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Der Spiegel 46-2015

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Das ZDF heute journal mit Claus Kleber täglich | 21:45 Uhr
Die Flut braucht einen Anchor.
 
 
Beziehungen zwischen Politikern und Journalisten sind selten harmonisch, das
gilt auch für die Beziehung zwischen Guido Westerwelle und dem . Schon bald nach Westerwelles größtem Triumph, seiner Ernennung zum deutschen Außenminister 2009, erschienen mehrere Artikel, die sich mit seiner Eignung für
dieses Amt beschäftigten, mit Dienstreisen, bei denen er von FDP-nahen Unter- nehmern begleitet wurde. Der schrieb damals, dass Westerwelle das
Amt des Außenministers beschädige, dass er Politik und Privatleben vermische. Es folgten Jahre, in denen es nur spärliche Kontakte gab. So ist es nicht verwun-
derlich, dass Westerwelle Anfang Oktober genau nachdachte über eine Anfrage von Klaus Brinkbäumer und Dirk Kurbjuweit, ob er für ein Gespräch über sein Leben nach der Politik und mit dem Krebs bereit sei. Westerwelle hatte Mitte ver-
gangenen Jahres erfahren, dass er an Leukämie erkrankt ist. Das Gespräch führten Brinkbäumer und Kurbjuweit in Köln, Westerwelles Wahlheimat. Westerwelle
hatte versprochen, offen zu sein – und er wünschte sich „keine oberflächlichen Scharmützel mehr“. Das sagten die -Leute zu. Seite
Markus Becker und Peter Müller kannten EU-Kommissionspräsident
Jean-Claude Juncker vor allem als gro- ßen Europäer, als sie im Sommer ihren
Dienst im Brüsseler Büro des antraten. Doch schon bald bekam das
Bild Risse, Grund war ein Sonderaus- schuss im Europaparlament, der sich mit Steuersparmodellen beschäftigt, die Jun-
cker als Luxemburger Premier mit zu verantworten hatte. Als die -
Redakteure mit dem langjährigen Kor- respondenten Christoph Pauly interne Protokolle einsehen konnten, wurde ein
Verdacht zur Gewissheit: Die Beneluxstaaten hatten Teile ihres Steuerrechts  darauf ausgerichtet, den Nachbarn zu schaden. „Das Europaparlament muss auf- klären, wer dafür die Verantwortung trägt“, sagt Müller, „Juncker lobt das Par-
lament in Sonntagsreden, er soll jetzt für Transparenz sorgen.“ Seite
Als politischer Reporter hat Markus Feldenkirchen viele Wahlkämpfe verfolgt, in Deutschland wie in den USA, aber keiner ähnelte dem von Donald
Trump. In Iowa tauchte der Milliardär im eigenen Hubschrauber auf, in Alabama sah Feldenkirchen, wie Trump mit seiner privaten Boeing über dem Stadion kreiste, in dem ihm wenig später 30000 Fans zujubelten. Und nach einer TV-De-
batte in Kalifornien, als all seine Konkurrenten bereits Interviews gaben, stürmten die Kameraleute plötzlich auf jenen Eingang zu, durch den er sich näherte.
„Trump unterläuft sämtliche Erwartungen an politische Kampagnen, sowohl was deren Form als auch was deren Inhalte angeht“, sagt Feldenkirchen. „Genau
das macht ihn so populär.“ Seite
Um Flüchtlinge geht es in der neuen Ausgabe des
 Kinder-Nachrichten-Magazins . Kind- gerecht wird erklärt, vor welchen Problemen Deutschland
heute steht. Außerdem kommen Flüchtlingskinder selbst zu Wort: Sie berichten über ihre ersten Eindrücke von
Deutschland. Ein weiteres Thema, wohl auch für Erwach- sene interessant: Wie kann man beim Spiel „Schere, Stein, Papier“ seine Chancen erhöhen? erscheint
am Dienstag.
5DER SPIEGEL /
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6   Titelbild: Foto Dmitrij Leltschuk für den
   M    A    T    H    I   E    U    C    U    G    N    O    T    /    D    P    A
   T    H    O    M    A    S    L    O    H    N    E    S    /    G    E    T    T    Y    I   M    A    G    E    S
In der Scheinwelt Sommermärchen-Affäre Drei Wochen nach den ersten - -Enthüllungen über eine schwarze Kasse beim DFB er- mitteln nun Staatsanwälte und Steuerfahnder. Ans Licht kommt eine verfilzte Fußballbranche, die sicher war, auch diesen Skandal nach ihren Regeln zu lösen. Ein Irrtum. Seite
Die große Kumpanei AutoindustrieDie Politik machte es den Pkw- Herstellern leicht, bei Abgaswerten zu mogeln. Jetzt wundert sie sich, dass VW auch unerlaubte Methoden anwendete. Der Konzern betrog seine Kunden ausgerechnet bei angeblich umweltfreund- lichen Modellen. Seite
Mutterseelenallein Identität Sie hungerten, sie suchten einen Schlafplatz, sie streunten durch fremdes Land und wuchsen ohne Eltern und Geschwister auf: die sogenannten Wolfskinder, kleine Deutsche, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Flucht verloren gingen.  Erika und Klaus waren solche Kinder. Seite
   P    A    U    L    L    A    N    G    R    O    C    K    /    A    G    E    N    T    U    R    Z    E    N    I   T
 
Titel Biografien -Gespräch mit dem ehe- maligen Außenminister Guido Westerwelle über den Kampf gegen seine Krankheit und deren Folgen, über seine Jugend, seine Homo- sexualität und seine politische Bilanz  
Deutschland Leitartikel Warum der VW-Konzern zerschlagen werden muss  
BND spähte weltweit befreundete Staaten aus / Staatsbürgerkunde für Flüchtlinge in Bayern / Militärgeheimdienst erforscht NS-Vergangenheit / Kolumne: Im Zweifel links  
Europa Wie Jean-Claude Juncker die Steuer- flucht von Großkonzernen beförderte  
Außenpolitik Berlin will die Ursachen der Migration bekämpfen – aber wie?  
Asyl Wie die Verteilung der Flüchtlinge in Deutschland funktioniert – und woran sie scheitert  
AfD Neuer Machtkampf bei den Rechtspopulisten  
Karrieren Der Absturz des Bestsellerautors Akif Pirinçci  
SPD Arbeitsministerin Nahles profiliert sich als Alternative zu SPD-Chef Gabriel
Seniorenheime Die hochfliegenden Pläne des früheren FDP-Politikers Chatzimarkakis   Bildung Ein neuer Kriminalistik-Abschluss sorgt für Irritationen  
Faktencheck Vor wem flüchten die Syrer?  
