktteilneh-
mern statt. Der angekündigte Merger zwischen dem weltweit größten Ticket-
system „Ticketmaster“ sowie dem größten Live-Entertainment-Konzern der
Welt „Live Nation“ (Agentur, Veranstalter, Spielstättenbetreiber) ist der derzei-
tige Höhepunkt im Kampf um Anteile am Live-Entertainment-Umsatz.
3. Live-Entertainment als Business-Modell
Nachfolgendes Schaubild zeigt die Vertrags- und Leistungsstrukturen zwi-
schen Künstler, Tourneeveranstalter und örtlichem Veranstalter:
Abbildung 2: Vertrags- und Leistungsstrukturen zwischen Künstler, Tourneeveranstalter und örtlichem Veranstalter
112
Der Tourneeveranstalter erwirbt die Tournee in der Regel gegen Zahlung einer
Mindestgage (zuzüglich der Nebenkosten) verrechenbar gegen einen Prozent-
satz vom Umsatz oder Gewinn. Übersteigt beispielsweise im Falle einer verein-
barten Beteiligung von 60% am Kartenumsatz aus einem Konzert dieser Wert
die dem Künstler garantierte Mindestgage, wird die Differenz ebenfalls an die
Agentur ausgezahlt, während der Tourneeveranstalter die verbleibenden 40%
behält.
Mit dem örtlichen Veranstalter wird ein Durchführungsvertrag abgeschlossen.
Er übernimmt das betreffende Konzert gegen Zahlung einer Mindestgarantie
gegen prozentuale Beteiligung des Tourneeveranstalters an Umsatz oder Ge-
winn.
Die nachfolgenden Schaubilder zeigen die Aufgabenverteilung zwischen dem
Tourneeveranstalter und dem örtlichen Veranstalter bei der Durchführung
eines Konzertes sowie die der jeweiligen Partei entstehenden Kosten:
Abbildung 3: Aufgabenteilung Tourneeveranstalter und örtlicher Veranstalter
113
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 5: Planung und Finanzierung von Live-Entertainment-Projekten
Abbildung 4: Kosten Tourneeveranstalter und örtlicher Veranstalter
4. Die Planung von Live-Entertainment-Projekten
Die Entscheidung eines Tourneeveranstalters bezüglich des Einkaufs einer
Tournee sowie der Preisobergrenze für die Gagen kann von existentieller Be-
deutung sein. Zwar werden in der Regel die Einstandskosten des Tourneever-
anstalters durch die Garantie des örtlichen Veranstalters gedeckt. Im Falle einer
kompletten Fehleinschätzung kann jedoch die Zahlungsfähigkeit des örtlichen
Veranstalters, der das gesamte Kartenabsatzrisiko trägt, stark beeinträchtigt
werden, so dass unter Umständen sogar Preisnachlässe zu Lasten des Tour-
neeveranstalters notwendig werden. Sollte ein Tourneeveranstalter mehrfach
seinen örtlichen Partnern hohe Verluste bescheren, kann es auch sein, dass er
von diesen künftig nicht mehr als Geschäftspartner akzeptiert wird.
Das folgende Schaubild zeigt, dass die Angebotsabgabe ein iterativer Prozess
ist. In der Regel übermittelt die Agentur erste Indikationen zum Tourneezeit-
raum, Anzahl der Shows, Gagenvorstellungen etc. Der Tourneeveranstalter
holt sich erste Einschätzungen von seinen örtlichen Partnern ein, da diese die
lokalen Gegebenheiten und Vermarktungsmöglichkeiten in ihrer Stadt am
besten kennen. Die wichtigsten Entscheidungsparameter sind die durchsetz-
baren Eintrittspreise, die anzustrebende Kapazität und die Verfügbarkeit der
114
Spielstätte, die erzielbare Auslastung sowie das Marketingkonzept. Auf Basis
dieser Einschätzungen gibt der Tourneeveranstalter ein erstes Angebot ab.
Wird dieses nicht akzeptiert, werden erneut die örtlichen Partner nach der
„Schmerzgrenze“ befragt. Dieser Prozess wiederholt sich so oft, bis eine Eini-
gung erzielt oder die Tournee abgelehnt wird.
Es kann auch vorkommen, dass der örtliche Veranstalter und der Tourneeve-
ranstalter bewusst Verluste in Kauf nehmen, wenn es sich beispielsweise um
den Aufbau eines Nachwuchskünstlers handelt, oder wenn es die Bedeutung
der Geschäftsbeziehung zu einer Agentur erfordert.
Abbildung 5: Angebotsabgabe als iterativer Prozess
Tournee-veranstalter
ÖrtlicherVeranstalter
Agent1
2
3
4
Einschätzung Ticketverkauf- Fangemeinde des Künstlers- Kartenabsatz/Gagenzahlungen vergleichbarer Künstler- Aktuelles Album- Letzte Tournee - Wie lange zurück? - Ticketverkauf- Attraktivität Spielstätte- Medienpartner- Anzahl Auftritte- Regionale Verteilung Auftritte
Einschätzung:- Welche Spielstätte- Welcher Schnittpreis- Welche Minimumgarantie- Marketingkonzept: - Regional - überregional
Neue Runde
Erste Indikation:- Tourneezeitraum- Anzahl Shows- Gagenvorstellung- Programm /Art der Show
Erstes Angebot
Das folgende Beispiel zeigt eine Abrechnung zwischen Tourneeveranstalter
und örtlichem Veranstalter. Es werden zwei Alternativen aufgezeigt: Eine Mini-
mum-Garantie gegen 60% des Umsatzes einerseits sowie eine hälftige Teilung
des Gewinns andererseits. Im vorliegenden Beispiel ist der Gewinn für den
Tourneeveranstalter bei der Umsatzteilung höher.
115
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 5: Planung und Finanzierung von Live-Entertainment-Projekten
Abbildung 6: Beispiel Abrechnungen zwischen Tourneeveranstalter und
örtlichem Veranstalter
Der örtliche Veranstalter trägt in der Regel das komplette Risiko, da er zu 100%
auf den Ticketverkauf angewiesen ist, während der Tourneeveranstalter sich
über eine Minimum-Garantie absichert. Von daher ist für ihn die Berechnung
des Break-Even-Ticketabsatzes von zentraler Bedeutung für die Entscheidung,
die örtliche Durchführung einer Veranstaltung zu übernehmen. Das folgende
Beispiel zeigt eine einfache Break-Even-Berechnung eines örtlichen Veranstal-
ters:
25.000
116
Abbildung 7: Break-Even-Analyse örtlicher Veranstalter
Bei einer Anzahl von 7.000 verkauften Tickets hat der örtliche Veranstalter
seine örtlichen Kosten sowie die an den Tourneeveranstalter zu zahlende Mi-
nimum-Garantie gedeckt. Die Berechnung setzt voraus, dass der Schnittpreis
sich zu gleichen Teilen aus den gewichteten Preisklassen berechnet (Preis pro
Kategorie gewichtet mit der Anzahl der Tickets pro Preiskategorie). Wenn aber,
was häufig der Fall ist, „von vorne nach hinten“ verkauft wird, die Tickets der
oberen Preiskategorien also bevorzugt erworben werden, reduziert dies den
Break-Even. Dies gilt auch, wenn bei schnellerem Abverkauf der Tickets der
ursprünglich geplante Einsatz an Werbemitteln zurückgefahren werden kann.
Wenn man alternative Umsatzszenarien berechnet, ist auch zu berücksichti-
gen, dass die umsatzabhängige Miete sich ebenfalls mit verändert, so dass
theoretisch mehrere Iterationen gerechnet werden müssen, um den wahren
Break-Even-Punkt festzustellen.
117
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 5: Planung und Finanzierung von Live-Entertainment-Projekten
5. Die Finanzierung von Live-Entertainment-Projekten
Das klassische Modell der Tourneefinanzierung erfordert keine Einbeziehung
von externen Finanzmitteln. Der Tourneeveranstalter finanziert die Gagenzah-
lungen an den Künstler bzw. dessen Agentur aus den Vorkassen der örtlichen
Veranstalter. Das folgende Schaubild zeigt die einzelnen Zahlungen im Zeit-
ablauf:
Abbildung 8: Die klassische Finanzierung - Minimumgarantien und Vorverkauf
Sollte der Finanzbedarf für die anfänglichen Gagenzahlungen nicht aus den er-
sten Vorkassen gedeckt werden können, so muss die Lücke entweder aus den
Finanzreserven des Tourneeveranstalters gedeckt oder ein externer Finanzie-
rungspartner hinzugezogen werden. Im nachfolgenden Beispiel beträgt das
gesamte Gagenvolumen 5 Mio. Euro. 2,5 Mio. Euro werden durch die ersten
Teilraten der Minimum-Garantien der örtlichen Veranstalter finanziert. Über
den Restbetrag gibt eine Bank eine Bürgschaft an den Künstler bzw. stellt ei-
nen Letter of Credit aus. Es wird ein Treuhandkonto eingerichtet, auf das im
118
weiteren Ablauf des Projektes die weiteren Teilraten des örtlichen Veranstal-
ters eingezahlt werden. Über dieses Konto hat nur die Bank Verfügungsgewalt,
Auszahlungen können nur in Abstimmung mit ihr vorgenommen werden. So-
bald die zweite Rate an den Künstler ausbezahlt ist, gibt dieser die Bürgschaft
an die Bank zurück.
Abbildung 9: Zwischenfinanzierung durch die Bank
Abbildung 10: Großtourneefinanzierung
119
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 5: Planung und Finanzierung von Live-Entertainment-Projekten
Abbildung 10 zeigt die mögliche Finanzierung einer Großtournee. In diesem
Beispiel finanziert ein Fonds oder eine Bank ein Gagenvolumen in Höhe von
30 Mio. US$ für eine Stadiontournee. Der Betrag wird auf ein Treuhandkonto
eingezahlt. Als Sicherheit werden sämtliche Ticketeinnahmen bzw. Minimum-
Garantien der örtlichen Veranstalter verpfändet. Die Gage wird anteilig nach
jedem Konzert an den Künstler ausbezahlt, nach Abzug von Künstlersteuer
und Künstlersozialkasse, die vom Veranstalter abgeführt werden. Auf einem
zweiten Treuhandkonto erfolgen die Einzahlungen aus Minimum-Garantien
der örtlichen Veranstalter bzw. aus Ticketverkäufen (für den Fall, dass der Tour-
neeveranstalter die örtliche Durchführung selbst übernimmt). Eine Verpfän-
dung der Einnahmen durch den Darlehensgeber kann bereits direkt auf Ebene
der Ticketsysteme vorgenommen werden.
Aus diesem Treuhandkonto erfolgen mit Zustimmung der Darlehensgebers
dann abschließend die folgenden Auszahlungen:
» Rückführung des Kredites an den Darlehensgeber
» Zinszahlungen an den Darlehensgeber
» Abführung des Gewinnanteils des örtlichen Veranstalters nach Abschluss
des Konzertes
» Auszahlung des Gewinnanteils an den Künstler nach Abschluss des Kon-
zertes
» Abführung des Gewinnanteils des Tourneeveranstalters nach Abschluss
des Konzertes
» Deckung der örtlichen Kosten in den Städten, in denen der Tourneever-
anstalter selbst tätig ist
» Auszahlung der Habenzinsen an den Tourneeveranstalter.
120
121
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 6: Selbstständigkeitsambitionen Studierender der Studienrichtung Mode-Design, Textil-Design und Bekleidungstechnik nach Studienabschluss - Ergebnisse einer Untersuchung / Befragung in Berlin und Riga
Bettina�Heinrichs
Selbstständigkeitsambitionen Studierender der Stu-dienrichtung Mode-Design, Textil-Design und Beklei-dungstechnik nach Studienabschluss - Ergebnisse ei-ner Untersuchung/Befragung in Berlin und Riga
122
Die Tendenzen zu mehr Markt und Flexibilität der Beschäftigungsformen in
einem internationalen sozio-ökonomischen Kontext lassen erkennen, dass zu-
künftig berufliche Selbstständigkeit in verschiedenen Formen zu einem Zielas-
pekt der beruflich Tätigen wird. Wurde Bildung/Qualifikation mit Blick auf die
Arbeitsprozesse bisher in organisational fest verankerten Strukturen betrach-
tet, wird sich diese Blickrichtung vor den sich extrem wandelnden ökono-
mischen Rahmenbedingungen verändern. Individuelle Konzepte zur Bildung/
Qualifikation für berufliche Tätigkeit, die von dem Verbleib in einem Unterneh-
men ausgehen, sind nicht mehr haltbar. Diese Tendenz trifft im wesentlichen
auf alle beruflichen Tätigkeitsfelder in allen EU- Volkswirtschaften zu, beson-
ders betroffen hiervon ist allerdings die Textil- und Bekleidungsherstellung. Die
Textil- und Bekleidungswirtschaft der EU-27 ist durch die heutige Wirtschafts-
krise von starken Umsatzrückgängen, Insolvenzen von Unternehmen und
massivem Arbeitsplatzabbau betroffen1 und macht einen tiefgreifenden und
facettenreichen Strukturwandel durch. Globalisierung, Individualisierung und
starker Rückgang der Nachfrage, Produktionsverlagerung, demographische
Veränderungen, Verkürzung der Lead Time in der bekleidungswirtschaftlichen
Wertschöpfungskette haben neben den veränderten volkswirtschaftlichen
Rahmenbedingungen verstärkt zum Strukturwandel beigetragen. Darüber
hinaus zeichnet sich das Tätigkeitsfeld der Textil- und Bekleidungsherstellung
durch die personengebundene Kompetenz (individuelle Kreativität, Innovati-
onskraft, Entwurfsideen) aus.
Die Hochschulen sind nicht zuletzt durch den Bologna-Prozess aufgefordert,
Studienkonzepte zu erstellen, die Berufsqualifizierung der Absolventen vor-
sieht. Junge Erwachsene in einer akademischen Ausbildung für die Textil- und
Bekleidungsindustrie müssen die oben skizzierte Ausgangslage frühzeitig an-
tizipieren und Beschäftigungsstrategien entwickeln, die alternativ zum Arbeit-
1 Vgl. Fashion United Newsletter vom 29.4.2009; S. 2
123
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 6: Selbstständigkeitsambitionen Studierender der Studienrichtung Mode-Design, Textil-Design und Bekleidungstechnik nach Studienabschluss - Ergebnisse einer Untersuchung / Befragung in Berlin und Riga
nehmer-Berufsverlauf in Richtung der beruflichen Selbstständigkeit gehen.
Zur Beantwortung der Fragestellung, inwieweit die Vorbereitung auf die zu-
künftige Beschäftigung im Textil- und Bekleidungssektor durch die Hoch-
schule und die Studierenden betrieben wird, wurde eine Untersuchung in
2006/2007 an staatlichen Hochschulen in Berlin und Riga durchgeführt. Da-
bei sollte festgestellt werden, in welchem Maße selbstständigkeitsrelevante
Angebote an den Hochschulen unterbreitet werden und welche Handlungen
und Einstellungen bzw. Handlungsabsichten die Studierenden im Hinblick auf
berufliche Selbstständigkeit haben. Ergebnisse der Untersuchung/Befragung
können dann herangezogen werden, wenn im Zuge der Berufsqualifizierung
der gestuften Studiengänge an Hochschulen neue Akzente der beruflichen
Selbstständigkeit in die Curricula eingebracht werden sollen.
Die Untersuchung erfolgte im Wintersemester 2006/2007. Sie erfasste Studi-
engänge mit Bezug zum Tätigkeitsfeld Textil- und Bekleidung. Das Vorgehen
erfolgte auf zwei Ebenen:
1. Untersuchung der Curricula der relevanten Studiengänge auf Aspekte
der beruflichen Tätigkeit, insbesondere der Selbstständigkeit von künf-
tigen Absolventen/innen.
2. Befragung der Studierenden der ausgewählten Studiengänge , die sich
im letzten Semester zum Bachelor-/ Master-/ Diplomabschluss befanden,
zur Erkundung ihrer Haltung/Ambitionen und ihrem Sozialisationshin-
tergrund zu beruflicher Selbstständigkeit nach Studienabschluss. Be-
fragt wurden in Berlin an der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft,
Kunsthochschule Berlin- Weißensee, Universität der Künste insgesamt 30
Studenten/innen und in Riga an der Kunsthochschule Lettlands und der
TU Riga 28 Studenten/innen.
Im Zeitraum 2006/2007 wurden in Berlin an den o. a. Hochschulen die rele-
vanten Studiengänge vom Diplom- Studiengang auf Bachelor- und Masterstu-
124
diengänge umgestellt; an der Kunsthochschule Lettlands und der TU Riga gibt
es seit Ende der 1990er Jahre nur den Bachelor- und Masterstudiengang.
Die Betrachtung der alten und neuen Curricula der Studiengänge Mode- und
Textil- Design und Bekleidungstechnik in Berlin und der bestehenden Curricu-
la der o. a. Studiengänge in Riga brachte folgende Ergebnisse2:
» Die Curricula an den Hochschulen in Berlin und Riga für die Studiengän-
ge Mode- und Textil-Design sind künstlerisch ausgerichtet, eine betriebs-
wirtschaftliche bzw. unternehmerische Ausrichtung auf eine mögliche
Selbstständigkeit ist Mitte des neuen Jahrtausend nicht bzw. nur in we-
nigen Ansätzen vorhanden.
» Die Curricula für den Studiengang Bekleidungstechnik in Berlin sind eher
arbeitswissenschaftlich ausgerichtet, in Riga eher auf den Umgang mit
Textil- und Bekleidungsmaschinen, betriebswirtschaftliche und unter-
nehmerische Ausrichtung ist auch hier nur sporadisch vorhanden.
» Bei der Neugestaltung der Curricula an den Hochschulen in Berlin zu Ba-
chelor-/Masterstudiengängen wurde die Neuausrichtung auf heute von
der Textil- und Bekleidungsindustrie geforderte Managementfähigkeiten
und betriebswirtschaftliche Kenntnisse der zukünftigen Designer ver-
säumt. Die Curricula an den Hochschulen in Riga sind bisher ebenfalls
nicht auf die neuen, von der Textil- und Bekleidungs-Industrie gefor-
derten Gegebenheiten umgestellt worden.
Die nachfolgende Tabelle zeigt die Auswertung (2. Ebene) der Befragung der
Studenten in Berlin und Riga im Vergleich3:
2 Die wichtigsten Ergebnisse sind hier zusammengefasst. 3 Der Fragebogen umfasste 23 Fragen.
125
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 6: Selbstständigkeitsambitionen Studierender der Studienrichtung Mode-Design, Textil-Design und Bekleidungstechnik nach Studienabschluss - Ergebnisse einer Untersuchung / Befragung in Berlin und Riga
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Textil- und Mode-
Designstudenten
3,62,9
Bekleidungstechnikstu-denten
2,32,2
127
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 6: Selbstständigkeitsambitionen Studierender der Studienrichtung Mode-Design, Textil-Design und Bekleidungstechnik nach Studienabschluss - Ergebnisse einer Untersuchung / Befragung in Berlin und Riga
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128
BerlinRiga
Hochschulen
Fachhochschule für Technik und Wirtschaft
Kunsthochschule Berlin-Weißensee
Universität der Künste
Lettische Kunstakademie
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Hochschul-Forschungs-
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11%
Bevorzugter Bereich für Aufnahm
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. Gründung eines
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Textil-Bekleidungsin-dustrie
517%
1450%
Freie Kunst/Kostümbild-
nerei15
50%6
21%
Textil- Bekleidungshan-del
310%
311%
Journalismus/M
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13%3
11%
sonstige Bereiche3
10%2
7%
Bevorzugter Standort für die Aufnahm
e einer selbstständigen Tätig-keit bzw
. Gründung
eines Unternehm
ens
Berlin /Riga18
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71%
129
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 6: Selbstständigkeitsambitionen Studierender der Studienrichtung Mode-Design, Textil-Design und Bekleidungstechnik nach Studienabschluss - Ergebnisse einer Untersuchung / Befragung in Berlin und Riga
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Hochschulen
Fachhochschule für Technik und Wirtschaft
Kunsthochschule Berlin-Weißensee
Universität der Künste
Lettische Kunstakademie
TU Riga
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30%4
14%
mit Partnern
2170%
2486%
Einschätzung der Bedeutung der H
indernisse bei einer selbstständigen Tätig-keit/ G
ründung
Fehlende Geschäftsidee
3,23,4
Fehlende Marktidee
2,72,3
Fehlende unternehm-
erische Fähigkeit2,8
3,2
Fehlendes Kontaktnetz2,1
3,2
Fehlendes Kapital2,4
4,1
Hoher bürokratischer
Aufwand
3,43,1
Angst vor dem
Scheit-ern
3,23,5
Unsichere persönliche
Einkomm
enssituation4,1
4,3
131
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132
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Hochschulen
Fachhochschule für Technik und Wirtschaft
Kunsthochschule Berlin-Weißensee
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Bessere Information
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36%
Workshops
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1761%
Kontakt-Partnerbörsen12
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64%
Einzelberatung12
40%9
32%
Wahlpflichtfach
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1139%
Aushänge Fachbereich6
20%9
32%
Planspiele6
20%4
14%
Einschätzung der Bedeutung ob eine ausreichende Vorberei-tung auf das Berufsle-ben durch H
ochschulen stattfindet
Einschätzung2,9
3,0
133
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 6: Selbstständigkeitsambitionen Studierender der Studienrichtung Mode-Design, Textil-Design und Bekleidungstechnik nach Studienabschluss - Ergebnisse einer Untersuchung / Befragung in Berlin und Riga
Die Gesamtzahl der Studenten/innen in Berlin und Riga in den verschiedenen
Studiengängen (Mode-Design, Textil- Design, Bekleidungstechnik) im Ab-
schlusssemester ist nahezu gleich groß.
Studenten/innen im Abschlusssemester sind in Riga deutlich jünger als in Ber-
lin. Einer der Gründe hierfür ist die in Lettland wesentlich kürzere Schulausbil-
dung in der Primar- und Sekundar-Stufe.
Der Anteil von Studentinnen in kreativen Textil- und Bekleidungs-Studiengän-
gen ist in beiden Städten überdurchschnittlich hoch. In dem eher technisch
orientierten Studiengang Bekleidungstechnik ist der Anteil von Studenten
deutlich höher, dies gilt besonders für den maschinenbauorientierten Studi-
engang Bekleidungstechnik an der TU Riga.
Der Anteil der Studenten/innen mit beruflich selbstständigen/unternehme-
risch tätigen Eltern liegt in Berlin deutlich höher als in Riga. In Lettland ist eine
unternehmerische/beruflich selbstständige Tätigkeit erst seit 1991 möglich.
Der Anteil der Studenten/innen mit einer abgeschlossenen Lehre vor Beginn
des Studiums ist in Riga deutlich höher als in Berlin. Für das Studium Beklei-
dungstechnik ist in Riga eine abgeschlossene Lehre in Maschinenbau bzw. in
einem Bekleidungsberuf zwingend vorgeschrieben, in Textil- und Mode-De-
sign mindestens ein sechsmonatiges Industriepraktikum bzw. eine abgeschlos-
sene Ausbildung in der Textil- und Bekleidungsindustrie. An den Hochschulen
in Berlin wird im Gegensatz zu Riga für alle Studiengänge nur ein Praktikum
ohne spezielle Ausrichtung vor Studienbeginn und/oder die Ableistung eines
studienbezogenen Praktikumssemesters während des Studiums verlangt.
Bevorzugte Quellen für Informationen über zukünftige Berufschancen in der
Textil- und Bekleidungsindustrie sind für Berliner Studenten das Internet, Print-
medien und Freunde/Bekannte. Rigaer Studenten wenden sich eher direkt an
Textil- und Bekleidungsunternehmen im eigenen Land, Freunde/Verwandte
134
und internationale Printmedien4, greifen auf das Internet noch wenig zurück.
Berliner Studenten schätzen ihre Chancen, eine adäquate Stelle in der Tex-
til- und Bekleidungsindustrie zu finden, eher schlecht ein5. Einer der Gründe
ist, dass in Berlin selbst kaum Unternehmen aus der Textil- und Bekleidungs-
Branche ansässig sind. Rigaer Studenten sehen ihre Situation nur wenig posi-
tiver , obwohl mehr als 80% der Unternehmen der lettischen Textil- und Beklei-
dungsindustrie in und um Riga ansässig sind.
Studenten der Fachrichtung Bekleidungstechnik schätzen ihre Chancen, einen
Studienplatz in der Textil- und Bekleidungsindustrie im In- und Ausland zu fin-
den deutlich positiver ein als „kreative“ Studienkollegen. Auf Grund ihres an-
dersartig gelagerten Studienganges ist ihr Einsatz in Unternehmen der Textil-
und Bekleidungsindustrie sowohl in den primären als auch unterstützenden
(sekundären) Prozessen der Wertschöpfungskette eines Unternehmens mög-
lich, was ihre Beschäftigungschancen deutlich erhöht.
Die Chancen für den Erfolg einer selbstständigen Tätigkeit in der Textil- und
Bekleidungsbranche werden von Berliner und Rigaer Studenten/innen aus
den Studiengängen Mode- und Textil- Design deutlich besser eingeschätzt6 als
von Studenten/innen aus dem Studiengang Bekleidungstechnik. Auf Grund
ihres deutlich höheren kreativen Potenzials besteht für Studenten jener Stu-
diengänge die Chance, sich in allen kreativen Bereichen selbstständig zu ma-
chen. Für eher technisch/arbeitswissenschaftlich ausgebildete Studenten der
Bekleidungstechnik ist der Sprung in die Selbstständigkeit deutlich schwerer,
da externe Dienstleistungen aus diesen Bereichen von Unternehmen der Tex-
til- und Bekleidungsbranche selten nachgefragt werden. Für einen Einstieg in
Vertrieb und Marketing von Unternehmen bestehen auf Grund ihrer fehlenden
4 In Lettland existieren reine Fachzeitschriften wie Textilwirtschaft, Textil-Mitteilungen etc. nicht. Lediglich der Verband der lettischen Textil- und Bekleidungsindustrie gibt einen Newsletter heraus, der alle 3 Monate erscheint.
5 Auf der Skala: 1= sehr gut bis 5= sehr schlecht6 Auf der Skala: 1= sehr gut bis 5= sehr schlecht
135
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 6: Selbstständigkeitsambitionen Studierender der Studienrichtung Mode-Design, Textil-Design und Bekleidungstechnik nach Studienabschluss - Ergebnisse einer Untersuchung / Befragung in Berlin und Riga
Kenntnisse für Bekleidungstechniker kaum Chancen.
Deutlich mehr als 70% der Berliner und Rigaer Studenten/innen sehen eine
festangestellte Tätigkeit in einem nationalen /internationalen mittelstän-
dischen Unternehmen bzw. Großunternehmen als erstrebenswert an. Eine
selbstständige Tätigkeit von Design- bzw. Bekleidungstechnik-Studenten ist
also nicht das angestrebte Berufsziel. Bemerkenswert ist, dass im Gegensatz
zu Rigaer Studenten keiner der Berliner Studierenden eine Tätigkeit im Hoch-
schul- und Forschungsbereich als erstrebenswert ansieht.
Die Kreativbereiche in denen eine mögliche Gründung bzw. Selbstständig-
keit von den Studenten/innen in Erwägung gezogen wird, differieren deutlich
zwischen Berlin und Riga. In Berlin wird von den Studenten/innen eher eine
Selbstständigkeit in der Freien Kunst/Kostümbildnerei angestrebt, in Riga ist
die Selbstständigkeit/Gründung auf den Textil- und Bekleidungsbereich aus-
gerichtet. Gründe für diese Haltungen konnten in der Befragung nicht ab-
schließend geklärt werden.
Mehr als 60% der Berliner und Rigaer Studenten planen eine mögliche Grün-
dung/Selbstständigkeit in der Stadt ihres Studiums, also in Großstädten, mit
deutlich besseren Voraussetzungen für Kreative als in Kleinstädten oder in
ländlichen Gebieten, d. s. in Berlin eine ausgeprägte Kreativ- und Kulturszene
und in Riga der Schwerpunkt der lettischen Textil- und Bekleidungsindustrie.
Die Gründe für die Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit sind bei Rigaer
und Berliner Studenten/innen nahezu gleich: Selbstverwirklichung durch Un-
abhängigkeit und die Möglichkeit zur Umsetzung eigener Ideen. Bemerkens-
wert ist, dass nur ein sehr geringer Anteil der Studierenden in der Aufnahme ei-
ner selbstständigen Tätigkeit eine bessere Verdienstmöglichkeit sieht, d.h. die
Studierenden messen dem Ausleben der Kreativität einen deutlich höheren
Stellenwert bei als den ökonomischen Perspektiven einer Selbstständigkeit.
Der Aufbau der Selbstständigkeit soll in beiden Städten möglichst zusammen
136
mit Partnern erfolgen. Dabei halten die Studenten/innen neben einer mög-
lichen Partnerschaft mit anderen Kreativen aus dem gleichen oder einem
anderen kreativen Fachgebiet auch Partnerschaften mit Personen aus wirt-
schaftswissenschaftlichen und technischen Bereichen für möglich.
Gravierende Hindernisse7 für die Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit/
Gründung sehen die Studierenden weniger in einer fehlenden bzw. zu gerin-
gen finanziellen Basis, sondern eher in fehlenden Kontakten und Netzwerken,
zu geringen eigenen kaufmännischen Kenntnissen und dem Fehlen einer
Marktidee. Die Hochschulausbildung sollte diesen Grundvoraussetzungen für
eine erfolgreiche zukünftige Selbstständigkeit der Studenten/innen Rechnung
tragen. Es besteht der Wunsch nach stärkerer Einbindung von Themen und
weitergehenden Informationen über Selbstständigkeit/Existenzgründung ins
Studium bei den Studierenden in beiden Städten.
Einer deutlichen Mehrheit der erfassten Studierenden in Berlin ist bekannt,
dass diverse Angebote zur Unterstützung beruflicher Selbstständigkeit auf
dem Markt sind; diese werden jedoch von mehr als 70% der Berliner Studie-
renden weder abgefragt noch in Anspruch genommen. Die Gründe hierfür
konnten nicht geklärt werden. Die Anzahl der Förderprogramme zur Existenz-
gründung ist in Lettland deutlich kleiner als in Deutschland. Rigaer Studieren-
de haben gleichwohl nur eine sehr geringe Kenntnis über von der lettischen
Regierung aufgelegte Programme zur Förderung der Selbstständigkeit, auch
ist die Bereitschaft zur Annahme der Angebote nur sehr wenig ausgeprägt.
Das Verhalten der Studenten/innen in beiden Städten im Hinblick auf beruf-
liche Selbstständigkeit kann als sehr inaktiv bezeichnet werden. Vor diesem
Hintergrund ist es fraglich, ob eine stärkere Einbindung dieser Thematik ins
Studium das bestehende Desinteresse der Studenten/innen beseitigen und zu
anderen Befragungsergebnissen führen würde.
7 Auf der Skala von 1= sehr gravierend bis 5= überhaupt nicht gravierend
137
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 6: Selbstständigkeitsambitionen Studierender der Studienrichtung Mode-Design, Textil-Design und Bekleidungstechnik nach Studienabschluss - Ergebnisse einer Untersuchung / Befragung in Berlin und Riga
Das Meinungsbild zur Einschätzung einer ausreichenden Vorbereitung auf das
Berufsleben spiegelt dieses Desinteresse wieder8. Von den Studenten/innen in
Berlin und Riga wird die bisher durchgeführte Vorbereitung auf das Berufsle-
ben durch die Hochschulen als befriedigend angesehen.
Zusammenfassend lässt sich aus der Befragung zu den Selbstständigkeitsam-
bitionen Studierender der Studienrichtungen Mode-Design, Textil- Design und
Bekleidungstechnik aus Berlin und Riga feststellen:
» Es bestehen sowohl bei Berliner als auch Rigaer Studenten/innen Ambi-
tionen, sich nach Abschluss des Studiums selbstständig zu machen oder
ein Unternehmen zu gründen. Der Wunsch nach einer Festanstellung ist
jedoch vorrangig.
» Entsprechend werden Informationen zu Berufschancen überwiegend im
Hinblick auf eine zukünftige Angestelltentätigkeit eingeholt und nicht
für die Planung einer möglichen Selbstständigkeit.
» Sowohl die Chancen auf einen festen Arbeitsplatz in der Textil- und Be-
kleidungsbranche als auch für eine Selbstständigkeit in der o. a. Branche
werden von Studierenden in beiden Städten als eher gering eingestuft.
» Bestehende Informations- bzw. Beihilfen-Angebote zur Selbstständig-
keit/Existenzgründung werden zwar zur Kenntnis genommen, ihre Nut-
zung durch die Studenten/innen erfolgt nur in geringem Ausmaß. Ob
eine verstärkte Einbindung des Themenkomplexes in die Lehrpläne zu
verstärkten Gründungsambitionen und Gründungsplanungen führt, ist
fraglich.
» Die Mehrheit der Studenten/innen in beiden Städten ist mit der Vorberei-
tung auf das Berufsleben durch die bisherigen Angebote der Hochschu-
len zufrieden.
8 Auf der Skala von 1= sehr gut bis 5= sehr schlecht
138
Nach Meinung der Autorin wurde bei der Neugestaltung der Curricula an den
Hochschulen in Berlin und der teilweisen Umgestaltung (2008) der Curricula
an den Hochschulen in Riga die Möglichkeit vertan, in Zusammenarbeit mit
der Industrie eine Neuausrichtung der Studiengänge an den veränderten Rah-
menbedingungen vorzunehmen. Die betriebswirtschaftlichen Kenntnisse und
Managementfähigkeiten der künftigen Designer und Bekleidungstechniker in
beiden Städten lassen deutlich zu wünschen übrig. Dies wurde der Autorin von
Textil- und Bekleidungsunternehmen in Deutschland und Lettland mehrfach
bestätigt. Textil- und Bekleidungsunternehmen fragen bevorzugt Personen
mit abgeschlossenem Hochschulstudium und mehrjähriger Berufserfahrung
nach. Durch Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen für Beschäftigte ohne die-
se Qualifikationen in Textil- und Bekleidungsunternehmen und zum Ausgleich
von Wissensdefiziten der o. a. Art könnte ein Anreiz auch für eine spätere
Selbstständigkeit geschaffen werden.
139
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 6: Selbstständigkeitsambitionen Studierender der Studienrichtung Mode-Design, Textil-Design und Bekleidungstechnik nach Studienabschluss - Ergebnisse einer Untersuchung / Befragung in Berlin und Riga
140
141
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 7: Künstler – Prädestiniert für erfolgreiches unternehmerisches Handeln
Dr.�Christoph�Schönfelder�/�Henrik�Cohnen�
Künstler – Prädestiniert für erfolgreiches unternehme-risches Handeln
142
Anhand folgender Teilschritte wird die Begründung des Titels geleistet:
1. Krise durch Muße – Konstitutiv für das künstlerische Handeln
2. Identifikation des Kerns unternehmerischen Handelns
3. Bestimmung der für das erfolgreiche unternehmerische Handeln not-
wendigen Habitusausprägungen1
4. Passungsverhältnis der Habitusausprägungen von Künstler und Unter-
nehmer
1. Krise durch Muße – Konstitutiv für das künstlerische Handeln2
Handeln im Alltag wird überwiegend durch Routinen bestimmt. Zum Beispiel
folgen wir in der Regel jeden Morgen denselben Routinen: Wecker ausschal-
ten, Aufstehen, Anziehen, Zähneputzen, Frühstücken … Routinen sind Lö-
sungen von Handlungsproblemen, mit denen wir im Laufe unseres Lebens
bereits konfrontiert wurden. Entweder haben wir uns diese Lösungen selbst
erarbeitet, oder wir haben gelungene Lösungen anderer schlicht übernom-
men. Tritt jedoch eine Situation ein, in der zur Erreichung eines bestimmten
Handlungsziels, zur Lösung eines bestimmten Handlungsproblems auf keine
Routine zurückgegriffen werden kann, befinden wir uns in der Krise. Denn in
der Krise versucht der Mensch die ihm fehlende Lösung zu finden, um sein
Handlungsziel zu erreichen. Gelingt ihm dies, so wird er in späteren vergleich-
baren Situationen auf diese Krisenlösung zurückgreifen, er wird sie, wenn sie
sich praktisch bewährt hat, in eine Routine überführen. Beide Momente, Krise
und Routine, sind folglich für die Erklärung menschlichen Handelns untrenn-
bar miteinander verknüpft. 1 Der Habitus wird in Anlehnung an die spezifische und systematische Ausrichtung von Pierre Bour-
dieu verwendet. Vgl. hierzu: BOURDIEU 1987: 98 u. BOURDIEU/WACQUANT 1996: 154 2 Der folgende Punkt stützen sich in Argumentation und Begrifflichkeit auf Arbeiten von Ulrich
Oevermann – insbesondere bzgl. der Konzeption von Krise und Routine – und von Thomas Loer – insbesondere in der Konzeption von Freimut und von Erfahrung als Konfrontation.
143
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 7: Künstler – Prädestiniert für erfolgreiches unternehmerisches Handeln
Es gibt insgesamt drei unterschiedliche Krisentypen für menschliches Han-
deln: Die traumatische Krise, die Entscheidungskrise und die Krise durch Muße.
Die traumatische Krise hatten Pierce und die Pragmatisten vor allem im Auge,
wenn sie von den Überraschungen durch „brute facts“ sprachen.3 Diese Krise
entsteht dann, wenn man mit etwas Unvorhergesehenem konfrontiert wird.4
Die Ereignisse können sowohl negativ, als auch positiv empfunden werden.5
Dieser Krisentyp konstituiert Naturerfahrungen und leibliche Erfahrungen. Bei
diesem Krisentyp gilt, dass auf das überraschende Ereignis nicht nicht reagiert
werden kann, da schon die erste spontane Reaktion zur Krisenlösung zählt.6
Die Entscheidungskrise kommt von allen Krisentypen am häufigsten vor. Sie
wird immer, im Gegensatz zur traumatischen Krise, vom Menschen selbst her-
beigeführt.7 Dieser Krisentyp tritt zwangsläufig bei einer Entscheidung auf. Die
Entscheidungskrise wird dadurch ausgelöst, dass man sich für eine der vielen
möglichen Alternativen entscheiden muss, ohne im Zeitpunkt der Auswahl zu
wissen, ob die Gründe für die Auswahl auch in der Zukunft Bestand haben wer-
den. Darüber hinaus ist die Entscheidung immer mit einer Selbstrechtfertigung
verbunden, die aus der strukturell erforderlichen Begründung für die konkrete
Entscheidung hervorgeht. Die Entscheidungskrise kennzeichnet somit die Ein-
heit von Entscheidung und Selbstrechtfertigung.8 Bei der Entscheidungskrise
gilt, dass man nicht nicht entscheiden kann.9 Zu beachten gilt, dass, obwohl
der Mensch täglich hundertfach entscheidet, er selten in die Entscheidungs-
krise gerät. In der Regel wird bei alltäglichen Entscheidungen auf bestehen-
3 Vgl. OEVERMANN 2004: 1654 Vgl. OEVERMANN 1998: 87 u. OEVERMANN 2004: 1655 Vgl. OEVERMANN 2004: 165 u. OEVERMANN 2008: 18 6 Vgl. OEVERMANN 2004: 1657 Vgl. OEVERMANN 2004: 165 u. OEVERMANN 2008: 198 Vgl. LOER 2006: 169 Vgl. OEVERMANN 2004: 166 u. OEVERMANN 2008: 19
144
de Handlungsroutinen, also auf einmal gefundene oder übernommene und
bewährte Lösungen zurückgegriffen. Die Entscheidungskrise rückt häufig erst
bei Entscheidungen von großer Tragweite ins Bewusstsein, so zum Beispiel bei
der Partner- oder Berufswahl.10
Die Krise durch Muße ermöglicht ästhetische Erfahrungen. Sie tritt in Zeiten
der Muße auf, also dann, wenn man frei von äußeren Handlungszwängen ist –
insofern steht sie im Gegensatz zur Entscheidungskrise: Man muss sich gerade
nicht entscheiden. Befindet man sich in einem solchen Zustand der Muße, in
der Handlungsentlastetheit herrscht, so wird die eigene Wahrnehmung gegen-
über allem geöffnet. Schließlich bestimmt allein die Wahrnehmung in dieser
Situation das Handeln.11 Hier kann plötzlich etwas Unvorhergesehenes in den
Fokus der Wahrnehmung rücken. Hier kann plötzlich etwas Überraschendes
oder Unbekanntes in den Fokus der Wahrnehmung rücken. Dieses kann dabei
sowohl aus der Wahrnehmung der inneren, als auch der äußeren Realität stam-
men. Das Unbekannte kann verunsichern oder Neugierde wecken. In einem
solchen Erregungszustand zeigt sich die Krise durch Muße. Um diese Krise zu
lösen, muss sich zunächst die Wahrnehmung unvoreingenommen und zu-
gleich aufmerksam auf das Unbekannte richten, um es zu verstehen. Hierbei
werden vielfältige Erfahrungen gemacht und Erkenntnisse gewonnen; dies
sind die Momente der Krisenlösung.
Die durch die Krisenlösung erfahrbare ästhetische Erfahrung bildet somit die
Basis jeglicher Erkenntnis, vor allem aber jeglicher Erfahrungserweiterung und
-modifikation12 und kann als Urform von Erkenntnis, wie Erkenntnis im besten
Sinne nur sein kann, weil sie sich um ihrer selbst willen vollzieht, gesehen wer-
den.13 10 Vgl. ebd. 11 Vgl. OEVERMANN 2004: 16712 Vgl. OEVERMANN 1996: 15 13 Vgl. OEVERMANN 2004: 167
145
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 7: Künstler – Prädestiniert für erfolgreiches unternehmerisches Handeln
Sie steht zwar in der Alltagspraxis als solche am Rande, erst recht für die mo-
derne Alltagspraxis einer durchrationalisierten Gesellschaft, erlaubt jedoch,
über die dramatisch in die Alltagspraxis hineinbrechende Krise hinaus, Krisen
gewissermaßen eingebettet in der Muße zu simulieren14 und ermöglicht eine
Restrukturierung der begrifflichen Welt.15 Zusätzlich wird mithilfe der ästhe-
tischen Erfahrung die Wahrnehmung der sachlichen, kulturellen und ästhe-
tischen Sinnstrukturen verbessert, subjektiv und objektiv Neues entdeckt,
strukturelle Offenheit gegenüber Krise aufgebaut und die Kreativität gestei-
gert. Somit wird deutlich, dass die Krise durch Muße konstitutiv für künstle-
risches Handeln ist.16 Gleichzeitig muss davon ausgegangen werden, dass hier-
durch beim Künstler Freimut und Offenheit aufgebaut werden.