Katholiken Ein Bischof als Missbrauchstäter   Strafjustiz Warum eine Mutter ihre Kinder  tötet und der Ehemann Verständnis zeigt  
Familien Wie Angehörige versuchen, ihre betagten Eltern vom Autofahren abzubringen  
Gesellschaft Sechserpack: Über eine Kunst, die keine sein darf / Das Profil des typischen deutschen Facebook-Users  
Eine Meldung und ihre Geschichte Eine Engländerin benutzte eine scharfe Granate 30 Jahre lang als Blumenvase  
Justiz Was tun mit den Flüchtlingsschleusern, die Bayerns Gefängnisse verstopfen?  
Homestory Der kurze Weg vom Kopfschmerz zum Hirntumor  
Wirtschaft Neuer Ärger für RWE? / Bundestag
 prüft Aktiendeals / S. Oliver will Zalando angreifen  
Autoindustrie Der Fall Volkswagen zeigt, wie die Politik den Konzern jahrelang protegiert hat  
Konjunktur Russlands Industrieminister Denis Manturow über die Folgen der Wirtschaftssanktionen  
Devotionalien In Mühlenbeck bei Berlin kommt der Nachlass von Pierre Brice unter den Hammer  
Immobilien Die steigende Zahl von Einwanderern befeuert den Boom am Häusermarkt  
Die Ausgaben für die Flüchtlinge gefährden die Einhaltung der Schuldenbremse  
Internethandel Wie die Inder zu einem Volk passionierter Onlinekäufer werden  
Ausland Die Ursachen der neuen Protestbewegungen in Südosteuropa / Erstaunliche Einlassungen von Papst Franziskus zur Geldverschwendung im Vatikan  
USA Die Windmaschine – der unheimliche Erfolg des Donald Trump erzählt viel über den Zustand eines verunsicherten Landes  
Ägypten Ist der „Islamische Staat“ für den Flugzeugabsturz über dem Sinai verantwortlich?
Russland -Gespräch mit Exschach- weltmeister Garri Kasparow über die  Machtpolitik Putins und die moralische Kapitulation des Westens  
Syrien Der Schweizer Journalist Kurt Pelda über seinen letzten Aufenthalt in Aleppo  
Kommentar Präsident Erdoan hat nach seinem Wahlsieg gegenüber der EU freie Hand  
Türkei Flüchtlinge werfen der Küstenwache vor, Boote bewusst kentern zu lassen  
Global Village Eine Londoner Soziologin und ihr Kampf gegen die Hipster der Stadt  
Sport Das Frauentennis bereitet sich auf das Ende der Serena-Williams-Ära vor / Verschwundene Dokumente beim HSV: Wurde auch Sportdirektor Bernhard Peters beklaut?  
Sommermärchen-Affäre Geschont, geschönt, gescheitert – der DFB und das Schwarzgeld  
Wissenschaft Löwen zukünftig nur noch im Zoo? / Groteske Preise für Fachjournal-Abos
Identität Historiker erforschen das Trauma der „Wolfskinder“, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Litauen aufwuchsen  
Landwirtschaft Neuartige Wein- erntemaschinen sollen die Perfektion der Handlese erreichen  
Meteorologie Dürren, Waldbrände, Zyklone – steht ein Super-El-Niño bevor?   Nutztiere Biologen entwickeln Methoden, um zu messen, wie glücklich Kühe und Schweine im Stall wirklich sind  
Kultur Der Esstisch als Stammtisch / Woody Allens „Irrational Man“ / Kolumne: Zur Zeit   
Theater Joachim Meyerhoffs neuer Roman „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“
Kino Ein Film zeichnet Apple-Gründer Steve Jobs als Mann, der weiß, was die Massen wollen – und mit Menschen nichts anfangen kann  
Zeitgeschichte Beate und Serge Klarsfeld im -Gespräch über eine Ohrfeige, die Geschichte machte
Social-Media-Kritik Ein Instagram-Star zeigt, was im Netz falsch läuft  
Bestseller
Hohlspiegel /Rückspiegel
   M    I   C    H    A    E    L    A    P    P    E    L   T    /    D    E    R    S    P    I   E    G    E    L
   M    A    R    K    P    E    T    E    R    S    O    N    /    R    E    D    U    X    /    L    A    I   F
Joachim Meyerhoff 
Im Theater ist der Schauspie- ler ein gefeierter, ebenso sanfter wie explosiver Held, als Schriftsteller gelingen ihm tragikomische Bestseller. In seinem jüngsten Buch erzählt er herzergreifend von seinen Künstlerlehrjahren. Seite
Donald Trump
Seit Monaten liegt der Immo- bilienunternehmer mit der irren Frisur in den meisten Umfragen auf Platz eins unter den Bewerbern der Republi- kaner um die Präsidentschafts- kandidatur. Was aber sagt das über die USA? Seite
Garri Kasparow
Er hält Präsident Putin für eine große Gefahr und den Westen für zu zahm und naiv im Umgang mit Russland. Im -Gespräch blickt der Exschachweltmeister und  Oppositionspolitiker mit  Sorge auf sein Land. Seite Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ
   W    I   T    T    E    R    S
 
 
Diktatur und Größenwahn treten meist als Paar auf. Und sie führen mit großer Sicherheit in die Katastro- phe. Das ist auch bei Volkswagen so.
Der Autohersteller aus Wolfsburg wollte die Nummer eins seiner Branche werden. Der Größte. Der Beste. Der Erfolg- reichste. VW als Markenzeichen für made in Germany. Als Symbol für die Überlegenheit deutscher Technik. Die Ameri- kaner haben Google und Apple. Deutschland hat Volkswagen. Unter dem Dach des Konzerns sind der Motorradhersteller Ducati, die Pkw-Firmen Audi, Škoda, Seat, Volkswagen, Lam- borghini, Bentley, Bugatti und Porsche sowie die Last- wagenproduzenten Volkswagen Nutzfahrzeuge, MAN und  Scania vereint. Puh. Schon die Aufzählung zeigt, dass die Gren- ze zwischen Größe und Größenwahn überschritten wurde.
„Im VW-Konzern wächst das Gras nur dort, wo der VW-Chef hin- schaut“, hat dessen langjähriger Boss Martin Winterkorn gesagt. Aber ein Chef kann nicht überall hinschauen, nicht auf 119 Fabriken in 31 Ländern und nicht auf 12 Mar- ken, die eher zufällig unter dem Dach des Konzerns zusammenge- kommen sind.
Die meisten wurden von Winter- korns Vorgänger Ferdinand Piëch eingesammelt. Wenn eine renom- mierte Autofirma zum Kauf stand, griff er zu. Deshalb gibt es keine  innere Logik, die dieses Unterneh- men zusammenhält. Ein Motorrad hat nichts mit einem Pkw gemein und ein Pkw kaum etwas mit einem Lastwagen. Die meisten Marken  arbeiten lieber gegen- als mitein- ander. Piëch und Winterkorn ver- suchten, den Zusammenhalt zu si- chern: mit der Macht des Diktators, der keinen Widerspruch duldet, und mit der Vision, der Größte zu werden.
In den USA sollten Diesel-Modelle das Wachstum bringen. Die Motoren erreichten die strengen Abgaswerte nicht, aber die Techniker trauten sich nicht, ihren Chefs das einzu- gestehen. Sie bauten eine Betrugssoftware ein, mit deren Hilfe Abgase nur ausreichend gereinigt werden, wenn das Auto auf dem Prüfstand steht. In Europa sollten Modelle mit geringem CO2-Ausstoß („BlueMotion“) den Absatz in die Höhe treiben. Sie schafften den angestrebten Verbrauch nicht. Und auch hier lag es für die Entwickler näher, die ei- genen Kunden mit falschen Angaben zu betrügen, als dem Konzernchef zu sagen, dass das vorgegebene Ziel nicht zu erreichen war.
Ein solches Verhalten ist mit der Angst vor dem Diktator allein nicht zu erklären. Hinzu kommt beim Volkswagen-Kon-
zern offenbar eine Kultur des Betrugs, so wie es bei Siemens eine Kultur der Korruption gab.
Neben den bekannten Skandalen um den Einkaufsvorstand José Ignacio López, der geheime Unterlagen seines früheren Arbeitgebers mit nach Wolfsburg brachte, und die Betriebs- räte, denen der Konzern Bordellbesuche bezahlte, gibt es eine Reihe weiterer Fälle, die ohne Konsequenzen blieben. Um nur einen zu nennen: Der Einkaufsvorstand Francisco Javier Garcia Sanz war mit einem Unternehmer, der von VW Aufträge erhielt, an mehreren Immobilienfirmen beteiligt. Ein No-Go in jedem Konzern, der Wert auf korrekte Unter- nehmensführung legt. Sanz ist bis heute Vorstand.
Ein Verstoß gegen Regeln ist ein Verstoß. Wenn er nicht geahndet wird, lautet das Signal: weiter so, nur nicht erwi-
schen lassen. Diese Botschaft er- hielt VW auch von der Politik. Die Bundesregierung duldet bei Abgas- tests seit Jahren Tricksereien. Und auch die Kunden pflegen eine Kul- tur des Selbstbetrugs. Sie fordern Umweltschutz und kaufen spritfres- sende Geländewagen, als wären die Deutschen ein Volk von Förstern.
Möglich wurde der große Abgas- betrug bei VW nur, weil dieser  Konzern nicht zu führen und nicht zu kontrollieren ist. Deshalb gibt es nur einen Weg: VW sollte zer- schlagen werden. Man kann dies „schöpferische Zerstörung“ nennen, frei nach dem Ökonomen Joseph Schumpeter. Das klingt weniger hart.
Zu einem Neuanfang gehört eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Be- trügereien, und dazu zählt neues Personal. Der alte Finanzvorstand kann nicht der neue Aufsichtsrats- chef sein. Im Kontrollgremium müs- sen Politiker und Mitglieder der Fa- milien Porsche und Piëch durch
Menschen mit Erfahrung in Konzernen ersetzt werden. Ob der langjährige Winterkorn-Vertraute Matthias Müller zum Unternehmenschef taugt, muss sich zeigen. Auf jeden Fall sollte VW in mindestens zwei Unternehmen aufgespalten werden, die Pkw- und die Lkw-Firma. Dies ist keine Gefahr. Es ist eine Chance, auch für die knapp 600000 Beschäftigten.
Es gibt ein Vorbild für VW. Konkurrent Daimler wollte auch einmal der Größte werden. Die Stuttgarter errichteten zusammen mit Chrysler eine Welt-AG, die dann aber eben- falls nicht zu steuern war. Chrysler wurde verkauft. Das war eine Zerschlagung. Und es war ein Glücksfall für Mercedes- Benz und für Chrysler. Beide Hersteller konnten sich so auf das eigene Geschäft konzentrieren. Sie sind erfolgreich wie seit Langem nicht mehr. Dietmar Hawranek
8 DER SPIEGEL /
Zerschlagt diesen Konzern! Volkswagen ist zu groß. Das Unternehmen ist nicht zu führen und nicht zu kontrollieren.
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12 DER SPIEGEL /  
Titel
Er geht langsam, seine Stimme ist lei- se. Es ist ein anderer Guido Wester- welle als der Politiker, an den man
sich erinnert. Der schritt forsch aus und redete kraftvoll. Das ist zwei Jahre her. Damals flog die FDP aus dem Bundestag, und Westerwelle verlor das Amt des Au- ßenministers. Er gründete eine Stiftung und freute sich auf ein neues Leben. Dann erfuhr er, dass er an akuter myeloischer Leukämie erkrankt ist. Nach anderthalb Jahren Kampf gegen die Krankheit und deren Folgen veröffentlicht Westerwelle in der kommenden Woche ein Buch mit dem Titel „Zwischen zwei Leben“, das er zusammen mit dem Journalisten Dominik Wichmann verfasst hat. Jetzt steht Wes- terwelle, 53, im Kölner Stadtwald und lässt sich fotografieren. Es ist ein sonniger Herbsttag, Westerwelle geht oft in diesem Park spazieren. Er wohnt in der Nähe. Als er sich nach dem Fototermin in einem Ho- tel am Park den Fragen stellt, stehen die Fenster offen. Ein Springbrunnen rauscht, Enten schnattern. Westerwelle hält vier Stunden Gespräch ohne Probleme durch. Manchmal nimmt er die Brille ab und reibt sich die Augen. Er sagt, man solle bloß nicht denken, dass er weine. Die Folgen seiner Krankheit machen auch den Augen zu schaffen. Einmal geht er ins Bad, um zu gurgeln. Er hat auch Probleme mit der Mundhöhle. Westerwelle bleibt stets ge- fasst, nur bei der letzten Frage, als es um seinen Ehemann Michael Mronz geht, bricht ihm die Stimme, und er braucht eine Weile, um den Satz beenden zu können.