2. Identifikation des Kerns unternehmerischen Handelns
Der Kern unternehmerischen Handelns liegt in der stellvertretenden Suche
nach Problemlösungen, die auf ein Handlungsproblem der Lebenspraxis ant-
worten17, und in der Bereitstellung standardisierter Problemlösungen für den
marktförmigen Tausch.18 Darüber hinaus unterliegt das unternehmerische
Handeln dem Postulat den Ressourcenaufwand beim Vollzug der beiden Kern-
aufgaben unter dem des Ressourcenertrags zu halten. Gelingt dies nicht, so
wird vom Scheitern des unternehmerischen Handelns gesprochen. Somit zielt
unternehmerisches Handeln auch immer darauf ab, das Risiko des Scheiterns
von Krisenlösungen zu minimieren. Ein weiteres Kennzeichen des Unterneh-
mers19, worin er sich beispielsweise vom Manager unterscheidet, liegt in der
14 Vgl. OEVERMANN 1996: 10f.15 Vgl. LOER 1991: 16916 Künstler werden als künstlerisch handelnde Personen begriffen.17 LIEBERMANN 2002: 1218 Vgl. ebd.19 Alle Personen, die unternehmerisch handeln, werden im Folgenden unter dem Begriff des Unter-
nehmers subsumiert.
146
Entscheidungsverantwortung und dem hiermit verbundenen persönlichen
Risiko. Ferner verfolgt der Unternehmer das Ziel die Existenz seines Unterneh-
mens, über Reinvestition des erzielten Geldvermögens, langfristig zu sichern,
um so weiterhin unternehmerisch handeln zu können.
3. Bestimmung der für erfolgreiches unternehmerisches Handeln not-
wendigen Habitusausprägungen20
Vergegenwärtigt man sich, wie standardisierte Problemlösungen für ein Hand-
lungsproblem gefunden und für den marktförmigen Tausch angeboten wer-
den können, so rücken zwei Habitusausprägungen in den Fokus: Zum einen
die strukturelle Offenheit, zum anderen Freimut.
Die strukturelle Offenheit ist für die Findung einer Lösung eines Handlungs-
problems unverzichtbar. Denn will man ein solches innovatives Produkt finden,
muss zunächst die Brauchbarkeit dessen in einem geistigen Moment erfasst
werden. Götz W. Werner spricht in diesem Zusammenhang vom Unternehmer
als Realträumer.
In einem weiteren Schritt muss die Wertschätzung dieser Lösung durch denje-
nigen, dem das Produkt angeboten wird, identifiziert werden. Denn was nützt
dem Unternehmer ein brauchbares Produkt, wenn es keinen Wert für den
Konsumenten besitzt. Es wird somit deutlich, dass dem Unternehmer, um die
Brauchbarkeit und Wertschätzung eines Produktes zu entschlüsseln, eine um-
fassende Deutungsfähigkeit abverlangt wird. Diese wird primär mittels struk-
tureller Offenheit geleistet. Nur somit kann eine angemessene Wahrnehmung
von kulturspezifischen Handlungsmustern vollzogen und bestimmte Konstel-
lationen als Handlungsproblem erfasst werden; nur mit ihr ist der Unterneh-
mer im Stande, kulturspezifische Deutungsmuster zu erfassen, um zu wissen, 20 Dieser Punkt basiert in weiten Teilen auf LOER 2006
147
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 7: Künstler – Prädestiniert für erfolgreiches unternehmerisches Handeln
ob das Produkt als Antwort eines bestimmten Handlungsproblems vom Kun-
den als Lösung wahrgenommen, erkannt und anerkannt wird.
Hierzu ein Beispiel: Eine Wasserpumpe stellt eine gelungene Lösung eines
Handlungsproblems dar. Mit ihr wird das Problem gelöst, Wasser aus der Tiefe
des Bodens an die Erdoberfläche zu pumpen. Eine solche Wasserpumpe wurde
für Farmer in Bangladesh entwickelt. Sie besitzt folgende Kennzeichen: Mit ihr
können ca. 4000 qm Farmland bewässert werden. Sie wird mit einer Tretbewe-
gung betrieben, besteht aus einfachem Material und ist nahezu wartungsfrei.
Darüber hinaus ist sie einfach auf dem Fahrrad zu transportieren und somit
auf mehreren Feldern einsetzbar. Zusätzlich sind die Bohrlöcher für die Pumpe
einfach zu bohren.
Da diese Wasserpumpe in Bangladesh einen hohen Absatz fand, entschloss
sich der Hersteller diese auch in Kenia zu vermarkten, jedoch musste er nach
kurzer Zeit feststellen, dass sie in diesem Markt nicht nachgefragt wurde. Der
Hersteller betrieb daraufhin Nachforschungen, um den Grund hierfür zu ent-
schlüsseln. Hierbei konnten folgende zentrale Handlungs- und Deutungsmu-
ster erkannt werden, die die geringe Nachfrage begründeten:
1. Die Farmer in Kenia hatten große Angst vor Diebstahl, infolgedessen die
Pumpe leicht einzuschließen sein musste. Auf Basis dieser Erkenntnis er-
möglichte der Hersteller eine Zerlegung der Pumpe.
2. Die Kenianer verwenden im Gegensatz zu den Farmern in Bangladesh
keine Grabenbewässerung der Felder. Folglich wurde ein Pumpenaufsatz
entwickelt, der sehr leicht die Versprengung von Wasser ermöglichte.
3. Die Feldarbeit wird in Kenia überwiegend von Frauen verrichtet und die
Schreitbewegung zur Wasserförderung wurde als anstößig empfunden.
Aus diesem Grund wurde die Pumpe auf Handbetrieb umgestellt, auch
wenn dies die Pumpkraft verringerte.
148
Erst das Verständnis der kulturspezifischen Handlungs- und Deutungsmuster
ermöglichte dem Hersteller, die Problemlösung an den Markt in Kenia anzu-
passen. Nach den Veränderungen der Wasserpumpe wurde diese auch in Ke-
nia stark nachgefragt.
Dabei muss die offene Wahrnehmungsorganisation, nicht nur auf ihre gegen-
wärtige Gestalt der Handlungs- und Deutungsmuster, sondern auch auf zu-
künftige Veränderungen ausgerichtet sein. Denn für die stellvertretende Su-
che nach Problemlösungen muss der Unternehmer in der Lage sein, Zukunft
bestmöglich zu antizipieren. Überspitzt formuliert könnte man sagen: Er muss
bereits heute wissen, was morgen passiert. Auch bei dieser antizipatorischen
Fähigkeit - bei der auch die Sensibilität eine wichtige Rolle spielt - ist eine of-
fene Wahrnehmungsorganisation unverzichtbar.
Das Vorliegen eines Habitus des Freimuts im Rahmen des optimalen Vollzugs
unternehmerischen Handelns ist für die Verwirklichung, also für das Anbieten
der Problemlösung zentral. Denn diese Neuerung - dieses Produkt - stellt - ab-
strakt gesprochen - eine Erweiterung der Möglichkeiten der Welt mittels der
riskanten Realisierung einer Chance dar. Da die Zukunft offen ist, unternimmt
er diese Chance zur Neuerung, die Verwirklichung, auf eigenes Risiko. Nur mit
einem Habitus des Freimuts wird der Unternehmer dieses Risiko nicht scheu-
en, etwas Neues zu wagen und dies grundsätzlich als Chance und nicht als
Risiko zu begreifen. Gerade heute, in einer beschleunigten Moderne, wird der
Stellenwert von Freimut immer wichtiger, denn nur mit einer unaufgeregten
Aufgeschlossenheit können sinnvolle Lösungen für bestehende Handlungs-
probleme, zur Erreichung bestimmter Handlungsziele, gefunden werden.
149
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 7: Künstler – Prädestiniert für erfolgreiches unternehmerisches Handeln
Nur mit diesen Habitusausprägungen ist es möglich, sich Neuem zu öffnen
und etwas Neues zu schaffen, damit neue Märkte entstehen oder bestehende
Marktanteile erschlossen, stabilisiert oder vergrößert werden können.21
Darüber hinaus wirken sie positiv auf die Kommunikationsfähigkeit, Anpas-
sungs- und Wandlungsfähigkeit, Flexibilität, Veränderungsbereitschaft, Kreati-
vität und Selbstreflexion als zentrale Voraussetzungen für eine stabile innere
Vertrauenskultur und ein gutes Betriebsklima, die in der Regel für die Zielerrei-
chung unternehmerischen Handelns unverzichtbar sind.
Auch im Hinblick auf die zunehmende Globalisierung stellen diese Habitus-
ausprägungen wichtige Voraussetzungen im interkulturellen Dialog der Un-
ternehmen dar. Mit ihnen sind gegenseitiges Verstehen und Wertschätzung
anderer Kulturen und Mentalitäten möglich und eröffnen so eine fruchtbare,
auf Verständigung basierende Kooperation weltweit.22
4. Passungsverhältnis der Habitusausprägungen vom Künstler und Un-
ternehmer
Vergleicht man die für das künstlerische und unternehmerische Handeln er-
forderlichen Habitusausprägungen so wird ein hohes Passungsverhältnis
sichtbar. Strukturelle Offenheit und Freimut stellen sowohl für das erfolgreiche
unternehmerische, als auch für das künstlerische Handeln zentrale Vorausset-
zungen dar.
Begründet durch die Tatsache, dass die Krise durch Muße im Rahmen künst-
lerischen Handelns den Auf- bzw. Ausbau beider Habitusausprägungen beim
Künstler leistet, prädestiniert ihn dies folglich für das erfolgreiche unterneh-
merische Handeln.
21 Dies wird deutlich in der Wortherleitung von Innovation. Es heißt wörtlich „Neuerung“ oder „Erneuerung“ und leitet sich aus den lateinischen Worten „novus“ für „neu“ und „innovatio“ für „etwas neu Geschaffenes“ ab.
22 Vgl. ZENTGRAF 2002: 6
150
Literatur und Quellenverzeichnis
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tischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987.
BOURDIEU/WACQUANT (1996): Pierre Bourdieu u. Loïc J. D. Wacquant: Refle-
xive Anthropologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996.
LIEBERMANN (2002): Sascha Liebermann: Die Krise der Arbeitsgesellschaft
im Bewußtsein deutscher Unternehmensführer. Eine Deutungsmusteranalyse.
Frankfurt a.M.: Humanities Online-Verl. 2002.
LOER (2006): Thomas Loer: Zum Unternehmerhabitus – eine kultursoziolo-
gische Bestimmung im Hinblick auf Schumpeter. Studienhefte des Interfa-
kultativen Instituts für Entrepreneurship an der Universität Karlsruhe. Heft 3.
Karlsruhe: Universitätsverlag Karlsruhe 2006. http://www.uvka.de/univerlag/
volltexte/2006/125/
LOER (1991): Ders.: Ästhetik im Ausgang vom Werk. Eugène Delacroix: Fanta-
sie arabe (1833). Exemplarische Überlegungen. In: Zeitschrift für Ästhetik und
allgemeine Kunstwissenschaft. Band 36. November 1993.
OEVERMANN (1998): Ulrich Oevermann: Der professionalsierungstheore-
tische Ansatz des Teilprojekts ‚Struktur und Genese professionalsierter Praxis
als Ortes der stellvertretenden Krisenbewältigung‘, seine Stellung im Rahmen-
thema des Forschungskollegs und sein Verhältnis zur historischen Forschung
über die Entstehung der Professionen im 19. und 20. Jahrhundert. Unveröff.
Manuskript, Frankfurt a.M. 1998.
OEVERMANN (1996) a: Ders.: Krise und Muße. Struktureigenschaften ästhe-
tischer Erfahrung aus soziologischer Sicht. Vortrag am 19.6. in der StädelSchu-
151
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 7: Künstler – Prädestiniert für erfolgreiches unternehmerisches Handeln
le. Frankfurt a.M. 1996.
OEVERMANN (2004): Ders: Sozialisation als Prozess der Krisenbewältigung.
In: Dieter Geulen und Hermann Veith (Hrsg.): Sozialisationstheorie interdiszipli-
när. Aktuelle Perspektiven. Stuttgart: Lucius und Lucius 2004.
OEVERMANN (2008): Ders.: „Krise und Routine“ als analytisches Paradigma in
den Sozialwissenschaften. Manuskript der Abschiedsvorlesung am 28.04.2008
in Frankfurt a.M.
ZENTGRAF (2002): Christiane Zentgraf, C. (2002): Braucht die Wirtschaft Kul-
tur?. In: nmz - neue Musikzeitung, Nr. 05, 2002.
152
153
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
Dr.�Johann�Gerdes�/�Frauke�Lietz
Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluati-on des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben – Ein Pro-fessionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Meck- lenburg-Vorpommern“
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Erarbeitet im Auftrag der Parlamentarischen Staatssekretärin für Frauen und Gleich-stellung des Landes Mecklenburg-Vorpommern
Gefördert aus Mitteln des LandesMecklenburg-Vorpommern und des Europäischen Sozialfonds
EIN PROFESSIONALISIERUNGSPROJEKTFÜR KÜNSTLERINNENIN MECKLENBURG-VORPOMMERN
FRAUENBILDUNGSNETZMecklenburg-Vorpommern e.V.
154
1. Begründungszusammenhang und allgemeine Zielstellung des „Künst-
lerinnenprojekts“
Die zu evaluierende Maßnahme „Die Kunst von Kunst zu leben“ hat ganz allge-
mein eine Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Lage von Künstlerin-
nen in Mecklenburg-Vorpommern zum Ziel.
Anlass für die Entwicklung dieser Zielstellung war die Einschätzung, dass - so
wie im Bundesgebiet insgesamt - Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern
in besonderer Weise benachteiligt sind. Dieser erkannten Benachteiligung
sollte mit Hilfe einer staatlichen Intervention im Rahmen einschlägiger Förder-
programme entgegengewirkt werden.
Die Maßnahme wendet sich speziell an jene Berufstätigen, die gemeinhin
unter dem nicht immer eindeutig zu definierenden Begriff „Künstler“ zusam-
mengefasst werden. Dieser Fokus auf die Berufsgruppe der „Künstler“ ergibt
sich aus der Einschätzung, dass die Angehörigen dieser Gruppe sich in einer
besonderen, von anderen Berufsbereichen deutlich unterscheidbaren sozi-
alen und wirtschaftlichen Situation befinden, welche es ihnen erschwert, die
eigene wirtschaftliche Existenz hinreichend aus eigener Kraft zu sichern.
Weiter wird davon ausgegangen, dass Frauen innerhalb der Berufsgruppe der
Künstler zusätzlich geschlechtsspezifisch benachteiligt sind, indem sie ge-
genüber den männlichen Vertretern der Berufsgruppe regelmäßig geringere
Chancen haben, sich im Kunstbetrieb durchzusetzen. Daher richtet sich die
Maßnahme ausdrücklich nur an Künstlerinnen. Mit Hilfe der Maßnahme soll
mithin ihrer doppelten Benachteiligung - als Kunstschaffende und als Frau -
entgegengewirkt werden.
Um die identifizierte doppelte Benachteiligung im Rahmen einer Intervention
bearbeiten zu können, wurde ein Modellprojekt konzipiert, das sowohl von
den Rahmenbedingungen und der Organisation als auch von den Inhalten
155
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
her zum einen die Besonderheiten des Künstlerdaseins und zum anderen die
spezifische Lage der Künstlerinnen berücksichtigt. Im Rahmen der Maßnahme
sollten also nicht nur spezifische Inhalte vermittelt, sondern auch spezifische
Formen für diese Vermittlung gefunden werden, um eben der besonderen
Situation von Künstlerinnen gerecht zu werden.
Ausgehend von der Begründung und der allgemeinen Zielstellung wurde für
das Projekt dann das allgemeine operationelle Ziel, die „Künstlerinnen in Meck-
lenburg-Vorpommern zur selbständigen, freiberuflichen Positionierung im
Kunstbereich“ (Projektantrag S. 3) zu befähigen, entwickelt. Die zu erreichende
Befähigung wird dabei als „Professionalisierung“ aufgefasst, aber eben nicht
im Sinne einer klassischen beruflichen Qualifizierung über die Vermittlung von
reinen hard skills, sondern in dem Sinne, „Künstlerinnen mit Orientierungswis-
sen, Schlüsselqualifikationen, soft skills, Transferkompetenz und Flexibilität zur
Sicherung des Erwerbseinkommens (zu) versehen“ (ebenda). Dies zu erreichen
soll im inhaltlichen Sinne das spätere Ergebnis des Projekts darstellen.
Weitere operationelle Ziele des Projekts sind zum einen die „Vernetzung der
Künstlerinnen untereinander und mit potentiellen Partnerinnen im region-
alen und internationalen Raum“ zu fördern (ebenda) und zum anderen die
Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit stärker auf das Wirken der Künstlerinnen zu
lenken, indem über das Projekt eine „Dokumentation und Sichtbarmachung
von Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“ angestrebt wird. Verbunden
wird das mit der allgemeinen Intention, „… dass das Thema Künstlerinnen hier in
Mecklenburg-Vorpommern als Thema noch ein Stückchen ins politische Bewusst-
sein gerückt wird, … dass gemerkt wird, das Thema geht uns alle an und das ist
auch wichtig für unser Land Mecklenburg-Vorpommern, also das ist die politische
Dimension, die wir damit verbunden haben.“ (Projektinitiatorinnen)1
1 Alle kursiv gesetzten und mit Anführungszeichen versehenen Textpassagen sind Zitate aus den Protokollen der Gruppen- bzw. Einzelgespräche, die mit den Projektinitiatorinnen bzw. mit Teil-nehmerinnen geführt wurden.
156
Die Ziele und Inhalte des „Künstlerinnenprojekts“ berühren letztlich ver-
schiedene Themenfelder, die jeweils verschiedenen Fördergebieten der EU-
bzw. der Bundes- oder Landesförderung zuzuordnen sind. Einerseits geht es
beispielsweise um eine „freiberufliche Positionierung“ von Künstlerinnen sow-
ie um eine „Vernetzung“ freiberuflich Tätiger, was eher in den Zuständigkeits-
bereich der Existenzgründer- bzw. Wirtschaftsförderung im Rahmen des Eu-
ropäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) fallen würde. Andererseits
geht es um den Erwerb von „Zusatzqualifikationen“, die „Sicherung des indi-
viduellen Erwerbseinkommens“ der Teilnehmerinnen usw., was eher in den
Zuständigkeitsbereich des Europäischen Sozialfonds (ESF) gehört. Weil eine
kombinierte Finanzierung aus beiden Förderbereichen bereits im Vorfeld der
Beantragung ausgeschlossen wurde, ist das Projekt dann im Rahmen der ESF-
Förderung beantragt worden. Allerdings mit der Konsequenz, dass Kompro-
misse gemacht werden mussten und „nicht alles so eingebracht und umgesetzt
(werden konnte), wie es von den Künstlerinnen eigentlich gewünscht“ worden war
(Projektinitiatorinnen). Das Projekt im Rahmen der ESF-Förderung im Politik-
feld E 9 des Operationellen Programms Mecklenburg-Vorpommern (OP-MV)
zu realisieren, wird von den Projektinitiatorinnen deshalb als „Gratwanderung“
zwischen ambitionierten inhaltlichen Zielen und relativ unflexiblen Förder-
bedingungen aufgefasst. Bei der Bewertung muss also berücksichtig werden,
dass die Ergebnisse des „Künstlerinnenprojekts“ letztlich erst vor dem Hinter-
grund dieser Gratwanderung zustande gekommen sind.
Eine Interventionsmöglichkeit im Rahmen des ESF ergibt sich, weil innerhalb
des „Gemeinschaftlichen Förderkonzepts (GFK) für die Gebiete mit Ziel-1- und
Ziel-1-Übergangs-Unterstützung“ der Europäischen Union im Entwicklungss-
chwerpunkt und Handlungsfeld „Schwerpunkt 4“ die „Förderung des Arbeits-
kräftepotentials sowie der Chancengleichheit“ als allgemeine Politikziele
formuliert werden. Auf Landesebene wird das allgemeine Politikziel der Eu-
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
ropäischen Gemeinschaft im OP-MV konkretisiert, indem insbesondere die
„Förderung von Beschäftigungspotentialen“ sowie die „Bekämpfung von Ar-
beitslosigkeit“ (OP-MV S. 115) in den Mittelpunkt gestellt werden. Formuliert
werden im OP-MV zwei strategische Leitlinien, nämlich die Förderung aus dem
Europäischen Sozialfond (ESF) im Sinne eines konsequenten „Gender-Main-
streamings“ umzusetzen (ebenda S. 118) sowie mit Modellversuchen neue
Förderinhalte und -verfahren zu erproben (vgl. ebenda S. 119).
Im Maßnahmenbereich „Chancengleichheit von Frauen und Männern“ des
OP-MV, das dem ESF-Politikfeld E zugeordnet ist, wird mit der „Maßnahme 9“
konkret die „Förderung spezifischer Projekte zur Verbesserung der beruflichen
Chancen von Frauen“ angestrebt. In diesem Maßnahmenbereich ist „die Ent-
wicklung und Förderung von Projekten vorgesehen, die auf den spezifischen
Bedarf und die spezifischen Biographien von Frauen ausgerichtet sind“ (eben-
da S. 149). Unterstützt werden u. a. Förderansätze, wie Qualifizierungsmaßnah-
men, Maßnahmen der Orientierung und Vermittlung, Beratungsangebote für
Frauen in den verschiedenen Erwerbs- und Lebensphasen sowie die Förderung
verstärkter Existenzgründung von Frauen durch Sensibilisierung, Beratung
und Qualifizierung (vgl. ebenda). Die Maßnahme E 9 zielt darauf, die immer
noch existierende Chancenungleichheit zwischen Männern und Frauen auf
dem Arbeitsmarkt bzw. im Erwerbssystem zu reduzieren. Primäre Zielgruppe
der Maßnahme E 9 sind Frauen „in allen Erwerbsphasen“ (ebenda).
Das „Künstlerinnenprojekt“ vertritt den Anspruch, sowohl gegen die Chan-
cenungleichheit zwischen Männern und Frauen zu intervenieren als auch in
Form eines Modellvorhabens neue Förderinhalte und -verfahren zu erproben.
Insofern ordnet sich die Maßnahme formal den im OP-MV genannten Poli-
tikzielen und Maßnahmen durchaus zu.
158
2. Analyse der Ausgangssituation - Die soziale und wirtschaftliche Situa-
tion der Künstler/innen
Zunächst ist festzustellen, dass sich die Berufsgruppe der Künstler/innen einer
eindeutigen bzw. einheitlichen begrifflichen Definition entzieht. Im allgemein-
en Sprachgebrauch wird „Künstler/innen“ meist nur als Bezeichnung für im Be-
reich Bildende Kunst tätige Personen (im Bereich der Bildhauerei, der Malerei,
im Design o. ä.) gebraucht, aber als Künstler/innen gelten auch alle Personen,
die auf dem Gebiet der Angewandten Kunst, der Darstellenden Kunst (Schaus-
piel, Gesang usw.) und der Musik sowie im Bereich Fotografie bzw. Film kreativ
tätig sind, die also Kunstwerke schaffen oder Ideen zu deren Schaffung bereit-
stellen. Die Abgrenzung der künstlerischen Tätigkeit zum Kunsthandwerk und
zum allgemeinen Handwerk ist dabei sehr fließend und hängt im Allgemeinen
vom Grad der Originalität, also der Findung neuer Darstellungsformen bzw.
der Verwertung bekannter Formen ab. Der Künstlerberuf grenzt sich von an-
deren Berufen ab, „weil als Künstler muss man oft von der Muse geküsst werden
und das ist ein bisschen etwas anderes, als wenn man Aufträge abarbeitet oder
wenn man ganz sachlich da heran gehen kann. Das ist der wesentliche Unter-
schied“. (Künstlerin)
Der Künstlerberuf gilt als vielschichtiges Phänomen, denn von „der Berufsaus-
bildung über den Berufszugang bis zum Arbeits- und Nachfragemarkt existie-
ren bereits zu jedem einzelnen ... (Künstlerberuf ) die unterschiedlichsten Mus-
ter und Strukturen, die sich nur schwer homogenisieren lassen.“ (Söndermann
2004, S. 6/72).
Statistisch werden in der amtlichen „Klassifizierung der Berufe“ die „künst-
lerischen und zugeordneten Berufe“ zur Berufsgruppe 83 zusammengefasst
(Klassifizierung der Berufe 1992), die auch Raum- und Schauwerbegestalter, Ar-
2 vgl. auch Hummel 1990, Kräuter 2002 oder Fohrbeck/Wiesand 1975, die bereits vor 30 Jahren auf die Vielschichtigkeit des Künstlerberufs hingewiesen haben
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Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
tisten, Berufssportler, Schilder- und Lichtreklamehersteller sowie künstlerische
Hilfsberufe und künstlerisch zugeordnete Berufe der Bühnen-, Bild- und Ton-
technik umfassen. Schriftsteller als spezifischer Künstlerberuf wird wiederum
in der Berufsgruppe 82 (Publizisten, Bibliothekare, Übersetzer und verwandte
Berufe) aufgeführt. Im etwas erweiterten Begriff des „Kulturberufes“ werden
auch Übersetzer, Bibliothekare, Archivare, Museumsfachleute (Berufsgruppe
82), Lehrer für musische Fächer (Berufsgruppe 87, Berufsordnungsnummer
875), Architekten und Raumplaner (Berufsgruppe 60, Berufsordnungsnummer
609) sowie andernorts in der Berufssystematik nicht genannte Geisteswissen-
schaftler mit einbezogen (Berufsordnungsnummer 882).
Dies bedeutet, dass auch statistisch keine eindeutige Zuordnung bzw. Ho-
mogenität hinsichtlich des „Künstlerberufs“ besteht. Mithin sind der Prüfung
der Relevanz hinsichtlich quantitativer Aussagen auf statistischem Wege deut-
lich Grenzen gesetzt.
Entsprechend dieser definitorischen Unsicherheiten existiert bisher leider
nur wenig empirisch gesichertes Wissen über die Situation von Künstlern in
Deutschland und noch weniger in Mecklenburg-Vorpommern, ganz abge-
sehen davon, dass über die spezielle Situation der Künstlerinnen noch we-
niger bekannt ist. Andererseits gibt es immerhin einige wenige einschlägige
empirische Untersuchungen, die sich mit der sozialen Lage und den Erwerbs-
bedingungen der Künstler in Deutschland befassen und deren Ergebnisse dur-
chaus einen dringenden Handlungsbedarf nahe legen.
Zu nennen ist hier zunächst eine 2004 vom Beauftragten der Bundesregierung
für Angelegenheiten der Kultur und der Medien in Auftrag gegebene Studie
von Michael Söndermann (Söndermann 2004), in der die jährlich stattfinden-
den statistischen Erhebungen zum Mikrozensus, zur Umsatzsteuerstatistik und
zur Statistik der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten hinsichtlich ihrer
Aussagen zum Bereich der „Kulturberufe“ analysiert wurden.
160
Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass man in Deutschland 2003 etwa
780.000 Erwerbstätige den Kulturberufen zuordnen kann, was 2,2% aller Er-
werbstätigen ausmacht. Im engeren Sinne bezogen nur auf die Berufsgruppe
83 der „künstlerischen und zugeordneten Berufe“ sind es 362.000 (ohne lite-
rarische Berufe), was 1% der Erwerbstätigen entspricht. Selbst abgesehen von
der unverzichtbaren Leistung dieser Berufsgruppe für die Fortentwicklung von
Kultur und Kunst in der Gesellschaft und damit der Gesellschaft selbst, bes-
chäftigt sich also ein beachtlicher Teil der Erwerbstätigen in Deutschland mit
dem Bereich Kunst und Kultur, d.h. eine quantitative Relevanz ist auf jeden Fall
gegeben. Nach Söndermann hat sich der Bereich der Kulturberufe insgesamt
seit 1995 überdurchschnittlich entwickelt, wobei allerdings der engere Bereich
der künstlerischen Berufe nur eher durchschnittliche Wachstumsraten auf-
weisen konnte (Söndermann 2004, S. 28). Im europäischen Vergleich verfügt
Deutschland über einen durchschnittlichen Anteil an Kulturberufen (ebenda,
S. 45).
Weiter kommt Söndermann zu dem Ergebnis, dass Frauen in den Kultur-
berufen in ähnlicher Weise unterrepräsentiert sind, wie das im gesamten Er-
werbssystem der Fall ist. Von allen Erwerbstätigen sind 45% Frauen, unter den
Kulturberufen stellen sie 43%. Dabei ist der Frauenanteil insbesondere bei
den Architekten (24%), den künstlerisch zugeordneten Berufen der Bühnen-,
Bild- und Tontechnik (27%), den Musikern (28%) und den Fotografen (31%) be-
sonders niedrig, während er bei den Übersetzern, Bibliothekaren, Archivaren
und Museumsfachleuten mit 67% bis 70% überdurchschnittlich hoch ist. Im
engeren Bereich der Darstellenden und Bildenden Künste liegt der Frauen-
anteil bei 44% bis 49% (vgl. ebenda, S. 19).
Die Verhältnisse im Bereich der Kulturberufe zeigen also auf quantitativer Ebene
eine deutliche Ungleichverteilung, was auf eine ungleiche Chancenverteilung
schließen lässt. Wie sich diese Chancenverteilung tatsächlich darstellt, wird aus
161
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
der jüngsten Studie von Marlies Hummel (Hummel 2005) zur „wirtschaftlichen
und sozialen Situation bildender Künstlerinnen und Künstler“ mit Schwer-
punktsetzung auf die Lage der Künstlerinnen deutlich.
Im Einzelnen ergibt die Studie zunächst, dass hinsichtlich der beruflichen
Qualifikation auf Seiten der Künstlerinnen keine Defizite auszumachen sind. Im
Gegenteil erweisen sich die befragten bildenden Künstlerinnen als besonders
gut ausgebildet (Hummel 2005, S. 25), sie haben überwiegend eine Kunstaka-
demie/Kunsthochschule bzw. eine Fachhochschule besucht. Bei den Männern
sind dies etwas weniger, dafür liegt hier der Anteil der Autodidakten um fast 10
Prozentpunkte über dem Wert für die Frauen. (Der Anteil der Hoch- und Fach-
hochschulabschlüsse ist auch unter den Künstlern in Mecklenburg-Vorpom-
mern überdurchschnittlich hoch, jedenfalls kann man das aus der Statistik der
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten schließen. Dort liegt der Anteil der
Hochschulabsolventen insgesamt bei 8% und in der Gruppe der Künstler bei
31%. Eine Differenzierung nach Frauen und Männern liegt leider nicht vor)3.
Deutliche Unterschiede ergeben sich hinsichtlich der Altersstruktur. Während
bis zu einem Alter von 50 Jahren die Anteile der Altersgruppen bei Männern
und Frauen in etwa übereinstimmen, ist der Anteil der Männer ab 50 Jahren
überdurchschnittlich bzw. wächst mit zunehmenden Alter noch. Diese Über-
repräsentanz der Männer in den höheren Altersgruppen beeinflusst dann
allerdings auch die weiteren Ergebnisse der Befragung, denn der geringere
Verheiratetenanteil der Frauen und ihr entsprechend höherer Ledigenanteil,
den Hummel attestiert, dürfte mit der unterschiedlichen Altersstruktur zusam-
menhängen. Auch die als Besonderheit dargestellte durchschnittlich gering-
ere Kinderzahl der Künstlerinnen (1,1 zu 1,5 bei den Männern) kann mit der
unterschiedlichen Altersstruktur zu tun haben und muss nicht unbedingt (voll-
ständig) damit erklärt werden, dass sich darin die „Herausforderungen und Un-
3 Quelle: Landesamt für Statistik M-V, eigene Berechnungen
162
sicherheiten des Berufs“ zeigen (Hummel 2005, S. 13).
Hinsichtlich der Berufserfahrung, die durch die Zahl der Ausstellungen und
der Ankäufe durch die öffentliche Hand gemessen wurde, verfügten alle Be-
fragten über reiche Erfahrungen. Die durchschnittlich etwas geringere An-
zahl an Ausstellungen und Ankäufen bei den Künstlerinnen wird ebenfalls
auf die unterschiedliche Altersstruktur zurückgeführt, weil mit zunehmen-
dem Alter natürlich die Erfahrungen wachsen und Männer über 50 Jahren
die Altersstruktur sehr stark bestimmen. Auch bei der Auftragsvergabe aus
öffentlicher Hand gelingt es den Frauen seltener einen Auftrag zu erhalten,
als den Männern. Hier wird von Hummel argumentiert, dass „unterschiedliche
Spezialisierungsmuster“ dafür verantwortlich sind, d. h. dass die Schwerpunkte
der öffentlichen Auftragsvergabe wie „Kunst am Bau“ bzw. „Kunst im öffent-
lichen Raum“ eher zu den Arbeitsschwerpunkten der männlichen Künstler ge-
hören. Wobei in der Studie offen bleibt, warum es dazu kommt.
Hinsichtlich der Arbeitsbedingungen zeigen sich geschlechtsspezifische Un-
terschiede bei der Größe der Ateliers und bei der Höhe der Miete. „Die Ateliers
der Künstlerinnen sind kleiner, die Monatsmiete ist - trotz höherer qm-Preise
- niedriger als die Ateliers und die Monatsmieten der Künstler“ (Hummel 2005,
S. 29). Fragt man nach der gewünschten Ateliergröße, so zeigt sich, dass die
Diskrepanz zwischen der tatsächlichen und der gewünschten Fläche bei den
Künstlerinnen deutlich größer ist als bei den männlichen Künstlern. Die Ver-
besserung der Ateliersituation hat dementsprechend bei den Künstlerinnen
ein höheres Gewicht.
Hinsichtlich der Einkommenssituation stellt Hummel zunächst fest, dass „aus-
schließlich vom Verkauf von Kunstwerken zu leben ... für die Mehrzahl nur
schwer möglich (ist)“. Vielmehr sind sie „auf zusätzliche Einnahmen, z. B. aus
Lehrtätigkeit oder anderen Aktivitäten angewiesen.“ (Hummel 2005, S. 31).
Auch Söndermann (2004) weist aus einem Vergleich der Umsatzsteuerstatis-
163
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
tik mit dem Mikrozensus nach, dass von den nach dem Mikrozensus als selb-
ständig tätigen Künstlern in der Umsatzsteuerstatistik nur noch weniger als ein
Drittel auftauchen. Dies liegt daran, dass die meisten keinen Umsatz machen,
der höher als 16.617 Euro ist. Unterhalb dieser Grenze bleiben sie von der Um-
satzsteuer befreit und tauchen in der entsprechenden Statistik nicht auf. Die
Ergebnisse der Befragung des BBK ergeben ebenfalls, dass nur ein kleiner Teil
der Befragten überhaupt einen Umsatz von mehr als 16.617 Euro macht (ca.
26%). Im Durchschnitt erzielten die Befragten pro Jahr 6.908 Euro aus dem
Verkauf ihrer Kunstwerke. Dabei konnten die Männer mit im Mittel 8.302 Euro
deutlich höhere Erlöse erzielen als die Frauen mit nur 5.074 Euro. Als Defizit
werden vor allem von den Frauen fehlende Möglichkeiten für Ausstellungen
gesehen. Auch die Preisentwicklung für die Werke wird besonders von den
Frauen beklagt. Zusätzlich zum Verkaufserlös konnten sich viele Künstler durch
eine Lehrtätigkeit weitere Einnahmen in Höhe von durchschnittlich 5.418 Euro
verschaffen. Auch dabei erzielten die Männer mit 6.185 Euro deutlich höhere
Einnahmen als die Künstlerinnen mit 4.187 Euro.
Für die Einkommenssituation spielen aber nicht nur Verkaufserlöse und andere
Erwerbseinkommen eine Rolle, sondern auch Transferzahlungen. So erhielten
28% der durch den BBK Befragten eine Rente oder Pension. Rund ein Viertel
davon bezieht eine auskömmliche Rente aus früherer abhängiger Beschäfti-
gung. Etwa ein Drittel lebte hauptsächlich von den Altersbezügen aus der frei-
beruflichen Tätigkeit, wobei das bei den Männern zu 38% und bei den Frauen
nur zu 29% der Fall ist. Etwa 40% der Befragten im Rentenbezug schließlich
müssen auf eine Alterssicherung aus verschiedenen Quellen zurückgreifen,
d. h. auch auf Renten, die vielfach nicht aus künstlerischer Tätigkeit stammten.
Dabei wird auch deutlich, dass im „Vergleich mit ihren männlichen Kollegen
... (die älteren Künstlerinnen) in viel stärkerem Maße nur niedrige Renten“ er-
halten (Hummel 2005, S. 35). Während bei den Männern 43% weniger als 800
164
Euro Rente erhielten, waren es bei den Frauen knapp 51%.
Jeder zehnte Befragte hatte vor der Neuregelung der Sozialgesetzgebung So-
zialhilfe bezogen, zu 57% waren dies Frauen. Die Hälfte davon hatte zum Befra-
gungszeitpunkt bereits einen Antrag auf ALG II (Hartz IV) gestellt. Sie kritisieren
in dem Zusammenhang, dass das Verfahren zum Hartz IV den Besonderheiten
der Künstler nicht Rechnung trägt. Die Künstler bleiben weiter freiberuflich
tätig, können aber eventuelle sporadische Einkünfte aus ihrer Tätigkeit nicht
voraussehen. Ebenso wenig wird von der Arbeitsverwaltung ein Mehrbedarf
an Künstlermaterial berücksichtigt. Auch die Bemessung der Wohnungsgröße
berücksichtigt nicht den besonderen Platzbedarf der Künstler, zumal die An-
mietung eines Ateliers beim Bezug von ALG II nicht mehr möglich ist.
Insgesamt stellt sich insbesondere die Einkommenssituation der Künstler als
besonders prekär dar und hier zeigen sich auch die deutlichsten geschlechts-
spezifischen Benachteiligungen. Als Fazit der Expertise formuliert Hummel
u. a., dass die Infrastruktur für Künstler verbessert werden sollte (erschwing-
liche Ateliers, Ausstellungsmöglichkeiten) und gezielte „Programme, die den
Künstlern gestatten, ihre Werke besser zu vermarkten“ entwickelt werden
müssten (Hummel 2005, S.40).
Während sich die Studie von Hummel hauptsächlich auf freiberuflich tätige
Künstler und Künstlerinnen bezieht, hat die bereits vorher erschienene Stud-
ie „Frauen in Kunst und Kultur II - Partizipation von Frauen an den Kultur-
institutionen und an der Künstlerinnen- und der Künstlerförderung der
Bundesländer“ eher die abhängig beschäftigten Künstlerinnen zum Thema.
Erarbeitet wurde diese Studie vom deutschen Kulturrat im Auftrag der Kul-
tusministerkonferenz (Kulturrat 2003). Sie befasst sich schwerpunktmäßig mit
der Situation in den Bereichen Darstellende und Bildende Künste, Musik, Film
und Neue Medien und kommt zu dem Ergebnis, dass im Kunstbetrieb eine typ-
ische geschlechtsspezifische Rollenzuschreibung existent ist. Während Biblio-
165
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
thekare/Archivare und Dolmetscher mit einem Frauenanteil von 67% bis 75%
als klassische Frauenberufe gelten, sind künstlerisch-technische Berufe eher
Männerdomänen (70% Männeranteil).
Geschlechtsspezifische Unterschiede finden sich auch beim Einkommen,
Frauen sind in der Einkommensgruppe von 1.500 Euro pro Monat und mehr
nur mit 25% vertreten, Männer hingegen verdienen zu 48% mehr als 1.500
Euro. Weiterhin weist die Studie aus, dass Künstlerinnen i. d. R. etwa 10% gerin-
gere Erlöse für ihre Werke erhalten, dass sie weniger an der Vergabe von Prei-
sen und Stipendien beteiligt sind und dass nur 35% der Ankäufe zeitgenös-
sischer Kunst Werke von Frauen sind.
Die Studie widmet sich besonders den in abhängiger Beschäftigung inner-
halb der verschiedenen Kunstinstitutionen tätigen Frauen. Hier wird die Un-
gleichverteilung von Positionen und Einkommenschancen zwischen Männern
und Frauen besonders deutlich. Zunächst wird festgestellt, dass, wenn Teilzeit
gearbeitet wird, sie zu 90% von Frauen ausgeübt wird. An den Hochschulen
studieren je nach Fachrichtung mehr Frauen als Männer (Frauenanteil zwi-
schen 50% und 64%), aber auf der Ebene der Dozenten dominieren Männer.
Der Frauenteil unter den Dozenten reicht von nur 10% im Filmbereich bis zu
31% im Bereich der darstellenden Künste. Im Mittelbau liegt der Frauenanteil
etwas höher (21% bis 64%). Auch in allen anderen untersuchten Institutionen,
in den Kultusministerien, den Bibliotheken und den Theatern zeigt sich das
gleiche Schema: Frauen finden sich vor allem in den unteren Positionen und
je höher man auf der Hierarchiestufe kommt bzw. je prestigeträchtiger eine
Position ist, umso geringer wird dann der Frauenanteil. Die Studie belegt ein-
drucksvoll: „Je höher die Karrierestufe, desto seltener wird sie von Frauen er-
reicht“ (Kulturrat 2003, S. 90).