SPIEGEL: Herr Westerwelle, am Neujahrstag 2014 sind Sie auf Mallorca am Ufer ent- langgejoggt, und plötzlich spürten Sie ei- nen stechenden Schmerz im Knie. Es war, das weiß man jetzt, ein Schmerz, der Ihr Leben gerettet hat. Wie haben Sie diesen kleinen Sportunfall erlebt? Westerwelle: Ich bin seit vielen Jahren re- gelmäßiger Läufer und laufe immer auf derselben Strecke, in einem kleinen ro- mantischen Hafen in der Nähe von Palma. Am 1. Januar 2014 riss mir dabei der Me- niskus. Normaler Altersverschleiß, ganz undramatisch. SPIEGEL: Zuerst wollten Sie sich nicht ope- rieren lassen. Typisch Mann. Westerwelle: Ich habe das am Anfang nicht so für voll genommen. Das ist schmerz-
13DER SPIEGEL /
„Und dann stirbste“ SPIEGEL-Gespräch Der ehemalige Außenminister Guido Westerwelle über seinen Kampf gegen eine akute Leukämie und deren Folgen, über seine Jugend, seine Homosexualität und seine politische Bilanz
haft, aber man kann es aushalten. Da ha- ben wir alle schon Schlimmeres gehabt. SPIEGEL: Sie haben sogar versucht, weiter- hin zu laufen. Westerwelle: Heute frage ich mich auch, wie verrückt ich war. Ich hatte für einige Monate ausgesetzt mit dem Laufen und dachte, jetzt ist es aber gut, jetzt wollen wir es wieder wissen. Das war frühmor- gens im Central Park in New York, der schönste Ort der Welt zum Laufen. Und man freut sich wie ein Schneekönig, dass man da im Frühjahr laufen kann, umgeben von Blüten. SPIEGEL: Und dann sticht es ein bisschen, und man denkt … Westerwelle: … und man denkt, das wirst du ja noch durchhalten. Dann sticht es stärker, und man will gegen den Schmerz anlaufen, ihn besiegen, niederringen. Aber dann geht es nicht mehr. Ich habe einen Termin im Krankenhaus verabredet und alles vorbereitet, ohne mir Sorgen zu machen. Meniskus, das ist eine Routine- sache. SPIEGEL: Das war es dann doch nicht. Am Tag vor der Operation wurde ein Blutbild gemacht, wie immer. Westerwelle: Aber bei mir kam danach der Arzt und sagte: „Wir brauchen ein zweites Blutbild. Da ist irgendetwas möglicherwei- se durcheinander.“ So weit, so gut. Und dann kam er mit anderen Ärzten wieder, und ich lag da im Bett, und sie unterhielten sich, und ich hörte Wortfetzen, zum Bei- spiel „Leuk“, und wusste erst einmal nicht, worum es ging. Ich war immer noch voller Zuversicht. Als die Ärzte draußen waren, nahm ich mein iPad und tippte nur Leuk hinein. Dann bildete sich automatisch die- ses Wort, und damit war der Hammer im Raum. SPIEGEL: Das Wort, das Google bildete, hieß Leukämie. Was war Ihr erster Gedanke? Westerwelle: Leukämie? Ich? Niemals, nicht ich. SPIEGEL: Kaum einer rechnet damit, dass der eigene Körper einem so etwas antun könnte. Sie offenbar auch nicht? Westerwelle: Man hat das nicht auf dem Schirm. Ich bin immer zu Vorsorgeunter- suchungen gegangen, aber eine akute Leu- kämie kommt ja von jetzt auf gleich. Und bringt dich auch von jetzt auf gleich um. SPIEGEL: Wann haben Sie eine erste Dia- gnose bekommen?
 
 
Titel
ich hatte, war, dass die Ärzte keine Kulis- sen geschoben haben. Sie waren offen zu mir. SPIEGEL: Haben Sie sich sofort mit dem Thema Tod befasst? Westerwelle: Ja. Der Gedanke ist sofort da. Sie sitzen da, vergießen Tränen, Sie sind sehr traurig, und die Wahrscheinlichkeit ist ja nicht so groß, dass man diese Art von Leukämie überlebt. Ein wichtiger Ge- danke war aber auch, dass ich in die Jahre meines Lebens viel hineingepackt habe. Ich habe viel erlebt, vieles gesehen und habe nichts versäumt. SPIEGEL: Sie hatten ein perfektes Leben? Westerwelle: Das gibt es nicht, ich habe Menschen gekränkt und Fehler gemacht, aber ich wusste, dass ich ein erfülltes  Leben gehabt hatte. Meine Antwort auf die Frage „Was bereuen Sie?“ wäre der Klassiker gewesen: Ich habe zu viel gear- beitet. SPIEGEL: Der Tod ist für uns wie eine Mau- er. Wir wissen nicht, wie es auf der an- deren Seite aussieht. Haben Sie sich in  dieser Situation Vorstellungen davon ge- macht, wie es hinter dieser Mauer aus- sehen könnte? Westerwelle: Ich bin in der Kirche, und das nicht aus Zufall. Da hat man natürlich eine Vorstellung vom Jenseits. Aber ich habe mir weniger über den Tod Gedanken ge- macht, sondern mehr über das Leben da- vor und darüber, wie man den Tod abwen- den kann. SPIEGEL: Wenn man einen Unfall hat, zum Beispiel von einem Auto angefahren wird, dann kommt die Zerstörung des Körpers von außen. Bei Krebs ist es der eigene Kör- per, der einen vernichtet. Ein Teil des Ichs greift das Ich an. Wie sind Sie damit um- gegangen? Westerwelle: Gar nicht. Sie gehen damit nicht um. Sie nehmen es als Schicksal, nehmen es so, wie es ist. Das Verrückte ist ja bei dieser Krankheit, dass man sie nicht lokalisieren kann. Wenn Sie einen Tumor haben, wissen Sie, wo der sitzt. Bei mir saß der Krebs überall. Im kleinen Zeh, in der Niere, in der Lunge, überall, wo Blut ist. SPIEGEL: Und Blut wird Lebenssaft ge- nannt. Westerwelle: So ist es. Aber damit beschäf- tigen Sie sich ab einem bestimmten Punkt gar nicht mehr. SPIEGEL: Weil man es nicht ertragen kann? Westerwelle: Nein, Sie haben andere Sa- chen im Kopf. Sie sind nicht mehr damit beschäftigt, jede Verwinkelung der Krank- heit zu verstehen. Sie fragen sich, was Sie tun müssen, um Ihre Chancen zu verbes- sern. Ich wollte und will unbedingt weiter- leben. SPIEGEL: Wir kommen später auf Ihre Krankheit zurück. Lassen Sie uns an die- sem Punkt auf Ihr Leben schauen. Sie
schreiben in Ihrem Buch, in Ihrer Jugend habe Ihr Gesicht zuerst ausgesehen wie ein Streuselkuchen, dann wie eine Mond- landschaft. Und Sie waren, in Ihren Wor- ten, dick und schwul. Klingt nach einer schwierigen Jugend. Westerwelle: Einerseits hatte ich es leicht. Weil ich von meinen Eltern gute Anlagen mitbekommen habe, was Auffassungsgabe oder Aufgewecktheit angeht und Ähnli- ches. Andererseits hatte ich es schwer. Meine Eltern, beide Juristen, hatten nicht viel Zeit für ihre Kinder, sie arbeiteten viel und stellten sich nicht die Frage, wer bleibt eigentlich zu Hause. Keiner blieb zu Hause. Es kam die Patentante oder die Oma. SPIEGEL: Reden Sie von Einsamkeit? Westerwelle: Nein, das will ich nicht sagen. Aber es gab eine gewisse Härte. Bei uns zu Hause wurden keine großen Gefühle gezeigt, weder vom Vater noch von der Mutter. Es ging um Leistung. Wenn du et- was erreichen möchtest, musst du dafür hart arbeiten. Und das wurde auch so ge- macht. SPIEGEL: Heute ist Schwulsein in Deutsch- land weitgehend akzeptiert. Wie war das
in Ihrer Jugendzeit, im Bonn der Siebzi- gerjahre? Westerwelle: Das ist eine schwere Zeit ge- wesen für junge Männer, die plötzlich merkten, dass sie nicht mit Mädchen, son- dern mit Jungs zusammen sein möchten. Das sind Zerwürfnisse, die einen für das ganze Leben prägen. Man wird vorlaut,
 jedenfalls vorlauter, als man sein sollte. Reiner Selbstschutz, reine Überkompen- sation. Nach dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung. SPIEGEL: Wann haben Sie gemerkt, dass Sie lieber mit einem Jungen zusammen sein wollten als mit einem Mädchen? Westerwelle: Zu Beginn der Pubertät, nein, noch vor der Pubertät. Ganz früh. Und es war mir ganz klar, ohne Zweifel. Ich wurde dann ja mit 17 zur Musterung geladen. Ich habe diesem Musterungskomitee gesagt: „Ich wollte Ihnen nur sagen, meine Her- ren, dass ich nicht gerne zur Bundeswehr möchte, weil ich homosexuell bin.“ Die Gesichter werde ich nie vergessen. Ich wurde ausgemustert. Das war der Vorteil der frechen Schnauze. SPIEGEL: Und ein Vorteil der Homosexua- lität. Was waren die Schwierigkeiten? Westerwelle: Das waren ja keine aufgeklär- ten Zeiten. Damals war es das Ende Ihrer Karriere, wenn Sie sich als schwul outeten. Damals haben Lehrer auf Ihre Kosten Wit- ze gemacht. Damals gab es in der Altstadt in Bonn ein kleines Lokal, das war das einzige, wie man das nannte, einschlägige Lokal. Da wurde an der Tür von hinten ein Kläppchen weggeschoben, und dann guckte der Inhaber durch und sagte in rhei- nischer Mundart: „Jung’, du weißt aber
14 DER SPIEGEL /
Spaßpolitiker Westerwelle 2002, als Parteichef mit Partner Mronz vor dem Schloss Bellevue
 
 
schon, dass hier nur Männer hinkommen?“ Ich dachte, Mensch, warum stellt der mir diese Frage, wie peinlich. Und dann ging man rein, das war so klandestin wie in der Zeit der Prohibition. SPIEGEL: Ihre Mutter hat versucht, Ihnen Ihre Veranlagung auszutreiben. Westerwelle: Nicht auszutreiben. Meine Mutter meinte, es wächst sich aus, und dann wurde ich zu einem Psychologen ge- schickt, der war, in meinen Augen damals, mindestens 104, und dann saß ich da, und der hat mir erklärt, dass sich das wirklich auswachsen kann. Ach so, dachte ich. Bei dem war ich genau eine Dreiviertelstunde lang, und dann habe ich meiner Mutter gesagt, du, das ist schade ums Geld. Da- nach haben wir nie wieder über irgend- welche Probleme geredet, es war dann auch für die Eltern völlig normal. SPIEGEL: Sie gingen früh in die Politik. Wa- rum zu den Liberalen? Westerwelle: Das Liberale habe ich immer mit dem Leistungsprinzip verbunden, also etwas für mich Positivem. Dazu kommt die innere Liberalität, leben und leben las- sen, das ist in mir drin. Dazu kommt eine gewisse Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem, das, was man Weltoffenheit nennt. Das brachte mich zur einzigen liberalen Partei in Deutschland. SPIEGEL: Sie sagten vor einigen Jahren, dass Ihre Generation sich als erste gegen die 68er aufgelehnt habe, die Generation Ihrer Lehrer. Warum mochten Sie die nicht? Westerwelle: Ich habe Lehrer nie besonders gut gefunden, die einem schon in der zwei- ten Unterrichtsstunde das Du anboten. Komm mal her, Guido, und so. Ich dachte,
das ist doch mein Lehrer, der kann doch nicht einfach „komm mal her“ sagen, so geht das doch nicht. Das fand ich entsetz- lich. Aber ich gebe zu: Früher habe ich auf diese Generation zu schnippisch und unsensibel reagiert. SPIEGEL: Und heute? Westerwelle: Ein bisschen hat sich das ausgewachsen. Je älter man wird, desto besser erkennt man die geschichtlichen und persönlichen Leistungen dieser Gene- ration an. SPIEGEL: Was wollten Sie erreichen, als Sie ein junger Mann waren? Hatten Sie Ziele? Westerwelle: Mein Berufsziel war selbst- ständiger Anwalt. Ich hatte immer den  Petrocelli im Kopf, den Anwalt aus der Fernsehserie. Das war ich. Mit wehender Robe. Die unschuldigen Angeklagten in letzter Minute retten. SPIEGEL: Wie konnte es Sie in die Berufs- politik verschlagen, wenn Sie unbedingt ein Petrocelli werden wollten? Westerwelle: Als Vorsitzender der Jungen Liberalen saß ich im Bundesvorstand der FDP. Habe Leute kennengelernt, die mich total begeistert haben, Genscher, Lambs- dorff. Und dann, nach der Wahl ’94, kam Herr Kinkel und fragte mich, ob ich sein Generalsekretär werden wolle. Das war der erste echte Schritt. SPIEGEL: Und Sie hatten es nicht darauf an- gelegt?