Die Studie des Kulturrates weist im übrigen ebenfalls nach, dass im familiären
Bereich auch für die Künstlerinnen die klassische Rollenverteilung gilt, denn
166
sie tragen die Hauptlast der Hausarbeit und der Kindererziehung und der Er-
ziehungsurlaub wird zu 98% ausschließlich von den Frauen wahrgenommen.
2.1�Die�Situation�in�Mecklenburg-Vorpommern
Die o. g. Erkenntnisse über die Lebenssituation von Künstlerinnen sowie der
Nachweis ihrer besonderen Benachteiligung innerhalb des Kulturbetriebes
beziehen sich auf das gesamte Bundesgebiet. Für Mecklenburg-Vorpommern,
wo die Maßnahme durchgeführt wird, liegen leider keine vergleichbaren
Daten vor, jedoch gibt es keinen Anlass anzunehmen, dass die Situation der
Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern sich gravierend vom Rest der Re-
publik unterscheidet. Insofern kann aus den vorliegenden Erkenntnissen be-
reits ein durchaus hinreichendes Bild über die Situation der Künstlerinnen in
Mecklenburg-Vorpommern abgeleitet werden.
Dennoch wurden für den Zweck der Evaluation des „Künstlerinnenprojekt“ die
einschlägigen veröffentlichten Daten des Mikrozensus und der sozialversicher-
ungspflichtigen Beschäftigung ausgewertet. Die Ergebnisse des Mikrozensus
erlauben es dabei allerdings nur, eine ungefähre Größenordnung der Erwerb-
stätigen in der Berufsgruppe 83 anzugeben, weil die hochgerechneten Werte
der 1%-Stichprobe des Mikrozensus in dieser Feingliederung viel zu ungenau
werden. Immerhin liegt laut Auskunft des Statistischen Landesamtes die unge-
fähre Größenordung der Künstler und zugeordneten Berufe in Mecklenburg-
Vorpommern bei schätzungsweise 5.500 Personen. Dies sind etwa 0,8% aller
Erwerbstätigen nach dem Mikrozensus. Insofern sind die in der Berufsgruppe
83 zusammengefassten Künstler in Mecklenburg-Vorpommern gegenüber
dem Bundesgebiet wahrscheinlich insgesamt leicht unterrepräsentiert. Der
Frauenteil beträgt etwa 40%, was fast dem Bundesdurchschnitt für diese
Berufsgruppe entspricht.
167
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
Eine andere Datenquelle ist die Statistik der sozialversicherungspflichtig Bes-
chäftigten. Allerdings werden hier nur jene Künstler erfasst, die sich in einem
(nichtbeamteten) Beschäftigungsverhältnis befinden. Freischaffende Künstler
oder anderweitig Selbständige und mithelfende Familienangehörige sowie
Beamte werden hier nicht registriert. Für Mecklenburg-Vorpommern liegen
Daten nur in der Zusammenfassung von Publizisten, Dolmetschern und Bi-
bliothekaren (Berufsgruppe 82) mit den Künstlern und zugeordneten Berufen
(Berufsgruppe 83) vor. Danach gab es Ende 2005 in Mecklenburg-Vorpom-
mern (nach dem Wohnortkonzept der Statistik) 4.074 Personen, die in einem
der Berufe aus den Gruppen 82 und 83 abhängig beschäftigt waren, davon
waren 55,5% Frauen. Dieser höhere Frauenanteil geht allerdings wahrschein-
lich nur darauf zurück, dass die Berufsgruppe 82 mit einbezogen wurde, denn
hier liegt - zumindest auf Bundesebene - ein deutlich überdurchschnittlicher
Frauenanteil vor.
Überträgt man nun - in Ermangelung anderer Daten - die Verhältniszahlen
aus dem gesamten Bundesgebiet auf die Werte der regionalen Statistik, dann
ergibt sich, dass in Mecklenburg-Vorpommern ungefähr 2.400 Personen so-
zialversicherungspflichtig als Künstler oder in verwandten Berufen beschäf-
tigt sind. Wahrscheinlich handelt es sich dabei hauptsächlich um Angestellte
der Theater in Mecklenburg-Vorpommern sowie der Rundfunkanstalten bzw.
anderen Medienunternehmen. Bezieht man sich auf die Zahl von ungefähr
5.500 Künstlern aus dem Mikrozensus, dann befinden sich nur knapp 44% der
Künstler in einer abhängigen Beschäftigung. Im Bundesgebiet lag der Anteil
nach Söndermann bei 52% in der Berufsgruppe 83. Der Unterschied erklärt
sich möglicherweise aus der höheren Arbeitslosigkeit in Mecklenburg-Vor-
pommern, d. h. hier sind weniger in einer Beschäftigung, dafür mehr arbeitslos
bzw. freiberuflich tätig. Etwa die Hälfte der sozialversicherungspflichtig Be-
schäftigten unter den Künstlern sind Frauen.
168
Errechnet man nun die Differenz der Statistik zur sozialversicherungs-
pflichtigen Beschäftigung zu den Ergebnissen des Mikrozensus, so arbeiten
schätzungsweise um die 3.000 Künstler/innen in Mecklenburg-Vorpommern
„freischaffend“, d.h. sie befinden sich in keinem abgesicherten Beschäftigungs-
verhältnis, sondern sind weitestgehend selbständig tätig. Dabei muss man
allerdings berücksichtigen, dass sie auch als arbeitslos registriert sein kön-
nen und dass sie neben ihrer freiberuflichen Tätigkeit noch zusätzlich in soge-
nannten berufsfremden oder -nahen „Brotberufen“ tätig sein können. Statis-
tisch erfasst wird i. d. R. nur die Quelle des „überwiegenden“ Lebensunterhalts,
insofern sind amtliche Statistiken nur bedingt aussagekräftig, wenn es um
Berufe im Kulturbereich geht.
Über die Höhe der Arbeitslosigkeit unter den Künstlern liegen auf Landes-
ebene kaum Informationen vor. Nach Söndermann liegt im Bundesgebiet das
Verhältnis von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und Arbeitslosen aus
den Kulturberufen bei ungefähr 75% zu 25%. In Mecklenburg-Vorpommern ist
dieses Mengenverhältnis ähnlich, hier waren im November 2006 insgesamt
1.074 Personen aus dem Bereich „Medien- und künstlerische Berufe“ arbeitslos
gemeldet (eine genauere Differenzierung nach Berufen sowie auch nach Ge-
schlecht liegt leider nicht vor). Das Verhältnis von sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten und Arbeitslosen war damit in Mecklenburg-Vorpommern mit
74% zu 26% ähnlich wie im gesamten Bundesgebiet.
Die Statistik der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten weist im Übrigen
nicht nur keine Arbeitslosen aus, sondern auch keine geringfügige Beschäf-
tigung unter 15 Wochenstunden bzw. unter 400 Euro Monatsverdienst. Es ist
also sehr wahrscheinlich, dass viele Künstler, die hier nicht registriert sind, eher
einen Mix aus freischaffender Tätigkeit, zeitweiser Arbeitslosigkeit und (teil)
zeitweiser abhängiger Beschäftigung praktizieren müssen.
Von den ungefähr 3.000 freischaffenden Künstlern in Mecklenburg-Vorpom-
169
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
mern, die ihre Existenz auf sehr verschiedene Weise sichern müssen, sind nur
ungefähr 1.000, d. h. ein Drittel Frauen. Wie viele davon als arbeitslos registriert
sind, ist nicht festzustellen.
2.2�Die�Situation�der�Existenzsicherung�bei�Künstlerinnen
Über die konkrete Lebenssituation der Künstlerinnen gibt es auf Landesebene
keine gesicherten empirischen Informationen, weshalb auch hier der Bezug
auf allgemeine Erkenntnisse, die im gesamtdeutschen Rahmen erhoben wur-
den, erforderlich ist. Dabei wird dann davon ausgegangen, dass die allgemein
feststellbaren Problemlagen der Künstlerinnen in Deutschland insgesamt
grundsätzlich auch für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern gelten,
was angesichts der vorgestellten Daten sehr plausibel erscheint.
Frauen und Männer in künstlerischen Berufen sind überwiegend nicht in abge-
sichert abhängigen Beschäftigungsverhältnissen tätig, sondern sie leben oft
von der direkten Vermarktung ihrer Produkte, d. h. sie sind freiberuflich selb-
ständig tätig. Während von den Erwerbstätigen insgesamt nur ca. 10% selb-
ständig tätig sind, sind es in der Berufsgruppe 83 der Künstler und zugeord-
neten Berufe etwa 47%. In der Berufsordnung der „freien bildenden Künstler“
(Nr. 833) sind sogar 94% freischaffend tätig. Entsprechend sind die meisten
Künstler nicht wie andere Arbeitnehmer durch Tarifverträge, Schutzgesetzte
auf dem Arbeitsmarkt oder Ähnliches vor den existenziellen Risiken der Gesell-
schaft, geschützt. Sie arbeiten, wie alle Selbständigen, auf eigenes Risiko. Eine
wichtige Schutzfunktion hat allenfalls die Mitgliedschaft in der Künstlersozial-
versicherung.
Eine Besonderheit ihrer Situation ist aber nicht nur der unter den Künstlern
überdurchschnittlich häufig anzutreffende formale Status des Selbständigen,
sondern auch die Tätigkeit selbst, die eben darin besteht, in einem kreativen
170
Akt, Kunstwerke zu schaffen oder zumindest Ideen zur Schaffung zu ent-
wickeln. Eine solche schöpferische Tätigkeit lässt sich weder in ein festes Ar-
beits-zeitkorsett zwängen, noch führt sie i. d. R. zu einem kontinuierlichen
Output von Kunstwerken gleicher Menge und Qualität. Das heißt, die Tätigkeit
selbst bzw. der tatsächliche materielle und Zeit-Aufwand, der für die Erstellung
eines Produktes/Kunstwerkes gebraucht wird, ist nur sehr begrenzt kalkulier-
bar. Mithin sind auch die Einkommen, die mit den Kunstwerken erzielt werden
können, nur begrenzt kalkulierbar. Hinzu kommen die Mechanismen des
Kunstmarktes, die nicht allein rein ökonomisch von Angebot und Nachfrage
bestimmt werden, sondern die sowohl von allgemeinen kulturellen Standards
der jeweiligen Gesellschaft beeinflusst werden als auch von informellen Be-
ziehungen, dem individuellem Verhältnis zu den Medien und der Kunstkritik
usw.
Auch ohne dieses Thema weiter auszuführen, wird deutlich, dass die soziale
und wirtschaftliche Lage vieler Künstler zwangsläufig prekär sein muss und
in der Tat auch ist. Oder etwas laxer formuliert: bevor Künstler von der Kunst
leben können, müssen sie sich erst als „Lebenskünstler“ bewähren, indem sie
lernen, ihre Existenzsicherung als „Patchwork“ aus verschiedenen Elementen
zu organisieren4. Im Ergebnis müssen dabei zwar beide Geschlechter das
„Patchwork-Management“ gleichermaßen beherrschen, Frauen bleiben aber
dennoch regelmäßig benachteiligt, weil sie immer noch eine Doppelrolle in
Familie und Beruf erfüllen müssen und weil die Strukturen und Institutionen
des Kunstmarktes stärker von Männern dominiert sind.
Als Ergebnis dieser Analyse der Ausgangssituation im Gegenstandbereich der
beantragten Förderung kann deshalb festgehalten werden:
» Künstlerinnen bleiben nicht von den allgemeinen Benachteiligungen,
denen Frauen in der Gesellschaft immer noch ausgesetzt sind, verschont. 4 Eine Existenzform, die von Experten des Wissenschaftszentrums Berlin im übrigen als ein Modell
für die Zukunft der Erwerbstätigkeit angesehen wird (vgl. Haak/Schmid 1999).
171
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
Sie sind sogar in doppelter Weise benachteiligt, indem sie durch den Be-
ruf gegenüber anderen Berufsbereichen weniger Chancen haben und
zugleich, indem sie als Frauen innerhalb ihres Berufsbereichs zusätzlich
benachteiligt sind.
» Künstlerinnen stellen hinsichtlich ihrer beruflichen Ausbildung und den
von ihnen vertretenen beruflichen Inhalten eine besondere Zielgruppe
dar. Bei näherer Betrachtung erweist sich die Tätigkeit als Künstlerin nicht
als bloße Ausübung irgendeines Berufes, sondern ist im ursprünglichen
Sinn des Wortes eine „Berufung“, ein Lebensinhalt, der nicht zur Disposi-
tion gestellt werden kann. Deshalb wird ihr Problem nicht in erster Linie
durch Defizite, Entwertungen oder Anpassungsnotwendigkeiten ihrer
beruflichen Qualifikation bestimmt und es spielt auch das „Fitmachen“
für den Arbeitsmarkt für sie keine Rolle. Die meisten sind fachlich relativ
hoch qualifiziert, jedoch besteht das Problem darin, dass die wenigsten
Künstlerinnen darin geschult worden sind, ihre Kunst „gewinnbringend“
zu vermarkten, um so ihren Lebensunterhalt hinreichend aus eigener
Kraft sichern zu können.
» Viele Künstlerinnen befinden sich innerhalb des Erwerbssystems in einer
besonderen Position indem sie, was ihre künstlerische Tätigkeit angeht,
weitgehend freischaffend tätig sind.
» Die prinzipielle Situation, Kunst insbesondere im Bereich Bildender Kunst
hauptsächlich freischaffend zu produzieren, schließt nicht aus, dass viele
Künstlerinnen zusätzlich einer abhängigen Beschäftigung nachgehen (oft
geringfügig bzw. in Teilzeit), auf Honorarbasis Lehraufträge oder andere
Leistungen anbieten, Transferleistungen beziehen oder vom Partner unter-
stützt werden. Insgesamt ist die Situation der Künstlerinnen dadurch ge-
prägt, dass sie die Sicherung ihrer materiellen Existenz in Form eines Patch-
works aus ganz verschiedenen Einzelelementen organisieren müssen.
172
Diese Analyse drückt mit etwas anderen Worten die Wissensgrundlage aus, auf
der das „Künstlerinnenprojekt“ konzipiert und schließlich beantragt wurde. Aus
den geführten Diskussionen im Vorfeld der Beantragung und aus den bundes-
weiten Untersuchungen wurde zum Zeitpunkt der Projektkonzipie-rung von
den Antragstellerinnen die Schlussfolgerung gezogen, dass es auf jeden Fall
einen Handlungsbedarf dahingehend gibt, die Situation der Künstlerinnen
auch in Mecklenburg-Vorpommern zu verbessern und Benachteiligungen in
diesem Berufsfeld abzubauen. Die Analyse belegt, dass wesentliche Faktoren,
die eine Intervention im Rahmen des ESF rechtfertigen, gegeben sind und
sich insofern die geplante Maßnahme in das Politikfeld E 9 des OP-MV nahtlos
einordnet.
Die Analyse gibt außerdem erste Hinweise auf die inhaltliche Zielrichtung
der Intervention. Zunächst ist es erforderlich, aufgrund der doppelten Be-
nachteiligung der Frauen im Berufsfeld „Künstler“ zum Abbau solcher Be-
nachteiligungen spezielle Maßnahmen ausschließlich für die Zielgruppe der
Künstlerinnen zu konzipieren. Weil Künstlerinnen i. d. R. über eine gute be-
rufliche Qualifikation verfügen, sind weder Umschulungen, noch Kurse zur
Vermittlung von beruflichem Wissen, fachlichen Fähigkeiten und Erfahrungen
erforderlich und weil Künstlerinnen überwiegend bereits als Freischaffende
selbständig tätig sind, sind ebenso typische Maßnahmen zur Förderung von
Existenzgründungen bei dieser Zielgruppe nicht notwendig. Erforderlich sind
vielmehr Maßnahmen, mit denen spezielle Kenntnisse und Fähigkeiten, die
zur Selbstbehauptung auf dem Kunstmarkt nötig sind, vermittelt bzw. ver-
tieft werden (Finanzierung, Sponsoring, Buchhaltung o. ä.). Die Ergebnisse der
Situationsanalyse legen es nahe, dass von Seiten der Künstlerinnen vor allem
ein Bedarf daran besteht, eine Hilfestellung zu erhalten, um selbst geeignete
Handlungsstrategien zu entwickeln, sich auf dem Kunstmarkt durchzusetzen.
Darüber hinaus ist es erforderlich, Künstlerinnen das notwendige Wissen zur
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
Bewältigung ihres Patchwork-Managements bereitzustellen, d. h. auch Kurse,
welche die Bewältigung von spezifischen Alltagsproblemen zum Inhalt haben,
müssten zum Angebot der Maßnahme gehören. Schließlich besteht auch Be-
darf darin, bei der Organisation des Projekts zum einen auf das enge Zeitbud-
get von Künstlerinnen Rücksicht zu nehmen und zum anderen darauf, dass
viele Künstlerinnen in Kleinstädten bzw. im ländlichen Raum leben5.
Entsprechend versucht das „Künstlerinnenprojekt“ insbesondere an der „Kunst
des ‚Patchwork-Managements’“ anzusetzen. Es sollen also weder Gründungen
gefördert, noch berufliche Zusatzqualifikationen in Form von hard skills ver-
mittelt werden, sondern es sollen in erster Linie Zusatzqualifikationen für die
aktive Bewältigung des „Daseins als Lebenskünstlerin“ angeboten werden. Der
Ansatz der „Professionalisierung“ bezieht sich also nicht auf den Beruf, sondern
darauf, die Kunst der Existenzsicherung unter den Bedingungen eines „Patch-
work-Managements“ professionell zu beherrschen.
3. Konkrete Ziele des Künstlerinnenprojekts
Auf der Grundlage der allgemeinen Situationsanalyse und der Ergebnisse der
Workshops wurden die Ziele und Absichten des Projekts konkretisiert. Die
Workshops bestätigten zunächst die Richtigkeit der allgemeinen Zielstellung,
nämlich die Künstlerinnen dazu befähigen zu wollen, besser als bisher den ei-
genen Lebensunterhalt durch ihre künstlerische Arbeit sichern zu können. Das
allgemeine Ziel bestand mit anderen Worten darin, den beteiligten Künstlerin-
nen die Kunstfertigkeit zu vermitteln, von der eigenen Kunst leben zu können.
Auf einer übergeordneten Ebene wurde zudem die Absicht verfolgt, über das
Projekt Politik und Öffentlichkeit stärker für das Thema „Kunst bzw. Künstlerin-
5 Etwa 42% aller Künstler in Deutschland leben in Großstädten und jeweils etwa 29% im ländlichen Raum oder in Klein- und Mittelstädten. Dabei leben Künstlerinnen geringfügig häufiger in der Großstadt (45%) und dafür etwas weniger im ländlichen Raum (26%).
174
nen in Mecklenburg-Vorpommern“ zu sensibilisieren, d. h. die Rolle der Kunst
und ganz spezifisch der Künstlerinnen für Wirtschaft, Kultur und Tourismus
besonders hervorzuheben, um damit deutlich zu machen, dass dieses Thema
eine ressortübergreifende Betrachtung erfordert.
Um diese allgemeinen Ziele verwirklichen zu können, wurden verschiedene
operationelle Ziele entwickelt. Insgesamt war das Projekt als Bildungsmaß-
nahme konzipiert, d.h. im Mittelpunkt stand mithin das Ziel, bestimmte Bil-
dungsinhalte im Sinne einer Wissens- und Qualifikationsvermittlung anzu-
bieten. Dabei ging es hauptsächlich darum:
» Zusatzqualifikationen zu vermitteln, d.h. vor allem Kenntnisse und Fähig-
keiten im Bereich allgemein nützlicher PC-Anwendungen (Excel, Web-
siteerstellung) bzw. im spezielleren künstlerischen Bereich (Photoshop,
werkgerechtes Fotografieren), im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsar-
beit und im Bereich „Marketing“ (professionelle Eigenbewerbung),
» Grundlagenwissen zu vermitteln bzw. vorhandene Wissenslücken über
die Bedingungen und Mechanismen des Kunstmarktes zu schließen
(Kunstbetrieb, Galerien etc.),
» (Praxis)Wissen und Fähigkeiten zu vermitteln, die für die Existenzsiche-
rung bei freiberuflicher Arbeit von besonderer Bedeutung sind (Finan-
zen, Steuern, Versicherungen bzw. Fragen des Unternehmerinnentums
insgesamt).
Ein weiteres Ziel bestand in der Ausbildung von Kompetenzen, hier ging es
vor allem um Selbstmanagement, d. h. darum, zu lernen, den Alltag besser
zu strukturieren, Berufliches und Privates besser aufeinander abzustimmen
sowie insgesamt mehr Selbstvertrauen und Selbstbehauptungsfähigkeiten
zu gewinnen (Kurse zum Selbstmanagement, Einzel- und Gruppencoaching).
„Das Selbstbewusstsein zu stärken“ wurde von den Projektinitiatorinnen als sehr
wichtiger Faktor angesehen sowie ebenso die Ausbildung der Fähigkeit, „die
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
eigene Zeiteinteilung“ besser in den Griff zu bekommen, „da die meisten in Be-
reichen ohne feste Arbeitszeitstrukturen arbeiten“ und zudem noch Kinder zu
betreuen haben. Deshalb sollte besonders vermittelt werden, „wie diese Struk-
turen so gestaltet werden können, (…) dass Zeit übrig bleibt, um Kunst zu schaffen“
(Projektinitiatorinnen).
Ein drittes Ziel bestand darin, nicht nur theoretisches Wissen zu vermitteln,
sondern den teilnehmenden Künstlerinnen auch praktische Erfahrungen zu
ermöglichen, d. h. in gewissen durch die Bedingungen einer Bildungsmaß-
nahme gesetzten Grenzen „learning by doing“ anzubieten (Eventphase). Dort
sollte „ganz konkret umgesetzt werden, wo einfach klar ist, (…) da lernen wir
draus, was wir auch nutzen können (…) wo man die Leute ran nimmt.“ Allerdings
kann man das, „was man wirklich braucht, nicht nebenbei machen. (…) Das ge-
ben wir an Profis ab, (…) was aber auch wirklich viel Geld kostet.“
Das vierte Ziel bestand darin, Kooperationen zwischen den Künstlerinnen an-
zuregen und möglichst Vernetzungen entstehen zu lassen. „Dass also wirklich
nicht jede auf ihrem Rübenacker für sich alleine arbeitet, sondern dass sich Grup-
pen zusammentun, die gemeinsam was machen, die voneinander wissen und die
auch von der Arbeit der anderen wissen und auch Ideen entwickeln, wo man was
zusammen machen kann“ (Projektinitiatorinnen). Dazu sollten in den Kursen
Anregungen gegeben werden bzw. sollte das in der Eventphase des Projekts
auch praktisch erprobt werden. Außerdem wurde bei Antragstellung davon
ausgegangen, dass sich solche Kooperationen allein durch persönliches Ken-
nenlernen am Rande der Kurse ergeben würden.
Das fünfte Ziel bestand darin, insbesondere über die Eventphase das Projekt
stärker in die Öffentlichkeit zu tragen, um so auf die Situation der Künstlerin-
nen in Mecklenburg-Vorpommern zu machen bzw. „die Künstlerinnen im Land
sichtbarer zu machen“ (Projektinitiatorinnen).
Das sechste Ziel bestand schließlich darin, sich bei der Umsetzung, d. h. bei den
176
Methoden und Instrumenten der Vermittlung, der Auswahl der Inhalte und
bei den Rahmenbedingungen der Maßnahme wesentlich auf die Lebenswelt
der Künstlerinnen zu beziehen. Insbesondere in dieser Hinsicht bestand die
Absicht darin, mit dem Projekt Neuland zu betreten und als Modellprojekt zu
fungieren, was nur über entsprechende Verhandlungen im Vorfeld des Projek-
tes erreicht werden konnte. „Also gerade auch wie die Kurse geplant und gestal-
tet werden, da haben wir im Vergleich zu anderen Projekten eine gewisse Freiheit
bekommen. (…) Allein von den Themen, von der Länge, den Schwerpunkten usw.
kann man das wirklich entsprechend der ganz konkreten Nachfragen verlängern
oder verkürzen. Es ist (…) uns gelungen, mit dem Arbeitsministerium Möglich-
keiten zu schaffen, die dieser speziellen Zielgruppe entsprechen. (…) es muss nicht
wie ein normaler Kurs von Montag bis Freitag, von 8 bis 16.00 Uhr stattfinden
und nicht alle müssen alles mitmachen. Es ist auch möglich, nur einen Tag mit-
zumachen, die andere macht dafür die gesamte Palette mit, also da hat man sich
auf beiden Seiten auf Dinge eingelassen, die so bisher nicht praktiziert worden
sind.“ (Projektinitiatorinnen)
3.1�Die�Zielgruppe�des�„Künstlerinnenprojekts“
Das „Künstlerinnenprojekt“ hat den Anspruch, sich vor allem an jene Künstler-
innen in Mecklenburg-Vorpommern zu wenden, die überwiegend außerhalb
eines Beschäftigungsverhältnisses in künstlerischen Berufen tätig sind und die
bisher ihren Lebensunterhalt nicht in ausreichender Weise durch ihre künst-
lerische Tätigkeit sichern können. Auch für die Projektinitiatorinnen stellte sich
zunächst das Problem einer geeigneten Definition zur klaren Eingrenzung der
Zielgruppe. Sie orientierten sich dabei, „weil ja keine vorgegeben ist“, an der
Definition der Künstlersozialkasse, „die ziemlich klar ist (…), denn sie geht über
bildende Kunst hinaus bis hin zu Journalisten“ (Projektinitiatorinnen).
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
In § 2 des Künstlersozialversicherungsgesetzes (KSVG) heißt es: „Künstler ist,
wer Musik, darstellende oder bildende Kunst schafft, ausübt oder lehrt. Publizist
ist, wer als Schriftsteller, Journalist oder in anderer Weise publizistisch tätig ist oder
Publizistik lehrt“. Diese relativ weit gefasste Definition erlaubt es, einen rela-
tiv breiten Kreis von Interessentinnen anzusprechen und zwar auch jene, die
„nicht so in die klassische Definition passen“. Auf diese Weise werden „Leute jetzt
erreicht, die wir eigentlich erreichen wollen“. Gleichwohl wird erwartet, dass
„auch ein gewisser Anspruch untereinander da ist“ und dass „Leute, die mehr
Hobbykunst machen, merken, das ein anderer Anspruch dahinter“ steht. Verbun-
den ist diese Einschätzung mit der Hoffnung, dass „es sich so ein bisschen selber
sortiert“ und „dass die anderen merken, das passt oder es passt nicht“ (Projekt-
initiatorinnen).
Mithin richtet sich die Maßnahme an alle Künstlerinnen in Mecklenburg-
Vorpommern, die in das weit gefasste Schema der Definition passen und die
zudem einen Bedarf daran haben, ihre Befähigung zur Sicherung des eigenen
Lebensunterhaltes weiter auszubilden. Dieser Bedarf sollte dabei nicht allein
daran gemessen werden, ob die Interessentinnen gerade formal als arbeitslos
registriert sind und entsprechend ALG I oder ALG II beziehen. Entsprechend
der Situationsanalyse wurde davon ausgegangen, dass die meisten eher selb-
ständig tätig sein würden und dass sie ALG II eher als „Aufstocker“ erhalten
würden. Andererseits sollte auch der formale Status der Selbständigkeit nicht
als alleiniges Kriterium herangezogen werden, denn aus der Situationsana-
lyse ging ja gerade hervor, dass Künstlerinnen ein „Patchwork“ verschiedener
Existenzsicherungsmöglichkeiten zu managen haben. Die Bevorzugung einer
bestimmten Art der Existenzsicherung bzw. des formalen Erwerbsstatus kam
also nicht in Frage. Entsprechend wurde kein explizites Zugangs- oder Aus-
schlusskriterium festgelegt, sondern die Maßnahme weitgehend offen auch
für jene Künstlerinnen gehalten, die ganz subjektiv einen Bedarf an Weiter-
178
bildung in der angebotenen Richtung verspürten, egal wie etabliert im Kunst-
betrieb sie bereits sind. Auch in dieser Frage sollte also eher nach dem Prinzip
„das sortiert sich aus“ vorgegangen werden, zumal die Projektinitiatorinnen im
Vorfeld der Beantragung die Erfahrung gemacht hatten, das keineswegs alle
Künstlerinnen Interesse an den Kursangeboten haben würden. „Es sind auch
einige Künstlerinnen abgesprungen, (…) die gesagt haben, das wollen wir nicht,
das ist nicht unser Ding“.
Insofern gehören sowohl formal Selbständige als auch formal Arbeitslose so-
wie formal abhängig Beschäftigte unter den Künstlerinnen zur Zielgruppe des
Künstlerinnenprojekts. Hinzuzählen kann man auch jene Künstlerinnen, die
neben einer abhängigen (kunstnahen oder kunstfernen) Beschäftigung ihre
künstlerische Arbeit nebenberuflich ausüben.
Die hohe Motivation der Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern an dem
Modellprojekt teilzunehmen, konnte sicher vorausgesetzt werden, zumal in
der vorgeschalteten Phase der Workshops entsprechende Bedarfe ermittelt
wurden. Gleichwohl mussten die Vertreterinnen der Zielgruppe angespro-
chen, es musste für das Projekt geworben werden. Um Teilnehmerinnen für
eine Teilnahme zu gewinnen, wurde zunächst der Weg über den „Künstler-
bund Mecklenburg und Vorpommern e.V.“ gewählt, in dem gegenwärtig 132
Künstlerinnen und 167 Künstler organisiert sind6. Alle weiblichen Vereinsmit-
glieder erhielten eine Information über das Projekt bzw. eine Einladung zur
Auftakt- bzw. zu den Infoveranstaltungen.
Weil bei weitem nicht alle Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern im
Künstlerbund organisiert sind, waren weitere Schritte notwendig, potentielle
Teilnehmerinnen anzusprechen und zu werben. Der Anspruch bei der Wer-
bung bestand darin, möglichst nicht nur über das Angebot zu informieren,
sondern eher „eine individuelle Ansprache zu finden“, praktisch „von Künstlerin
6 Quelle: Internetseite http://www.kuenstlerbund-mv.de/infos/statistik.php, Stand 22.05.2007
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Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
zu Künstlerin zu gehen und zu sagen, wir haben jetzt hier eine Chance, lasst Euch
die nicht entgehen“. Um den Kreis der Ansprechpartnerinnen zu vergrößern,
wurde dann darauf zurückgegriffen, die regionalen Medien nach Erwähnun-
gen von Künstlerinnen zu durchsuchen. Dann wurden deren Adressen ausfin-
dig gemacht, um gezielt Werbung zu machen. Das Ziel dieses Vorgehens war
es, mit der Zeit einen immer weiter wachsenden Verteiler zu erstellen, über den
die Informationen dann regelmäßig verschickt werden sollten.
3.2�Methoden�und�Instrumente�zur�Zielerreichung
Auf der Ebene der Umsetzung soll(t)en die Ziele auf verschiedenen Wegen er-
reicht werden. Aufgrund der Erfahrungen aus den Workshops wurde bei der
Planung der Instrumente zunächst sehr großen Wert darauf gelegt, dass sie
möglichst „passgenau“ zur Lebenswirklichkeit der Künstlerinnen gestaltet
wurden. „Die Kurse sind die Mittel, aber die Methode des Herangehens ist es, in die
Lebensverhältnisse der Frauen zu gehen. Wir wollten die Balance halten zwisch-
en ‚kommt in die Kurse’ und ‚wir kommen Euch ein Stück entgegen’. (…) Es sollte
keine traditionelle Bildungsmaßnahme sein, (…) denn die Künstlerinnen hatten
schon Kurse gemacht, die (von anderen Anbietern) angeboten wurden, (…) aber
sie haben gemerkt, (…) dass es an ihrer Realität vorbei geht, dass es ihnen nichts
gebracht hat“ (Projektinitiatorinnen). Auch mit Bezug auf die Erfahrungen an-
derer Bildungsträger, die gemerkt haben, „dass sie mit ihrer Form, wie sie es
machen, die Künstlerinnen offensichtlich nicht erreichen“ (Projektinitiatorin-
nen), sollte mit dem „Künstlerinnenprojekt“ viel stärker auf sowohl die Beson-
derheiten des Künstlerberufs als auch auf die spezielle Lebenssituation der
Künstlerinnen Rücksicht genommen werden.
Vor allem die Inhalte der Kurse sollten möglichst immer einen Bezug zur künst-
lerischen Tätigkeit der Kursteilnehmerinnen bzw. zu ihrer Situation als frei-
180
beruflich Tätige haben, die Vermittlung der Inhalte sollte also auch dort, wo
sie nicht unmittelbar auf das engere Thema bezogen waren, eher praxisnah
erfolgen. Aber auch die Didaktik sollte ebenfalls stärker auf die Bedürfnisse
der Teilnehmerinnen zugeschnitten sein. Die Gruppen sollten möglichst klein
sein, um „ganz individuell auf jede einzelne Künstlerin“ (Projektinitiatorinnen)
eingehen zu können. Weil das Projekt vom Frauenbildungsnetz e.V. beantragt
wurde, blieb die Gestaltung der Kurse nicht allein den jeweiligen Dozentinnen
überlassen, sondern unterlag auch den vom Frauenbildungsnetz erarbeiteten
Richtlinien zur Erwachsenbildung, die auf der Grundlage der bisherigen Erfah-
rungen speziell bei der Weiterbildung von Frauen erstellt worden sind.
Bei der Auswahl der Dozent/innen wurde deshalb Wert darauf gelegt, dass sie
zum einen fachliche Qualifikationen in der Erwachsenenbildung aufweisen
konnten. Zum anderen aber wurde als Spezifikum für das „Künstlerinnenpro-
jekt“ auch viel Wert darauf gelegt, „nicht irgendeinen Existenzgründerberater, der
die Kurse sonst gibt“ als Kursleiter zu gewinnen, sondern eine Person, die „Kon-
takt zu Künstlerinnen hat, also speziell mit der Gruppe auch schon mal gearbeitet
hat“ (Projektinitiatorinnen) bzw. selbst Künstlerin ist. So wurde beispielsweise
eine Dozentin verpflichtet, die trotz formaler Voraussetzungen „keine Lehrerin
in der Weiterbildung“ war, die aber als Dozentin einer Kunstakademie und „Kraft
ihrer ganzen Ausstrahlung und ihres Wissens natürlich unglaublich viel für die
Künstlerinnen mitbrachte“ (Projektinitiatorinnen). Insofern war für die Auswahl
der Dozentinnen die Fachkompetenz von besonderer Wichtigkeit.
Nicht nur die Inhalte und die Didaktik der Kurse sollten sich an den Bedürf-
nissen der Künstlerinnen orientieren, sondern auch die organisatorischen Be-
dingungen, d.h. Zeit, Ort, Dauer und Rahmenbedingungen der Kurse sollten
möglichst den besonderen Lebensumständen der Künstlerinnen entgegen
kommen. Anders als bei traditionellen Weiterbildungsangeboten, die oft über
eine längere Zeit mit täglich Stundenweisen Unterrichtseinheiten organisiert
181
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
sind, sollten die Kurse im „Künstlerinnenprojekt“ als Blockseminare angebo-
ten werden. Damit sollte der Tatsache Rechnung getragen werden, dass viele
Künstlerinnen auf dem Lande bzw. weit verteilt innerhalb Mecklenburg-Vor-
pommerns leben. Durch Blockseminare sollte die Häufigkeit der Heimfahrten
reduziert werden, zumal für weiter entfernt wohnende Künstlerinnen auch
privat Übernachtungsgelegenheiten organisiert werden sollten. Der Vorteil
der Blockseminare wurde außerdem darin gesehen, die Zeit intensiver nutzen
zu können, weil keine überflüssigen An- und Abfahrtzeiten anfallen und weil
die unvermeidlichen Friktionen beim täglich erforderlichen Neueinstieg in den
Stoff des Seminars wegfallen. Dadurch sollte Rücksicht auf das Zeitbudget der
Künstlerinnen genommen werden. Schließlich haben Blockseminare auch den
Vorteil, Kinderbetreuungsmöglichkeiten besser organisieren zu können. Als
Rahmenbedingungen wurden im Übrigen Mittel für anfallende Fahrtkosten
sowie für eine Kinderbetreuung beantragt.
Für die praktische Durchführung der Kurse wurde das Projekt in zwei Teile geg-
liedert, die jeweils unterschiedlich strukturiert sind. Der „Qualifizierungsebene
A“ genannte Teil beinhaltet „offene Bildungs- und Qualifizierungsangebote zur
Professionalisierung für Künstlerinnen entsprechend des Bedarfs“ (Projektan-
trag). Auf der Qualifizierungsebene A sollen im Rahmen eines differenzierten
Curriculums gegliedert in verschiedene Module in der Hauptsache Qualifi-
kationen und Kompetenzen vermittelt werden, die es den Künstlerinnen er-
lauben, „ihr eigenes künstlerisches Handeln marktkompatibel“ (Projektantrag)
zu gestalten.
Den eigentlichen Kursen vorgelagert waren sechs Informationsveranstaltun-
gen („Eröffnungsworkshops“), auf denen die Interessentinnen über das Ange-
bot informiert und ggf. sensibilisiert werden sollten.
Die zur Erreichung der Teilziele auf der „Qualifizierungsebene A“ eingesetzten
Instrumente bestehen in traditionellen offenen Bildungsangeboten in Form
182
von Kursen, Seminaren, Übungen und Workshops. Das Curriculum auf Ebene
A umfasst die Vermittlung von Kenntnissen über die aktuellen „Produktions-,
Präsentations- und Verwertungsstrukturen“ im Kunstbereich einschließlich
des notwendigen „Orientierungswissens, der Schlüsselqualifikationen, soft
skills und Transferkompetenzen“ (Projektantrag), mit dem Teilziel, das eigene
Handeln der Künstlerinnen stärker in den herrschenden Marktstrukturen zu
verankern. Daneben werden Kenntnisse zur Geschäftskonzeption, Betrieb-
swirtschaft sowie zum Finanzmanagement, Marketing, Recht usw. vermittelt,
mit dem Ziel, dadurch entscheidende Schlüsselqualifikationen und Quer-
schnittskompetenzen auf den Gebieten „Organisations-, Zeit- und Selbst-
management, Verhandlungskompetenz, Präsentation und Kommunikation“
zu erwerben. Weiterhin sollen spezifische Kompetenzen, wie das Kunst- und
Projektmanagement, vermittelt und in spezifischen Praxismodulen umgesetzt
werden. Hinzu kamen Angebote für Einzel- und Gruppen-Coaching7.
Die eingesetzten Instrumente wurden zudem an die besonderen Bedarfe der
Künstlerinnen angepasst, d. h. sie wurden regional angeboten, um Wege und
Fahrtkosten für die Teilnehmerinnen zu reduzieren. Außerdem konnte auf
Nachfrage eine Kinderbetreuung am Seminarort organisiert werden.
Auf der „Qualifizierungsebene B“ sollten dann im Rahmen eines größeren,
von den Teilnehmerinnen selbst organisierten „landesweiten Kunstevents“ die
dafür erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten prozessbegleitend vermit-
telt werden. Die beiden Ebenen unterscheiden sich im Wesentlichen durch
den Einsatz verschiedener Instrumente der Vermittlung (klassisches Kurs-Se-
minar als Schwerpunkt auf der einen Seite und prozessbegleitende Aktion als
Schwerpunkt auf der anderen Seite).
Die „Qualifizierungsebene B“ verfolgt das Teilziel, einer begrenzten Gruppe
7 Die jeweils zu erreichenden spezifischen Lernziele aus den Curricula der Seminare an dieser Stelle detailliert vorzustellen, würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen, zumal die Lernziele hier ohnehin nicht im Einzelnen evaluiert werden können und sollen.
183
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
von geplant 40 Teilnehmerinnen die erforderlichen Kompetenzen prozess-
begleitend in Form eines produktorientierten Kurszyklus zu vermitteln bzw.
weiter zu vertiefen. Diese produktbezogene „Qualifizierungsebene B“ wurde
in vier einzelne Teilprojekte unterteilt, deren Ziel es jeweils war, eine regionale
Ausstellung (= Produkt) zu organisieren. Der Grund für die Unterteilung der
„Eventebene“ in vier regionale Teilprojekte findet sich darin, dass Mecklenburg-
Vorpommern ein Flächenland ist und dass ein einzelnes zentrales Projekt von
den Teilnehmerinnen bedingt durch den mit der Organisation eines solchen
Events verbundenen Aufwand erhebliche Reisezeiten und -kosten erfordert
hätte. Durch die Aufteilung sollte der Aufwand reduziert werden. Gleichwohl
blieb ein gewisser Aufwand bestehen, weil die Teilprojekte vernetzt arbeiten
sollten und weil innerhalb der „Qualifizierungsebene B“ weitere, eher projekt-
bezogene Kurse angeboten wurden, die nicht immer jeweils regional stattfin-
den sollten. Es handelt sich dabei um spezialisierte Qualifizierungsangebote
für Eventmanagement, Kunstmarketing, Werbestrategien, Fundraising usw.
Im Zentrum der „Qualifizierungsebene B“ sollten aber die vier regionalen
Ausstellungen stehen. Diese sollten von den Teilnehmerinnen eigenständig
als „Eventgruppe“ geplant, organisiert und schließlich konkret durchgeführt
werden. Die Kurse sollten das erforderliche Spezialwissen bieten. Der Ab-
lauf der „Eventphase“ war so geplant, dass die Teilnehmerinnen in Rahmen
regelmäßiger Treffen bzw. einer auf den ersten Treffen verabredeten Arbeit-
steilung alle notwendigen Schritte durchlaufen, die zum geplanten Produkt
führen, um auf diese Weise von der Praxis zu lernen. „Da gehört der ganze Pro-
zess mit dazu, wie organisiere ich eine Ausstellung, da muss ich Öffentlichkeitsar-
beit machen, da muss ich Mittel akquirieren, da muss ich alles machen. Und das
kriegen sie alles einmal in der Theorie, in den Kursen, da bekommen sie diese Grun-
dlagen und zum anderen können sie es auf diese Weise gleich umsetzen in den
speziellen Ausstellungen“ (Projektinitiatorinnen). Ein wesentlicher Bestandteil
184
dieser Eventphase aber war die unmittelbare Einbindung der Teilnehmerin-
nen in das Projektmanagement. Sie sollten eine Ausstellung managen und
zwar angefangen von der Wahl des Ausstellungsthemas über die Pressearbeit
bis hin zum Catering für die Finissage. Dabei sollte kein vorgegebenes (Lehr)
Modell mit feststehendem Ergebnis nachvollzogen werden, sondern in der Tat
ein neues eigenes Projekt realisiert werden, von dem zu Beginn der Veranstal-
tungsreihe weder feststehen sollte, in welcher Form, noch, ob es überhaupt
materiell realisiert werden konnte. Gleichwohl existierten für die Eventphase
bzw. für deren einzelne Kurse durchaus Lehrpläne, die erfüllt werden sollten.
Es gab sowohl für die Event-Treffen, in denen die praktische Arbeit für das Pro-
jekt stattfand, Konzepte diskutiert, Absprachen getroffen wurden usw. ent-
sprechende Curricula, als auch für die ergänzenden Kurse. Dennoch musste
von Beginn an mit einer nicht kalkulierbaren Eigendynamik der Entwicklung
gerechnet werden, so dass die Inhalte der begleitenden Kurse relativ flexibel
daran angepasst werden mussten. Das Eingehen auf diese Eigendynamik eines
Entwicklungsprozesses als Teil der Weiterbildung kann als das Modellhafte
dieses Maßnahmeteils im Rahmen von Weiterbildungsangeboten angesehen
werden. Ergänzt wurden die Kurse und die Event-Treffen durch Angebote für
ein Einzel- oder Gruppen-Coaching.
Eine weitere Besonderheit dieses Vorgehens, ein konkretes materielles Ergeb-
nis im Rahmen eines „Projekts im Projekt“ zu schaffen, besteht darin, dass bei
der Produktion zusätzliche Kosten anfallen. „Weil solche Ausstellungen nicht
ohne Gelder passieren (…). Die müssen dann ja auch Ausstellungsmaterialien ha-
ben, es muss ja auch diese inhaltliche Arbeit auch in gewisser Weise sicher gestellt
werden“. Um zumindest einen Teil der zusätzlichen Mittel zu bekommen, sollten
„dafür Gelder eingeworben werden“. Ein Teil der notwendigen Finanzierung
konnte zunächst durch eine Kooperation des Projekts mit dem Ministerium
für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Mecklenburg-Vorpommern
185
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
sichergestellt werden. Für das „Aufschließen“ weiterer Finanzierungsquellen
sollten dann die Teilnehmerinnen der Eventphase „selber verantwortlich“ (Pro-
jektinitiatorinnen) sein.
Die Zahl der Teilnehmerinnen für die Projektphase sollte auf insgesamt 40 Per-
sonen, d. h. 10 Künstlerinnen pro Event begrenzt bleiben, weil die Erreichung
des konkreten Projektziels sonst als nicht erreichbar eingeschätzt wurde. Im-
merhin sollte zum einen jede teilnehmende Künstlerin in der Ausstellung
ihre Werke präsentieren können und zum anderen sollte der Aufwand für die
Koordinierung der gesamten Eventphase in Grenzen gehalten werden. Die
strikte Begrenzung der Teilnehmerzahl erforderte auf jeden Fall ein Aus-
wahlverfahren. Dies kann prinzipiell als Zufallsystem oder als gezielte Auswahl
gestaltet werden. Im Projekt sollte die gezielte Auswahl angewandt werden,
indem die Künstlerinnen sich bewerben und dann von einer Jury ausgewählt
werden sollten. Dieses Auswahlverfahren über eine Jury gilt im Bereich des
Kunstschaffens als durchaus übliche Methode und würde, so die Annahme,
von den Künstlerinnen entsprechend als hinreichend gerecht angesehen
werden. Aus Sicht der Projektinitiatorinnen konnte auf diese Weise auch der
für die Auswahl erforderliche Qualitätsmaßstab eingehalten werden.
Abgesehen davon, dass die Teilnehmerinnen der Eventphase im „learning by
doing“-Verfahren die erforderlichen Qualifikationen erwerben sollten, war mit
dem „Lehrprojekt“ auch das Ziel verbunden, Öffentlichkeit für die Künstlerin-
nen und ihre Projekte zu schaffen. Außerdem war damit die Hoffnung verbun-
den, dass sich als Ergebnis des Events ein Künstlerinnen-Netzwerk etablieren
könnte, dessen Kern die teilnehmenden Künstlerinnen stellen würden. In-
sofern wird besonders von der Eventphase sogar ein nachhaltiges strukturelles
Ergebnis erwartet.
186
4. Zusammenfassung der Evaluationsergebnisse
Die Aufgabe der beschriebenen Projekt-Analyse bestand darin, zu überprüfen,
ob das Weiterbildungsprojekt „Die Kunst von Kunst zu leben - Ein Profession-
alisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“ seinen
quantitativen und qualitativen Zielen und Ansprüchen gerecht geworden ist.
Das Analyseergebnis wiederum erlaubt dann entsprechend die Beurteilung,
ob die für das Projekt eingesetzten öffentlichen Mittel sachgerecht verwendet
wurden oder nicht.
Festzustellen ist, dass das Ergebnis der Analyse nur den Schluss einer sachge-
rechten Verwendung der Mittel zulässt. Die im Projektantrag formulierten Ziele
und die von den Projektinitiatorinnen im Rahmen der Evaluation geäußerten
spezifischen Absichten sind weitgehend erfüllt worden.
Die dem eigentlichen Weiterbildungsprojekt zeitlich vorgelagerten Workshops
haben zunächst ergeben, dass die von den Projektinitiatorinnen zunächst nur
vermutete Handlungserfordernis hinsichtlich der Notwendigkeit zur Verbesse-
rung der sozialen und wirtschaftlichen Lage der Künstlerinnen in Mecklen-
burg-Vorpommern in der Tat gegeben sind.
Mit dem auf der Grundlage der Workshop-Erfahrungen konzipierten ei-
gentlichen „Künstlerinnenprojekt“ wurden dann hauptsächlich jene Kün-
stlerinnen angesprochen und für eine Teilnahme gewonnen, die aufgrund
einer überwiegend prekär zu nennenden wirtschaftlichen Lage zum Kreis der
„Begünstigten“ gehören sollten.
Die Analyse der quantitativen Seite des „Künstlerinnenprojekts“ ergibt, dass
dessen tatsächlicher Output weitgehend den geplanten bzw. bei Antragstel-
lung erwarteten Größenordnungen sowie dem finanziellen und personellen
Input entsprach. Es wurde eine ursprünglich erwartete Zahl von Kursteilneh-
merinnen erreicht, es wurde mit dem bewilligten Personal die geplante Anzahl
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
von Veranstaltungen durchgeführt und auch die erhoffte Zahl von Ausstellun-
gen im Rahmen der Projektebene B (Event-Projekt) konnte realisiert werden.
Auf der qualitativen Seite des Outputs wurden sehr zielgerichtet Inhalte und
Themen angeboten, die dem tatsächlichen Bedarf der Teilnehmerinnen ent-
sprochen haben. Die Zufriedenheit der Künstlerinnen mit dem Kursangebot
und dem „Projekt im Projekt“ (Event) ist ausgesprochen hoch.
Auch die inhaltliche Gestaltung des Weiterbildungsangebots hat offensicht-
lich neue Maßstäbe gesetzt, denn von den Kursteilnehmerinnen werden fast
übereinstimmend der hohe Praxisbezug der einzelnen Kurse, die Didaktik
der Wissensvermittlung sowie die Gestaltung der Rahmenbedingungen des
Weiterbildungsangebots insgesamt in höchsten Tönen gelobt. Vor allem der
Anspruch der Projektinitiatorinnen, sowohl inhaltlich als auch von den Rah-
menbedingungen her möglichst auf die spezifischen Bedürfnisse der Künst-
lerinnen einzugehen bzw. die Angebote an die Lebenswelt der Künstlerinnen
anzupassen, ist weitgehend eingelöst worden. Die Dauer der Kurse ist dem
Zeitbudget der Künstlerinnen angemessen gewesen. Die Atmosphäre der
Kurse wurde als sehr anregend und positiv empfunden, weil sich die Künstlerin-
nen als „unter sich“ fühlen konnten. Die Veranstaltungen waren insofern durch
ein hohes Maß an gegenseitigem Verständnis einer so empfundenen „gemein-
samen“ Lage geprägt. Auch die Räumlichkeiten für die Kurse waren überwie-
gend gut gewählt, besonders wenn Veranstaltungen in den Ateliers verschie-
dener Künstlerinnen stattfinden konnten. Schließlich wurden die zusätzlich
angebotene Kinderbetreuung sowie die begrenzt gegebene Möglichkeit zur
Fahrtkostenerstattung als sehr vorteilhaft bewertet, da für einige Künstlerin-
nen erst dadurch ein Teilnahme möglich wurde.
Auch das Event-Projekt wurde von den teilnehmenden Künstlerinnen als eine
wertvolle Bereicherung erfahren. Die dadurch gegebene Möglichkeit, nicht nur
im Rahmen der praktischen Umsetzung einer Ausstellungsvorbereitung sehr
188
hautnah Kenntnisse und Erfahrungen vermittelt zu bekommen, sondern auch
durch die Ausstellungen selbst, die einen Blick mit Stolz auf etwas konkret Er-
reichtes ermöglichten, wurde als sehr effektive - wenn auch zeitintensive und
anstrengende - Lernmöglichkeit angesehen. Diese Methode der Wissensver-
mittlung hat sich als durchaus sinnvoll erwiesen, da nicht nur nachhaltig Wis-
sen, Fertigkeiten und Erfahrungen an die Teilnehmerinnen vermittelt bzw. von
ihnen praktisch erprobt werden konnten, sondern weil auch das Anliegen des
Projekts über die realisierten Ausstellungen einer breiteren Öffentlichkeit vor-
gestellt werden konnte.
Soweit zum gegenwärtigen Zeitpunkt bereits von „Ergebnissen“ des „Künst-
lerinnenprojekts“ gesprochen werden kann, sind auch diese durchaus be-
eindruckend. Obwohl das Projekt zum Zeitpunkt der Evaluation noch nicht
vollständig abgeschlossen ist, ergibt sich aus der subjektiven Erschätzung der
Künstlerinnen, dass ihre Teilnahme am Projekt bereits erste Früchte getragen
hat. Nicht nur, dass die meisten Teilnehmerinnen der Meinung sind, die Kurse
wären für sie auf jeden Fall von großem Nutzen gewesen, sondern auch, weil
einige Künstlerinnen das Erlernte bereits in die Tat umsetzen konnten, lässt
deutlich werden, dass das „Künstlerinnenprojekt“ bereits jetzt zu positiven
Ergebnissen für die Teilnehmerinnen geführt hat. Andere erwarten, dass sie
bald positive Ergebnisse erreichen werden. Ein Teil der Künstlerinnen ist der
Meinung, nur aufgrund der Teilnahme am „Künstlerinnenprojekt“ eine Ver-
besserung in der individuellen Einkommenssituation erreicht zu haben bzw.
mehr Ausstellungen realisiert zu haben.
Aus diesen einzelnen Analyseergebnissen ergibt sich mithin eine eindeutig
positive Bilanz des „Künstlerinnenprojekts“. Da aus dem Kreis der bisherigen
Teilnehmerinnen bzw. aus dem Kreis der Interessierten häufig der Wunsch
nach einer Fortsetzung bzw. Neuauflage des Projekts gewünscht wird und weil
auch objektiv weit mehr als die bisher am Projekt beteiligten Künstlerinnen
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
einen Bedarf an der angebotenen Weiterbildung haben, ist es sehr sinnvoll,
das Projekt fortzusetzen.
Die Analyse ergibt nur einige wenige Kritikpunkte, die vor allem ein paar or-
ganisatorische Unebenheiten des Projekt betreffen, welche sich entweder aus
nicht ganz schlüssigen Zusammenhängen im Rahmen der Evaluation ergeben
haben, oder die von den Gesprächspartnerinnen als Kritik am „Künstlerinnen-
projekt“ vorgetragen wurden.
Als kritikwürdig in diesem Zusammenhang erscheint die nicht ganz aus-
reichende Form der Anwerbung neuer Teilnehmerinnen, die bei zukünftigen
Projekten intensiviert und auch mehr systematisiert werden sollte. Insbeson-
dere in einem Flächenland wie Mecklenburg-Vorpommern sollte breiter ge-
worben werden, um das vorhandene Potential an interessierten und zugleich
qualitativ geeigneten Künstlerinnen besser ausschöpfen zu können. Gege-
benenfalls könnte eine Zusammenarbeit mit der Künstlersozialkasse ang-
estrebt werden, in der fast alle Künstlerinnen Mitglied sind.
Anlass zur Kritik bietet auch die Fahrtkostenerstattung, die für das Projekt in
Form eines Sondermodells ermöglicht wurde. Offensichtlich ist nicht allen
Teilnehmerinnen die Sonderrolle der Reisekostenerstattung im Rahmen von
Bildungsmaßnahmen ausreichend bewusst geworden. Hier sollte in Zukunft
mehr Transparenz geschaffen werden und auch der von einigen Teilnehmerin-
nen kritisierte hohe bürokratische Aufwand dafür sollte reduziert werden. Eine
Vereinfachung des Prozederes wäre sicher ein Gewinn für zukünftige Projekte.
Ein weiterer Kritikpunkt ergibt sich schließlich aus der etwas unklaren Defi-
nition der Zielgruppe. Diese Definition war zwar wegen der Unbestimmtheit
des Künstlerbegriffs ganz bewusst relativ offen gelassen worden, jedoch fehlt
es auch an einer klaren Abgrenzung der Zielgruppe hinsichtlich ihrer sozialen
Situation. Als Zielgruppe galten ja Künstlerinnen, die sich in einer prekären
190
sozialen Lage befinden. Eine deutliche Abgrenzung hinsichtlich der sozialen
Lage fand aber offensichtlich bei der Auswahl der Teilnehmerinnen nicht sys-
tematisch statt. Jedenfalls wurden keine klaren Kriterien genannt (bestimmte
Einkommenshöhe o. Ä.) und das soziale Profil einiger weniger Teilnehmerin-
nen lässt zudem vermuten, dass sie eigentlich nicht zum engeren Kreis der
eine öffentliche Intervention rechtfertigenden „Endbegünstigten“ gehören.
Bei einer Fortsetzung bzw. Neuauflage des Projektes sollten hier jedenfalls
präzisere Kriterien formuliert und angewandt werden.
Abgesehen von der insgesamt positiven Beurteilung des Projekts bzw. einzel-
ner Projektergebnisse muss bei der Evaluation auch der spezifische Modell-
charakter des „Künstlerinnenprojekts“ gewürdigt werden. Dieses Modellhafte
besteht dabei nicht nur darin, vordergründig im Rahmen des Bildungsange-
botes beispielsweise landesweit neue Vermittlungsformen (in Form des
Event-Projekts) angewandt oder bei den Rahmenbedingungen spezifische
Leistungen für die Teilnehmerinnen geboten zu haben (Kinderbetreuung,
Fahrtkostenerstattung), sondern hauptsächlich darin, sich innovativ aus den
vorhandenen Bedingungen der Förderlandschaft in Mecklenburg-Vorpom-
mern einen, bildlich gesprochen, „passenden Förder-Deckel“ für den ebenfalls
vorhandenen „Topf aus spezifischen objektiven Problemlagen, subjektiven
Ansprüchen und sozialen Anforderungen“ „gebastelt“ zu haben.
Die größte Leistung des „Künstlerinnenprojekts“ besteht mithin darin, in Form
einer Gratwanderung zwischen der formal geforderten Form einer traditionel-
len Bildungsmaßnahme und den eigentlich gewollten und für erforderlich ge-
haltenen Formen und Inhalten des Projekts eine anspruchsvolle Maßnahme
umgesetzt zu haben, auch wenn dabei noch manche der ursprünglich ge-
hegten Absichten der Projektinitiatorinnen auf der Strecke bleiben mussten.
Dass hier modellhaft eine Gratwanderung zu meistern war, ergibt sich aus
den inhaltlichen Anforderungen, die durch die besonderen Bedingungen der
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
Gruppe „Künstlerinnen“ gesetzt wurden sowie daraus, dass im durchaus breit
gefächerten Angebot der staatlichen Interventionsleistungen dafür kein pas-
sendes Fördermodell zu finden war.
Die Analyse hat ergeben, dass trotz aller Unsicherheiten bei der Definition des
Begriffs „Künstler“ damit eine spezifische Berufsgruppe bezeichnet wird, die
weitgehend aus dem üblichen Raster für staatliche Interventionen heraus fällt.
„Künstler“ bzw. speziell Künstlerinnen befinden sich nämlich hauptsächlich
dann in einer förderwürdigen Problemlage, wenn sie freiberuflich tätig sind.
Maßnahmen zur Förderung von abhängig Beschäftigten (Reintegration in den
Arbeitsmarkt o. Ä.) laufen also ins Leere. Weil Künstlerinnen ihre Werke über-
wiegend bereits als Selbständige produzieren, sind Existenzgründerkurse eb-
enso wenig eine geeignete Form der Förderung. Die meisten Künstlerinnen
sind zudem hochqualifiziert, weshalb auch berufliche Qualifizierungsmaßnah-
men wenig angebracht sind. Außerdem ist das Künstlerdasein weitaus mehr
„Berufung“ als ein normaler „Beruf“, so dass auch Umschulungsmaßnahmen
wenig sinnvoll sind.
Die Bedarfsanalyse hatte im Vorfeld des Projekts ergeben, dass eben nicht
berufliche Weiterbildung, sondern eher Zusatzqualifikationen und Kompeten-
zen für die Vermarktung der Kunstwerke inklusive der notwendigen Kennt-
nisse über Steuern, Versicherung usw. vermittelt werden müssten. Auch sollte
die Schaffung von Vernetzungen zwischen den Künstlerinnen ein wesentliches
Ziel der Maßnahme sein. Diese Inhalte liegen prinzipiell eher im Bereich der
Förderung von Existenzgründern bzw. der Wirtschaftsförderung und insofern
eher im Zuständigkeitsbereich des Europäischen Fonds für regionale Ent-
wicklung (EFRE) bzw. des Wirtschaftsministeriums. Andererseits wurde auch
Bedarf an Kompetenzförderung im kommunikativen, familiären und sozialen
Bereichen geäußert (inkl. Selbstbehauptung, Selbstmanagement), was eher
im Rahmen von Kursen für die Reintegration in den Arbeitsmarkt angeboten
192
wird und in die Förderzuständigkeit des Europäischen Sozialfonds (ESF) bzw.
des Sozial- bzw. Arbeitsministeriums gehört. Ein Wunsch der Künstlerinnen
war es auch, möglichst praxisnah geschult zu werden, was wiederum eher in
Umschulungsmaßnahmen realisiert wird und nicht in traditionellen Weiterbil-
dungsseminaren, was mehr im Zuständigkeitsbereich der Agentur für Arbeit
liegt. Weiterhin ergab die Bedarfsanalyse, dass ein möglichst niedrigschwellig-
es Bildungsangebot erforderlich ist, um die überwiegend als „Einzelkämpfer-
innen“ tätigen Künstlerinnen überhaupt für ein Förderangebot zu interess-
ieren. Außerdem sollte der besonderen sozialen Situation von insbesondere
Künstlerinnen mit Kindern Rechnung getragen werden und entsprechende
Betreuungsmöglichkeiten angeboten werden. Diese schon in Richtung einer
individuellen sozialen Hilfe und Unterstützung gehenden und deutlich über
die üblichen Inhalte einer Weiterbildungsförderung liegenden Anforderungen
sind schließlich eher Aufgabe der meist kommunalen Institutionen zur sozi-
alen und erzieherischen Hilfe.
Zusammengenommen stellte das Thema „Künstlerinnen“ also Anforderungen,
die von keinem der gegenwärtig gültigen Förderprogramme allein bedient
werden konnten. Vielmehr erwies sich das Anforderungsprofil als typische
Querschnittsaufgabe für verschiedene Förderprogramme. Eine solche Quer-
schnittsaufgabe durch eine Kombination der verschiedenen Förderangebote
im Rahmen eines Projektes zu realisieren, lässt die gegenwärtige Förderpraxis
jedoch leider nicht zu. Vor diesem Hintergrund musste das „Künstlerinnenpro-
jekt“ die Querschnittsaufgabe also innerhalb des eigenen Projekts selbst lösen.
Dies war freilich nur bedingt möglich, d. h. einige Ziele mussten schon im
Vorfeld der Beantragung fallen gelassen werden und auf Seiten der Förderer
musste mancher Handlungsspielraum weitestgehend genutzt bzw. mussten
„Sonderregelungen“ gefunden werden.
Um die gesetzten Ziele zu erreichen ist das „Künstlerinnenprojekt“ also formal
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
als eine Bildungsmaßnahme beantragt worden im Zuständigkeitsbereich des
Europäischen Sozialfonds (ESF). Die Maßnahme unterlag damit den entsprech-
enden Bedingungen, die für Bildungsmaßnahmen gelten. Allerdings konnten
einige Bedingungen etwas an die besonderen Bedarfe der Maßnahme ange-
passt werden. Unter anderen gab es für die Künstlerinnen keine Pflicht zur Teil-
nahme an allen Veranstaltungen bzw. an einem festgelegten Veranstaltungs-
zyklus. Anders als bei traditionellen Weiterbildungsmaßnahmen konnten sich
die Künstlerinnen einzelne Kurse nach Bedarf aussuchen. Entsprechend wurde
auf ein Gesamtzertifikat für die Maßnahme verzichtet, dafür wurden Einzelzer-
tifikate für die einzelnen Kurse ausgestellt. Als Novum ist auch das landesweite
Event-Projekt anzusehen, mit dem andere Vermittlungsmethoden erprobt
werden sollten. Auch weitere Bedingungen des Projekts, wie beispielsweise
die große Praxisnähe der Kurse, die zeitliche Struktur (Blockseminare) sowie
die Wahl der Orte für die Seminare (teilweise in den Ateliers der Künstlerin-
nen) zeigen, auf welch kreative Weise die gegebenen Möglichkeiten im Rah-
men von Bildungsmaßnahmen sowohl von Seiten der Projektinitiatorinnen als
auch der Förderer genutzt worden sind.
Gleichwohl erwies sich die gesamte Konzeption und Organisation des „Kün-
stlerinnenprojekts“ stets als schwierige Gratwanderung zwischen inhaltlichen
Anforderungen („Topf“ aus Bedarfen) und einer durch formale Förderbedin-
gungen geprägten Förderpraxis („Deckel“ aus institutionellen Fördermöglich-
keiten). Eine solche Gratwanderung wäre den Beteiligten wahrscheinlich
erspart geblieben, wenn es bereits auf institutioneller Ebene mehr Chan-
cen zur Verzahnung der verschiedenen Fördermöglichkeiten gäbe. Weil das
„Künstlerinnenprojekt“ im Ergebnis der Evaluation seine Aufgabe trotz der
schwierigen Gratwanderung außerordentlich gut gemeistert hat, ergibt sich
die Schlussfolgerung, dass bei zukünftigen Projekten entweder die Ermessens-
und Handlungsspielräume der einzelnen Förderfelder flexibler gestaltet, oder
194
dass einzelne Förderfelder übergreifend im Rahmen von konkreten Projekten
besser miteinander kombiniert werden sollten. Wenn das evaluierte Projekt
bereits trotz aller Widrigkeiten derart beeindruckende Ergebnisse erzielen
konnte, so ist zu erwarten, dass eine veränderte Förderpraxis in der genannten
Richtung noch weitaus beeindruckendere Ergebnisse bieten wird.
Zur Würdigung des „Künstlerinnenprojekts“ als Modellvorhaben gehört
schließlich auch die Einschätzung einer möglichen Übertragbarkeit der Maß-
nahme bzw. einzelner Bildungsinhalte, Weiterbildungsformen und Rahmen-
bedingungen auf andere Gruppen. Die in der Analyse wiederholt getroffene
Feststellung, Künstlerinnen würden sich von anderen Berufsgruppen deu-
tlich unterscheiden bzw. befänden sich in einer ganz speziellen Problemlage
schränkt die Möglichkeiten der Übertragbarkeit freilich sehr stark ein. Das
„Künstlerinnenprojekt“ wurde in der Tat „maßgeschneidert“ auf die Situation
von Künstlerinnen in einem Flächenland. Insofern wäre zunächst also eine
Übertragung der gleichen Maßnahme auf andere Flächenländer möglich und
sinnvoll. Ob auch andere soziale oder berufliche Gruppen von einer ähnlich
konzipierten Maßnahme profitieren könnten, kann an dieser Stelle nur ge-
mutmaßt werden. Sicherlich wäre es möglich und wahrscheinlich auch sehr
sinnvoll, die Maßnahme in gleicher Form, jedoch mit angepassten Inhalten
auch für männliche Künstler anzubieten. Denkbar ist auch eine Ausweitung
der Thematik auf andere freiberuflich bzw. selbständig Tätige, beispielsweise
in anderen, überwiegend „kreativen“ Berufen, deren Vertreter bzw. Vertreterin-
nen oft vor ähnlichen Problemen stehen, wie die Künstler bzw. Künstlerinnen.
Für andere Gruppen bzw. Berufe sind hingegen eher nur Teile der Gesamtkonz-
eption übertragbar. Beispielsweise könnte die spezielle und sehr praxisnahe
Vermittlungsform des „Projekt-Lernens“ stärker bei traditionellen Bildungs-
maßnahmen implementiert werden. Auch könnten manche Bildungsmaßnah-
men wahrscheinlich davon profitieren, wenn sie sich stärker auf die jeweiligen
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
Lebenswelten der Teilnehmer und Teilnehmerinnen einlassen würden. Mit an-
deren Worten, eine Möglichkeit der Übertragbarkeit ist auch darin zu sehen,
sich insgesamt bei staatlichen Interventionen stärker um „maßgeschneiderte“
Konzepte zu bemühen und zwar einschließlich der Möglichkeit, auch die
Fördertöpfe ebenso „maßgeschneidert“ miteinander kombinieren zu können.
5. Ausblick - Konzeption des Projektes für den Zeitraum 2009-2010
Während im bisherigen Förderzeitraum die Qualifizierung der Künstlerinnen
im Bereich Existenzsicherung/Vermarktung durch Kurse sowie Einzel- und
Gruppen-Coaching im Zentrum stand, soll es in der aktuellen Projektphase
darum gehen, in ausgewählten Regionen die Zusammenarbeit zwischen
Künstlerinnen und regionalen Akteuren aus den Bereichen Bildung, Politik,
Wirtschaft und Tourismus zu intensivieren.
Ziel der aktuellen Projektphase ist es, Netzwerke auf- bzw. auszubauen und
entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen bzw. deren Entwicklung auf
Regional- und Landesebene anzuregen, um Künstlerinnen bei der Verbesser-
ung ihrer Einkommenssituation zu unterstützen. Zugleich sollen Handlungs-
ansätze und Strukturen entwickelt werden, durch die das Potenzial der Künst-
lerinnen stärker als bisher in den Regionen zum Tragen kommt, z. B. bei der
Regionalentwicklung zur Schaffung neuer Perspektiven in den Regionen, zur
Aktivierung lokaler Entwicklungsprozesse und zur Erhöhung der Wirtschafts-
kraft. Damit soll die neue Projektphase auch einen Beitrag zum Abbau der Ge-
schlechterteilung auf dem Arbeitsmarkt speziell im ländlichen Raum leisten.
In gemeinsamen Prozessen zwischen Künstlerinnen und regionalen Akteuren
ist herauszuarbeiten, welche Bedarfe und Interessen beiderseits bestehen,
inwiefern es bereits Schnittstellen und Netzwerke zu deren Realisierung gibt,
und wie diese ggf. weiterzuentwickeln sind. Darüber hinaus ist es notwen-
196
dig, die Wirksamkeit der vorhandenen regionalen, landes- und bundesweiten
Rahmenbedingungen zu analysieren und ggf. aufzuzeigen, an welcher Stelle
diesbezüglich Handlungsbedarf besteht. Hierbei sind Impulse des Berichts der
Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“8 sowie des Forschungs-
gutachtens „Gesamtwirtschaftliche Perspektiven der Kultur- und Kreativwirt-
schaft in Deutschland“9 zu berücksichtigen. Vorgesehen ist, in ausgewählten
Regionen modellhafte Projekte zur Vernetzung der Künstlerinnen mit anderen
regionalen Akteuren zu entwickeln und umzusetzen (siehe A).
Erfahrungen und Ergebnisse aus der regionalen Netzwerkarbeit sind zu be-
gleiten und zu sichern und sollen auf zwei landesweiten Fachtagungen prä-
sentiert und im Kontext einer Profilierung von Mecklenburg-Vorpommern als
„Kunst- und Kulturland“ als anzustrebenden Standortfaktor diskutiert werden
(siehe B).
In ihren Rückmeldungen zum Künstlerinnenprojekt zeigen die Künstlerinnen
außerdem ein dauerhaftes Interesse an der Fortführung von Bildungs- und Be-
ratungsangeboten zu Fragen der Existenzsicherung. Vor diesem Hintergrund
sind Netzwerkpartner/innen zu finden, mit denen eine Etablierung dieser An-
gebote zukünftig im Land realisiert werden kann. (siehe C)
Für die Weiterführung des Professionalisierungs- und Vernetzungsprojektes
für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern ergeben sich daraus folgende
drei Schwerpunkte:
A) Regionale Netzwerkarbeit
Ziel:
Etablierung der Künstlerinnen in regionalen Wirtschafts- und Tourismusstruk-
8 Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, Bonn 20089 Gesamtwirtschaftliche Perspektiven der Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschland. Kurzfas-
sung eines Forschungsgutachtens im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Techno-logie. Berlin 2009
197
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
turen und aktive Beteiligung an regionalen Entwicklungsprozessen mit dem
Ziel, die Prozesse der selbst organisierten Kunstvermarktung nachhaltig zu
verankern sowie die Befähigung der Künstlerinnen, durch die Vermarktung
selbst geschaffener Produkte und künstlerischer Tätigkeiten einen möglichst
hohen Anteil ihres Lebensunterhaltes zu bestreiten.
Umsetzung:
Die 2008 in Ideenwerkstätten erarbeiteten Projektideen auf Regionalebene
sollen 2009/2010 mit Künstlerinnen prozessorientiert umgesetzt werden.
Hierfür sollen regionale Vernetzungsstrukturen zwischen Künstlerinnen und
potenziellen Partner/innen aufgebaut bzw. weiterentwickelt werden, insbe-
sondere mit:
» Wirtschaft, Wissenschaft und Tourismus,
» Kunst- und Kulturbetrieb,
» regionalen Gleichstellungsbeauftragten,
» Regionalstellen für Gleichstellung,
» lokalen Aktionsgruppen von LEADER+,
» kulturellen Bildungsträgern bzw. Vereinen.
Die Suche nach weiteren Projektpartner/innen in den Regionen wird in den
folgenden Jahren kontinuierlich fortgesetzt.
Durch die gemeinsame Arbeit an Modellprojekten soll ein verbessertes Zusam-
menwirken zwischen Künstlerinnen und den jeweils beteiligten Projektpart-
ner/innen in den Regionen sowie die Schaffung von Synergieeffekten erreicht
werden. (Bislang laufen Projekte und Regionalplanungen oftmals unverbun-
den nebeneinander.)
Durch diese praxisnahen gemeinschaftlichen Aktivitäten und Zukunftsentwür-
fe soll ein nachhaltig funktionierendes Netzwerk auch für künftige Initiativen
198
in den Regionen etabliert werden und deren Ausweitung in ausgewählten
Themenfeldern auch auf Landesebene geprüft werden.
Angestrebte Teilergebnisse und entsprechend geplante Umsetzungsstra-
tegien sind hierbei:
» Durchführung von prozessorientierten regionalen Netzwerkveranstal-
tungen zur Umsetzung der Modellprojekte mit dem Ziel, effektive Ar-
beitsstrukturen von Künstlerinnen mit Wirtschafts-, Tourismus- und an-
deren Regionalstrukturen zu entwickeln und auszubauen,
» Professionalisierung bezogen auf regional angebundene Projekte ,
» stärkere Einbindung der Künstlerinnen in die Region durch Kursange-
bote mit regionalem Bezug,
» Beteiligung an regionalen Entwicklungsprozessen unter dem Aspekt der
Gleichstellung,
» Sichtbarmachen der Potenziale und der Werke von Künstlerinnen für
Land und Region, u. a. durch Präsentationsmaterialien, Weiterentwick-
lung der Homepage und Zusammenwirken mit regionalen und landes-
weiten Medien,
» Kunst als weichen Standortfaktor und als übergreifende Querschnittsauf-
gabe deutlich machen durch Öffentlichkeitsarbeit und Einbringen der
Thematik in regionale und landesweite Arbeitsgremien.
Folgende Modellprojekte werden durch das Projekt entwickelt bzw. modifi-
ziert:
1) Nordwestmecklenburg: „Urlaub auf KünstlerInnenhöfen“,
2) Mittleres Mecklenburg und Barther Land: „Kunst-Reisen“, Kooperation-
spartner: Frauenkulturverein „Die Beginen e. V.“,
3) Burg Klempenow/Vorpommersche Flusslandschaft: „Kunst im öffentli-
chen Raum“, Kooperationspartner: Kultur-Transit-96 e. V. (Derzeit besteht
199
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
auch ein Arbeitskontakt mit Impuls MV/Regionalstellen für Gleichstel-
lung von Frauen und Männern am Arbeitsmarkt. Eine längerfristige Ko-
operation wird geprüft.),
4) Mittleres Mecklenburg/Nordwestmecklenburg: „Künstlerinnen begeg-
nen Wissenschaftlerinnen. Wissenschaftlerinnen begegnen Künstlerin-
nen“, Kooperationspartner: Universität Rostock.
Punktuelle Zusammenarbeit und Unterstützung weiterer Netzwerke:
1) Stettiner Haff: „Weibliche Kunst als Motor einer Region an der Peripherie“
(Arbeitstitel),
2) Ostvorpommern/Greifswald: „Künstlerinnen begegnen Wissen-
schaftlerinnen. Wissenschaftlerinnen begegnen Künstlerinnen“, Koop-
erationspartner: Universität Greifswald.
Instrumente zur Umsetzung:
Die Künstlerinnen sollen mittels folgender Professionalisierungsangebote
zum Thema „Regionale Netzwerke“ für den Aufbau von Vernetzungsstrukturen
mit potenziellen Partner/innen in ihren jeweiligen Regionen aufgeschlossen
werden:
1) Professionalisierung zur Erweiterung der Kenntnisse landesweiter und
regionaler wirtschaftlicher, touristischer und öffentlicher Strukturen:
• Wirtschaftsstrukturen und -förderung in Land und Region,
• Kunst- und Kulturtourismus in Land und Region,
• Regionale Entwicklungsförderung allgemein/für Frauen.
2) Netzwerkmanagement:
• Netzwerk-, Projekt- und Zeitmanagement in der praktischen Anwend-
ung,
200
• Netzwerkübergreifende Fachsymposien,
• Exkursionen zu best-practice-Beispielen.
3) Professionalisierung zum Ausbau von Kompetenzen zum Einbringen kün-
stlerischer Tätigkeiten in regionale Strukturen bzw. Prozesse sowie zur
Präsentation künstlerischer Produkte, u. a.:
• interne und externe Kooperation und Netzwerke,
• Kommunikation in Netzwerken,
• Finanzakquise, Marketing und Vertrieb,
• Kommunikation im Tourismusbetrieb (mit Touristen/Gästen; Hotels
etc.),
• Reise- und Veranstaltungsrecht, Steuern, Versicherungen,
• Werben und Vermitteln/Öffentlichkeitsarbeit und Rhetorik,
• Präsentation eigener künstlerischer Produkte.
B) Entwicklung eines Strategiekonzeptes zur besseren Einbindung der
Potenziale der Künstlerinnen regional und landesweit
Ziel:
Auswertung und Dokumentation der Erfahrungen und Ergebnisse der region-
alen Netzwerkarbeit zur nachhaltigen Etablierung in den Modellregionen, als
Impuls für die Regionalstellen für Gleichstellung und zur Nutzbarmachung in
anderen Regionen.
Umsetzung:
» Analyse der Ausgangssituation in den Regionen zu Beginn der Netzwerk-
arbeit, Darstellung und Auswertung der Prozesse und Ergebnisse sowie
Ableitung von Handlungsempfehlungen für andere Regionen und lan-
desweit,
201
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 8: Zwischen Lebensinhalt und Lebensunterhalt: Evaluation des Projekts „Die Kunst von Kunst zu leben –
Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
» Konzipierung, Planung und Durchführung von zwei landesweiten Fach-
tagungen, auf denen die Erfahrungen und Ergebnisse der regionalen
Netzwerkarbeit zur Einbindung der Potenziale von Künstlerinnen präsen-
tiert und Möglichkeiten der Übertragbarkeit diskutiert werden,
» Ergebnissicherung der Prozessanalysen und Dokmentation der Ta-
gungen.
C) Etablierung eines dauerhaften Angebots für Künstlerinnen in Mecklen-
burg-Vorpommern zur Verbesserung der Teilhabe am Arbeitsmarkt
Ziel:
Schaffung von Strukturen für die Vermittlung von Wissen und Know-How zur
Erlangung beruflicher Selbständigkeit und zur Existenzsicherung.
Umsetzung:
» Finden von Bildungsinstitutionen, mit denen Strategien zur Verstetigung
von Qualifizierungsangeboten für Künstlerinnen sowie ggf. deren Erwei-
terung für die Zielgruppe Künstler entwickelt werden,
» Erarbeitung eines Mentoringprogramms für Künstlerinnen in Zusam-
menarbeit mit dem Referat Existenzgründungen des Ministeriums für
Wirtschaft, Arbeit und Tourismus des Landes Mecklenburg-Vorpommern,
» Prüfung von künftigen Möglichkeiten zur individuellen Beratung von
Künstlerinnen zu allen Fragen ihrer beruflichen Selbständigkeit/Existenz-
sicherung.
202
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Ein Professionalisierungsprojekt für Künstlerinnen in Mecklenburg-Vorpommern“
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204
205
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 9: Musiker als Dienstleister auf einem Markt - Ein Überblick über die Musikerszene in Mecklenburg-Vorpommern
Andreas�Pasternack�/�Tilman�Schubert
Musiker als Dienstleister auf einem Markt - Ein Über-blick über die Musikerszene in Mecklenburg-Vorpom-mern
PASTERNACKB I G B A N D
206
1. Einleitung
Spätestens seit der Mitte des letzten Jahres reißt der Strom schlechter Nach-
richten aus der Wirtschaft nicht ab. Waren es zuerst Finanzinstitute, die von
der Krise erfasst wurden, so hat diese mittlerweile die Realwirtschaft erreicht.
Gemeinhin werden die Begriffe Krise, wirtschaftliche Rezession und Einkom-
mensverluste in direkte Verbindung gebracht. Dies basiert auf dem grundle-
genden Verständnis des ökonomischen Marktprozesses, wonach auf einen
Rückgang der Nachfrage, bedingt durch Kaufzurückhaltung aufgrund von Un-
sicherheit oder gar zu erwartenden Finanzierungsengpässen, eine Rezession
als Ausdruck mangelnden Wachstums folgt.
Dass aber eine konjunkturelle Phase der Stagnation oder des Schrumpfens
zeitlich begrenzt ist und auch Chancen bietet, ist im allgemeinen Verständnis
nicht selbstverständlich verankert. Auch die Grenze zwischen einer Konjunk-
tur- und einer Wachstumsphase wird oft unscharf gezogen.
Aus dieser Situation heraus wird weit verbreitet eine direkte Betroffenheit von
der Krise empfunden, die bei genauerer Betrachtung nicht im selben Um-
fang zutreffend ist. Dennoch ist anzunehmen, dass bestimmte Gruppen der
Gesellschaft die Auswirkungen der Krise direkt in ihren Einkommen spüren.
Naheliegend ist dies für freiberuflich Tätige, deren Einkommen mit geringerer
zeitlicher Verzögerung auf eine Nachfrageänderung reagiert, als das von ab-
hängig Beschäftigten. Wird davon ausgegangen, dass es für die von Freiberuf-
lern erstellten Leistungen eigene Märkte gibt, so muss unterschieden werden,
an welchen Positionen in der Gesellschaft sich diese befinden.
In vorliegender Untersuchung wird daher nach der Abgrenzung des Künstler-
begriffs und des Marktes für musikalische Leistungen ein Bezug zur Praxis her-
gestellt, um einen Eindruck über reale Marktsituation zu vermitteln. Es handelt
sich demnach um eine Beobachtung aus einer eher industrieökonomischen
207
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 9: Musiker als Dienstleister auf einem Markt - Ein Überblick über die Musikerszene in Mecklenburg-Vorpommern
Perspektive zur Erfassung der Wettbewerbsform und deren Eigenschaften.
Einschränkend muss hinzugefügt werden, dass dabei allein auf den Bereich
der Jazzmusik in Mecklenburg-Vorpommern eingegangen wird, um ein räum-
liche klar abgegrenzte Marktsituation abzubilden.
Aus diesem Bild heraus werden Schwachstellen der Angebotsseite herausge-
stellt sowie Chancen für die Entwicklung von Potentialen abgeleitet. Dabei
wird auf den Anspruch der Vollständigkeit verzichtet und vielmehr beispielhaft
auf Beobachtungen eingegangen.
Als Grundlage der Untersuchung dienen eigene Erfahrungen mit freiberuf-
lichen Musikern sowie ein umfassendes Interview mit dem Rostocker Jazz-
Saxophonisten Andreas Pasternack im Mai 2009.
2. Der Musiker im ökonomischen Wettbewerb
2.1�Musikalische�Dienstleistung�als�ökonomisches�Gut
In vorliegender Untersuchung wird der „Musiker“ als Wirtschaftssubjekt ver-
standen, der Anbieter auf einem Markt für instrumentale und nichtinstrumen-
tale musikalische Dienstleistungen ist. Dabei ist es grundsätzlich unerheblich,
welche Formen an Einkommen er generiert, da es stets aus dem Angebot mu-
sikalischer Dienstleistung erzielt wird.