Westerwelle: Überhaupt nicht. Also, natür- lich kokettiert man damit. Es gibt ja auch dem eigenen Affen Zucker, wenn solche Angebote plötzlich kommen. Klar. Und dann war es wie immer im Leben. Wenn man etwas anfängt und feststellt, das macht einem richtig Freude, und der Erfolg belohnt einen für den Fleiß, dann will man weiter, und dann will man mehr. Und so kam es bei mir. Und dann kam ja Herr Möllemann und streckte die Hand nach dem Parteivorsitz aus, und dann habe ich gesagt, nee, das mache ich selber. Und so wurde ich mit 39 Jahren Vorsitzender. SPIEGEL: Und machten erst einmal eine Menge falsch. Westerwelle: Das würde ich nicht sagen. Die FDP holte nie bessere Wahlergebnisse als mit mir. Man kann ja eine Menge über mich sagen, aber meine Wahlbilanz ist blitzsauber. SPIEGEL: Das meinten wir nicht. Wir mein- ten die Spaßpolitik. Westerwelle: Mensch, das war eine andere Zeit, das ist 20 Jahre her. Damals stritten sich Thomas Gottschalk und „Big Brother“ darüber, wer der Quotenführer am Abend war. Das war Kult. Und ich war der erste Politiker, der bei Harald Schmidt war. Der erste, der bei Stefan Raab war. Heute wol- len alle rein und freuen sich, wenn sie ein- geladen werden. Damals habe ich gesagt, wenn ich die jungen Wähler kriegen will, muss ich dahin. Ich habe mich Sachen ge- traut, die sich andere nicht getraut haben, ich habe großen Erfolg gehabt. Punkt. Aus. Feierabend. SPIEGEL: Das Guidomobil wirkte ein wenig lächerlich. Westerwelle: Damals fuhr ich im Tunnel. Natürlich denke ich mit bald 54 Jahren komplett anders über meinen Bus als da- mals. Ist doch logisch. SPIEGEL: Heute würden Sie es nicht mehr tun? Westerwelle: Ich kann Ihnen versichern, dass ich gereift bin. Ich käme nicht mehr auf diese Idee. Ich würde mir auch keine 18 unter die Schuhe malen, für unser Pro-
 jekt 18. Natürlich nicht. Und das war, ne- benbei, damals schon daneben. Aber das ist immer so. Mal liegst du richtig, mal liegst du falsch. Dann verlässt dich dein Instinkt. Das gibt es bei mir, und das gibt es bei anderen. SPIEGEL: Jürgen Möllemann, einst Bundes- wirtschaftsminister und Landesvorsitzen- der der FDP in Nordrhein-Westfalen, sprang 2003 mit dem Fallschirm in den Tod. In Ihrem Buch heißt es, Sie hätten sich viele Gedanken gemacht, nachdem das passiert war. Sie schreiben nicht, wel- che Gedanken. Sagen Sie es uns? Westerwelle: Ich habe überlegt, mit der Politik aufzuhören. Das hatte ja die Aus- maße einer griechischen Tragödie. Ich war Parteivorsitzender und musste Mölle-
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2009: „Bei mir saß der Krebs überall, im kleinen Zeh, in der Niere, in der Lunge, überall, wo Blut ist“
Animation:
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   B    A    U    M    G    A    R    T    E    N
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Titel
manns Tod vor der Presse kommentieren. Ihre Kollegen wollten natürlich nachfra- gen, aber ich bin direkt gegangen. Hätte ich irgendeinen weiteren Satz sagen müs- sen, ich wäre innerlich implodiert. SPIEGEL: Warum dachten Sie daran aufzu- hören? Weil Sie spürten, dass Politik etwas Destruktives hat? Westerwelle: Nein, weil mir etwas wider- fahren ist, das alle Klischees vom schmut- zigen Geschäft Politik füttert. Und ich mich gefragt habe, ist das nicht zu viel, und willst du das? Willst du in so was rein- rutschen? Und genau in dem Sommer habe ich Michael kennengelernt. Das Leben ist manchmal verrückt. SPIEGEL: Möllemann wurde illegale Partei- enfinanzierung vorgeworfen. Westerwelle: Ja, es ging um Gelder, von denen ich nichts wusste, die in Plastiktüten transportiert wurden, und mehr will ich dazu gar nicht sagen. SPIEGEL: Möllemann hatte auch mit anti- semitischen Klischees gearbeitet, um am rechten Rand Stimmen zu sammeln. Und Sie haben ihn eine Weile lang gewähren lassen. Wie denken Sie heute darüber? Westerwelle: Ich habe anfangs gedacht, der denkt ja nicht wirklich so. Da war ich zu naiv, ich hätte zupackender und mutiger sein müssen. Ich habe zu spät reagiert. Aber ich habe dann reagiert, darauf lege ich großen Wert. SPIEGEL: Nagt diese anfängliche Zögerlich- keit manchmal noch an Ihnen? Westerwelle: Das sind Sachen, die vergibt man sich. So wie Sie sich ein paar ge- schmackliche Verirrungen vergeben. Das passiert jedem pausenlos. Aber bei den Richtungsentscheidungen, den wesentli- chen Dingen, müssen Sie richtig liegen. SPIEGEL: 2009 wurden Sie Außenminister einer schwarz-gelben Koalition. Schon bald nach Regierungsantritt machten Ihnen Heckenschützen aus der FDP das Leben sauer. Westerwelle: Ja, die Zukurzgekommenen aus der eigenen Partei fingen sofort an, warteten keine hundert Tage ab, um mich anzugreifen. Wir hatten auch Pech, die Griechenlandkrise kam, und wir konnten unsere große Steuerreform nicht mehr um- setzen. Ich stand vor der Wahl: in die Op- position zu gehen oder angesichts einer geschichtlichen Situation Abstriche zu ma- chen. Ich habe mich für die Geschichte entschieden und Abstriche gemacht. Das hat mir bei meiner Partei geschadet. SPIEGEL: Gab es eigene Fehler? Westerwelle: Natürlich kamen eigene Feh- ler dazu, wie immer. Und in bestimmten Drucksituationen verhalten Sie sich ja auch nicht immer gut. Und dann kommen einige, die sehen die Chance, dass sie ein bisschen weiterkommen können. Das ist eben so. Das ist Politik, und Sie dürfen nicht vergessen, ich war insgesamt zehn
Jahre lang Parteivorsitzender. Das ist un- heimlich lange. Nur Genscher hat beinahe elf Jahre gemacht. SPIEGEL: Da wir von Fehlern reden: Wie konnte Ihnen die „spätrömische Deka- denz“ passieren? Westerwelle: Sehr ärgerlich, ja. Ich hatte mich unheimlich darüber geärgert, dass die Hartz-IV-Sätze steigen konnten, eine Entlastung der Mittelschicht aber nicht mehr möglich war. Deshalb ist das pas- siert. SPIEGEL: War das Ihr Satz? Oder hat den
 jemand für Sie aufgeschrieben? Westerwelle: Für diesen Satz hafte ich al- leine. Es ist passiert. Aber ehrlich gesagt: Es ist ein Satz, mehr nicht. Es ist nieman- dem ein Unrecht geschehen, kein Mensch hat darunter gelitten, nichts hat sich real verändert in der Welt. Ich habe einen Ar- tikel mit einem Satz geschrieben, den ich heute so mit Sicherheit nicht mehr schrei- ben würde. Und zwar nicht, weil ich mich von dem Gedanken, alles was man haben will, muss man erwirtschaften, verabschie- de, im Gegenteil, sondern weil der Satz missverständlich verletzend war. Und das hätte ich erkennen müssen, und das habe ich nicht erkannt. Da war ich zu rechtha- berisch. SPIEGEL: Den Parteivorsitz mussten Sie ab- geben, als der Druck Ihrer sogenannten Parteifreunde zu stark wurde. Schmerzt Sie das noch manchmal? Westerwelle: Es ist vorbei. Es ist nicht mehr wichtig, ich sage das ohne Gram, ohne Groll. Wenn ich heute zurückblicke, er- scheint mir das so unbedeutend. Die Ge- meinheiten, die Verletzungen, sie schrump- fen. Sie können sich nicht vorstellen, wie unwichtig mir das heute ist. Und dann habe ich ja auch in den eineinhalb Jahren nach meiner Erkrankung gesehen, wie viel Ver- trauen, das ich Menschen gegeben habe, gerechtfertigt war. Von Menschen, auch von politischen Gegnern und Weggefähr- ten, bei denen ich es nie für möglich ge- halten habe. Die wirklich standen, sich er- kundigten und Zuspruch gaben. Es ist nicht so, dass die Politik nur eine kalte, hässliche Welt ist. SPIEGEL: Haben sich auch die Parteifreunde gemeldet, die Ihnen das Leben schwer ge- macht hatten? Westerwelle: Ja, natürlich. Eine solche Krankheit versöhnt ja auch. Man fragt sich:
Mann, worüber haben wir uns eigentlich gestritten wie verrückt? Aber ein paar Sa- chen werden auch klarer. Dazu zähle ich vor allen Dingen meine Politik der militä- rischen Zurückhaltung. Heute wird sie nicht mehr ernsthaft bestritten. Auch da kann man übrigens fragen, ob ich in jedem Augenblick das richtige Wort gefunden habe. Wahrscheinlich nicht, aber die Ent- scheidung war richtig. Das ist heute be- wiesen. SPIEGEL: „Bewiesen“ ist in diesem Zusam- menhang ein schwieriges Wort, weil wir nicht wissen, wie es gewesen wäre, hätte sich Deutschland bei der Abstimmung zum Libyen-Einsatz nicht enthalten. Westerwelle: Richtig, hypothetische Ge- schichtsverläufe sind schwierig. Das kor- rigiere ich, da haben Sie recht. Aber heute ist es offensichtlich, dass die militärische Intervention in Libyen zu einem zerfal- lenden Staat geführt hat, und das hat einen Teil der Migrationsbewegungen ausgelöst. SPIEGEL: Gegen Syriens Machthaber wurde seitens des Westens nicht interveniert, und dort ist die Situation noch schlimmer als in Libyen. Westerwelle: Ich sehe das in einem größe- ren Zusammenhang. Es hat mit dem Irak begonnen, mit einer Lüge der amerikani- schen Regierung. Interventionen sind sel- ten erfolgreich, weil es selten Pläne und Geduld für die vielen Jahre danach gibt. SPIEGEL: Nach Ihrer Abwahl im Herbst 2013 hat sich die Bundesregierung schnell von Ihrer Politik der militärischen Zurückhal- tung verabschiedet. Ihr Nachfolger Frank- Walter Steinmeier und Verteidigungsmi- nisterin Ursula von der Leyen sprachen sich dafür aus, dass Deutschland eine ak- tivere Rolle in der Welt spielen müsse, not- falls auch militärisch. Ist es verletzend, dass Ihre Positionierung so schnell abge- räumt wurde? Westerwelle: Ich nehme mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis, dass ich das von meinem Nachfolger so nicht mehr höre. Das war eine kurze Phase. Deutschland wird nicht dadurch größer, stärker, segens- reicher, wenn es mehr militärische Inter- ventionen macht. Das war der große Irr- tum der letzten 20 Jahre. SPIEGEL: Würde sich Deutschland aus allem raushalten, würde es von den Verbündeten nicht mehr ernst genommen. Und die Be- reitschaft, Soldaten zu schicken, ist die härteste Währung in der Nato. Westerwelle: Das stimmt, das ist die här- teste Währung, mit vielen Kollateralschä- den. Aber seitdem ich dem Tod sehr nahe war, habe ich zum Wort „Kollateralscha- den“ eine äußerst allergische Einstellung. Es hört sich so abstrakt an, aber es bedeu- tet das Ende von Leben, von Kindern, von Frauen, von Männern. Wenn man über Le- ben und Tod entscheidet, muss man sich schon ganz, ganz, ganz sicher sein.
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SPIEGEL: Damit sind wir wieder bei Ihrer Erkrankung. In Ihrem Buch schreiben Sie, nach der Diagnose hätten Sie sich gefühlt wie Gregor Samsa in Kafkas Geschichte „Die Verwandlung“. Können Sie dieses Gefühl beschreiben? Westerwelle: So gut wie Kafka kann ich es leider nicht beschreiben. Sie wachen auf und fühlen sich wie ein Käfer auf dem  Rücken. SPIEGEL: Sie durften lange niemanden be- rühren, durften nicht berührt werden, und das in einer Zeit, da jede Berührung Trost und Halt sein kann. Wie haben Sie das ausgehalten? Westerwelle: Sie glauben gar nicht, was der Mensch alles aushält. Man muss da eben durch. Eine Zeit lang wurde ich nur mit Gummihandschuhen angefasst. SPIEGEL: Sie schreiben, dass die Krankheit egalitär sei. Dass alles verwischt werde, reich/arm, alt/jung, machtlos/mächtig. Krebs als großer Gleichmacher. Westerwelle: Das ist wirklich so. Im Kran- kenhaus ging ich im Bademantel und in Schlappen über den Flur wie alle dort. Die anderen Patienten und Pfleger kannten mich ja nur aus dem Fernsehen, und nun war ich bei ihnen. SPIEGEL: War das erniedrigend für Sie, oder hatte das Egalitäre auch etwas Schönes? Westerwelle: Da haben Sie weder schöne noch hässliche Gedanken. SPIEGEL: Entsteht da eine Gemeinschaft? Westerwelle: Ja, eine Gemeinschaft ent- steht in jedem Fall. Es gab bei den Pfle- gern, Schwestern, Ärzten, Reinigungskräf- ten und Mitpatienten nur eine Devise: Wir bauen uns auf. Keiner zieht einen anderen runter. Und jeder hätte viele Gründe ge- habt, zu jammern und zu weinen. Es sind
 ja einige verstorben in der Zeit. SPIEGEL: Eine Schicksalsgemeinschaft? Westerwelle: Ja, eine Schicksalsgemein- schaft. Man duzt sich sofort, und man ver- sucht, einander aufzubauen. Ich meine, das sind absurde Situationen. Sie sitzen auf so einem Fahrrad in so einem Jogging-Schlaf- anzug, haben Schlappen an, blaue Hand- schuhe, Mundschutz und denken, das ist Fahrradfahren. SPIEGEL: Können Sie heute darüber lachen? Westerwelle: Nee, lachen kann ich immer noch nicht darüber. Ist auch so ein Phäno- men, dass man eine Zeit lang das Lachen völlig verlernt. SPIEGEL: Ist es wieder da? Westerwelle: Mal mehr, mal weniger. Hängt davon ab, was ich gerade durchmache. SPIEGEL: Ihr erster Stammzellspender sprang kurz vor dem Eingriff ab. Westerwelle: Das war ein erschütternder Moment. Ich dachte sofort, jetzt geht der Wettlauf gegen die Zeit los. Aber ich dach-
* Mit dem schleswig-holsteinischen FDP-Fraktionsvor- sitzenden Wolfgang Kubicki.