Dazu sieht sich der Musiker unterschiedlichen Nachfragern gegenüber, die
aus verschiedenen miteinander kombinierten Parametern eine „Kaufentschei-
dung“ treffen. So sind beispielsweise die Qualifikation, der Bekanntheitsgrad
und die angebotene Musikrichtung sowie der Preis wichtige Kriterien. Dabei
wird zwischen verschiedenen Leistungen des Musikers unterschieden. Einer-
seits ist es die Erstellung der Dienstleistung in Form eines Konzerts oder einer
Tonträgeraufnahme, andererseits die Lehrtätigkeit zur Weitergabe eigenen
Wissens, die hier im Mittelpunkt stehen und die wohl wichtigsten Leistungen
208
darstellen. Daneben darf die Komposition aber nicht übersehen werden,
wenngleich sie nicht vordergründig erscheint.
Daraus wird deutlich, dass es sich bei „Musik“ als Dienstleistung nicht um ein
homogenes Gut handelt. Vielmehr kommt die Eigenschaft der Vergänglichkeit
und/ oder Einmaligkeit dazu, wenn es sich um ein Konzert oder eine Komposi-
tion handelt, was das Gut nicht austauschbar und nicht reproduzierbar macht.
Hingegen hat das Gut der Lehrtätigkeit von Musikern intuitiv einen eher ho-
mogenen Charakter, da sie prinzipiell von einem anderen Musiker des gleichen
Instruments ausgeübt werden kann und im Rahmen der entsprechenden Insti-
tution standardisiert ist.
2.2�Das�Einkommen�des�Musikers
Wird davon ausgegangen, dass ein Musiker aus grundsätzlich zwei Möglich-
keiten der Einkommenserzielung wählen kann, so hat dies auch direkte Aus-
wirkungen auf sein absolutes Einkommen. Die Wahl besteht zwischen der rein
freiberuflichen Tätigkeit und der abhängigen Beschäftigung. Eine Kombinati-
on aus beiden Einkommensformen ist auch möglich und für die Praxis als gän-
gig anzunehmen. Dies kann mehrere Gründe haben und obliegt nicht allein
der Entscheidung des Musikers, sondern kann durch seine Umwelt beeinflusst
werden. Traditionell ist die Lehrtätigkeit an öffentlichen Einrichtungen an eine
abhängige Beschäftigung gebunden, dagegen das Konzertieren als Solist oder
Ensemble freiberuflich. Eine eigene Branche stellen dabei Orchester u.ä. dar,
die mit öffentlichen Mitteln unterhalten werden und Musikern ein festes An-
stellungsverhältnis bieten.
Die Entscheidung aus welcher Einkommensquelle der überwiegende Teil an
Einkommen erzielt werden soll, richtet sich aus ökonomischer Perspektive
grundsätzlich nach dem erzielbaren Preis für die Dienstleistung. Im Extrem-
209
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 9: Musiker als Dienstleister auf einem Markt - Ein Überblick über die Musikerszene in Mecklenburg-Vorpommern
fall der reinen Freiberuflichkeit geht der Musiker das Risiko ein, in nichtkonti-
nuierlichen Abständen Einnahmen zu erzielen, sieht sich aber kontinuierlich
auftretenden Kosten gegenüber. Die Unsicherheit über eine mögliche zeitliche
Diskrepanz zwischen Einnahmen und Ausgaben führen daher verständlicher-
weise zur Wahl einer sicheren Alternative in Form des abhängigen Beschäfti-
gungsverhältnisses, wenn die Annahme getroffen wird, dass der Musiker risi-
koscheu ist. Dabei ist der Umfang dieses wenigstens in dem Maße attraktiv,
dass die regelmäßig anfallenden Kosten gedeckt werden können.
Kommt es aus Gründen des Risikos zur Kombination von Einkommensquel-
len lässt sich dies als „Einkommensportfolio“ bezeichnen. Ein Teil wird somit
aus der sicheren Alternative erzielt, der andere aus der riskanten. Das Gleich-
gewicht der beiden Einkommensquellen liegt dann in genau dem Punkt aus
sicherer und riskanter Alternative, in dem der risikoscheue Musiker sein Ein-
kommen maximiert.
Entfernt man sich von der Annahme der Risikoaversion hin zur Risikoneutrali-
tät, so lässt sich daraus ableiten, dass mit der erhöhten Risikobereitschaft auch
ein höheres maximales Einkommen erzielt werden kann. Neben den rein pe-
kuniären Eigenschaften des Einkommens existieren aber weitere, die bei der
Wahl der Kombination aus sicherer und riskanter Alternative eine Rolle spielen.
Diese sind aber nicht unbedingt mit rationalem Verhalten in Einklang zu brin-
gen und entziehen sich einer formaltheoretischen Erklärung. Genauer werden
diese Eigenschaften im nächsten Kapitel deutlich, wo die Angebotsseite des
Marktes näher beleuchtet wird.
210
3. Der Markt für Unterhaltungsmusik
3.1�Wettbewerbsformen�und�Motivation�der�Musiker
Der oben vorgenommenen Strukturierung der Branche folgend steht der Markt
für Konzerte im Bereich Unterhaltungsmusik im Mittelpunkt der Betrachtung.
Auf diesem eng abgegrenzten Markt herrschen zwei Formen von Wettbewerb.
Einerseits gibt es auf dem Segment der „einfachen“ Unterhaltungsmusik einen
Mengenwettbewerb, andererseits herrscht im Segment der „anspruchsvollen“
Unterhaltungsmusik ein Qualitätswettbewerb.
Unter dem Begriff der „einfachen“ Unterhaltungsmusik sind dabei diejenigen
Konzerte zusammengefasst, bei denen nicht der oder die Musiker im Mittel-
punkt stehen, sondern allein die Musik. Beispielsweise trifft dies auf Volksfeste
zu, zu denen die Gäste nicht ausschließlich wegen der Musik erscheinen, son-
dern wegen der insgesamt herrschenden Stimmung.
Anders hingegen bei der „anspruchsvollen“ Unterhaltungsmusik. Dabei han-
delt es sich um den gezielten Einsatz von bestimmten Musikern oder Bands,
die zwar auch auf Festen oder ähnlichen Gelegenheiten auftreten, dann aber
auch im Mittelpunkt stehen.
Dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass Musiker der anspruchsvollen Unter-
haltungsmusik nicht auch einfache Unterhaltungsmusik anbieten und umge-
kehrt. Entscheidend für das Verständnis der Marktsituation ist die Existenz der
zwei Wettbewerbsformen.
Es stellt sich nun die Frage, wie sich diese beiden Wettbewerbssituationen he-
rausbilden konnten.
Dazu ist in erster Linie die Zahl von Anbietern zu unterscheiden. Während in
dem Segment der einfachen Unterhaltungsmusik eine Vielzahl von Anbietern
existiert, welche verschiedene Musikrichtungen anbieten, so ist die Anzahl von
211
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 9: Musiker als Dienstleister auf einem Markt - Ein Überblick über die Musikerszene in Mecklenburg-Vorpommern
Anbietern anspruchsvoller Unterhaltungsmusik um ein Vielfaches kleiner. Dies
beruht auf verschiedenen Ursachen. Wie schon dargestellt, handelt es sich um
das Marktsegment mit Qualitätswettbewerb. Um aber die erforderliche Qua-
lität erzielen zu können, muss der Musiker einen – im Vergleich zum unteren
Marktsegment – höheren Aufwand betreiben. Dieser Aufwand ist nicht immer
quantifizierbar und somit schwer zu bewerten, da er mehrere Komponenten
enthält.
Die beiden wichtigsten Bestandteile sind die Akquise von Auftraggebern und
das Üben am Instrument. Diese Bestandteile sind daher so wichtig, weil sie den
fundamentalen Unterschied zum unteren Marktsegment bilden. Ein Anbieter
in diesem Segment wird für gewöhnlich über eine Agentur gebucht und er-
stellt eine Dienstleistung laut Vertrag. Im höheren Marktsegment hingegen
spielen Agenturen auch eine Rolle, allerdings geht in einer Vielzahl von Fällen
auch der Musiker auf potentielle Auftraggeber zu und wirbt mit seiner Popula-
rität. Die individuelle Berühmtheit des Musikers stellt somit ein Qualitätsmerk-
mal dar und spricht ein „Markenbewusstsein“ an.
Aber auch das Können des Musikers steht beim Qualitätswettbewerb im Vor-
dergrund, da sich die Berühmtheit des Künstlers mindestens zu einem Teil da-
rauf begründet. Dies schließt aber nicht aus, dass Musiker des unteren Markt-
segments auch technisch sehr versiert sein können. Es meint vielmehr die
Umsetzung des Zusammenspiels zwischen Können und Popularität, die einan-
der bedingen und zum Erfolg des Musikers in Form entsprechender Aufträge
entscheidend beitragen.
Die Motivation eines Musikers den Aufwand zu betreiben aus rein freiberuf-
licher Tätigkeit sein Einkommen zu erzielen und sich ausschließlich im riskanten
Marktsegment zu bewegen, ist in erster Linie die Erlangung der Selbstverwirk-
lichung und relativer künstlerischer Freiheit. Diese Motive sind im Rahmen von
Modellen, die Quantifizierung verlangen, nicht begründbar. Allgemein lässt
212
sich aber ableiten, dass die unter 2.2 formulierte Einkommensmaximierung
eben nicht allein bewertbaren Größen folgt. Das Erreichen und Erhalten die-
ser relativ freien Lebenssituation ist daher ein nichtpekuniärer Bestandteil des
Einkommens und in seiner Ausprägung abhängig von den individuellen Präfe-
renzen des Musikers.
3.2�Struktur�der�Nachfrageseite
Um die beiden oben definierten Arten von Unterhaltungsmusik anbieten zu
können, muss eine entsprechende Nachfrage existieren, wenngleich auch en-
dogene Effekte von Angebot und Nachfrage zu vermuten sind.
Traditionell wird Musik zur Komplettierung von Festen und Feiern benötigt.
Aber auch in Bars und anderen gastronomischen Einrichtungen wird regelmä-
ßig „Live-Musik“ angeboten, um sich für Gäste attraktiv zu machen. Ein Haupt-
anteil von Unterhaltungsmusik wird von Alleinunterhaltern bestritten, die als
Diskjockey und Playback-Sänger verschiedenste Musikrichtungen bedienen.
Bei Jazzmusik gestaltet sich ein Soloprogramm schwieriger. Es verlangt sehr
viel Können des Musikers, die Zuhörer über einen längeren Zeitraum für sich
zu gewinnen. Daher wird Jazzmusik mindestens im Duett oder Trio angeboten,
um auch genügend Abwechslung zu bieten. Dies setzt aber voraus, dass die
Zuhörer und auch die Auftraggeber entsprechend kulturell gebildet sind, da
Jazzmusik in Mecklenburg-Vorpommern nicht selbstverständlich ist.
Die Umsetzung der Nachfrage nach einfacher Unterhaltungsmusik gestaltet
sich dabei, wie bereits angedeutet, meist über Agenturen. Der nachfragende
Veranstalter beauftragt somit einen Vermittler, der zwischen Veranstalter und
Musiker oder Band eine Geschäftsbeziehung aufbaut. Die Preisfindung richtet
sich nach Erfahrungen aus der Vergangenheit und ist für Anbieter und Nach-
frager eher unflexibel. Im Mittelpunkt der Geschäftsbeziehung steht an dieser
213
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 9: Musiker als Dienstleister auf einem Markt - Ein Überblick über die Musikerszene in Mecklenburg-Vorpommern
Stelle die musikalische Dienstleistung als eher homogenes Gut im Sinne der
Ersetzbarkeit durch andere Musiker oder Bands.
Im Gegensatz dazu wird bei der Nachfrage nach anspruchsvoller Unterhal-
tungsmusik oft eine direkte Verbindung zwischen Veranstalter und Musiker
oder Band eingegangen. Zwar kann diese auch über eine Agentur vermittelt
werden, die Preisfindung findet aber in einer Verhandlung zwischen Anbieter
und Nachfrager statt.
Die Motivation zur Nachfrage von anspruchsvoller Unterhaltungsmusik ist im
Gegensatz zur einfachen Alternative das Können des Musikers und seine Po-
pularität. Somit steht als Produkt neben der Musik auch der Künstler im Mittel-
punkt der Geschäftsbeziehung.
4. Schlussbetrachtungen
Vergleicht man am Ende die beiden Segmente der einfachen und anspruchs-
vollen Unterhaltungsmusik miteinander, so werden einige Unterschiede deut-
lich.
Zum einen wird ersichtlich, dass die einfache Unterhaltungsmusik einem sehr
viel geringeren Werbe- und Akquisitionsaufwand gegenüberstehen, als bei
der anspruchsvollen. Ähnlich kann ein Vergleich zwischen vorrangig abhängig
beschäftigten Musikern und vollkommen freiberuflich tätigen gezogen wer-
den. Je höher der Grad der Freiberuflichkeit, desto mehr Aufwand zur Einkom-
menserzielung muss vorgenommen werden.
Nicht nur die ständige Verbesserung der musikalischen Fähigkeiten, sondern
auch die Auseinandersetzung mit der Geschäftsumwelt zum Erhalt des Be-
kanntheitsgrades ist zu berücksichtigen. Dies beinhaltet auch die kaufmän-
nischen Fähigkeiten von Musikern, die oftmals allein auf eigenen Erfahrungen
beruhen. Dort besteht für die freiberufliche Musikszene in Mecklenburg-Vor-
214
pommern ein Entwicklungspotential, um ein erreichtes Qualitätsniveau halten
und steigern zu können. Aber auch ein Teil derjenigen Musiker, die überwie-
gend abhängig beschäftigt sind, können durch Verbesserung ihrer kaufmän-
nischen Fähigkeiten den Anreiz gesetzt bekommen, den Schritt in die Freibe-
ruflichkeit zu wagen und somit der künstlerischen Selbstverwirklichung näher
zu kommen. Bis heute gibt es keine oder sehr wenige Angebote für Künstler,
sich in der Selbstvermarktung weiterzubilden. Denn im Unterschied zu einem
Handel treibenden Unternehmen, steht hier der Mensch als Teil seines Pro-
dukts im Vordergrund und muss entsprechend berücksichtigt werden.
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 9: Musiker als Dienstleister auf einem Markt - Ein Überblick über die Musikerszene in Mecklenburg-Vorpommern
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 10: Chancen und Umsetzung von Kultur-Konzepten in regionalen Räumen - Das Beispiel der Schwaaner Kunstmühle
Heiko�Brunner
Chancen und Umsetzung von Kultur-Konzepten in re-gionalen Räumen - Das Beispiel der Schwaaner Kunst-mühle
218
Entstehung und Geschichte der Kunstmühle Schwaan
Schwaans renommiertes Kunstmuseum befindet sich in einer alten Wasser-
mühle des Ortes, nur unweit von der Hansestadt Rostock entfernt. Es stellt
eines der ältesten, ortsansässigen Gebäude dar und ist eines der wenigen Häu-
ser, die den großen Stadtbrand überstanden haben. Das Haus selbst ist um
1790 als Großherzogliche Mühle errichtet worden, die dann 1850 an die Stadt
Schwaan für eine stolze Summe verkauft wurde. Seither, auch durch die DDR-
Zeit hinweg, ist die Stadt Schwaan Besitzer dieser regionalen-kulturell Liegen-
schaft.
Das letzte Getreide wurde um 1985 verarbeitet, danach stand das Gebäude
leer und wurde nur noch als Abstellmöglichkeit für einen Landwirtschaftsbe-
trieb genutzt. Die im Mühlengebäude vorhandenen Wohnungen waren je-
doch noch bis vor 10 Jahren belegt. Mit der Wende kamen neue Ideen, Innova-
tionen und Konzepte sowie gleichzeitig die Besinnung auf alte Traditionen und
damit verbundene neue Potenziale. Hierbei war für den zukünftigen Erfolg der
Schwaaner Kunstmühle das Landesmuseum Schwerin eine große Hilfe, denn
1992 richtete dieses eine Jubiläumsausstellung aus, damals unter dem Titel
„100 Jahre Künstlerkolonie Schwaan“. Nach neuesten Recherchen weiß man
allerdings, dass es die Kolonie schon einige Jahre früher gegeben hat und so-
mit einige künstlerische Errungenschaften mehr im Hinblick auf diese Zeit zu
vermuten sind.
Bereits 10 Jahre vor der Eröffnung des Museums im Jahre 2002 wurde bereits
eine erste Ausstellung von „Schwaaner Kunstwerken“ gezeigt. Die Künst-
lerkolonie kannte zu diesem Zeitpunkt kaum noch ein Schwaaner. Mit der
Schweriner Unterstützung und einigen Enthusiasten wurden damals weiterhin
alljährlich im Sommer Ausstellungen zu bekannten Schwaaner Malern organi-
siert. Mangels Ausstellungsmöglichkeiten wurde zunächst der Sitzungsraum
219
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 10: Chancen und Umsetzung von Kultur-Konzepten in regionalen Räumen - Das Beispiel der Schwaaner Kunstmühle
der Stadtvertretung quasi kulturell zweckendfremdet. Unterschiedlichste
künstlerische Thematiken sollten die Bedeutung der ehrwürdigen Künstler-
kolonie in Schwaan, in Mecklenburg-Vorpommern und auch national wieder
bewusster machen. Die ersten Besucher kamen dann vermehrt aus dem Ort
selbst, aber schon bald reisten erste kunstinteressierte aus der näheren und
weiteren Umgebung zu den Ausstellungen an, hierbei kam es sogar zu ersten
Kaufangeboten und der anfängliche Bestand von nur zehn Bildern entwickelte
sich zunehmend. Es begann der Aufbau einer städtischen Sammlung. Durch
die Förderinstrumente des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern wurde
es möglich, einige interessante Stücke für die Sammlung neu zu erwerben, zu-
mal die Künstlerkolonie Schwaan noch nicht allzu stark bekannt war und so
wechselte manches Gemälde den Besitzer zu einem Preis, von dem wir heute
nur noch träumen können. Die gesammelten Bestände wollten gepflegt wer-
den und konnten zunächst nicht ständig in der Öffentlichkeit präsent sein. Er-
ste Leihanfragen nach dem „Newcomer Künstlerkolonie Schwaan“ kamen von
anderen Museen und es reifte die Idee nach ständigen Ausstellungsräumen,
was die zwingende Frage nach dafür notwendigen Mitteln zur Finanzierung
mit einher brachte. Viele Projekte und die damit verbundenen Finanzierungs-
modelle wurden zunächst verworfen. Eine Studie zur Wassermühle sah in
diesem Zusammenhang dann im zweiten Obergeschoss zwei kleine Ausstel-
lungsräume vor, unten sollte die Verwaltung der Stadt und eine Gaststätte
Platz finden. Das wäre aufgrund zu geringer Präsentationsflächen das Ende
der Ausstellungen gewesen. Gespräche mit dem Landesmuseum Schwerin
und der Landesregierung waren deshalb die Folge. Schließlich unterstützte die
künstlerische Landeseinrichtung das Bestreben nach einem eigenen Schwaa-
ner Museum, vielleicht auch nicht ganz ohne Eigennutz. Auch das Ministeri-
um hatte in der Folge nun ein offeneres Ohr für das Anliegen. Zahlreiche Ge-
spräche folgten, um letztlich auch noch die Stadtvertreter selbst von dieser
220
Idee zu überzeugen, denn ohne einen umfassenden politischen Willen, so ein
Projekt auf die Beine zu stellen, wären die Bestrebungen im Sande verlaufen.
Der damalige Kultusminister, Herr Professor Kaufhold, machte sich in der
Folge auf den Weg nach Schwaan und ließ sich schließlich von dem umfas-
senden Konzept hinsichtlich der Wassermühle überzeugen. Inzwischen wa-
ren aus den beiden kleinen Ausstellungsräumen drei Etagen zur Darstellung
der Werke der Künstlerkolonie geworden. Ein sehr ehrgeiziges Vorhaben, das
rückwirkend betrachtet nur durch entsprechende Fördermittel und das zivil-
gesellschaftliche bzw. regional-kulturelle Engagement zahlreicher Menschen
zu bewältigen war. Der Fonds „Kultur in den neuen Ländern“ stellte in diesem
Zusammenhang einen Grundbaustein für ein solides Finanzierungsgerüst dar.
Für die städtische Finanzierung standen zudem Gelder aus Städtebauförder-
mitteln zur Verfügung. Das Gesamtinvestitionsvolumen für die Sanierung des
Gebäudes betrug letzten Endes ca. zwei Millionen Euro. Aufgrund der überre-
gionalen Ausstrahlungskraft des Hauses und seiner (inter)nationalen künstle-
rischen Bedeutung für das Land Mecklenburg-Vorpommern wurde der Umbau
zu dreiviertel aus Bundes- bzw. Landesmitteln finanziert. Nach nur einem Jahr
Bauzeit konnte das Kunstmuseum am 26. Oktober 2002 seine Pforten öffnen
und somit endlich eine Anlaufstelle für mecklenburgische Kunst für die Kunst-
und Kulturinteressierte aus aller Welt werden.
Heutige Situation des Museums
Aktuell stehen dem Museum drei Ausstellungsetagen mit einer Gesamtaus-
stellungsfläche von 600 m² sowie verschiedene Depot- und Atelierräume zur
Verfügung. Die Bildersammlung hat sich mittlerweile auf über 80 Werke zur
Malerei in Mecklenburg und zahlreichen Grafiken erhöht. Nur dadurch war es
zum Beispiel möglich zeitgleich eine ansehnliche Ausstellung in Ahrenshoop,
221
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 10: Chancen und Umsetzung von Kultur-Konzepten in regionalen Räumen - Das Beispiel der Schwaaner Kunstmühle
ebenfalls eine der ehemals sehr renommierten Künstlerkolonien in Mecklen-
burg-Vorpommern, zu zeigen, ohne in Schwaan auf die Qualität der Daueraus-
stellung verzichten zu müssen. Große Museen des Landes ergänzen zudem
die Ausstellungen und private Leihgeber haben den Vorteil einer öffentlichen
Präsentation ihrer Sammlungen erkannt und honorieren dies mit langfristigen
Leihgaben. Die anfängliche Vorstellung der Architekten, das Haus mit der
Ausstellung für die nächsten Jahre gleichbleibend zu gestalten, wurde bald
verworfen. Längst gehören nun zwei bis drei Sonderausstellungen im Jahr
zum Alltag des Museums. Wissenschaftliche Arbeiten zur mecklenburgischen
Künstlerkolonie begleiten die Ausstellungstätigkeit nachhaltig. Der zudem
mittlerweile sehr hohe Sicherheitsstandard unterstreicht die Akzeptanz und
Wichtigkeit des Kunstmuseums in der Kunstszene Deutschlands.
Die Künstlerkolonien Ahrenshoop und Schwaan
In den Nachschlagewerken werden Künstlerkolonien als Arbeitsgemein-
schaften gleichgesinnter Künstler beschrieben, die sich oft an einem länd-
lichen Ort, meist in der Nähe größerer Städte, niederließen. Die Herausbil-
dung solcher Gemeinschaften war im 19. und 20. Jahrhundert im gesamten
europäischen Raum zu beobachten. Vorwiegend junge Künstler fanden sich
zusammen, um sich gegen die starren Regeln der Akademien aufzulehnen
und wendeten sich dem Studium der Natur und der direkten Anschauung zu.
Mit der Flucht ins Ländliche begegnete man der zunehmenden Industriali-
sierung, Anonymität und Hektik in den großen Städten. Auf dem Lande war
es möglich, der Natur nahe zu sein, in Ruhe und Abgeschiedenheit, frei von
Zwängen, den künstlerischen Neigungen nachzugehen. Mit Gründung der eu-
ropäischen Künstlerkolonien in der Folge der Schule von Barbizon, südlich von
Paris, sollte sich auch in Mecklenburg um 1880/85 eine durchaus vergleich-
222
bare Gemeinschaft von Malern zusammenfinden. Die kleine Ackerbürgerstadt
Schwaan war zweifelsohne wegen ihrer reizvollen, vielgestaltigen Motive für
die Freilicht-Malerei besonders geeignet. So wurden Schwaans Stadtsilhouet-
te mit kompaktem Kirchturm, von den Beke-Wiesen und dem Waldrand des
Lindenbruchs gesehen, Stege und Brücken über der Beke, parkähnliche Baum-
gruppen oder der einsam am Stadtrand befindliche Judenfriedhof beliebte
Studienobjekte. Vom gestaltenden Auge erst einmal entdeckt, bot Schwaans
Umgebung unendliche Anregungen für das Malen vor und mit der Natur.
Die Schwaaner Künstlerkolonie wies, im Vergleich zu anderen Kolonien in
Europa, jedoch eine Besonderheit auf. Hier, in diesem verträumten mecklen-
burgischen Städtchen wurde das künstlerische Schaffen besonders durch
einheimische Maler geprägt. So bildeten die gebürtigen Schwaaner Franz
Bunke (1857-1939), Rudolf Bartels (1872-1943) und Peter Paul Draewing
(1876-1940) mir dem Hamburger Alfred Heinsohn (1875-1927) die Hauptsäu-
len der einzigen Künstlerkolonie Mecklenburgs. Alle vier Künstler erhielten
ihre Ausbildung an der Weimarer Malerschule bei Theodor Hagen. Die dor-
tigen modernen Lehrmethoden begründeten die Ausbildung individueller
Künstlerpersönlichkeiten, wie an den Werken von Bunke, Bartels, Heinsohn
und Draewing veranschaulicht wird. Während der Weimarer Malerprofessor
Franz Bunke der Freilichtmalerei in Mecklenburg zum Durchbruch verhalf, nä-
herten sich Rudolf Bartels und Alfred Heinsohn in ihren Arbeiten zunehmend
der modernen abstrakten Malerei. Bartels gilt heute als der herausragendste
Maler Mecklenburgs in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Künstlerfeste, wie sie aus anderen Kolonien bekannt sind, wurden in Schwaan
nicht in dem Ausmaß unternommen. Die Maler trafen sich dennoch häufig in
geselliger Runde im Hotel Drewes. Zahlreiche gemeinsame Ausflüge führten
die Künstler in die Rostocker Heide, an die Ostsee und sogar bis auf das Fisch-
land, nach Ahrenshoop, zur einzigen Künstlerkolonie Vorpommerns. Einflüsse
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 10: Chancen und Umsetzung von Kultur-Konzepten in regionalen Räumen - Das Beispiel der Schwaaner Kunstmühle
aus Ahrenshoop auf die Schwaaner Kolonie gab es aber nicht, wenngleich Mo-
tive der Schwaaner Maler aus Ahrenshoop bekannt sind und der Ahrenshoo-
per Paul Müller-Kaempff einige Male zu Besuchen in Schwaan war. Seit kurzem
ist uns jedoch bekannt, dass die beiden führenden Köpfe der beiden Künstler-
kolonien in verschiedenen Gremien zusammengearbeitet haben.
Neue Ausdrucksformen der Schwaaner Malerei zeigten sich durch Verinnerli-
chung der Natur und in der Wahl bestimmter Motive und Bildausschnitte. Der
Mensch spielte im Bild nicht mehr die dominierende Rolle, er war häufig nur
noch Staffage in der Landschaft, auf seine Einordnung wurde später sogar ganz
verzichtet. Die Maler bevorzugten tonige Lokalfarben und versuchten, den un-
mittelbaren Eindruck unter Einbeziehung des natürlichen Lichtes zu erfassen.
Sie betrachteten die vor der Natur entstandenen Arbeiten als abgeschlossene
Kompositionen. Diese unkonventionelle Sicht auf die Dinge führte vom Realis-
mus zur Freilichtmalerei oder auch zum Impressionismus und bahnte letztlich
der Moderne den Weg.
Der 1. Weltkrieg brachte dann einen tiefen Einschnitt in das Schaffen der
Schwaaner Maler. Draewing, Bartels und Heinsohn wurden eingezogen und
verließen die heimatliche Kleinstadt. Wenngleich sich die Malerkolonie nicht
vollends auflöste, waren die fruchtbaren Jahre beendet. Franz Bunke fühlte
sich auch weiterhin seiner Heimatstadt verbunden und kam bis zu seinem
Tode regelmäßig nach Schwaan, allein oder mit Schülern. Zu ihnen zählen
untern anderem die ausgezeichneten Schweriner Landschafter Erich Venzmer
(1893-1975) und Wilhelm Facklam (1893-1972). Nach Franz Bunkes Tod und
dem Ausbruch des 2. Weltkrieges siedelten sich jahrzehntelang keine Maler in
Schwaan an. Die Künstlerkolonie geriet zunehmend in Vergessenheit, das Werk
ihrer einstigen Vertreter blieb jedoch herausragend für die Kunst im norddeut-
schen Raum.
Das größte Verdienst der ersten Freilichtmaler in den Kolonien Schwaan und
224
Ahrenshoop ist bis heute unbestritten, die herbe Schönheit und Eigenart Me-
cklenburgs und Vorpommerns eindrucksvoll auf ihren Leinwänden festgehal-
ten zu haben. Sie erinnern uns damit stets an die Erhaltung dieser für die Men-
schen hier so wichtigen Naturvielfalt.
Doch warum haben die Menschen in der Region nach dem zweiten Weltkrieg
so wenig Notiz von der einst in der Kunstwelt so beachteten Kolonie genom-
men? Mit dem Tod Bunkes verlor die Kolonie eine tragende Persönlichkeit, der
Krieg brach aus und Angst und Sorge um das eigene Leben dominierten den
Alltag. Flüchtlinge kamen und gingen oder blieben in Schwaan ohne einen
Bezug zur künstlerischen Geschichte des Ortes. Andere flohen aus der an-
gestammten Heimat und nahmen ihre Bilder und Erinnerungen mit. Für die
landwirtschaftlich geprägte Region war die Landschaftsmalerei dann zuneh-
mend zu uninteressant, Urlauber gab es kaum, die nach kulturellen Angeboten
Ausschau hielten. Die Kolonie versank somit in einen fünfzigjährigen „Dorn-
röschenschlaf“ und wurde in der Bevölkerung lange Zeit nicht oder nur kaum
wahrgenommen.
Anders die vielen weiteren Museen im Land Mecklenburg-Vorpommern, sie
sammelten und bewahrten die Werke in dieser Zeit, wenn auch nur mit be-
scheidenen Mitteln.
Mit der Wiedervereinigung Deutschlands öffnete sich dann auch ein bisher
nicht zugänglicher Kunstmarkt. Die Neugier auf beiden Seiten war groß. Erste
Publikationen erschienen und die Schwaaner Künstlerkolonie wurde in einer
Untersuchung des Germanischen Museums in Nürnberg mit 36 anderen Ma-
lervereinigungen in Europa beschrieben und erregte so große Aufmerksam-
keit bei den Kunstkennern. Noch heute, also im siebten Jahr des Bestehens
der Einrichtung, gibt es immer noch viele Schwaaner bzw. Mecklenburger, die
das Haus, die Werke und die Maler der Kolonie nicht kennen und lieber ein
Heimatmuseum gesehen hätten, als ein Kunstmuseum. Da ist es durchaus ver-
225
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 10: Chancen und Umsetzung von Kultur-Konzepten in regionalen Räumen - Das Beispiel der Schwaaner Kunstmühle
wunderlich, aber ein wahrer Segen, dass die Künstlerkolonie in den USA, an
der Universität in Atlanta wissenschaftlich enorm wertgeschätzt wird. Die ame-
rikanischen Kollegen haben nämlich vor Kurzem die 14 für sie interessantesten
Künstlerorte aus Europa in einer Ausstellung vorgestellt und das kleine Städt-
chen Schwaan nach einer Begutachtung vor Ort mit in diese global orientierte
Vorstellung mit einbezogen.
Ökonomischer Optimierungsprozess und nachhaltige Weiterentwicklung
Nach der erfolgreichen Eröffnung des Museums im Jahre 2002 musste die
Einrichtung stetig einem Optimierungsprozess und einer Weiterentwicklung
unterzogen werden. Eine Neugründung sowie der Entwicklungsprozess eines
Museums im Sinne eines „Kulturunternehmens“ sind dabei immer mit Schwie-
rigkeiten, aber auch Chancen verbunden, man kann auf keine Erfahrungen
zurückgreifen und einen Leitfaden für Museen oder eine adäquate Gebrauchs-
anweisung gibt es kaum. Es gilt also Ideen zu entwickeln und umzusetzen,
sowie das Museum immer wieder neu mit Leben zu füllen. Zunächst muss
hierbei der operative Alltag bewältigt und ein stetig automatisierter Ablauf
gefunden werden. Geschultes Fachpersonal stand anfangs für diese Aufgabe
nicht zur Verfügung, denn alles was Kosten verursachte, war nicht realisierbar.
Und so sollte das Haus zunächst, neben dem Leiter der Einrichtung nur mit
Mitarbeitern vom „Zweiten Arbeitsmarkt“ auskommen. Es begann eine recht
abenteuerlich anmutende Entwicklung des Museums, denn bei der Planung
wurden zunächst quasi nur die baulichen Dinge betrachtet und alles was für
den eigentlichen Betrieb der Einrichtung notwendig ist, war nicht Gegenstand
der Konzeptionen. In der Folge war deshalb das Umdenken von einem verwal-
tungstechnischen Herangehen, basierend auf dem anfänglichen staatlichen
Förderhintergrund des Museums, in ein betriebswirtschaftliches Planen von
226
Prozessen eines eigenständigen „Unternehmens“ absolut notwendig. Ein Exi-
stenzgründerseminar wäre hierbei sicherlich enorm hilfreich gewesen.
Zu den zu bewältigenden ökonomischen Abläufen gehören seit der Gründung
der Schwaaner Kunstmühle so profane Dinge wie Öffnungszeiten, also an wel-
chen Tagen, wie lange Besucher das Museum besuchen können, Öffentlich-
keitsarbeit und Werbung, also das Erstellen von Flyern, Postkarten, Poster, etc.
(Inhalte, Distributionskanäle, Personal zur Verteilung), die Darstellung der Ein-
richtung nach außen oder die dringend notwendige Medienpräsenz in der regi-
onalen und überregionalen Presse, die Konzeptionierung von Serviceangebo-
ten, wie zum Beispiel thematische Führungen oder Gruppenrabatte sowie die
Vernetzung und das Bekanntmachen mit / in anderen Museen und mit / in der
Kulturszene, wobei dieses durch die Mitgliedschaft in verschiedenen Organisa-
tionen und Vereinen, nicht nur in Mecklenburg Vorpommern sehr erfolgreich
gelang. International unterstützte die Organisation der Europäischen Künstler-
kolonien EUROART das Bestreben nach Aufmerksamkeit und die Zusammen-
arbeit mit anderen Museen wurde ausgebaut, denn nur im Verbund kann dem
potenziellen Besucher kulturelle Vielfalt verstärkt näher gebracht werden.
Selbst die Namensfindung und das Kreieren des Logos gehören in die Rubrik
der umfassenden Organisation. Mit dem Namen „Kunstmühle“ sollte ein Be-
griff geprägt werden, unter dem sich das Kunstmuseum wieder finden kann.
Vielleicht waren wir vor sieben Jahren zu zurückhaltend, denn der Begriff
„Kunstmuseum“ hätte den Umfang und die Inhalte der Ausstellungen wohl
noch klarer nach außen postuliert. Hier trifft jedoch eine alte Redensart zu: Be-
scheidenheit ist eine Zier! Jedoch ökonomisch gesehen und im Wettbewerb
stehend mit vielen anderen kulturellen Highlights des Landes ist die Heraus-
stellung von Alleinstellungsmerkmalen weiterhin von signifikanter Wichtigkeit
für den Erfolg des Museums.
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 10: Chancen und Umsetzung von Kultur-Konzepten in regionalen Räumen - Das Beispiel der Schwaaner Kunstmühle
Stärken und Schwächen des Entwicklungsprozess
Stellt man nun eine Gegenüberstellung von Stärken und Schwächen des Ent-
wicklungsprozesses bis heute auf, so ist ein leichter Ausschlag auf der Positiv-
Seite festzustellen. Es gab eine große Erwartungshaltung dem Museum ge-
genüber und das bei leeren Kassen. Zusätzliche Mittel waren nicht in Aussicht
und das Verwaltungsdenken erschwerte die Arbeit. Es ist in den Verwaltungs-
vorschriften nicht vorgesehen, Geld für Werbung auszugeben. Wenn auch in
der Stadtverwaltung etwas Verständnis da war, so ist an höherer Stelle keine
wirkliche Akzeptanz vorherrschend gewesen. Allein die für ein Kunstmuseum
notwendige Klimaanlage scheiterte bei dem ersten Versuch der Förderung.
Mit dem Argument „Das ist Luxus und der wird nicht gefördert!“ wurde diese
technische Einrichtung zunächst abgelehnt. Erst nach genauer Begründung
und der Unterstützung des Landesmuseums wurde sie bewilligt. Heute ver-
fügt das Museum wie bereits erwähnt über gute klimatische Bedingungen
und einen hohen Sicherheitsstandard. Ein ähnliches Dilemma war anfänglich
die Internetpräsenz des Museums. Auf die Frage nach einer eigenen Home-
page kam die Antwort: „Wer Informationen zum Museum haben möchte, kann
sich auf der Seite der Verwaltung durchklicken!“. Wie man mittlerweile im In-
ternet feststellen kann, ist auch diese Hürde erfolgreich genommen worden.
Als ein besonders positiver Effekt, der die Schwächen bzw. Rückschläge über-
deckt, konnte stets die Sicherheit, dass das Museum eine öffentliche Einrich-
tung ist, empfunden werden. Sicherlich sind in vielen Dingen oft alte, ver-
staubte und überkommende Ansichten zu überwinden, aber es war nie ein
übertriebener Erfolgsdruck in Form von gewinnorientiertem Denken da und
das Museum konnte reifen und sich über eine qualitativ gute Arbeit eine re-
nommierte Stellung erarbeiten. Die hochwertige Ausstattung wurde glückli-
cherweise nicht dem Rotstift geopfert und so präsentiert sich das Haus heute
228
in einem eigenen, charmanten Flair in der Ambivalenz zwischen Tradition und
Moderne.
Probleme der Akquise von finanziellen Mitteln und Informationen
Was nützen die besten Ideen, wenn kein Geld da ist. Zusätzliche finanzielle Mit-
tel wurden in der staatlich geförderten Entstehungs- und Entwicklungsphase
nicht bereitgestellt mit dem Verweis auf die bereits hohen Sanierungskosten
des Bauwerkes. Ohne diese Mittel kann sich ein neues Museum aber langfristig
nicht nachhaltig entwickeln und auch am Kunst-Markt orientieren. Das Ent-
wicklungspotential für die Region ist dabei bis heute noch längst nicht von
allen erkannt worden. Es geht hier nicht um die Spielerei eines Einzelnen. Wir
sprechen hier von der einzigen mecklenburgischen Künstlerkolonie und der
wahrscheinlich ältesten Künstlervereinigung in ganz Norddeutschland. In der
Fachpresse zur damaligen Zeit sicherlich zu Recht und in Anlehnung an die be-
rühmte niedersächsische Künstlerkolonie als „das Worpswede Mecklenburgs“
bezeichnet. Zu Beginn der Ausstellungstätigkeit traute man dem ländlichen
Bereich sicherlich kein Kunstmuseum zu, allenfalls ein Heimatmuseum mit re-
gional begrenzten Künstlern. Und so staunten und staunen die Besucher noch
heute über die herausragende Qualität der ausgestellten Werke. Es setzte ein
Umdenkprozess ein und das besonders im privaten Bereich, der bis heute
andauert. Zahlreiche Leihgaben bereichern die Ausstellung um so manches
Stück. Inzwischen kann die umfangreichste Sammlung zu Franz Bunke und
Rudolf Bartels gezeigt werden. Ein Werkverzeichnis zu Bunkes Schaffen ist im
letzten Jahr erschienen und die Ergänzung zum Schaffen von Rudolf Bartels
wird folgen.
Diese Zusammenarbeit und der Austausch von Informationen sind aber erst in
den letzten drei Jahren entstanden. Zur Eröffnung des Museums sah das ganz
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 10: Chancen und Umsetzung von Kultur-Konzepten in regionalen Räumen - Das Beispiel der Schwaaner Kunstmühle
anders aus. Gerade die Einrichtungen, die nicht aus unserem Bundesland sind,
tun sich mit neuen Einrichtungen sehr schwer. Es gilt also sich einen guten Ruf
zu erarbeiten, der dann wieder zu mehr Informationen führt.
Hierzu�ein�kurzes�Beispiel:
Der pommersche Maler Otto Tarnogrocki hatte in Schwaan mit Bunke, Bartels
und Heinsohn zusammen gearbeitet. Die Geschichte zu seinem Schaffen und
sein Lebensweg waren bis vor wenigen Monaten noch vollkommen unbe-
kannt. Unsere Nachforschungen haben etwas Licht in das Dunkel gebracht.
Bisher waren nur drei Werke bekannt und der Hinweis, dass Tarnogrocki auch
in Paris bei den großen französischen Impressionisten gearbeitet hatte. Nun
stellte das Pommersche Landesmuseum fest, dass es mit der Übernahme der
Pommerschen Sammlung aus Kiel allein 18 Arbeiten dieses Künstlers erhalten
hatte. Die Verwunderung war dann groß, als wir mit fundierten Informationen
zum Leben und Schaffen dieses Künstlers aufwarten konnten: Ein Künstler, der
in seiner Zeit Herausragendes geleistet hat, aber durch die Kriegswirren in Ver-
gessenheit geraten war.
Kontroverse zwischen öffentlichen Mitteln und privatisierter Kunst und
Kultur
Kommen wir nun zu der Frage privatisieren ja oder nein. Dazu möchte ich ein
klares NEIN zur Privatisierung vorwegnehmen, wenngleich die Möglichkeit al-
les aus öffentlichen Mitteln zu bestreiten auch nicht dem „Ei des Kolumbus“
entspricht.
Das Wort „Privatisieren“ leitet sich von dem Lateinischen Wort privare ab und
das bedeutet entziehen, entreißen, berauben. Der Öffentlichkeit wird also
Kunst entrissen, sie wird dem öffentlichen Zugriff entzogen. Berauben wir uns
230
also damit der Kunst? Sicherlich ist das nicht so einfach in einer Schwarz-Weiß-
Malerei zu betrachten. Es gibt ein Für und Wider.
Für viele ist der private Kunstbesitz, sei es nun als Person oder als Einrichtung,
vielfach nur eine Handelsware. Das kann sehr gut an folgendem Exempel dar-
gestellt werden:
In unserer Ausstellung wird auch der Hamburger Maler Alfred Heinsohn als eine
der Hauptsäulen der Schwaaner Künstlerkolonie vorgestellt. Seine Werke sind
zu 90% in privatem Besitz und so auch ein Motiv von einem Herbstwald, eines
seiner zentralen Werke. Wir hatten einen langfristigen Vertrag geschlossen und
haben uns darin eine Option zum Ankauf gesichert, mit der Bitte Verkaufsab-
sichten rechtzeitig mitzuteilen. Die öffentliche Hand brauchte eine Vorlaufzeit
von etwa 6 – 12 Monaten für die Bereitstellung der Mittel in diesem Ausmaß.
Der Eigentümer des Bildes bekam von einem Kunstsammler ein Kaufangebot,
bei dem wir zeitlich und finanziell nicht mithalten konnten. Das Werk wurde an
den Sammler verkauft und steht nicht mehr für die Ausstellung zur Verfügung.
Das Schaffen des Künstlers kann somit leider nur lückenhaft gezeigt werden.
Einige Kunstsammler möchten die Museen zur Wertsteigerung ihrer Sammel-
objekte mit geeigneten Ausstellungen nutzen. Hier den richtigen Weg zu fin-
den ist immer eine Gradwanderung zwischen Kunst und Kommerz.
Der Vorteil in einer öffentlichen Einrichtung liegt dabei in der Aufgabe der
Museen begründet. Forschen – Bewahren – Ausstellen! Es gibt wenig Streben
nach medienwirksamen Interessen, wobei sich sicherlich ein Museologe oder
ein Kunstwissenschaftler nicht auch über bahnbrechende Entdeckungen freut.
Die Geschichtsaufarbeitung liegt im öffentlichen Interesse und sollte auch als
ein solches betrachtet werden.
Bislang ist die Kunst und Kultur in den Kommunen eine der freiwilligen Aufga-
ben. Und wie alles Freiwillige unterliegt dies als erstes bei Sparzwängen dem
Rotstift. Das kulturelle Erbe sollte jedoch von allen Bürgerinnen und Bürgern
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 10: Chancen und Umsetzung von Kultur-Konzepten in regionalen Räumen - Das Beispiel der Schwaaner Kunstmühle
als Pflichtaufgabe übernommen werden, um den Generationen nach uns eine
aufgearbeitete Geschichte überlassen zu können.
In Schwaan ist die Aufarbeitung der Künstlerkolonie quasi nur durch öffent-
liche Einrichtungen geschehen. Ich bin der Meinung, dass dieses von privater
Hand nicht hätte geleistet werden können. Idealisten gibt es dazu leider zu
wenig!
Die Landschaftsmalerei der Schwaaner Kolonie ist von der Schönheit der Natur
und den leisen Tönen geprägt. Kunst wird heute dagegen oftmals nur als Event
wahrgenommen. Ein bloßes Betrachten reicht nicht mehr aus, alles muss in
Szene gesetzt werden, denn nur wer laut ist, bekommt Aufmerksamkeit, wer
sich richtig vermarktet, wird bemerkt. Die Medienwirksamkeit wird zu stark
betont.
Dazu�ein�weiteres�Beispiel:
Im Januar 2003 wurde der Versuch unternommen, das Kunstmuseum bei
einem Privatsender im Radio vorzustellen. Der Reporter am anderen Ende des
Telefons sagte: „Ja wenn bei Ihnen randaliert wird und die Bilder werden be-
schädigt oder ein großer Kunstraub ist passiert, dann können wir gern mal was
machen, das wollen unsere Hörer!“.
Inzwischen gab es einige Radioberichte über die Kolonie, die aber nicht von pri-
vaten Sendern, sondern beim NDR, also wieder einer öffentlichen Einrichtung.
Die staatlichen Träger haben einen weiteren entscheidenden Vorteil, nämlich
sich auch mit kleineren Projekten zu befassen und damit die ganze Bandbreite
in der Kunst- und Kulturszene zu beleuchten. Sie sind keinen finanzkräftigen
Mäzenen verpflichtet. Doch leider stehen nicht genügend öffentliche Mittel
zur Verfügung und so erscheint eben doch die Sensibilisierung und Motivati-
on auch von privatwirtschaftlichen Entscheidungsträgern der Region als ein
232
enorm hilfreiches Mittel, um die Kunst und Kultur möglichst breitflächig am
Leben zu halten.
Das Projekt „X-POSITIONEN“ als Verbindung von Kunst und Wirtschaft
Als der richtige bzw. notwendige Weg für erfolgreiche Kulturunternehmen
erscheinen also die tief greifende Zusammenarbeit und thematische Koope-
rationen von öffentlichen Einrichtungen mit vor allem in der Nähe ansässigen
Unternehmen hervorzustechen, all das zugunsten der Arbeiten der Künstle-
rinnen und Künstler. Diesen Weg hat das Kunstmuseum mit einer Ausstellung
im vergangenen Jahr erfolgreich versucht zu beschreiten:
Im August 2007 gab es ein gemeinsames Kunstprojekt unter dem Titel „X PO-
SITIONEN“, initiiert von sieben in Mecklenburg-Vorpommern lebenden Künst-
lerinnen verschiedener Genres. Die Kunstmühle Schwaan mit ihrem an der
Warnow und Beke gelegenen Freiraum bot das Gelände und wurde Ort der
Kunstproduktion, der Kunstpräsentation und der Kunstvermittlung. Knapp
100 Jahre nach der Blütezeit der Schwaaner Kolonie arbeitete eine Künstlerin-
nengruppe also wieder vor Ort, inspiriert durch die Natur und das gesellschaft-
liche Umfeld.
„X POSITIONEN“ hat die Fragen zur Verständigung und Annäherung aufge-
worfen. Die einzelnen Konzepte der Künstlerinnen sind von unterschiedlichen
Erfahrungen, Sicht- und Ausdrucksweisen geprägt, die in einem künstlerisch
kooperativen Dialog des Miteinanders präsentiert wurden.
Der eigens in diesem Zusammenhang für die Kunstmühle konzipierte Kunst-
pfad wurde durch die Möglichkeit zur Betrachtung, zum Mitmachen und zum
Anfassen für Besucherinnen und Besucher jeden Alters zu einem begehbaren
Erlebnis. Malerei, Objekt, Lyrik, Textilgestaltung, Performance und Installation
waren in ihrer wechselseitigen Akzeptanz und Inspiration die zu entdeckenden
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 10: Chancen und Umsetzung von Kultur-Konzepten in regionalen Räumen - Das Beispiel der Schwaaner Kunstmühle
Ausdrucksformen.
Politisch existentielle Themen wie Umwelt, Bildung und Kultur wurden von
den Künstlerinnen an einem lebendigen Kunstort bearbeitet.
„X Positionen“ war Teil des landesweiten Kunstevents Die Kunst von Kunst zu
leben, das die erfolgreiche Präsentation, Vermarktung und Gleichstellung von
Künstlerinnen sowie den Austausch und die Vernetzung mit anderen Kultur-
schaffenden zum Ziel hatte. Die ersten Kontakte waren hierbei etwas unge-
wöhnlich, da das Museum doch das erste Mal wieder mit lebenden Künstlern
zu tun hatte, während sich das Haus sonst nur den längst „Verblichenen“ wid-
mete. Es war ein spannender und wechselseitiger Lernprozess. Das Kunstmu-
seum unterstützte die Künstlerinnen mit all seinen Möglichkeiten und stellte
die Verbindung zu Wirtschaftsunternehmen vor Ort her. Ein Vermarktungspro-
dukt, Kunst aus der Dose, entstand. Insgesamt entsprungen ist eine Ausstel-
lung die landesweit Beachtung gefunden hat und die die Verbindung von der
vergangenen Kunst zur Gegenwartskunst hergestellt hat.
Zukunft des „Kulturunternehmens“ Schwaaner Kunstmühle
Was bringt nun die Zukunft der Betrachtung von Kunst bzw. der Kultur- und
Kreativwirtschaft für die Kunstmühle Schwaan als Beispiel eines „Kulturunter-
nehmens“ mit sich? Wird bei der angespannten Situation der kommunalen
Haushalte irgendwann das Haus privatisiert und der Ausverkauf des kultu-
rellen Erbes erfolgen? Ich kann es mir nicht vorstellen, denn im ländlichen
Raum sind solche Einrichtungen privat NICHT zu finanzieren. Man darf nicht
vergessen, man muss sich aufmachen um nach Schwaan zu kommen, um das
Museum zu entdecken. Schwaan ist keine touristische Hochburg und hat auch
keinen Ostseestrand oder große Badeseen zur Verfügung. Es fehlt zudem an
zusätzlichen Angeboten. Oft werden wir von den Besuchern gefragt, was kann
234
man jetzt noch ansehen? Das ist vielleicht auch ein Ausdruck für die „kulturelle“
Reizüberflutung der Gesellschaft.
Die nachhaltigen Chancen sehe ich vor allem in zusätzlichen Angeboten die
den Kunstbegriff weiter fassen und kulturelle Events miteinander verbinden,
wie Konzerte, Buchlesungen, Trauungen oder auch Vorträge für ein interessier-
tes Publikum in dieser ländlichen Region. Wenn sie so wollen in einer Art zu-
sätzlichem Bildungsauftrag jenseits der großen Städte. Das Museum versteht
sich als Kristallisationspunkt, andere können sich das zu Nutze machen und
Zusatzangebote entwickeln, Kunst kann Motor für die regionale Entwicklung
sein. Letzten Endes schwebt aber stets über allen Entwicklungsprozessen das
Paradigma:
„Die Kunst von Kunst zu leben!“
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 10: Chancen und Umsetzung von Kultur-Konzepten in regionalen Räumen - Das Beispiel der Schwaaner Kunstmühle
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 11: Innovative und interaktive Museumskonzepte – Das Fallbeispiel Müritzeum Waren (Müritz)
Thomas�Kohler
Innovative und interaktive Museumskonzepte – Das Fallbeispiel Müritzeum Waren (Müritz)
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Von der Idee zum Naturerlebniszentrum
Die Mecklenburgische Seenplatte hat in den Jahren nach der politischen
Wende an Attraktivität ständig zugenommen. Bis zum Jahre 2003 waren die
Zuwachsraten ständig steigend. Die Region profitierte sowohl von der touri-
stischen Attraktivität des ganzen Landes Mecklenburg-Vorpommern, als auch
von ihrem eigenen Beitrag dazu.
Die Kombination unverbrauchter, großenteils geschützter Natur mit dem
größten Binnensee Deutschlands einerseits und der ländlichen Kulturland-
schaft mit seinen unzähligen Guts- und Herrenhäusern, mittelalterlichen
Feldsteinkirchen und weitläufigen Gutsparks andererseits, traf den Nerv der
reiselustigen Inlandbevölkerung. Dass diese Entwicklung nicht ungebrochen
andauern würde, war den Initiatoren des Projektes Müritzeum von Anfang an
bewusst. Bereits 2004 war der Aufwärtstrend gebrochen und auch 2005 ist kei-
ne weitere Steigerung in Sicht gewesen.
Damit reiht sich die Region ein in den Kampf der Destinationen um die immer
selektiver werdende Tourismuskundschaft. Längst ist die Frage: „Wohin fahre
ich in den Urlaub?“ der Frage: „Was mache ich im Urlaub?“ gewichen. Das be-
deutet, die Infrastruktur am Urlaubsziel erhält immer mehr Gewicht. Vor die-
sem Hintergrund fand sich bereits im Frühjahr 2003 eine Interessensgemein-
schaft mit folgendem Hintergrund zusammen:
» Jost Reinhold von der gleichnamigen Stiftung und Herr Ulrich Meßner
als Leiter des Müritz Nationalpark Amtes trafen sich mit der Absicht ein
Informationszentrum für den Müritz Nationalpark zu errichten.
» Jürgen Seidel als Landrat beabsichtigte das erneuerungsbedürftige Mü-
ritz-Museum mit dem Müritz-Aquarium auf eine neue, attraktivere Basis
zu stellen und damit absehbar vom Tropf der Subventionen zu lösen,
gleichwohl mit der aus einem europäischem Projekt hervorgegangenen
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 11: Innovative und interaktive Museumskonzepte – Das Fallbeispiel Müritzeum Waren (Müritz)
Idee ein Welcome-Center für die Region zu schaffen.
» Günter Rhein als Bürgermeister der Stadt Waren fokussierte den Schwer-
punkt des Baues eines neuen großen Aquariums als Attraktion für seine
Stadt am „kleinen Meer“.
» Manfred Achtenhagen, Medien- und Tourismusunternehmer beabsich-
tigte die touristische Infrastruktur qualitativ hochwertig zu stärken und
das Destinationsmarketing auf die Schwerpunkte „Land der 1000 Seen
und Nationalparkurlaub“ auszurichten.
Sechs Zielsetzungen wurden formuliert. Das Müritzeum soll:
» Besucher für die Mecklenburgische Seenplatte begeistern, die Region,
ihre Natur und Geschichte vorstellen, die touristischen Angebote für Ur-
lauber darstellen und wirtschaftliche Perspektiven für die Zukunft aufzei-
gen,
» Besucher auch außerhalb der Hauptsaison an die Region binden und die
Mecklenburgische Seenplatte als Ganzjahresziel für den Tourismus för-
dern,
» durch die Inhalte und die Angebote des Hauses ein breites Publikum an-
sprechen und die Besucherfrequenz konstant hoch halten,
» mit einem breiten Spektrum von Gestaltungsmitteln und Themen und
den großen Aquarien mit lebenden Tieren eine Erlebnislandschaft bie-
ten, die emotional anspricht und informiert,
» das Müritz-Museum mit seiner Sammlung in das Gesamtkonzept inte-
grieren,
» Schutzgebiete und Tourismus zusammenführen und mit dem „National-
park Urlaub“ eine neue touristische Marke begründen.
Am 12. Dezember 2003 wurde ein beschränkter, begrenzt offener Realisie-
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rungswettbewerb mit vorgeschaltetem EWR offenen Bewerbungsverfahren
zur Auswahl von 10 Teilnehmern für Architekten ausgeschrieben. Hierzu wur-
den unterschiedlichste Modelle und Entwürfe eingereicht. Es bewarben sich
über 230 Büros aus dem europäischen Raum. Das berufene Preisgericht ent-
schied sich für den Entwurf des schwedischen Architekturbüros Wingardh, Gö-
teborg, für den 1. Preis.
Die Ausstellungsplanung wurde durch ein umweltpädagogisches Konzept
begleitet. Berücksichtigt wurde, dass die Entwicklung von Inhalten und Bot-
schaften ein dynamischer Prozess ist. Bis zum Schluss wurde die Ausstellungs-
entwicklung kritisch bewertet, um das Ergebnis so optimal wie möglich zu
gestalten. Für die Gestaltung des Themenbereiches Alltag und Tourismus ist
eine enge Zusammenarbeit mit dem Tourismusverband und den Akteuren der
Region vorgesehen.
Das Haus der 1.000 Seen
Das Müritzeum ist ein Haus der Superlative, direkt im idyllischen Herrensee ge-
legen mit einmaliger Form und Fassade. Im Mittelpunkt der Ausstellung steht
Deutschlands größtes Aquarium für einheimische Süßwasserfische. Damit
lässt sich ein Lebensraum erkunden, der für die meisten von uns im Verbor-
genen liegt: die Unterwasserwelt der einheimischen Gewässer. Das Müritze-
um ist eines der wenigen Aquarien weltweit, das sich ausschließlich diesen
Fischen widmet. Moderne Multivisionsshows und uralte Exponate der Natur-
historischen Landessammlung zeigen darüber hinaus Schönheiten, Besonder-
heiten und Wunderwerke der Natur. Ein Erlebnisgarten, Sonderausstellungen,
die umfangreiche Bibliothek sowie vielfältige Veranstaltungen vervollständi-
gen das Angebot. Wer sein Wissen mit Büchern vertiefen oder einheimische
Naturprodukte kaufen möchte, wird im Shop das Richtige finden. Mitmachen,
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 11: Innovative und interaktive Museumskonzepte – Das Fallbeispiel Müritzeum Waren (Müritz)
Ausprobieren, Staunen – das sind die Schlagworte mit denen man das ganze
Jahr über 1.000 Fische, 1.000 Seen, 1.000 Jahre im Müritzeum erleben kann.
Der Spaß und das Erlebnis stehen im Vordergrund. Allerdings ist der Besuch
im Müritzeum auch äußerst lehrreich: Zu verschiedensten Themen bekommt
man die Fragen beantwortet, die man vielleicht gar nicht gestellt hätte. Spiele-
risch wird die Natur der Mecklenburgischen Seenplatte erklärt, ohne verspielt
zu sein. Interaktion steht im Müritzeum im Vordergrund.
Aquarienlandschaft: Süßwasser-Aquarien und Wassertheater
Über das Forum taucht man im wörtlichen Sinne ab ins Untergeschoß, wo sich
die faszinierende Wasserwelt öffnet. Auge in Auge mit dem Maränen-Schwarm
erhält man Einblicke in ein Reich, das sonst verschlossen bleibt. Außerdem
kann man in Ausstellungsbereich Moor Mythen, Sagen, aber auch der Wahr-
heit auf den Grund gehen. Begleitet wird man auf der Treppe nach unten von
tauchenden Wasservögeln in einer Glasvitrine. Über 2 Etagen reicht dieses Be-
cken mit 100.000 Litern Wasser. Für das Schauspiel sorgt eine Glasscheibe von
6 mal 6 Metern, 11 Tonnen schwer und 27 Zentimeter dick – die größte Schei-
be, die jemals in Europa gefertigt wurde.
Zu der faszinierenden Aquarienlandschaft des Müritzeums gehören 25 große
und kleine Schau- sowie zwei Außenbecken, in denen neben 40 heimischen
Fischarten auch Krebse, Sumpfschildkröten und andere Wassertiere unserer
Binnengewässer leben.
Fließgewässer
Gelassen geht es zu, wenn die großen, zumeist ursprünglichen Flüsse durch
Mecklenburg strömen. Nur hier und da, wenn die Täler zu eng sind, zwängen
sie sich eilig hindurch. Wellenbummler bahnen sich ihren Weg durch fette
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Entengrütze und flüchtige Nebelschwaden, vorbei an raunenden Baumspalie-
ren und wispernden Schilfgürteln. Auf diesen blauen Straßen werden Dschun-
gelträume wahr.
Mit der einzigartigen Nachgestaltung einer typischen Flusslandschaft der Re-
gion wartet die Aquarienwelt mit einem weiteren Highlight auf. Auf 20 Metern
offenbaren 7 Becken das Leben unter der stetig fließenden glitzernden Ober-
fläche. Man begleitet das quirlige Gewässer von der Quelle bis zur Mündung
und lernt unterwegs seine Bewohner kennen, wie beispielsweise die Woll-
handkrabbe. Anfang des 20. Jahrhunderts wahrscheinlich mit Schiffen nach
Europa gebracht, hat sie sich seither über die Fluss-Systeme in ganz Europa
ausgebreitet und fühlt sich auch in Mecklenburg-Vorpommern sehr wohl.
Wassertheater - Unterwasserwelt eines Mecklenburger Sees
Vorhang auf für einen atemberaubenden Blick – über und unter Wasser! Durch
eine riesige Aquarienscheibe schaut man in die Außenbecken und über den
Herrensee, als stände man selbst im Nassen. Hier schwimmen unter Anderem
große Spiegelkarpfen, von denen einige bereits älter als 20 Jahre sind. Der
Größte unter ihnen bringt 21 Kilogramm auf die Waage. Das zweite Becken
gewährt Einsicht in die Unterwasserwelt eines typischen Sees in Mecklenburg-
Vorpommern.
Wassertourismus - Soviel Spaß macht der Bootsurlaub
Nicht ohne Grund gilt die Müritz als Königin unter den deutschen Seen. Mit ih-
ren 117 km² lässt sie ihre Konkurrenten gelassen hinter sich. Bereits für die na-
mensgebenden Slawen galt das »kleine Meer« als Herz des blauen Universums.
Ein Paradies für Bootsfreunde, denn von hier aus gelangt man an jeden Ort,
der an einer Bundeswasserstraße liegt. Mit steuerbarem Modellboot schippert
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man über eine Nachbildung der Müritz – ein Spaß sicherlich nicht nur für klei-
ne Kapitäne. Dabei geht es zu wie im richtigen Leben: Die Mirower Schleuse ist
zu meistern, man kann in den Häfen Waren oder Röbel festmachen oder auch
die Malchower Drehbrücke öffnen.
Forum
Zentrum und Ausgangspunkt der Rundgänge durch das »Haus der 1000 Seen«
und durch die Müritz-Region ist das Forum – eindrucksvoll nicht nur durch
seine Maße von 7 Metern Höhe und 17 Metern im Durchmesser. Murmeln-
des Wasser, flüsternde Bäume oder schweigendes Moor im Wandel der Jah-
reszeiten – vier Großleinwände vermitteln dem Besucher hier erste Eindrücke
aus dem faszinierenden Müritz-Nationalpark. Das Forum bietet außerdem eine
wunderbare Kulisse für Veranstaltungen.
Themenräume
Die Themenräume veranschaulichen die Natur oberhalb der Wasserlinie – vom
Moor, über den Wald bis zum Luftraum und der Vogelwelt. Außerdem ist hier
eine Zeitreise im Angebot, eine Zeitreise in verschiedene Abschnitte der Erd-
geschichte (z.B. die Steinzeit) und in die Schaufenster der Region.
Schaufenster der Region
In der Müritz-Region gibt es jede Menge zu entdecken. Im Teerschwelergehöft
Sparow lebt beispielsweise das alte Waldgewerbe fort, das zu bestimmten
Zeiten im Jahr live bewundert werden kann. Regelmäßig gibt es hier noch
Brände nach traditionellem Vorbild. Höhepunkt ist der Tag der Gasphase, an
dem die Flammen aus den Abzugslöchern des Ofens schlagen. Ähnlich archa-
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isch geht es zu auf der Alten Burg Penzlin vor den Toren Neubrandenburgs,
wo unterirdische Hexenverliese, eine mittelalterliche Schwarzküche und ein hi-
storischer Rittersaal von dunklen Abschnitten Mecklenburgischer Geschichte
plaudern. Über einen Besuch freuen sich auch Lothar, Mascha, Otto, Sindi und
Susi, fünf brünette Gesellen in bester Bärenlaune. Im Bad Stuerer Bärenwald
sind diese faszinierenden Tiere in freier Wildbahn zu erleben.
Ob nun Teerofen, Hexenkessel und Braunbär oder vielleicht doch lieber Luft-
fahrtgeschichte, Schmetterlinge und Müritz-Sail – alles, was es zwischen den
1000 Seen zu sehen und zu erleben gibt, wird tagesaktuell im »Schaufenster
der Region« gezeigt. Außerdem werden die Besucher gebeten, einen Blick in
die Zukunft zu wagen. Auf eine riesige Papierrolle kann man beschreiben, wie
man sich diesen Landstrich in 100 Jahren vorstellt. Prominente machten es be-
reits vor.
Vogelwelt - Luftraum
Mit den Vögeln fliegen – was für ein Traum! Sich in die Lüfte erheben, höher
und höher, bis Bäume, Seen, Häuser und Menschen nur noch wie eine Spiel-
zeuglandschaft aussehen. Das Gefühl der Freiheit und der unendlichen Weite
… Im »Luftraum« wird dieser Traum verwirklicht. Über einen Steg geht es in
einen Heißluftballon. Aus der Vogelperspektive kann man das Müritzland be-
obachten. Einmal in der Luft, wird man Zeuge des faszinierenden Vogelzuges,
wenn sich beispielsweise tausende Kraniche auf die große Reise zu neuen Fut-
terplätzen begeben.
Konzertsaal
So richtig still wird es nie in der Natur. Wer bei seinem Spaziergang innehält,
die Augen schließt und die Ohren spitzt, erlebt großartige Konzerte. Da mischt
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der Kuckuck im Funkverkehr der Schwalben mit. Die Nachtigall hat jeden Mor-
gen ihren großen Auftritt, mittags abgelöst vom Rotkehlchen, fröhlich beglei-
tet vom Zaunkönig. Vom Himmel hört man die Kraniche trompeten. Im Wald
trommelt der Specht. Im Chor singen Amsel, Drossel, Fink und ein richtiger
Star. Ein Rabe legt über alles seine rauchige Stimme. Abends läuft die Eule zu
stimmlicher Höchstform auf.
Bekannte Gruppen, wie das »Garten-Sextett«, die »Mischwaldsänger« oder die
»Heckencombo«, geben ihr Können im »Konzertsaal« zum Besten. Hier dringt
die geballte Stimmenvielfalt und Gesangskunst der gefiederten Müritzbewoh-
ner in die Ohren der Besucher. Und auch in der Natur gibt es wechselnde Spiel-
pläne. So unterscheiden sich Frühjahrs-, Sommer-, Herbst- und Winterkonzerte
durchaus voneinander. Und wer Buntspecht, Waldkauz oder Zilpzalp im Solo
hören möchte, kann die einzelnen Akteure direkt und einzeln um eine Hör-
probe bitten. Die präparierten Vögel sind mit Spots versehen. Insgesamt 35
Einzelstimmen, 7 Konzerte und 5 Vogelmusikstücke gehören zum Repertoire.
Vogelsaal
Wer sich im Müritzgebiet auf Erkundungstour begibt, hört es überall rascheln,
schnattern, tirilieren und flattern. Eine Entenfamilie geht schwimmen, im Baum
turteln zwei Tauben, am Himmel kreist der Fischadler und im Laub springt eine
Amsel nach Würmern. Bewegung, wo man geht und steht. Die Vielfalt unserer
Vogelarten sucht ihresgleichen.
Besonders interessante Vertreter der heimischen Vogelwelt, wie Weißstorch,
See- oder Fischadler, lernt man im »Vogelsaal« näher kennen. Wie scharf kann
beispielsweise ein Seeadler wirklich sehen? Ein Fernglas simuliert den Adler-
blick. Und während man in Raubvogelmanier nach Beute sucht, wird man vom
König der Lüfte selbst beäugt. Inmitten präparierter Vögel erfährt man außer-
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dem, wo und wie diese geschützten Tiere auch außerhalb des Müritz-National-
parks beobachtet werden können. Dazu verraten sie uns das Geheimnis des
Fliegens, ferner warum sie ihr Gefieder wechseln und wie sie alljährlich ihren
Weg in die Winterquartiere finden.
Wald im Müritz-Nationalpark
Riesige Eichen, knorrige Kiefern, grazile Erlen - der Wald. Man schaut hier kei-
neswegs nur nach oben zu den Wipfeln. Auch unter den Füßen ist viel Leben.
Anhand der Spuren erkennt man, welche Tiere den Pfad entlanggelaufen sind.
Zur Zeit der Slawen erblickten im Wald des mecklenburgischen Ivenacks zarte
Stieleichen das Licht der Welt. Und heute, 1.000 Jahre später, stehen sie immer
noch da, nur jetzt als Riesen, die viele Wirren der Geschichte überdauert haben.
35 Meter nach oben und 3,50 Meter in die Breite ragt der älteste der hölzernen
Giganten in die Höhe und zählt sogar bereits 1.200 Lenze. Wenn Bäume spre-
chen könnten …
Wer einmal vor den Ivenacker Eichen gestanden hat, weiß, wie es ist, sich klein
zu fühlen. Eine täuschend echte Nachbildung des ältesten Vertreters dieser Na-
turdenkmäler steht im »Waldraum«.
Waldgeschichte Mecklenburg-Vorpommern
Wälder lieferten seit jeher mit dem Holz einen für Handwerk und Industrie un-
verzichtbaren Rohstoff. Glashütten, Köhlereien, Teerschwelereien, Salinen und
Bergwerke verbrauchten viel davon. Auch strenge Gesetze konnten den Raub-
bau nicht verhindern. Erst im 19. Jahrhundert führte man die Forstwirtschaft
in geregelte Bahnen.
Über Nutzung und Übernutzung sowie nachhaltige Strategien informiert der
Bereich »Waldgeschichte«. Hier erfährt man, wo überall Holz eingesetzt wer-
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den kann, wie viel Holz man vor sich hat, wenn von einem Kubikmeter die Rede
ist und vieles mehr.
Zugegeben, wenn oben die Blätter rauschen, ringsum die Äste knacken und
etwas tiefer ein Bächlein gurgelt, ist die eigentliche Bestimmung des Waldes
nicht das erste, an das man denkt. Umso interessanter aber zu erfahren, wie
diese grünen Hallen unser Leben bestimmen und es vor allem lebenswert ma-
chen. Der Wald verbraucht immerhin große Mengen an Kohlendioxid, schluckt
Schall, filtert den Staub und spendet angenehme Kühle. Und er produziert für
uns die Luft zum Atmen.
Im »Waldraum« macht man die Bekanntschaft von Kiefer, Erle und Buche – Bäu-
me, die in dieser Region häufig anzutreffen sind. Im Zeitraffer erlebt man die
Bewegung, das Leben und die ständige Veränderung. Ein Ameisenstaat öffnet
sein Reich und zeigt, dass nicht nur der Mensch Freund der straffen Organisa-
tion ist. Bekanntschaft macht man auch mit dem Baumeister Specht, der mit
seinen leergezogenen Bruthöhlen Wohnraum für viele Tiere schafft. Nicht oft
hat man die Möglichkeit, direkt in die Kinderstube dieses hübschen Vogels zu
schauen.
Nachtraum - Mit der Taschenlampe im dunklen Wald
Ein nächtlicher Marsch durch den Wald gehört eigentlich in jede gute Gru-
selgeschichte. Aus Angst, dass an diesen Geschichten doch etwas wahr sein
könnte, haben viele dieses Abenteuer noch nie gewagt und sich damit um ein
einzigartiges Erlebnis gebracht.
Was passiert wirklich, wenn sich Fuchs und Hase gute Nacht gesagt haben?
Was hört man, wenn man den Wald vor lauter Dunkelheit nicht sieht? Mit einer
Taschenlampe macht man sich auf den Weg. Man wird Zeuge der »Wachablö-
sung«, wenn sich die Tagtiere zur Ruhe begeben und die dämmerungs- und
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nachtaktiven Tiere das Zepter übernehmen. Jetzt beginnt die Zeit von Igel,
Waldkauz, Fledermaus und deren nachtschwärmenden Kollegen. Wenn sie auf
Nahrungssuche gehen, herrscht hier ein anderer Ton, ein dunklerer Ton. War da
nicht doch ein Kobold? Die Phantasie folgt in der Dunkelheit eigenen Geset-
zen. Auch das wird man sehen. Ein Raum zum Fürchten und Staunen.
Zeitreise
Sanfte Hügel, durchbrochen von tausenden großen und kleinen Seen – das ist
Mecklenburg-Vorpommern. Gestalter war die letzte Eiszeit. Es ist zirka 20.000
Jahre her, als die gigantischen Gletscher aus dem Norden auf uns zurollten,
um wie Bulldozer alles niederzuwalzen. Dabei schoben sie Lehm, Kalk, Sand,
Kies und Geröll vor sich her und türmten die Masse zu Hügeln auf. Dazwischen
spülte das Schmelzwasser Senken und Rinnen aus. Fertig war die Landschaft:
Sanfte Erhebungen, viel Wasser in Form von blauen Bändern und blinkenden
Spiegeln, jede Menge Findlinge und noch mehr Feldsteine. Oder wie es die
Fachbücher sagen: Grundmoräne, Endmoräne, Sander und Urstromtal. Mit
der Steinzeit veränderte der Mensch dieses Bild. Aus Natur- wurde Kulturland-
schaft. Siedlungen entstanden, Häuser wurden gebaut. Bald entwickelten sich
die ersten Dörfer und Städte. Land- und forstwirtschaftliche Flächen rückten
auf die Bildfläche. Dazu kamen Verkehrswege und Industrieanlagen. Doch trotz
der Urbanisierung geht es in einigen Regionen Mecklenburg-Vorpommerns
stellenweise auch heute noch wild und ursprünglich zu. Über 25 Prozent der
Fläche steht unter Natur- und Landschaftsschutz, mehr als in jedem anderen
Bundesland. Auf unserer Zeitreise wandert man durch eine Gletscherspalte,
vorbei an einem Hünengrab, sitzt mit den ersten Sippen ums Feuer, ist dabei,
wenn die frühen Städte gegründet werden, lernt altes Handwerk kennen und
klären, wo die letzte Glashütte in Mecklenburg stand.
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 11: Innovative und interaktive Museumskonzepte – Das Fallbeispiel Müritzeum Waren (Müritz)
Unter dem Titel „Natur im Sammlungsschrank“ berichtet eine Dauerausstel-
lung im alten Backsteinbau des Müritzeums, dem Haus der Sammlungen, von
der Faszination des Sammelns, Bewahrens und Forschens.
Foyer
Ein stattlicher, mehr als 100 Jahre alter Rothirsch heißt im Foyer die Besucher
willkommen. Bereits hier wird die Formen- und Farbenvielfalt der heimischen
Natur lebendig: Vögel, Eier, Pflanzen, Insekten, Schneckengehäuse und Mu-
schelschalen, wohin man blickt. Nebenan lässt ein 7 Meter hoher Bohrkern
mit maßstabsgetreu angeordneten Segmenten 250 Millionen Jahre wieder
aufleben. Er beginnt in 1,5 Kilometer Tiefe im Trias mit der namensgebenden
Dreiteilung aus Bundsandstein, Muschelkalk und Keuper. Weiter geht es durch
Jura, Kreide und Tertiär bis ins Quartär, dessen Beginn die Eiszeit einläutete.
Auf dieser Reise macht man natürlich die Bekanntschaft typischer Lebewesen
der einzelnen Zeitalter. Bis heute überdauerten ihre Überreste als Fossilien.
Wie Gletscher und Geröll die norddeutsche Landschaft während der Eiszeit ge-
formt haben, verrät das Treppenhaus.
Rückblick
So unnatürlich Ordnung und Systematik erscheinen mögen, so unverzichtbar
sind sie für den, der die Natur erforscht. Der Raum »Rückblick« stellt die Grün-
derväter des Museums, den Stifter Hermann von Maltzan und den ersten Leiter
Carl Struck vor. Was sie draußen an großen Mengen zusammengetragen haben,
wurde drinnen in mühevoller, vor allem aber leidenschaftlicher Kleinarbeit ka-
talogisiert. Mit dieser Arbeit, ohne die Blässhuhn oder Hirsch nur irgendwelche
Tiere wären, legten sie den Grundstock für eine Sammlung, die Forscher wie
Interessierte seit jeher begeistert. Daneben lernt man weitere wichtige Namen
250
des 19. Jahrhunderts kennen, die die Naturwissenschaft in Mecklenburg vo-
rangetrieben haben. Mit Präparaten, Fotos, Büchern und Dokumenten wird
die Entstehung und Entwicklung der Naturhistorischen Sammlungen leben-
dig. Man liest in alten handschriftlichen Aufzeichnungen und steht Aug’ in Aug’
den Forschungsobjekten gegenüber.
Einblick
Wessen Forscherdrang nun geweckt ist, der kann selbst auf Exkursion gehen
und in den Vitrinen und Schubladen der Sammlungsschränke stöbern. Wahre
Schätze liegen hier offen und im Verborgenen. Im Raum »Einblick« lernt man
unter anderem, wie Adler, Grashüpfer, Schnecke oder Miesmuschel präpariert
werden, damit sie für die Ewigkeit in den Sammlungsschrank einziehen kön-
nen. Das Ergebnis: Beinah lebendige Tiere, die den Betrachter mit treuen Au-
gen berühren oder mit großen Klauen das Fürchten lehren. Für tiefe Einblicke
in die Sammlungs- und Forschungstätigkeiten bietet sich die digitale wissen-
schaftliche Spezialbibliothek des Müritzeums an. Sie enthält einige der 16.000
Buchbände des Hauses, die hier direkt am PC gelesen werden können.
Ausblick
Im Forscherkabinett im Haus der Sammlungen können interessierte Besu-
cher selbst alle Werkzeuge und Daten zur Hand nehmen, um beispielsweise
ein Schneckengehäuse oder ein geologisches Objekt zu bestimmen. Und er
spürt am eigenen Leibe, was des Forsches Lust und Last ist: Man erfährt zwar
viel, aber nie alles über ein Exponat. Diese Rätselhaftigkeit erhält schon seit
Jahrhunderten die Lust und Spannung am Sammeln, Bewahren und Forschen.
Gleichzeitig ist sie die Garantie dafür, dass auch künftig noch unendlich viel zu
entdecken ist.
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Außenanlage
Neben der Dachterrasse bietet auch das Aussichtsfenster am »Wassersaal« ei-
nen wunderbaren Blick, hier aber auf den Park mit dem Herrensee, aus dem
das »Haus der 1.000 Seen« quasi herausragt.
Am Herrensee ist immer Leben. Zu jeder Jahreszeit halten sich auf diesem zirka
einen Hektar großen Naturgewässer wild lebende Wasservögel, wie Bläßhuhn,
Stock- oder Reiherente, auf. Besonders interessant wird es, wenn sich alljährlich
- in der Regel zwischen April und Juli - eine kopfstarke Brutkolonie von Lach-
möwen niederlässt. Neben ihrem markanten Ruf, der wie menschliches Lachen
klingt, fallen diese Vögel durch ihre schokoladenbraune Gesichtsmaske auf.
Gerade mal so groß wie eine Taube, sind sie die kleinsten heimischen Möwen.
Park
Den Herrensee umsäumt ein abwechslungsreich gestalteter Park, direkt an die
Warener Altstadt grenzend. Vorsichtige Besucher können hier mit etwas Glück
zahlreiche wildlebende Wasservögel aus nächster Nähe beobachten. Weiteres
Highlight ist neben dem Erlebnispfad ein zirka 150 Jahre alter Baumriese, der
26 Meter in den Himmel ragt. Diese Rosskastanie mit ihrer dicht verzweigten
und gewölbten Krone gehört zum alten Baumbestand vor dem historischen
Gebäude, in dem sich die Naturhistorischen Landessammlungen von Meck-
lenburg-Vorpommern befinden. Zwei Menschen würden noch nicht mal ge-
nügen, um ihren Stamm mit einem Umfang von 3,90 Metern zu umfassen. Ein
großer Abenteuerspielplatz rundet das Außengelände ab.
Draußen im Park kann man dem Erlebnispfad direkt ins Abenteuer Natur
folgen. Man kann einheimische Gehölze und Stauden ertasten, riechen und
begutachten. Man begegnet großen und kleinen Steinen und bringt sie zum
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Sprechen. Eine Schau-Beute (die Behausung von Bienen) zeigt, wie ein Bienen-
volk lebt, wo die Königin thront, wie der Tag einer Arbeitsbiene aussieht oder
was auf dem Speiseplan dieser nützlichen Insekten steht.
Rolle als Welcome Center
Abschließend betrachtet kann das Müritzeum als das Welcome Center für die
gesamte Mecklenburgische Seenplatte gesehen werden. Die Vielfalt der Seen-
platte ist hierbei erstaunlich und garantiert ist für jeden etwas dabei:
» Müritz-Region - Natur pur und großes Wassersportgebiet,
» Strelitzer Kleinseenplatte - Tausend Seen, meist klein aber fein,
» Feldberger Seenlandschaft - Die Eiszeit leistete hier ganze Arbeit,
» Tollensesee-Region – Kulturelles und Künstlerisches werden hier gebo-
ten,
» Mecklenburgische Schweiz – Gewiss keine Alpen; die für diese Region
großen Hügel geben den Namen,
» Vorpommersche Flusslandschaft – Wassersport und -wandern in wun-
derbarer Landschaft,
» Brohmer Berge – Moore, Schlösser und riesige Wiesen in einzigartiger
Landschaft.
Das Müritzeum ist in einem Netzwerk von weiteren Welcome Centern in der Re-
gion eingebunden. Ziel aller Einrichtrungen ist es, den Besucher der Region zu
informieren und dabei Lust auf mehr zu machen. Dabei verlieren die einzelnen
Einrichtungen nicht ihre Identität sondern beweisen das vielfältige Angebot
der Mecklenburger Seenplatte. Als Besucherzentren ergänzen die Welcome
Center die flächendeckend vorhandenen Touristeninformationen nachhaltig.
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 12: Ei oder Henne? Was steht am Anfang von Kultur-Konzepten: Sinn oder Zweck?
Manfred�Keiper
Ei oder Henne? Was steht am Anfang von Kultur- Konzepten: Sinn oder Zweck?
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Am Anfang möchte ich erst einmal umreißen, aus welchem Bereich kommend
ich mit Ihnen hier über diese Frage lamentieren möchte.
Der Buchhandel in Deutschland ist einerseits Bestandteil der Kultur- und
Kreativwirtschaft, andererseits Teil des Einzelhandels, also einerseits Teil der
geistigen und kulturellen Infrastruktur, Faktor des Apparates zur freien und
demokratischen Willensbildung in unserem Land - woraus sich bestimmte
Sonderrechte ergeben, auf die ich später eingehe -, auf der anderen Seite ist
er schlicht eine Ansammlung von Krämerseelen, die ihre kulturelle Funktion
selbst finanzieren, sprich: nicht am Alimentierungsarm der öffentlichen Hand
oder in Abhängigkeit eines unentbehrlichen Sponsorenpools hängen. Wie ge-
sagt, ich spreche hier über bzw. aus dem Buchhandel, zum deutschsprachigen
Buchmarkt gehören auch noch die AutorInnen und die Verlage. In deren Be-
reichen mag es eine öffentlich beschäftigte AutorInnenschaft geben, es mag
Förderprogramme für Übersetzungen, Druckkostenzuschüsse für Publikati-
onen geben – hierzu mögen andere Auskunft erteilen.
Vorab bitte ich die österreichischen und schweizerischen KollegInnen um Ent-
schuldigung für meine Nichtbeachtung, in diesen Ländern gibt es zwar ähn-
liche, doch andere Rahmenbedingungen und Erscheinungen, aber natürlich
sind die KollegInnen dort kulturell und wirtschaftlich ebenso ambitioniert wie
bei uns.
Der deutsche Buchmarkt realisiert einen Gesamtjahresumsatz von 9,576 Mrd.
Euro (2007). Eine stolze Summe, werden Sie denken, wenn Sie an Ihr letztes Ta-
schenbuch wie z.B. den Kehlmann, Vermessung der Welt für 9,90 Euro denken,
den es auch gleich in zwei Ausgaben, in normaler Schrift und in Großdruck,
gibt. Wer an sein letztes Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft für knapp 20,00
Euro, mag schon Feuchtgebiete in den Handflächen bekommen und sagen, da
also wird mein Geld fett angesammelt. Ich schaue da nur auf die Pressemittei-
lung der METRO Group, die im ersten Halbjahr(!) 2009 einen Konzernumsatz
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 12: Ei oder Henne? Was steht am Anfang von Kultur-Konzepten: Sinn oder Zweck?
von 30,5 Mrd. Euro getätigt hat; oder die EDEKA-Gruppe – vielleicht etwas nahe
liegender –, die 2008 einen Gesamtjahresumsatz von 32,02 Mrd. Euro erreicht
hat. Wie gesagt, hier handelt es sich nicht um eine Branche, sondern jeweils um
ein Unternehmen. Der gesamte deutsche Buchhandel realisiert knapp 2% des
Einzelhandelsumsatzes, erscheint also wirtschaftlich als Leichtgewicht.
Der Buchmarkt besteht aus den Verlagen, dem Buchgroßhandel und dem
Buchhandel. Im Verlagsbereich arbeiten ca. 26.000 Beschäftigte, die jährlich
mittlerweile über 95.000 Neuerscheinungen und -auflagen produzieren und
insgesamt ca. 1,2 Mio. Titel lieferbar halten.
Die ca. 6.000 Buchhandlungen, von denen mittlerweile ungefähr 1.000 Stand-
orte zu Filialketten gehören, beschäftigen ca. 35.000 MitarbeiterInnen (aller-
dings entlässt gerade eine der beiden größten Filialketten fast 800 davon),
und realisieren von diesen 9,576 Mrd. Euro Umsatz 53,6% (2007) – mit abneh-
mender Tendenz. Den restlichen Kuchen teilen sich vorwiegend der Internet-
und Versandbuchhandel sowie die Verlage direkt, zudem noch Buchgemein-
schaften, Warenhäuser und sonstige Stellen.
Kommen wir zu den Besonderheiten, die dem Buch in Deutschland auf Grund
seiner Bedeutung für die freie Meinungsbildung und Kultur zuerkannt werden:
1. Die Buchpreisbindung, und damit das einzige vertikale Kartell, dass in
unserer freien Wirtschaft akzeptiert wird, und
2. der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von gegenwärtig 7% auf Bücher und
Zeitschriften.
Die Buchpreisbindung war ursprünglich als Garantie gedacht, dass mittels
eines flächendeckenden Sortimentsbuchhandels die vollständige Versorgung
der Bevölkerung mit Literatur garantiert ist. Auf Verlegerseite hat die Buch-
preisbindung zwei Auswirkungen, sozusagen Kollateralschäden, gezeitigt, die
vielleicht sogar von viel wesentlicherer Bedeutung sind:
» Die Buchpreisbindung besagt, dass die Preise für den Endkunden inklu-
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sive Mehrwertsteuer vom Verlag festgesetzt werden. Die Verlage haben
damit das Instrument zur Mischkalkulation in der Hand: Natürlich mag
es Sie ärgern, dass Sie den neuesten Bestseller nicht mit Erfolgsabschlag
kaufen können, wie dies gegenwärtig in Großbritannien und den USA
der Fall ist, umgekehrt wird ein Schuh draus: Sie können froh sein, dass
Sie für das Buch des Autoren, der (noch) nicht zu Massenauflagen taugt,
aber für den einen oder anderen schon heute interessant ist, nicht allein
zu horrenden Preisen erwerben müssen. Bestseller finanzieren Kleinauf-
lagen mit, egal, ob es sich um noch zu etablierende AutorInnen handelt
oder den bemerkenswerten Lyrikband.
» Und in der Gesamtheit kann gesagt werden, dass die Buchpreisbindung
günstigere Preise für Bücher generiert. Wir haben diese konkrete Erfah-
rung gerade in der Schweiz machen können, in der die marktliberale
Wettbewerbskommission jüngst die Preisbindung verboten hat, in der
Erwartung, dass dann die Buchpreise sinken. Die Realität verlief anders:
Eine überschaubare, aber eben vielbeachtete Zahl von Titeln wurde im
Buchhandel mit Rabatten auf nicht vorgegebene Preise präsentiert, wäh-
rend der „Long Tail“ in den Regalen sowie die Bedarfsliteratur im Preis be-
trächtlich anstieg. Soeben hat das Schweizer Parlament nun ebenso die
Einführung eines Buchpreisbindungsgesetzes – wie in Deutschland und
Österreich – beschlossen.
Letzteres, also „günstige Preise“, finde ich nur beschränkt begeisterungswür-
dig, da ich persönlich der Meinung bin, dass das Medium Buch am Markt zu
günstig feilgeboten wird. Die Rendite bei Verlagen mag ja manchmal nicht
ganz uninteressant sein, im Buchhandel ist sie katastrophal, ebenso wie das
daraus resultierende strukturelle Lohnniveau.
Der erwähnte ermäßigte Mehrwertsteuersatz für Bücher und Druckerzeug-
nisse ist EU-weit abgesegnet. In Großbritannien, Irland und Polen sind Bücher
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 12: Ei oder Henne? Was steht am Anfang von Kultur-Konzepten: Sinn oder Zweck?
sogar mehrwertsteuerfrei. Auch damit würdigt die Politik ausdrücklich die be-
sondere Rolle des Mediums Buch für die Meinungsfreiheit.
Beides, ermäßigter Mehrwertsteuersatz wie auch Buchpreisbindung kommen
damit individuell dem Verbraucher zugute.
Kommen wir aber vom Allgemeinen zum Konkreten.
Die Buchpreisbindung, existent seit dem 19. Jahrhundert, führt zwar dazu,
dass die gleichen Bücher überall in Deutschland, egal, ob in einer Strandbuch-
handlung an der Ostsee oder im Megastore in Berlin-Mitte, ob auf dem Rosto-
cker Boulevard oder bei mir in der Kröpeliner Tor-Vorstadt, für den Verbraucher
denselben Preis haben, sie hat aber auch den in unserem Wirtschaftssystem
unweigerlichen Konzentrationsprozess verlangsamt, wenn auch nicht aufge-
halten.
Noch im Jahre 2000 verfügte die größte Buchhandelskette über einen Umsatz
von weniger als 200 Mio. Euro, 2008 verfügte die Nr. 3 über 150 Mio. Euro Um-
satz, die Nr. 1 und 2 aber über jeweils annähernd 800 Mio. Im vergangenen
Jahrzehnt dürfte es im deutschsprachigen Raum keine Buchhandlung über 2
Mio. Euro Jahresumsatz gegeben haben, die nicht mindestens ein Übernahme-
angebot einer größeren Filialkette auf den Tisch (oder in den Hörer) bekom-
men hat.
Hinter den klaren Zahlen verbirgt sich ein kultureller Wandel:
War der Buchhandel im letzten Jahrhundert nahezu noch vollständig durch
kleinteilige und vielfach traditionsreiche Familienunternehmen geprägt, sozu-
sagen durch „Überzeugungs-Buchhändler“, hat sich mit dem Einsatz branchen-
fremden Kapitals durch vorwiegend renditeorientierte Investoren ein Wandel
zum „Vermittlungs-Buchhändler“ vollzogen.
Zur Erklärung:
Während der „Überzeugungs-Buchhändler“ eine kleinere Prozentzahl selbst-
gängiger Titel benutzt, um vorwiegend erklärungs- und überzeugungsbedürf-
260
tige Titel zu verkaufen, haben für den „Vermittlungs-Buchhändler“ die „Selbst-
läufer“ im Mittelpunkt zu stehen, sind die arbeitsintensiven erklärungs- und
überzeugungsbedürftigen Titel nur zur Abrundung oder als notwendiges Übel
im Sortiment.
Die Wertung dieser Entwicklung muss jeder Betrachtende individuell vor-
nehmen. Ich sehe das so, dass der Einzug Branchenfremder in die Buchhan-
delsbranche auch neue Ideen und Gedanken in eine doch recht homogene
Gruppe gebracht hat. Es hat auch zu einer Professionalisierung in manchen
Unternehmenskulturen geführt, die doch mittlerweile sehr archaisch geprägt
waren. Aber vor allem hat dieser Konzentrationsprozess dazu geführt, dass un-
zählige Unternehmenskulturen im Buchhandel, dies vorwiegend im lukrativen
mittelständischen Bereich, einfach vernichtet worden sind.
Natürlich ist noch manche aufkaufenswerte Buchhandlung übrig geblieben.
Wir werden sehen, inwieweit sie den Verdrängungswettbewerb, der unter
den großen Marktteilnehmern stattfindet, überleben. Und übrig geblieben
ist natürlich auch eine große Zahl kleinerer Buchhandlungen, zum einen all-
gemeiner Art in den Kleinstädten und Vororten, zum anderen spezieller Art,
Fachbuchhandlungen, Spezialbuchhandlungen, Nischenbuchhandlungen,
Konzept- und Zielgruppenbuchhandlungen.
Natürlich neigt jeder zu Vereinfachungen, Kategorisierungen, gar Pauschali-
sierungen, denn wir müssen das Große erkennen, um im Kleinen zu handeln.
Doch jede Regel kennt ihre Ausnahmen, und die Stärke des Individuellen und
des Unabhängigen ist es, unkonventionell, ideenreich und flexibel sein zu kön-
nen. Offen zu sein für die Treppenwitze der Geschichte kann Chance bedeuten,
die es zu ergreifen gilt, um zwischen und neben den Großen zu überleben.
Damit komme ich nun endlich zu mir selbst.
Nicht ich habe die „andere buchhandlung“ gegründet. Es war eine junge Ro-
stocker Buchhändlerin, der es im Volksbuchhandel der DDR schon einige Zeit
261
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 12: Ei oder Henne? Was steht am Anfang von Kultur-Konzepten: Sinn oder Zweck?
nicht mehr gefallen hat. Wende und Währungsunion bescherten ihr:
1. Möglichkeiten, denn statt eines Antiquariats wurde aus der ersten Neu-
gründung in Mecklenburg-Vorpommern eine Sortimentsbuchhandlung;
2. den Namen für das Kind: Die Zeitung des Neuen Forum in Berlin hieß
„andere Zeitung“, und stand Pate für die „andere buchhandlung“;
3. und einen neuen Lebensgefährten, nämlich mich.
Aus den Gründungserfahrungen entwickelte sich ein Leitbild:
» Bücher verkaufen, um Kulturarbeit zu machen!
» Humanismus ist ein Ziel, das man sich jeden Tag neu erobern muss!
» Wer eine bessere Gesellschaft haben will, muss auch einfach versuchen,
besser zu sein!
» Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren!
Nach diesem Leitbild wurde und wird nach innen und außen gearbeitet, was –
der letzte Satz deutet dies an – nicht immer leicht, manchmal sogar unmöglich
scheint. Das Leitbild ist aber etwas, dass jeder in dieser Buchhandlung für sich
nehmen kann, gerade auch in Momenten, in denen es kriselt, in denen Schwie-
rigkeiten gemeistert werden müssen. Das war auch besonders wichtig in dem
Moment, als die Gründerin – dann schon meine Frau – unerwartet starb, also
die Buchhandlung mitten im Wandel ihres Kopfes beraubt wurde. Die Mitar-
beiterInnen hatten ein Leitbild, nicht nur eine Leitfigur.
Das zweite ist das Konzept:
• Standbein 1: Allgemeine Sortimentsbuchhandlung
mit Schwerpunkten: Ausgewählte Belletristik, hochwertiges Kinder-
buchsortiment, kleine Fachabteilungen.
• Standbein 2: Dienstleistungsunternehmen
Beratungs- und Besorgungsgeschäft, „ein Laden mit gutem Service“,
aber auch das „Bewegen von Tonnen bedrucktem Papiers, um zu
überleben“.
262
• Standbein 3: Kulturunternehmen
Veranstaltungen / Lesungen / Sponsoring, Leseförderung / Vorlese-
wettbewerbe / Bestandteil der freien Kulturszene
Dies alles muss mit Leben gefüllt werden, muss funktionieren, damit überlebt
werden kann. Als Ganzes ist dieses Gebilde dazu da, leben zu können, seinen
Lebensunterhalt zu bestreiten, andererseits mit dieser Arbeit aber auch sich
selbst verwirklichen zu können.
Und da ist sie wieder, unsere Ausgangsfrage: Ei oder Henne? Was steht am An-
fang von Kulturkonzepten: Idee oder Zweck?
Die Frage lässt sich nicht beantworten, denn beides – Idee und Zweck – ist
voneinander nicht zu trennen. Es ist egal, was davon als erstes vorhanden ge-
wesen ist, es muss beides miteinander entwickelt werden, damit es überhaupt
funktioniert. Ohne Idee gibt es keine Umsetzung, ohne effektive Umsetzung ist
die Idee zum Scheitern verurteilt.
Dabei gibt es „passive Faktoren“, denen Sie ausgesetzt sind, mit denen Sie sich
auseinandersetzen müssen:
» Das ist der Markt, dem Sie ausgesetzt sind, den Sie aber auch kennenler-
nen müssen, um Ihr Konzept darauf ausrichten.
» Dazu gehören die Zielgruppen, auf die Sie sich fokussieren wollen, die
aber auch vorhanden sein müssen.
» Das ist der Standort für ihr Projekt, für ihre Buchhandlung, der ihnen zur
Verfügung steht, den Sie aber auch suchen können.
» Und da gibt es „aktive Faktoren“, die Sie - und nur Sie selbst - gestalten,
die nur von Ihnen abhängig sind:
» Ihre Fachkompetenz, denn jede Solidarität mit Ihrem Konzept, Ihrem
Projekt hat seine Grenzen: Die Kunden wollen zufrieden gestellt werden,
wollen kompetent bedient werden, nur dann bleiben sie Ihnen treu.
» Sie brauchen Sozialkompetenz und Konfliktfähigkeit, um Ihr Team von
263
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 12: Ei oder Henne? Was steht am Anfang von Kultur-Konzepten: Sinn oder Zweck?
dem Leitbild zu überzeugen und es damit zu führen, ihre Mitarbeiter-
Innen zu Ihren Partnern zu machen.
» Aufrichtigkeit. „Wasser predigen und Wein saufen!“ - nein, damit kön-
nen Sie zwar kurzfristige Erfolge erzielen, aber für Nachhaltigkeit brau-
chen Sie Aufrichtigkeit, die Vertrauen schafft, auch Solidarität, die Sie in
schwierigeren Zeiten dringend gebrauchen können.
» Innovations- und Lernfähigkeit. Jeder Mensch, auch Ihre KundInnen ent-
wickeln und verändern sich, wollen Neues kennenlernen. Das erwarten
Ihre KundInnen auch von Ihnen. Betrachten Sie Ihre KundInnen dabei
nicht nur als Gäste in Ihrer Buchhandlung, betrachten Sie sie als Partner
und Berater. Lernen Sie von ihnen, damit Sie sie besser kennen, und sie
besser beraten können.
264
265
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 13:Der Künstler ist eine Ware und seine Kunst ein Produkt!? Das Persönlichkeitsprofil Künstler
Steffen�Steglich
Der Künstler ist eine Ware und seine Kunst ein Pro-dukt!? Das Persönlichkeitsprofil Künstler
Hochschule für Musik und Theater Rostock
266
In meinem Vortrag habe ich versucht, wesentliche Diskrepanzen und Schwie-
rigkeiten bei künstlerischen Existenzgründungen aufzuzeigen. Diese liegen „in
der Natur der Sache“. Künstler und Markt. Dieses Wortpaar beschreibt grund-
verschiedene Seinszustände in Modalitäten, Formalien, Zielen und Prozessen.
Jetzt ein kurzer Abriss relevanter Probleme.
Vorbemerkung: Konstituierendes Merkmal unserer Gesellschaft ist die sozi-
ale Marktwirtschaft mit unterschiedlicher Gewichtung zwischen „sozial“ und
„Markt“, je nach politischer Priorität. Primäres Ordnungsprinzip sind finanzielle
Abläufe. Hauptsächliches Regulativ ist das liebe „Geld“. Ein Blick auf die Vertei-
lung des Staatsetats und speziell das Kulturressort verdeutlicht die Spielräume
kulturellen Unternehmertums.
Während im öffentlichen Diskurs das Berufsbild Künstler gern als Beispiel für
grenzenlose Kreativität bei der Gestaltung der eigenen Arbeitsbiographie be-
sonders betont und die unkonventionelle Herangehensweise an komplexe
Problemstellungen hervorgehoben werden, fragen sich die wenigsten, warum
das so ist.
Künstler sind „einzelkämpferische“ Einzelkämpfer, die nur deshalb aus „Nichts“
etwas - im günstigsten Fall - Besonderes schaffen, weil die Rahmenbedin-
gungen bei der Verwirklichung eigener Ideen sie dazu zwingen. Ein hohes Maß
an Selbstausbeutung und Opferbereitschaft ist die zu gern verschwiegene Vor-
raussetzung beim Kunstschaffen. Das heißt nicht, dass Künstlern, wegen ih-
rer Neigung zum „Wahren“, „Schönen“ und „Guten“, ein besonders geschützter
Arbeitsraum geboten werden muss, aber Aufwand und Ergebnis stehen zu
oft in einem großen Missverhältnis. So etwas banales, wie die Würdigung der
267
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 13:Der Künstler ist eine Ware und seine Kunst ein Produkt!? Das Persönlichkeitsprofil Künstler
organisatorischen und künstlerischen Vorbereitung, bevor man das Konzert,
das Schauspiel, die Oper, die Ausstellung genießen kann, wäre angemessen.
Dies tut aber der „Markt“ nicht. Er bewertet nur Produkte. Künstlern ist aber
der Schaffensprozess genauso wichtig wie das „Produkt“. Eine mögliche Form
von Würdigung wäre z.B. die juristische Anerkennung der Berufsfelder als Gan-
zes (SchauspielerIn ist immer noch kein anerkannter Beruf trotz 8-semestrigen
Hochschulstudiums), oder eine Umverteilung von Ressourcen, die dem künst-
lerischen Schaffen auch gerecht wird.
Beim Thema der Ringvorlesung bin ich gespalten. Einerseits sind kulturelle
Unternehmensgründungen in jedem Fall wünschenswert und notwendig.
Andererseits ist die Gründung eines künstlerischen Unternehmens oft keine
freiwillige Wahl, sondern existenzielle Notwendigkeit. Nichts gegen „Druck“ als
Initial für künstlerische Unternehmensgründung, jedoch nur mit diesem (wirt-
schaftlichen) Druck ist keine wirklich künstlerische Arbeit möglich. Künstler
wollen kein Unternehmen gründen, um zu expandieren oder Profite zu ma-
ximieren, sondern in Freiheit eine künstlerische Idee verwirklichen, jedenfalls
die meisten.
Ein unvereinbarer Punkt für viele Kulturschaffende sind die formalen Vorraus-
setzungen und Bedingungen einer solchen Unternehmung. Bei Begriffen wie
Kosten-Nutzen-Rechnung, Marktanalyse, Profitmaximierung und/oder Markt-
positionierung sind Künstler ganz schnell nicht mehr im selben Raum, da sie
reflexhaft das Weite suchen. Sie befürchten und das sehr oft zu recht, die Be-
schneidung ihrer künstlerischen Freiheit.
Die meisten Gründungen haben dann oft nur einen als positiv bewerteten
Grund. Sich als Künstler die Freiheit zu schaffen, um das eigene Verständnis
268
von Kunst und die damit verbundenen Ideen und Visionen zu verwirklichen.
Nach Altbundeskanzler Helmut Schmidt, soll der zum Arzt gehen, der in der
Politik Visionen hat. Das mag dort stimmen, im künstlerischen Bereich sind sie
der Arbeitsgrund.
Ein weiterer Punkt ist der „Kunst-Markt“. Er schafft solche Arbeitsbedingungen,
die eine Gründung manchmal regelrecht erzwingen und die oft nicht freiwil-
lig vollzogen wird (viele Künstler konkurrieren um sehr begrenzte Etats und
Arbeitsmöglichkeiten, d.h. die Ausstattung mit Ressourcen ist mangels Ver-
ständnis und Einstellung zur Sache per se unterbewertet). Ein Schauspieler,
der mehrere Jahre fest engagiert, nach BAT-Kriterien - Normalvertrag-Bühne
entspricht etwa dem Bundesangestelltentarif (BAT) - entlohnt und vertrag-
lich in seine Arbeit eingebunden ist, dessen Vertrag „nicht verlängert“ wird
und dessen „Typ“ gerade nicht gefragt ist, hat gar keine andere Wahl, als sich
„freischaffend“ zu machen. Das ist bereits eine Unternehmensgründung. Nur
eine solche Unternehmensgründung unterscheidet sich fundamental von der
Gründung eines Handwerkbetriebes z.B.
Es gibt einen Satz von einem großen russischen Schauspiellehrer: „Der Schau-
spieler ist Objekt und Subjekt seiner Arbeit“. Übersetzt kann das bedeuten, er
ist Produzent und Produkt gleichzeitig. Bewertet man das Produkt, bewertet
man auch direkt den Produzenten und den Produktionsprozess. Es gibt keine
Distanz zwischen Schaffendem und Geschaffenem.
Ein weiteres Problem ist die Bewertung des Profits künstlerischen Unterneh-
mertums. Eine Bank freut sich zwar über die Generierung von Mehrwert, aber
von ideellem Mehrwert bei einer gelungenen Kunstproduktion bekommt sie
ihren Kredit auch nicht erstattet. Wenn Künstler eine Wertschöpfung erreichen,
269
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 13:Der Künstler ist eine Ware und seine Kunst ein Produkt!? Das Persönlichkeitsprofil Künstler
dann entsteht Mehrwert meist im Bereich Ästhetik und/oder Idealismus und/
oder Visionen. Das ist nicht wirklich abrechenbar. Dabei ist „kultureller Mehr-
wert“ oft langfristiger und nachhaltiger. Stichpunkte: Entspannung, Erholung,
Horizonterweiterung, Interaktion verschiedener sozialer Milieus. Ein gut aufge-
stelltes, vielfältiges und lebendiges kulturelles Umfeld macht eine Region oft
erst attraktiv, besonders in industriellen Ballungsräumen.
Grundsätzlich besteht die Frage, ob es überhaupt stimmt, dass nach aktueller
Auffassung, was Unternehmertum heute darstellt, der Künstler eine Ware und
seine Kunst ein Produkt ist.
Viele Bekannte von mir, die „in Kunst machen“, verneinen das vehement. Ist
diese Ablehnung verständlich, in jedem Falle ja. Ist sie zeitgemäß, in jedem Fal-
le nein.
Denn mit dieser provokanten Aussage wird ein künstlerisches Individuum zu-
nehmend konfrontiert, weil Wirtschaft und Kunst neue Allianzen schmieden.
Viele Künstler arbeiten heute als Teil einer Dienstleistungsgesellschaft. Wirt-
schaftlich betrachtet, erbringt ein Künstler eine „immaterielle Dienstleistung“.
Außerdem verändert der Staat seine Kulturhoheit zugunsten privater Initiati-
ven. Das zeigt sich u. a. in der Erneuerung des Stiftungsrechts. Kunst wird zum
Wirtschaftsfaktor, z. B. bei der Entwicklung von Corporate-Identity-Konzepten
in Firmen und in der Etablierung einer internen und externen Unternehmens-
kultur. Außerdem entwickelt sich die Kunst mehr und mehr zu einer Industrie
mit marktwirtschaftlicher Arbeitsweise.
Hubert Christian Ehalt schreibt: „Kunst und Kultur sind am Beginn des 21. Jahr-
270
hunderts wichtige Entscheidungs-, Aktions- und Gestaltungsfelder im poli-
tischen, im gesellschaftlichen und im wirtschaftlichen Handeln, im Leben der
Individuen ebenso wie in dem der kleinen und großen sozialen Einheiten. …
…Kultur bezeichnet und betrifft die Bewältigung, Aneignung und Gestaltung
der Welt, Kunst die professionelle ästhetische, reflexive und kritische Auseinan-
dersetzung mit dieser Welt, im impliziten oder expliziten Auftrag der Gesell-
schaft. … … Die Gestalter und Manager des immer mehr nach globalen Spiel-
regeln funktionierenden wirtschaftlichen Lebens möchten die schöpferischen
Potenziale der Kunst und der Künstlerinnen und Künstler, die sich über lange
Zeiträume in a prima vista funktionsfreien Räumen entwickeln und entfalten
konnten, für ihre Zwecke einer florierenden Wirtschaft und der Profitmaximie-
rung nutzen. … … Dementsprechend dominieren zwei Begriffe – Kunstmarkt
und creative industries -, die beide Ausdruck der allgegenwärtigen Ökonomi-
sierung des gesellschaftlichen Lebens sind, die aktuellen Diskurse über Kunst.“
Und weiter, und dieser Satz ist aus der Kunstperspektive Sprengstoff: „Der
Kunstmarkt ist bestrebt, seine Objekte (i. S. v. Kunstprodukte, Anm. d. Verf.)
marktgängiger zu machen … . (Aus: Eric J. Hobsbawn, Hubert Christian Ehalt:
Kunst und Kultur am Ausgang des 20. und am Beginn des 21. Jahrhunderts.
Wiener Vorlesungen • Picus-Verlag)
Vorab, dieses Buch empfehle ich sehr, aber aus Sicht des Künstlers tut es richtig
„weh“. Kurz gefasst, ist man erst mal im Markt, hat man die Gesetze, z.B. von
Angebot und Nachfrage, zu befolgen. Und dieses Prinzip trifft nicht mehr nur
Einzelne, die das so wollen, sondern der ganze Bereich wird in Zukunft so ar-
beiten. Wenn er nicht schon tut. Das wollen Künstler oft nur bedingt oder gar
nicht. Warum? Das liegt am Selbstverständnis der Kunstschaffenden und deren
Arbeitsweise. Ein wichtiges Stichwort ist der „künstlerische Prozess“.
Egal in welcher Kunstrichtung, lässt er sich nicht logisch formalisieren, wie es
271
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 13:Der Künstler ist eine Ware und seine Kunst ein Produkt!? Das Persönlichkeitsprofil Künstler
wirtschaftliche Prozesse verlangen. Ein Künstler schafft im Spagat von tota-
lem kreativen Chaos und künstlerisch-handwerklichen Ordnungsprinzipien.
Am Anfang der Reise ist oft das Ergebnis nicht bekannt. Das wirtschaftlich
zu managen, ist äußerst schwierig. Und deshalb zum Kern meines Vortrages.
Dem (Miss)Verhältnis von Künstlern und Kulturmanagern. Da ich in beiden Be-
reichen tätig bin, habe ich Einblick in die Prozesse und muss oft feststellen,
dass zwischen Künstlern und „Kunstverwaltern“ ein angespanntes Verhältnis
herrscht. Warum ist das so?
Einfach gesagt, das Unverständnis über die Arbeitsweise des Anderen und die
mangelnde Bereitschaft Konsens durch Verstehen zu erzeugen. Das hat auch
viel mit der Machtverteilung zu tun. Da Management und Verwaltung oft mit
Geldverteilung gleichgesetzt wird, glauben sich künstlerisch Schaffende in Ab-
hängigkeit von Formalien und Apparaten des Marktes und passen sich an. Das
verhindert die notwendige Behauptung künstlerischer Freiräume und der Ak-
zeptanz individuell geprägter Modalitäten in künstlerischen Arbeitsprozessen.
Viele Kulturmanager wissen oftmals gar nicht, was die von Ihnen verwaltete
Klientel da so macht und wie ein künstlerischer Prozess je nach Gebiet abläuft.
Und viele wollen es gar nicht wissen. Denn die Kreativindustrie ist von Jahr zu
Jahr umsatzstärker geworden, und materielle Anreize bestimmen die Berufs-
ausübung. Andersherum interessieren sich viele Künstler auch nicht wirklich
für die Arbeitsabläufe derer, die Ihnen die Säle füllen.
Das ist fatal. Denn in einem Bereich, der von den Ressourcen ohnehin schlecht
aufgestellt ist, sind interne Spannungen nicht hilfreich.
Darum ist ein weiteres, oft unterschätztes konstituierendes Merkmal der Kul-
turwirtschaft die Verbindung von Individuen unterschiedlichster subjektiver
272
Ausprägung, und die Anerkennung der daraus resultierenden Eigenarten, re-
spektive Eigenwilligkeiten. Und mit der Anerkennung ist das so eine Sache.
Es herrscht oft die stillschweigende Vereinbarung, wenn ich schon so schlecht
bezahlt werde, soll ich wenigstens anerkannt werden, in dem was ich tue. Die
wird aber immer weniger gegeben, da formale Kriterien, die Kunstproduktion
bestimmen, nach dem Motto, Hauptsache das Produkt verkauft sich, wie wir
dahin kommen ist egal. In der Kultur und im Besonderen der Kunst kann man
da oft von einem regelrechten „Clash of Subjects“ sprechen.
Dieses Verhältnis ist exemplarisch für die Aversion von Künstlerinnen und
Künstlern, sich in den Markt mit eigenem Unternehmen zu begeben. Denn
dann, so behaupten viele, geht ihre künstlerische Identität verloren, wobei da-
mit auch die eigene Persönlichkeit gemeint ist. Das ist zum Teil richtig, siehe
oben, „Objekt“ und „Subjekt“ seiner Arbeit.
Somit scheitern Gründungen im kulturell-künstlerischen Bereich nicht an for-
malen, sondern an subjektiven Kriterien. Das heißt aber nicht, Künstler sind für
Existenzgründungen ungeeignet.
Ganz im Gegenteil. Künstlerische Arbeitsweise hat die ganze Entwicklung
von Arbeitskultur im digitalen Zeitalter vorweg genommen. Wir erleben zur-
zeit eine Immaterialisierung von Arbeit und ihren Ergebnissen, eine partielle
Abgabe der Kontrollmöglichkeit von Arbeitsabläufen, da sich die Komplexität
von Arbeitsystemen allein durch Digitalisierung und Globalisierung immens
vervielfältigt hat.
Künstler sind die „Multitasker“ schlechthin, mit hoher „Leidensfähigkeit“ und
Kondition, nur eines muss Ihnen der Markt gewähren, Sinngebung und Aner-
273
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 13:Der Künstler ist eine Ware und seine Kunst ein Produkt!? Das Persönlichkeitsprofil Künstler
kennung bei dem was sie in den Markt einbringen.
Am Ende eine Anekdote vom Filmregisseur Stanley Kubrick:
Aus der Dankesrede zum DGA DW Griffith Award von 1998:
„Ich glaube der Ikarus-Mythos ist falsch interpretiert worden. Die Deu-
tung lautet nicht, flieg nicht zu hoch, sondern es muss eher heißen, ver-
giss das Wachs, mach bessere Flügel.“
274
275
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 14: Karriere- und Projektplanung für Musiker – Musikmanagement an der HMT Rostock
Prof.�Dr.�Sebastian�Nordmann
Karriere- und Projektplanung für Musiker – Musikma-nagement an der HMT Rostock
Hochschule für Musik und Theater Rostock
276
Das Fach „Musikmanagement für Musiker“ basiert auf drei Säulen: dem Mu-
sikmanagement, der Musikvermittlung und der Karriereplanung. Im Musikma-
nagement steht die Veranstaltungsorganisation im Mittelpunkt, während es
in der Musikvermittlung um die Interaktion zwischen Musikern und Publikum
geht. Bei der Karriereplanung wird in einem Einzelgespräch der persönliche
Werdegang unter die Lupe genommen. Die Studenten lernen selbständig ein
Konzert in Rostock sowohl programmatisch als auch organisatorisch zu planen
und am Ende des Semesters umzusetzen. Als Gesprächspartner für den Be-
reich Karriereplanung werden Alumnis und Professoren der HMT Rostock als
auch externe Gesprächspartner wie der Cellist Daniel Müller-Schott, der Agent
Dr. Christian Kuhnt oder der Festspielgründer Dr. Matthias v. Hülsen eingela-
den. Zusätzlich werden Exkursionen wie z.B. zum Konzerthaus Berlin oder zu
den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern angeboten.
Der Musiker soll dabei keinesfalls zum Kulturmanager ausgebildet werden,
sondern er erhält viel mehr die Handwerkzeuge, die heutzutage zum Bestehen
auf dem freien Musikmarkt nötig sind. Die zunehmend veränderten und von
Konkurrenz geprägten Marktbedingungen für professionelle Musiker bringen
eine Vielzahl an Problemen mit sich:
» Es kommen zu viele Absolventen auf zu wenig freie Stellen.
» Deutsche Musiker müssen sich im globalisierten Markt vermehrt mit sehr
gut ausgebildeten Musikern aus dem Ausland messen.
» „Music Career Development“, in den USA während des Studiums eine
Selbstverständlichkeit, ist in Deutschland immer noch ein absolutes Aus-
nahmethema und erwirkt dadurch zum Teil enorme Wettbewerbsnach-
teile für Absolventen der deutschen Musikhochschulen.
» Viele Studierende lassen in ihrer Ausbildung eine adäquate Selbstrefle-
277
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 14: Karriere- und Projektplanung für Musiker – Musikmanagement an der HMT Rostock
xion und Einschätzung ihres zukünftigen beruflichen Werdeganges ver-
missen, so dass sie ihre Karriere, wenn überhaupt, erst sehr spät planen.
Die sich verstärkende Kluft zwischen ausgebildeten Hochschulabsolventen
und tatsächlich freien Stellen wurde ja bereits angedeutet. Als anschauliches
Beispiel dienen folgende Statistiken: Gab es 1992 in Deutschland noch 12.159
Planstellen in 168 Orchestern, so haben sich diese Zahlen bis 2007 auf 10.052
verringert. Durchschnittlich verlassen 1.500 fertig ausgebildete Orchestermu-
siker jährlich die deutschen Musikhochschulen und stehen dabei lediglich
circa 150 freien Orchesterstellen gegenüber. Bei einem offiziell ausgeschrie-
benen Probenspiel kommen 100 bis 150 Bewerber auf eine Stelle, in einigen
Fällen sogar bis zu 300. Nur jeder Zehnte aller Opernsolisten bekommt eine
Vollzeitstelle, nur ungefähr ein Viertel aller Absolventen arbeitet in den Opern-
chören und circa die Hälfte aller Sänger ist freiberuflich tätig.
Sind die heutigen Musikhochschulabsolventen diesen geschilderten Erforder-
nissen gewachsen und inwieweit werden sie im Rahmen ihrer akademischen
Ausbildung hinsichtlich von Kompetenzen im Musikmanagement und in der
Karriere- und Berufplanung vorbereitet?
Eine Befragung von 418 Musikhochschulabsolventen zur Ausbildung und
zum Arbeitsmarkt (Streicher, Bläser, Sänger und Pianisten) durch das IBFM
Paderborn ergab, dass das Berufsziel aller Studenten zu Beginn des Studiums
die Stelle eines Orchestermusikers oder. Solisten ist. Befragt nach ihrem Wer-
degang nach Abschluss des Studiums bekommen ca. 45 % feste Vollzeitstel-
len z.B. im Orchester oder im Chor, ca. 1/3 arbeiten freiberuflich (Orchester-/
Choraushilfen, Kammerorchester, Instrumentallehrer, Honorarverträge u. ä.)
oder kombinieren freiberufliche mit befristeter Orchester-Tätigkeit. Circa 13%
278
finanzieren sich mit musikalischen und zusätzlichen nicht-musikalischen Tätig-
keiten (z.B. Kulturmanagement, Gastronomie, Marketing) ihren Lebensunter-
halt. Ausnahme sind hierbei die Pianisten, von denen nur 14% eine unbefriste-
te Festanstellung an Musikschulen haben, 60% sind freiberuflich tätig, z.B. als
Korrepetitoren, Begleiter oder Privatlehrer.
In derselben Studie ergibt die Beurteilung der akademisch-musikalischen Leh-
re bzw. Ausbildung darüber hinaus ein stark differenziertes Bild:
» gute bis sehr gute persönliche Betreuung durch die Hauptfachlehrer
» Kritik an fachlich-praktischer Berufsvorbereitung auf Orchester/Chor, an
Karriereberatung und Berufsinformationen
» Fähigkeiten, die im Studium nur ungenügend vermittelt werden: fach-
liche (z.B. mangelnde Vorbereitung auf Probespiel/Orchesterliteratur),
persönliche (z.B. musikalische und menschliche Anpassung im Orche-
ster), pädagogische und unternehmerische Fertigkeiten (z.B. Zeitdruck
nach dem Studium)
» weitere Problemfelder: zu spätes Berufseinstiegsalter (v. a. Sänger), man-
gelnde Teilnahme an internationalen Wettbewerben, mangelnde Zusatz-
qualifikationen (v. a. bei Musiklehrern)
Um diesem Trend frühzeitig entgegenzuwirken, sollte der Student verschie-
dene Kompetenzen während des Studiums erlernen:
» Primärkompetenz: musikalische Fachausbildung (Instrument, Gesang)
» Sekundärkompetenz: Kenntnisse der Musikszene, Marketing, Manage-
ment, Betriebswirtschaft
279
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 14: Karriere- und Projektplanung für Musiker – Musikmanagement an der HMT Rostock
Befragt man allgemein Musik-Studierende, welche Probleme - im Sinne von
Kompetenzmängeln – sie als die größten Hürden ihrer Karrierechancen ansä-
hen bzw. an welcher Stelle ein enormer Nachholbedarf bestehe, so nennen
diese vor allem:
» das Organisieren eines optimalen Zeitmanagements,
» die Schaffung eines Alleinstellungsmerkmales,
» der adäquate Kontakt zu Agenturen,
» der Produktionsprozess einer CD,
» das Erstellen einer aussagekräftigen Bewerbung,
» die Zusammenstellung eines attraktiven Programms,
» die Kenntnisse über Eigenveranstaltungen,
» die Finanzierung und/oder Versicherung eines eigenen Instrumentes,
» die Organisation von Wettbewerben, Vorspielen und Auftritten,
» die Nutzung geeigneter Fundraising-Instrumentarien,
» die notwendige Auseinandersetzung mit dem Thema Steuern und Siche-
rung des Lebensunterhalts,
» das rechtlich Grundwissen bei Vertragsabschlüssen,
» das Erstellen von Pressemitteilungen und der Umgang mit Journalisten,
» die Chancen und Risiken einer Existenzgründung und/oder Freiberuflich-
keit,
» und ein geeignetes Mentaltraining.
Musikerinnen und Musiker erhöhen im Regelfall ihre Chancen, wenn sie ver-
stärkt Eigeninitiative, Kreativität, Innovation und unternehmerisches Denken
entwickeln und dieses stets wechselseitig mit ihrem individuellen künstle-
rischen Schaffen in Einklang bringen. Um sich vor allem zeitlich der Primär-
kompetenz zu widmen, d.h. der Ausbildung im künstlerischen Bereich, sollte
280
der Student sich frühzeitig Gedanken über mögliche externe Hilfestellung ma-
chen. Der Musiker trifft hierbei auf fünf verschiedene Agententypen: Personal
Manager, Business Manager, Anwälte, Vermittler oder Public Relation Partner.
Jede dieser spezifischen Formen von Künstlerbetreuung und/oder –beratung
impliziert unterschiedliche Formen von Managementmodellen:
» Selbstmanagement
• keine Fremdkontrolle
• gesamte Planungen werden selbstständig durchgeführt
• zunächst sehr kostengünstig, aber langfristig können bestimmte
Fehler viel mehr Kosten verursachen
» Limitiertes Management
• Outsourcing von Aufgaben
• prozentuale Gewinnbeteiligung
» Ganzheitliches Management
• Terminplanung durch Sekretariat
• Konzertvermittlung
• monatliche Basishonorierung
• Impresariat (Geschäftsführung)
Um sich für eines der genannten Management-Modelle zu entscheiden, sollte
der Student seine Karriereziele definieren: „Wer nicht weiß, wohin er will, darf
sich nicht wundern, wenn er woanders ankommt!“ Dieser Satz von Mark Twain
beschreibt auf markante Art und Weise, dass die Karriereplanung jedes Künst-
lers oder jeder Künstlerin stets und ständig nur personengebunden funktio-
nieren kann.
281
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 14: Karriere- und Projektplanung für Musiker – Musikmanagement an der HMT Rostock
Hierbei kann die individual-persönliche Karriereplanung wie folgt in drei große
Bereiche ausdifferenziert werden:
1. Kompetenzen erkennen
a) Was kann ich? Welcher Karrieretyp bin ich?
b) Stärken-Schwächen-Analyse (SWOT)
c) Gefahren-Chancen-Analyse (SWOT)
2. Ziele setzen und erreichen
a) Was will ich erreichen?
b) Planung der beruflichen Entwicklung
c) Handlungs- und Zeitplan (Roadmap)
3. Work-Life-Balance, z. B.
a) Will ich an einem festen Ort bleiben?
b) Will ich abends oder am Wochenende frei haben?
c) Muss ich mich nach den Schulferien richten?
Soll eine derartige Karriereplanung nachhaltig funktionieren, so erfordert die-
se Ehrlichkeit, Offenheit, eine realistische Selbsteinschätzung sowie eine stän-
dige Aktualisierung und Reflexion von außen.
Mit der Umstellung auf den Bachelor/Master-Studiengang sollte an den Musik-
hochschulen darauf geachtet werden, dass das Fach „Musikmanagement für
Musiker“ eingeführt und nicht erst im Master-Studiengang integriert wird. Die
Beschäftigung mit dem Musikmarkt sollte frühzeitig angeboten und praxisnah
vermittelt werden.
282
283
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 15: Festivalplanung: Prozesse und Risiken
Prof.�Dr.�Birger�Petersen�/�Prof.�Peter�Manfred�Wolf
Festivalplanung: Prozesse und Risiken
Hochschule für Musik und Theater Rostock
284
1. Neue Musik und Event – zum Selbstverständnis
Man kann ohne Übertreibung sagen: Mecklenburg-Vorpommern hat sich seit
der Wende in ein Musikland verwandelt. Dies gilt insbesondere für die Som-
merzeit, in der regelmäßig bis zu fünf groß dimensionierte Festivals stattfinden.
In Rostock, der größten Stadt des Landes, ist zudem seit 1994 die Hochschule
für Musik und Theater beheimatet, deren Veranstaltungen bis weit in die Regi-
on ausstrahlen. Hinzu kommen die vier Orchester des Landes, städtische und
private Musikschulen, zudem die Kirchenmusik mit ihrer Ausbildungsstelle an
der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Doch alle Anstrengungen der
unterschiedlichen Veranstalter beschränken sich zumeist auf die Musik der hi-
storischen Epochen Barock, Klassik, Romantik einschließlich der beginnenden
Moderne.
Hier eine Ergänzung mit heutigem Musikschaffen zu wagen, den Versuch zu
unternehmen, die Lücke zur zeitgenössischen, zur Neuen Musik zu schließen,
ist Anliegen des Projekts „Brücken“ – dem Festival für Neue Musik in Meck-
lenburg Vorpommern. Neue Musik ist die kritische kompositorische Ausei-
nandersetzung mit dem musikalischen Erbe und seinem Hineinwirken in die
Gegenwart: Neue Musik benötigt mehr Aufmerksamkeit – Aufmerksamkeit im
Detail (intensiveres Zuhören), aber auch erhöhte Zuwendung im Sinne der Öf-
fentlichkeit: Sie wird zu selten gespielt. Beide Aspekte bedingen einander: Der
Neuen Musik kann kritische Aufmerksamkeit nur entgegengebracht werden,
wenn sie mehr zum Gegenstand der Auseinandersetzung wird.
Neue Musik: Bereits das Wort oder die Begriffseinheit weckt Widerspruch oder
zumindest Unverständnis. Denn was soll das eigentlich bedeuten? Antenne
MV oder N-Joy Radio behaupten fortwährend, Neue Musik zu senden, hier
kann man auch die Steigerung vermeldet hören: „Die Neueste Musik von heu-
te“. Gerade hier lässt sich vielleicht am sinnfälligsten der Unterschied deutlich
285
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 15: Festivalplanung: Prozesse und Risiken
machen: Während die genannten und andere Radio-Sender den rein zeitlichen
Aspekt der Entstehung der Songs (falsche Bezeichnung!) oder Lieder (wieder
falsch!), also sagen wir: der Pop-Songs, meinen (und andere Musik als Pop-Mu-
sik gibt es für sie ohnehin nicht), ist hier mit der Wort-Zusammensetzung eine
bestimmte Tradition der Musikentwicklung der heute sogenannten E-Musik
gemeint, die entstanden ist durch ein in den Kompositionen und verbalen
Äußerungen von Komponisten sicht- und hörbar werdendes „sich aufeinander
Berufen“, des „sich aufeinander Beziehens“ und des Entstehens neuer Wege in
der Behandlung und Verwendung der unterschiedlichen musikalischen Para-
meter, mitunter auch des Veränderns dieser Parameter selbst, durch die kom-
positorische Praxis.
Dass dies im Alltag auch hier allzu oft zu einer oberflächlichen Beurteilung
und Einstufung rein nach dem Entstehungsdatum erfolgt, ist eben dem Alltag
geschuldet und dient vor allem Musikverlagen, Publizisten und Musikwissen-
schaftlern, natürlich auch den Medien. Ernst genommen bedeutet die vorste-
hende Definition aber, dass ein Werk vielleicht vor 300 Jahren entstanden sein
kann, also als historisch und eben nicht neu einzustufen ist, dass es aber mit
der Wucht des dort gewagten und praktizierten „musikalisch Neuen“ bis heute
fortwirkt und mittel- oder unmittelbar einen wichtigen Einfluss auf heutiges
Komponieren ausübt. In jeweils unterschiedlichen Aspekten gilt dies sicher für
die Werke der Komponisten, die wir bis heute eben als (unsere) Meister be-
zeichnen: Machaut, Josquin, Monteverdi, Bach, Beethoven, Brahms, Wagner
usw. Doch die Linie setzt sich eben im 20. Jahrhundert fort: Schönberg fußt
auf Brahms, Beethoven und Bach, Webern war direkter Schüler Schönbergs,
Stockhausen, Lachenmann, Rihm – und hier sind zwei Komponisten genannt,
die heute leben und arbeiten: Lachenmann und Rihm nennen Webern als erst-
rangigen Beziehungspunkt. Gleiches ist für Nono und Boulez festzustellen.
Die „Linie“ schließt aber auch ein, was sich ihr widersetzt, also Komponisten,
286
die bewusst, also in der kompositorischen und reflexiven Auseinandersetzung
mit der Tradition zu anderen Wegen gelangen, was also nicht einfach in der
Tradition „wurstelt“, wie Lachenmann es einmal ausdrückte, sondern tatsäch-
lich wurzelt. Henze oder Kurtág, Feldman oder Cage wären hier zu nennen
und viele andere. Diese Traditionslinie schließt aber eben solche Werke und
Komponisten aus, deren historischem Verständnis ein bloß adaptierendes und
eben nicht weiterarbeitendes Moment innewohnt. Alter Wein in neue Schläu-
che oder Neuer Wein in alte Schläuche: beides reicht nicht aus.
Deutlich wird: Es geht um Kunst, nicht allein um das Befriedigen eines ober-
flächlichen Schönheits- oder Erlebnisaspektes; Komponieren im vorgenannten
Sinne ernst genommen und begriffen, kategorisiert Musik als philosophische
Disziplin. Dies steht aber einer heute so häufig verfolgten Event-Strategie dia-
metral entgegen. Und hier wird das vielleicht größte Missverständnis heutiger
Kulturaktivitäten überhaupt deutlich: das Diktat der Quote. Tatsächlicher Kunst
kann es nicht um eine vordergründige Erfüllung eines Quotenbedürfnisses
gehen. Genau dies schließt aber der Begriff Event automatisch mit ein. Neue
Musik meint viel mehr „E“, als es die Kategorie „E-Musik“ der Werbestrategen
jemals meinen kann. Sie kann und wird wohl niemals ein Massenpublikum an-
sprechen. Das bedeutet aber im Umkehrschluss eben auch, dass keine poten-
ziellen Interessenten am Wege liegen gelassen werden dürfen. Wer sich öffnen
möchte, prinzipiell bereit ist, sich Neuem auszusetzen, muss angesprochen
werden, muss informiert werden, durch die Werbemaßnahmen, die ergriffen
werden.
Innerhalb des soeben beschriebenen Rahmens ist vieles, eigentlich alles denk-
bar: Ein Konzert mit Neuer Musik beim Landesgestüt Redefin – warum nicht?
Dass das dann aber wohl eine ganz andere „Hengstparade“ wird, muss jedem
klar sein, der so etwas plant. Da wird dann eher einiges von dem hinterfragt
werden, was sonst untrennbar mit dem „Event“ verbunden ist.
287
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 15: Festivalplanung: Prozesse und Risiken
Trotzdem gibt es, das wäre natürlich falsch zu leugnen, Events der Neuen Mu-
sik. Dies sind die großen Festivals und Kurse die in jährlichem oder zweijäh-
rigen Wechsel stattfinden: Die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, Das
Festival „Musica Viva“ (München), die Donaueschinger Musiktage, der War-
schauer Herbst, das „Eclat“-Festival (Stuttgart) oder das Festival Bourges (für
Elektronische Musik). Doch diesen Ereignissen ist gemeinsam, dass sie nie als
Event geplant waren, sondern sich als Festivals, deren Ursprung zumeist eine
in täglicher Serie angeordnete Konzertfolge war, stets erst im Laufe der Jahre,
über viele Ausgaben hinweg, hierin gleichsam selbst eine Tradition begrün-
dend, dazu entwickelten. Ein für die Sache, für die Neue Musik sich hinzugesel-
lender Bedeutungszuwachs förderte diese Entwicklung.
Besonders deutlich wird dies für das Beispiel der Darmstädter Ferienkurse:
Geplant nach dem Krieg, als ein notwendiges Nachholen von musikalischem
„Know-How“ für jene deutschen und europäischen Komponisten, die unter
den Nazis schweigen mussten bzw. die ins Exil gegangen waren, entwickelte
sich bereits Ende der Vierziger Jahre Darmstadt zu einem Treffpunkt für Kom-
ponisten aus allen Teilen der Erde und, und das war wohl der eigentlich ge-
winnbringende Effekt, auch zu einem Treffpunkt von Interpreten. Erst dadurch
gewann das Festival wirklichen Event- und Campus-Charakter. Die großen Mei-
ster veröffentlichten ihre großen Werke nicht irgendwo, sondern sparten sie
auf, für den Sommer, für Darmstadt.
Eine solche Entwicklung, die eine Expansion einschließt, ist übrigens weitaus
gesünder und nachhaltiger als die mit einmalig viel Geld installierten Events,
die nach der dritten Ausgabe eingestellt werden müssen, weil es an der Bereit-
schaft für derartige Finanzaufbringungen mangelt. Das „Event“ in der Neuen
Musik muss in der Musik selbst liegen, in der Tatsache, dass Komponisten und
Interpreten anwesend sind, dass man sie ansprechen und fragen, auch hinter-
fragen kann, dass man mit ihnen diskutiert. Das Abenteuer des Neuen, Unge-
288
wohnten, des Unerhörten – das ist das eigentliche Fest.
So gesehen wird das Festival „Brücken“ wohl niemals Donaueschinger Format
annehmen. Dazu fehlt vor allem auch die Unterstützung des für unsere Re-
gion zuständigen öffentlich-rechtlichen Senders (Donaueschingen z. B. war
vor allem eine Geburt des SWR). Übrigens ein trauriger Umstand, der nicht
allein unser Festival betrifft: Neue Musik findet im Norddeutschen Rundfunk
so gut wie nicht statt, Mecklenburg-Vorpommern erscheint nur zu einem ver-
schwindend geringen Teil, Komponisten aus Mecklenburg-Vorpommern aber
leider gar nicht. Hier wäre der öffentlich rechtliche Auftrag einmal dringend
zu hinterfragen. Aber auch das Schweriner Ministerium für Bildung, Wissen-
schaft und Kultur muss sich natürlich gefallen lassen, gefragt zu werden, wann
es denn gegen diese Praxis einmal aufbegehrt hat und ob denn eine Kulturi-
dentität Mecklenburg-Vorpommerns wirklich auf Ostsee, Müritz und Shanties
reduzierbar sein soll. Eine wirkliche und nachhaltige Kulturförderung für die
im Lande tätigen Kunstschaffenden fehlt in jedem Jahr erneut. Auch in dieser
Hinsicht soll das kleine Festival „Brücken“ ein durchaus vernehmbares Zeichen
setzen.
2. Organisationsformen: Berufsverband und eingetragener Verein
Der Landesverband Mecklenburg-Vorpommern des Deutschen Komponisten-
verbandes (DKV) wurde im Jahr 1996 gegründet und ist seitdem auf 20 Mit-
glieder angewachsen. Die Bandbreite der im Verband repräsentierten Stile
reicht vom Bereich der Popmusik und des anspruchsvollen Jazz bis zur experi-
mentellen Avantgarde. Der schwierigen Gründungsphase, maßgeblich voran-
getrieben und initiiert durch den bis März 2000 im Amt des Landesvorsitzen-
den tätigen Burkhard Meier (Greifswald, † 2001), folgte ab 1997 eine verstärkte
Präsenz des Landesverbandes in der Öffentlichkeit. Seit 1997 ist der Landes-
289
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 15: Festivalplanung: Prozesse und Risiken
verband im Landesmusikrat Mecklenburg-Vorpommern mit Sitz und Stimme
vertreten. Im Vorstand des Landesverbandes ist seit 2000 als Vorsitzender Pe-
ter Manfred Wolf tätig, Professor für Komposition an der Hochschule für Musik
und Theater Rostock; seit 2002 heißt sein Stellvertreter Prof. Dr. Birger Petersen,
Lehrkraft für Musiktheorie an derselben Hochschule.
Im großen, zum Teil internationalen Rahmen des Festivals „Brücken“ wird auch
die Präsentation von Komponisten des Landesverbands ermöglicht. Durch die
vielfältigen Aktivitäten der Verbandsmitglieder sowie die Wahrnehmung der
Pflichten beim Landesmusikrat ist der Landesverband zu einem unverzichtbaren
Faktor in der kulturellen Prägung Mecklenburg-Vorpommerns geworden und
trägt seinen Teil zur Herausbildung einer regionalen Kulturidentität bei.
Der 2004 gegründete Verein für Neue Musik Mecklenburg-Vorpommern e.V.
trägt zur Förderung der Neuen Musik im Land Mecklenburg-Vorpommern
durch organisatorische Arbeiten insbesondere in Zusammenarbeit mit dem
Landesverband Mecklenburg-Vorpommern des Deutschen Komponisten-
Verbandes (DKV) bei. Der Verein veranstaltet Konzerte wie das „Forum Junger
Komponisten“, organisiert Festivals wie „Brücken. Festival für Neue Musik in
Mecklenburg-Vorpommern“ oder „Neue Kammermusik“ und führt Roundta-
ble-Diskussionen und Symposien, Vorträge und Fortbildungen durch. Mitglied
werden können alle an Neuer Musik Interessierten – Musiker (Interpretinnen
und Interpreten, Komponistinnen und Komponisten), Musikwissenschaftle-
rinnen und -wissenschaftler, Musikliebhaber und Politiker, Vereine und Gesell-
schaften.
3. Fallbeispiel „Brücken“: Vom Event zum Alltag
Das Projekt „Brücken“ – Festival für Neue Musik in Mecklenburg-Vorpommern
290
wird getragen durch den Landesverband des DKV, den Verein für Neue Musik
M-V und die Hochschule für Musik und Theater Rostock, in deren Räumen es
mit dem überwiegenden Teil seiner Veranstaltungen zu Gast ist, für die es im
Gegenzug aber auch obligate Teile der Lehre organisiert.
Das Projekt soll jedoch nicht nur hervorragende Musik in hervorragenden In-
terpretationen zur Aufführung bringen, sondern es soll, wie der Name es sagt,
Brücken schlagen:
» zwischen Komponist und Hörer durch Werkstattaufführungen, Werkein-
führungen, Konzertmoderationen und Werkwiederholungen;
» zu jungen, mit Neuer Musik unerfahrenen Musikern (Studierende) durch
Werkstatt-Proben mit arrivierten Komponisten und Ensembles;
» zu Schülerinnen und Schülern aus unterschiedlichen Schulen der Regi-
on durch Diskussions- und Schülerkonzerte mit Komponisten, die ihre
Werke in Schulen vorstellen;
» zwischen und zu Komponisten durch Begegnungen vielfältigster Art (Po-
diumsgespräche, Komponistenseminare). Ein wesentlicher Gedanke ist
weiterhin, eine Brücke zu schlagen zwischen Komponisten der Region
und auswärtigen Komponisten, deren Werke sich in den Repertoires der
eingeladenen Ensembles und Solisten befinden. Zu diesem Zweck wer-
den jeweils ein oder zwei arrivierte und zum Teil berühmte, international
ausstrahlende Komponisten eingeladen. Sie dienen als Ansprechper-
sonen für Hörer und Interpreten, als Gesprächspartner für Komponisten,
leiten Probenworkshops mit jungen Musikern und referieren über im Fe-
stival aufgeführte Werke;
» zwischen Interpreten durch Einladung von auf Neue Musik spezialisier-
ten Solisten und Ensembles, die in Kursen und Workshops über ihre Er-
fahrungen mit Werken und Komponisten berichten und Unterricht ertei-
len. Hier ist auf die besondere Hinwendung zur zeitgenössischen Musik
291
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 15: Festivalplanung: Prozesse und Risiken
durch die HMT hinzuweisen, die seit vielen Jahren den „Grundkurs Neue
Musik“ als pflichtige Veranstaltung für alle künstlerischen und pädago-
gischen Studiengänge in ihren Stundentafeln aufweist.
Ein Grundgedanke des Festivals ist die Zusammenführung von auswärtigem
Musikschaffen (Komposition und Interpretation) mit der Musikszene der Neu-
en Musik Mecklenburg-Vorpommerns.
Dies bedingt eine enge Zusammenarbeit des „Vereins für Neue Musik Mecklen-
burg-Vorpommern“ mit den Kulturträgern vor Ort, vor allem der Hochschule
für Musik und Theater Rostock und ihrem Ensemble für Neue Musik, das unter
der Leitung der Schlagzeugerin Edith Salmen u. a. Werke des oder der eingela-
denen Komponisten zur Aufführung bringt.
Außerdem wird, wenn möglich, auch ein besonderes Projekt versucht, in
dem junge Solo-Interpreten oder Ensembles, die an der Schwelle der Beendi-
gung ihrer Ausbildung oder am Beginn ihrer Karriere stehen, eingeladen um
in einem „Konzert der Jungen“ auf sich und die Neue Musik aufmerksam zu
machen, und auch um auf die Möglichkeit der Selbstprofessionalisierung mit
Neuer Musik hinzuweisen, und gewissermaßen beispielgebend und anregend
auf die jungen Musiker und Studierenden der HMT zu wirken.
Unter den regional arbeitenden Ensembles ragt das Ensemble „mv-connect“
unter der Leitung der Pianistin Ulrike Mai hervor, das seit vielen Jahren die in
enger Zusammenarbeit mit dem Landesverband des Deutschen Komponisten-
verbands veranstaltete Reihe „Neue Kammermusik – Komponisten des Landes
stellen neue Werke vor“ maßgeblich mitgestaltet und für das eine große An-
zahl Kompositionen geschaffen wurden.
Schließlich wird die sprichwörtliche Brücke auch in andere Länder geschlagen,
indem immer wieder internationale Komponisten und Ensembles eingeladen
werden und so quasi brennpunktartig und natürlich auf den jeweiligen Per-
292
sonalstil heruntergebrochen, die betreffenden nationalen Entwicklungen und
Tendenzen durch die aufgeführten Werke repräsentieren. 2008 fand dies z. B.
Ausdruck in dem eigens angesetzten Länderschwerpunkt Tschechien.
Zuletzt sei noch erwähnt, dass auch Brücken zwischen den Künsten in unregel-
mäßiger Folge die Programme der Veranstaltungen bestimmen. Dies hat statt-
gefunden mit dem Festival 2004, in dem Musik und Bild, bzw. Musik und Film
thematisiert waren und 2008, in dem ein wesentliches Thema die biblische
Figur des Hiob war, die in Musik (z. B. Petr Eben), Literatur (Joseph Roth) und
Kunst (Holzschnitte von Annemarie Petersen) dargestellt wurde.
Ganz wichtig ist die Einbeziehung der Komponistenszene der Region. Die
Komponisten des Landesverbands Mecklenburg-Vorpommern des Deutschen
Komponistenverbandes sind bei jeder Festivalausgabe zur Einreichung von
Werken aufgerufen. Sie haben so die Möglichkeit, sich in größerem, gleichsam
prominentem Rahmen zu präsentieren.
Alle diese Anstrengungen dienen natürlich der Verbreitung und der Schaffung
größerer Akzeptanz und eines höheren Interesses für Neue Musik, bei Musi-
kliebhabern ganz allgemein, aber im Besonderen auch bei den angehenden
professionellen Musikern. Sie dienen aber auch der Erschließung neuer Hö-
rerschichten durch die Auslagerung von Konzerten und Veranstaltungen an
andere Orte. So wird zumindest ein Konzert des Festivals jeweils in einer an-
deren Stadt durchgeführt (Schwerin, Stralsund) und auch an einem für Neue
Musik unüblichen Ort (Kirche, Autohaus). Eine Podiumsdiskussion fand 2004 in
einem Restaurant statt.
Neben dem direkten Praxisbezug, also der Aufführung von Werken und der
Heranführung von Studierenden und von Schülern an die Neue Musik (dies
fand u. a. durch Workshops in Schulen statt und speziell organisierten Schü-
lerkonzerten) steht aber auch die theoretische Reflektion der zur Debatte
stehenden Musik und der aufgeführten Komponisten mit im Mittelpunkt. So
293
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 15: Festivalplanung: Prozesse und Risiken
vertiefen eigens für einen Vortrag eingeladene Musikwissenschaftler und Pu-
blizisten, die sich durch ihre Veröffentlichungen zu bestimmten Themen oder
Tonschöpfern als Spezialisten ausweisen, in einer „Lecture“ die während des
Festivals aufgeführte Musik oder den eingeladenen „composer in residence“.
Zudem wird mit diesem Vortragenden, dem oder den eingeladenen Kom-
ponisten, sowie Kulturschaffenden und im Bereich der regionalen Verbände
Funktionen tragenden Personen bei jedem Festival eine Podiumsdiskussion
veranstaltet, die zusätzliche Informationen bringt und den Brückenschlag zur
hiesigen Neue Musik-Szene herstellt.
Inhaltliche Säulen des Festivals sind also:
Composers in residence
» 2004 Nicolaus A. Huber (Essen)
» 2006 Mauricio Kagel (Köln)
Sven David Sandström (Stockholm / Bloomington)
» 2007 Helmut Lachenmann (Stuttgart)
» 2008 Martin Smolka (Prag)
» 2009 Adriana Hölszky (Salzburg / Stuttgart)
Ensembles / Solisten
» 2004 ensemble recherche (Freiburg)
» 2006 ensemble recherche
Liszt-Trio (Weimar)
Alexander Matrosov (Akkordeon, Moskau)
Boreas Blechbläserquintett (Berlin)
» 2007 Stadler Quartett (Streichquartett, Salzburg)
Kroumata Schlagzeugensemble (Stockholm)
294
Orchester der HMT Rostock (Ltg.: Jan Flessel)
» 2008 Ensemble Neue Musik der HMT Rostock
» 2009 ensemble recherche
Ständige Ensembles des Festivals „Brücken“:
» mv-connect, Rostock (Ltg.: Ulrike Mai)
» Ensemble Neue Musik der Hochschule für Musik und Theater Rostock
(Ltg.: Prof. Edith Salmen)
Wissenschaftler / Publizisten
» 2006 Prof. Dr. Hans Werner Klüppelholz (Siegen)
» 2007 Johannes Kreidler, Benjamin Lang, Jan Philipp Sprick,
Prof. Dr. Birger Petersen, Prof. Dr. h.c. Helmut Lachenmann,
Prof. Peter Manfred Wolf, Maik Rechter
» 2008 Dr. Jörn-Peter Hiekel (Dresden)
» 2009 Prof. Dr. Hartmut Möller (Rostock)
Komponisten aus Mecklenburg-Vorpommern
Peter Sabbagh, Birger Petersen, Peter Manfred Wolf, Burkhard Meier, Maik
Rechter, Reinhard Lippert, Malte Hübner, Lutz Gerlach, Michael Baumgartl,
Benjamin Lang, Michael Jüllich, Oliver Korte, Peter Tenhaef, Andreas Pieper,
Gordon Kampe, Thomas Ehricht, Hee-Eun Pak, Julia Deppert
4. Sieben Schritte zum Erfolg: Festivalplanung
Die Planung eines Festivals ist keine Angelegenheit, die man als Musiker im
Rahmen seiner Ausbildung lernt – jedenfalls bislang: Befördert durch die Stif-
295
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 15: Festivalplanung: Prozesse und Risiken
tung einer Professur für Musikmanagement, die der Intendant des Berliner
Konzerthauses, der ehemalige Leiter der Festspiele Mecklenburg-Vorpom-
mern Prof. Dr. Sebastian Nordmann seit dem Wintersemester 2008/2009 be-
kleidet, finden an der Hochschule für Musik und Theater Rostock Seminare für
Musiker statt, in denen diese Arbeit thematisiert wird. Ob nun das Festival groß
oder klein, der Neuen oder Alten Musik gewidmet ist – die sieben Schritte zum
Erfolg sind dieselben:
Anfragen:
Termine (Künstler – Veranstaltungsorte)
Finanzierung:
Öffentliche Mittel – Stiftungen – Sponsoren
Terminierung
Detailgestaltung:
Konzertorte – Konzertprogramme – Programmheft
Öffentlichkeitsarbeit:
Plakate – Flyer – Presseinformationen
Festivalwoche
Nachbereitung:
Öffentliche Mittel – Stiftungen – Sponsoren
Bereits frühzeitig – meist um Jahre voraus – ist die Absprache der Termine mit
den Künstlern, die eingeladen werden sollen, und den Verwaltern der Veran-
296
staltungsorte nötig; das Thema des Festivals sollte entsprechend vorbereitet
sein: Da das Festival „Brücken“ einen oder mehrere composers in residence be-
herbergt, deren Werke aufgeführt werden sollen, ist der erste Ansprechpartner
meist der Komponist oder die Komponistin – besonders, wenn international
renommierte Ensembles wie das Freiburger Ensemble recherche zu Konzerten
eingeladen werden sollen: So erfolgte die Einladung von Wolfgang Rihm, der
im November 2011 als composer in residence in Rostock sein wird, bereits im
Juni 2009.
Parallel erfolgt die Rekrutierung der finanziellen Mittel: Ein Festival wie „Brü-
cken“ kann sich nicht allein tragen und ist im besonderen Maße von Spon-
sorship und öffentlichen Mitteln abhängig. Bisher wurde „Brücken“ von der
Siemens Musikstiftung, der GEMA-Stiftung, der Paul-Woitschach-Stiftung, der
Kulturstiftung des Bundes, der Hansestadt Rostock, regelmäßig von der Or-
chesterförderung des NDR und vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft
und Kultur des Landes Mecklenburg-Vorpommern gefördert; seit 2007 ist es
auch gelungen, mit einem Rostocker Autohaus einen Förderer aus der Region
zu gewinnen. Die Antragstellung muss zu unterschiedlichen Terminen meist
mit großem Vorlauf geschehen.
Die endgültige Terminierung der Festivalaktivitäten kann erst stattfinden,
wenn die Finanzierung gesichert ist; gleiches gilt für Detailvereinbarungen, die
Konzertorte, Programmdetails und die Gestaltung des Programmheftes be-
treffend: Diese Vereinbarungen müssen rechtzeitig stattfinden, denn gerade
eine auch wissenschaftlich gestützte Publikation wie das jährlich erscheinende
„Brücken“-Programmheft benötigt einen Vorlauf.
Die Monate vor dem Festival – für gewöhnlich ab Spätfrühling – sind der Öf-
fentlichkeitsarbeit gewidmet, deren Arbeitsteile sich in die Festivalwoche hi-
neinziehen: Auch Rezensenten sind für die Konzerte zu gewinnen, und die
aktuelle Konzertberichterstattung sorgt – wie eine flächendeckende Plakatie-
297
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 15: Festivalplanung: Prozesse und Risiken
rung in den Konzertorten – für höhere Besucherzahlen.
Ein besonderes Augenmerk muss allerdings bei einem jährlich wiederkeh-
renden Festival auf der Nachbereitung des Festivals liegen: Alle Geldgeber
müssen nicht nur über die Veranstaltungen vor Ort informiert sein bzw. zu
diesen eingeladen werden, sondern auch ständig über Programmänderungen
auf dem Laufenden gehalten und nach dem Festival mit Berichten und einem
Pressespiegel versorgt werden. Die Klammer, die um die Festivalwoche selbst
liegt, ist nicht zu unterschätzen, weil sie für Nachhaltigkeit auf der Basis der
Finanzierung sorgt.
5. Vermarktungsstrategien für Komponisten: Der DKV
Auch die Mitgliedschaft im DKV oder in anderen Berufsverbänden, wie der GVL
oder dem „composers club“, oder die Zugehörigkeit zu Vereinen kann einen
Erfolg als Komponist nicht garantieren, sie kann aber in Hinblick auf die eben
angesprochenen Bedarfe sehr hilfreich sein. Dies gilt insbesondere in Hinblick
auf mögliche Rechtsstreitigkeiten, die sich nicht immer vermeiden lassen. Lei-
der ist die Lebenssituation für Komponisten heute ungleich schwerer als zu
Zeiten der siebziger und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Die Ver-
gabe von Aufträgen für Kompositionen ist rapide zurückgegangen. Dies gilt
auch dann, wenn festzuhalten bleibt, dass dieser Umstand in den einzelnen
Bundesländern sehr unterschiedlich anzutreffen ist, und die Möglichkeit der
Finanzierung durch Nebenverdienste (vor allem für junge Komponisten, die
noch studieren oder gerade der Hochschule entwichen sind, wäre dies wich-
tig) ist praktisch gleich Null.
In diesem Zusammenhang muss die erste Strategie sein, einen Neben-, Zweit-
oder weiteren Beruf zu haben, mit dem der Lebensunterhalt gesichert werden
kann. In früheren Zeiten haben viele Professoren ihren Studierenden geraten,
298
neben Komposition noch Musiktheorie zu studieren, da dann die Möglichkeit
der Arbeit an einer Hochschule besteht. Aber heute fällt auch diese Variante
fast völlig heraus, denn im Zuge der selbstverständlich notwendigen Profes-
sionalisierung des gesamten Musiktheorie-Bereichs an den Hochschulen sind
Spezialisten gefragt, nicht mehr so sehr die „AII-Rounder“.
Vielleicht entwickeln wir uns ja wieder hin zu einer Gesellschaft, in der Kunst
und Kultur nicht mehr als eigens für sich stehende Werte und so als zu för-
dernde Disziplinen angesehen werden, sondern nur noch als Bedarfswunsch,
häufig zum Nebenbei und zur Garnierung von Veranstaltungen artikuliert wird.
Festzuhalten bleibt: Es ist die bei weitem überwiegende Mehrheit der Kom-
ponisten, die von ihren Einnahmen, die sie als Komponist erwirtschaften nicht
leben können. Immerhin können die Beachtung und die Befolgung einiger
Grundstrategien, die hier abschließend ohne Anspruch auf Vollständigkeit ge-
nannt seien, vielleicht für junge Komponisten hilfreich sein, die unabhängig
sind und vorhaben, es mit der Selbständigkeit wenigstens zu versuchen:
1) Wohnortwahl
2) Werbemittel
a) Homepage
b) Printmedien (Flyer, Komponistenbroschüre, Visitenkarten, eigene Artikel)
c) Newsletter
3) Kompositionswettbewerbe
4) Kontakte mit Musikern und anderen Komponisten
5) Kenntnisse des GEMA-Rechts
6) Besuch von Festivals und Konzerten
7) Mitgliedschaft in Kulturverbänden und Vereinen, die Neue Musik fördern
8) Entwicklung eigener Ideen für eine Konzertreihe / Festivals o. ä.
9) Kontakt mit bildenden Künstlern, Schriftstellern, Designern usw.
10) Zeitungsrezensionen
299
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 15: Festivalplanung: Prozesse und Risiken
11) Verlagssuche
Die Wahl des Wohnortes ist selbstverständlich nicht immer frei und unabhän-
gig zu treffen; zumeist sind biographische und private Faktoren hier zumindest
mitentscheidend. Wichtig ist aber, durchaus zu berücksichtigen, dass Kunst
und Kultur, namentlich Neue Musik und somit junge Komponisten in einigen
Regionen Deutschlands eine bessere und Erfolg versprechende Entwicklung
erhoffen können, die sie in anderen dagegen nicht haben werden. Es gilt also,
Informationen zu sammeln und durch die wohlüberlegte Wahl des Wohnortes
allzu schwerwiegende Standortnachteile, die nur durch aufwändige (und
teure) Mobilität aufzuwiegen wären, zu vermeiden.
Die Her- und Bereitstellung von Werbematerialien zur Selbstvermarktung ist
heute so einfach wie noch nie zuvor. Neben einem ständig zu pflegenden und
auszubauenden E-Mail-Verteiler, der in regelmäßigen Abständen und bei an-
stehenden Aufführungen auch in kürzeren Zeitintervallen mit den Neuigkeiten
(Newsletter) zu versorgen ist, sollte ein junger Komponist heute nicht mehr auf
die Selbstwerbung durch eine eigene, gut gestaltete Homepage verzichten.
Die Teilnahme an Kompositionswettbewerben ist im Falle eines Preisgewinns
natürlich in jedem Falle hilfreich. Eigens für einen Wettbewerb zu komponie-
ren kann aber in die Irre führen, arbeitet man doch auf ein Ziel mit äußerst
ungewissem Ausgang hin. Die Aufführung des neu komponierten Werks auch
unabhängig vom Wettbewerb sollte in jedem Falle sichergestellt sein.
Die Mitgliedschaft in der GEMA und im DKV ist unabdingbar. Nur durch diese
Verbände werden die Rechte der Komponisten in Deutschland, also auch die
eigenen, gewahrt.
Die Punkte 4, 6, 7, 8 und 9 stehen ganz im Zeichen, ein auf sich bezogenes Netz-
werk von Kontakten zu errichten, das die Möglichkeit eröffnet, das lokale mu-
sikalisch-kulturelle Umfeld mit zu gestalten und an geeigneten Stellen eigene
300
Aufführungen zu platzieren. Musiker, also potenzielle Interpreten der eigenen
Werke, lernt man nur dort kennen, wo Musiker arbeiten: in Konzerten, bei Fe-
stivals, bei Orchestern, an Hochschulen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang
auch, immer wieder als Komponist aber auch in anderen Funktionen, in denen
man in Verbänden oder Vereinen tätig ist, in Zeitungsrezensionen genannt zu
werden. Das Verfassen von Pressemeldungen und von Benachrichtigungen an
die Presse, um auf Konzerte und Aufführungen aufmerksam zu machen, ist un-
abdingbar.
Ohne Zweifel ist es auch heute sinnvoll, einen Verlag an seiner Seite zu haben.
Aber auch hier gilt es, sorgfältig auszuwählen und möglicherweise auch mehr-
jährige Geduld zu üben. Viele Verlage erwirken heute nicht mehr den Werbe-
effekt wie dies früher, zumindest für die großen Verlage, selbstverständlich ge-
wesen ist. Dass ein Werk wirklich gedruckt, also nicht nur als Kopie der Vorlage
des Komponisten erscheint, ist die absolute Ausnahme. Außerdem sollte man
sich den Vertragstext bei einer bevorstehenden In-Verlagnahme von einem Ju-
risten erläutern lassen.
Zu vielen der vorgenannten Punkte gäbe es noch sehr viel mehr zu sagen.
Doch dies sollte kein „Ratgeber für junge Komponisten“ sein. Es sollte vielmehr
deutlich gemacht werden, in welchem Spannungsfeld Komponisten heute le-
ben. Die Zeiten, in denen ein Komponist sich ausschließlich seiner Arbeit wid-
men konnte, sind wohl endgültig vorbei. Der Komponist ist vielfältig gefragt,
das „Berufsbild“ hat sich komplett gewandelt. Die Abhängigkeiten sind anders
und zum Teil unabsehbarer. Aber die Chancen, die sich daraus ergeben, sind
durchaus interessant und wert, wahrgenommen zu werden.
301
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKapitel 15: Festivalplanung: Prozesse und Risiken
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Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockAutoren- und Referentenverzeichnis
Autoren- und Referentenverzeichnis
304
Braun, Gerald (Prof. Dr.)
Geschäftsführender Direktor des Hanseatic Institute for Entrepreneurship and
Regional Development (HIE-RO) an der Universität Rostock
www.hie-ro.de
Brunner, Heiko
Geschäftsführer des Kunstmuseums „Kunstmühle Schwaan“
www.kunstmuseum-schwaan.de
Bühler, Angelika
Leiterin des Career & Transfer Service Centers an der Universität der Künste
Berlin
www.careercenter.udk-berlin.de
Cohnen, Henrik
Gründer der Initiative ästhetische Erfahrung
www.zeitfuermusse.de
French, Martin
Projektverantwortlicher Social Entrepreneurship und HIE-RO Ringvorlesungen
(Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der
Universität Rostock)
www.hie-ro.de & www.ringvorlesungen.de
Gerdes, Johann (Dr.)
Gründer des Instituts für angewandte sozialwissenschaftliche Forschung und
Evaluation
www.sowi-forschung.de
305
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockAutoren- und Referentenverzeichnis
Heinrichs, Bettina
International tätige Free lanced Designerin & stellvertretende Geschäftsführe-
rin Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der
Universität Rostock
www.hie-ro.de
Keiper, Manfred
Geschäftsführer des Kulturunternehmens „andere buchhandlung“
www.anderebuchhandlung.de
Kohler, Thomas
Geschäftsführer des Naturerlebniszentrums in Waren/Müritz-Müritzeum
GmbH
www.mueritzeum.de
Lange, Bastian (Dr.)
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsschwerpunkt
Regionale Geographie Europas am Leibniz-Institut für Länderkunde Leipzig
www.ifl-leipzig.com & www.bastianlange.de
Lietz, Frauke
Projektleiterin des Projekts „Die Kunst, von Kunst zu leben“ am FBN - Frauenbil-
dungsnetz Mecklenburg-Vorpommern e.V.
www.frauenbildungsnetz.de
Müller, Klaus-Dieter (Prof. Dr.)
Geschäftsführer der IBF Medien GmbH
www.ibf-medien.de
306
Nordmann, Sebastian (Prof. Dr.)
Musikmanagement und Karriereplanung an der Hochschule für Musik und
Theater Rostock & Intendant des Konzerthauses Berlin
www.hmt-rostock.de & www.konzerthaus.de
Pasternack, Andreas
Selbstständiger Jazzmusiker, Diplommusikpädagoge und Leiter der Paster-
nack Bigband
www.andreas-pasternack.de & www.pasternackbigband.de
Petersen, Birger (Prof. Dr.)
Komposition und Musiktheorie an der Hochschule für Musik und Theater
Rostock
www.hmt-rostock.de
Schönfelder, Christoph (Dr.)
Gründer der Initiative ästhetische Erfahrung
www.zeitfuermusse.de
Schubert, Tilman
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Volkswirtschaftslehre - Lehrstuhl
Geld und Kredit an der Universität Rostock
www.wiwi.uni-rostock.de
Steglich, Steffen
Kulturmanagement an der Hochschule für Musik und Theater Rostock & freibe-
ruflicher Schauspieler und Dozent
www.hmt-rostock.de
Stein, Ingo (Dr.)
Dr. Ingo Stein, bis August 2009 Finanzvorstand des Live Entertainment Veran-
307
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockAutoren- und Referentenverzeichnis
stalters DEAG Deutsche Entertainment AG, seit Oktober 2009 Finanzvorstand
des Sensorenentwicklers und -herstellers Silicon Sensor AG.
Wolf, Peter Manfred (Prof. Dr.)
Komposition und Prorektor für Studium und Lehre an der Hochschule für Mu-
sik und Theater Rostock
www.hmt-rostock.de
308
309
Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockKooperationspartner und Förderer
Kooperationspartner und Förderer
310
Europäische Union - Europäischer Sozialfond
http://ec.europa.eu/employment_social
Hochschule für Musik und Theater Rostock
http://www.hmt-rostock.de
Global Entrepreneurship Week
http://www.unleashingideas.org
GLS Bank
http://www.gls.de
rok-tv
http://www.rok-tv.de
Universität Rostock
http://www.uni-rostock.de
Wirtschaftsministerium Mecklenburg-Vorpommern
http://www.regierung-mv.de
www.hie-ro.de
Diese Publikation dokumentiert die 5. Veranstaltungsreihe der, bereits seit 2004 jährlich überaus erfolgreich durchgeführten, HIE-RO Ringvorlesungen zu Unterneh-mertum und Regionalentwicklung und beschäftigt sich diesmal mit dem momen-tan sehr aktuellen Thema „Culture Entrepreneurship – Der Künstler als Unterneh-mer“.
Dem Leser werden in dieser Dokumentation verschiedenste Sichtweisen der sehr jungen, akademischen Disziplin des Culture Entrepreneurship, also der selbst- unternehmerischen Kultur- und Kreativwirtschaft, aufgezeigt. Hierbei liegt die Be-sonderheit dieses Buches darin, dass einerseits tief greifende und theoretisch-fundierte Beiträge sowie Forschungsstudien durch Wissenschaftler einen struktu-rierten und schematischen Einblick ermöglichen. Komplettiert werden diese dann andererseits durch Erfahrungsberichte von Kultur- und Kreativunternehme(r)n aus der Praxis, die die Stärken und Schwächen, aber auch die Chancen und Risiken ihrer kulturellen Unternehmungen innerhalb der Rahmenbedingungen Deutsch-lands schildern. Hierbei werden stets die Spannungsverhältnisse zwischen Kultur-förderung und Freiberuflichkeit sowie zwischen Mainstreaming und künstlerischer Individualität aufgezeigt, ganz im Sinne des Ansatzes: Die Kunst von Kunst zu leben!
Herausgeber:Gerald Braun, Martin French - HIE-RO (Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität Rostock)
Bezug über:HIE-RO - Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität RostockUlmenstraße 69 – Haus 318051 RostockTel. +49 (0) 381 498 45 86 / Fax +49 (0) 381 498 56 34E-Mail: [email protected]
Publikationslayout & Druck: Wolff MEDIA - Print- und Webdesign, Rudolf-Seiffert-Str. 16, 10369 Berlin www.wolffmedia-berlin.de
ISBN:978-3-00-029921-6