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Gondelfahrer Westerwelle 1999: „Meine Herren, ich bin homosexuell“
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Beachvolleyballer Westerwelle 2000*: „Gestritten wie verrückt“
 
te auch: Wer weiß, was beim Spender vor- gefallen ist. Kann man doch niemandem übel nehmen. Und ich hab’s auch nicht ge- tan. Nicht eine Sekunde. Ehrlich nicht. SPIEGEL: Der schlimmste Schmerz ist offen- bar die Punktion des Knochenmarks. Westerwelle: Das war nicht so schlimm, das war nach einer Viertelstunde vorbei. Schlimm war, als ich dachte, ich muss  sterben. SPIEGEL: Wann dachten Sie das? Westerwelle: Kurz nach der Transplanta- tion. Ich bekam drei Injektionen, und die ersten beiden waren prima, aber auf die dritte reagierte ich mit einem allergischen Schock. Da stürzten dann die Pfleger rein, und ich habe dort gelegen und gedacht, so fühlt sich also Sterben an. SPIEGEL: Noch einmal Volkshochschule, bit- te. Wie wird Leukämie behandelt? Warum eine Stammzellspende? Westerwelle: Wenn Sie eine akute Leukä- mie haben, werden die Krebszellen zu- nächst mit der Chemo zerstört. Danach bekommt der Patient über die Stammzell- spende ein neues Immunsystem verpasst. Das Risiko dabei ist, dass das neue Im- munsystem den Körper angreift, aber das versucht man dann mit sogenannten Im- munsuppressiva in den Griff zu kriegen. Das ist es eigentlich. SPIEGEL: Warum war es so dramatisch, dass in diesem Moment der Spender absprang? Westerwelle: Es war nach der Chemo, und ich war unheimlich geschwächt. Das sind  ja keine schwachen Pillen, die man da be- kommt. Sie werden im Grunde genommen lebensuntüchtig gemacht, um überleben zu können. SPIEGEL: Hätten Sie einen zweiten Chemo- block möglicherweise nicht überstanden? Westerwelle: Das kann man nie sagen. Aber jede Chemo schwächt. SPIEGEL: Sie hatten Glück. Bald tauchte der zweite Spender auf, und Sie saßen ausgerechnet mit Angela Merkel beim
Mittagessen zusammen, als Sie davon  erfuhren. Westerwelle: Ist das nicht verrückt? Bei meinem Lieblingsitaliener hier in Köln. SPIEGEL: Wie hat Merkel reagiert? Westerwelle: Ganz normal. Na, das ist doch eine gute Sache, hat sie gesagt, gratuliere, ich freue mich. SPIEGEL: Wie haben Sie reagiert? Westerwelle: In dieser Lage jubeln Sie nicht über gute Nachrichten. Weder als Betrof- fener noch als Freund oder Angehöriger. Sie sind da ganz abergläubisch. Erst mal gucken, wie es kommt. SPIEGEL: Wie läuft eine Transplantation ab? Können Sie das beschreiben? Westerwelle: Undramatisch. Der Beutel mit der Spende wird an einen Infusionsständer gehängt und mit Ihnen verbunden. Und dann kriegen Sie statt einer Infusion eben Stammzellen verabreicht. SPIEGEL: Wie lange dauert das? Westerwelle: Ein, zwei Stündchen. SPIEGEL: Sie beschreiben das so nüchtern. Westerwelle: Es ist eine nüchterne Sache. SPIEGEL: Reden wir noch einmal über Poli- tik. Gibt es in der Politik so etwas wie Auf- gehobenheit? Oder nur die permanente Verunsicherung, weil man allzeit durch  irgendwen infrage gestellt wird? Westerwelle: Beides, in Phasen. Wenn Sie über 30 Jahre lang Politik machen, sind da auch die schönsten Erlebnisse – Sie er- fahren Momente, in denen die Partei eine Familie ist. Sie erleben Solidarität und
Freundschaft, entgegen allen Klischees, aber Sie erleben auch Härte und Gegner- schaft, Aggression, Intrige, Neid. SPIEGEL: Führt das Zweite, also das Wissen um die Intrigen, nicht dazu, dass Sie dem Ersten, der Freundschaft, nie wirklich ver- trauen können? Westerwelle: Ist das nicht in allen Spitzen- positionen so? In der Wirtschaft oder auch in der Medienwelt? Die Luft ist halt dünn,  je weiter man nach oben kommt. Die  Redaktion des ist ja auch kein Familienklub. SPIEGEL: Bei uns ist man nett zueinander. Westerwelle: Ich sehe Ihr Grinsen. Es wird immer um Macht gefochten, das ist nor- mal. Soll ich Ihnen etwas über Vorstände erzählen? Aufsichtsräte? Politik ist gewiss nicht grausamer als das sonstige Leben. SPIEGEL: Wenn Sie in diesen Tagen auf Mer- kel blicken: Macht sie die richtige Politik? Westerwelle: Was hätte sie denn machen sollen? Hätte sie den Schusswaffenge- brauch an der Grenze schon vorbereiten sollen, wie es von rechtsaußen vorgeschla- gen wird? Hätte sie Wasserwerfer in Be- wegung setzen sollen? Das wären Bilder gewesen, mit denen sich kein Deutscher hätte zufrieden geben dürfen und können. Die große Geste, die gesendet wurde, über die mag man streiten, zum Beispiel die be- rühmten Selfies, die von den Flüchtlingen nach Hause geschickt wurden, mit den ganzen Gerüchten und Falschheiten. SPIEGEL: Erleben Sie zurzeit eine neue Kanzlerin? Westerwelle: Ich kannte Angela Merkel als zupackende Entscheiderin auch in anderen Zusammenhängen, allerdings im selben Moment auch als vorsichtig. Jetzt ist sie seit zehn Jahren Kanzlerin, und wer hat schon die Gelegenheit, so viel Lebenser- fahrung in einem so mächtigen Amt zu er- werben? Als ich ihre Darmstädter Rede sah, nahm ich ihr jedes Wort ab. Dass die Menschenwürde nicht auf Deutsche be- schränkt ist, ist ein großer Satz. Und mir ist eine Kanzlerin lieber, die diese Men- schenwürde unterstreicht, als ein Kanzler, der das für Gedöns hält. SPIEGEL: Deutschland zeigt sich derzeit auch von einer sehr hässlichen Seite. Was sagen Sie zu den Angriffen auf Flüchtlings- heime, zu den Hassparolen? Westerwelle: Entsetzlich. Zero tolerance. Kein Pardon. Die ganze Härte des Rechts- staates. Wenn Sie das zulassen, dann kom- men Sie auf eine schiefe Bahn, von der kommen Sie nie wieder herunter. Das geht dann immer schneller, immer schneller, immer schneller. SPIEGEL : Wie beurteilen Sie den Zustand Europas? Westerwelle: Mit Sorge. Europa ist noch nicht durch. Noch lange nicht durch. Und damit meine ich nicht die Milliarden für griechische Banken.
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Rekonvaleszent Westerwelle: „Eine solche Krankheit versöhnt ja auch“
 
 
 
 
SPIEGEL: Was meinen Sie denn? Westerwelle: Ich meine damit, dass Europa als politisches Projekt noch nicht durch ist. Alles, was man baut, kann auch zusam- menfallen. Das gilt auch für Europa. Im Moment sehe ich vor allem Fliehkräfte. SPIEGEL : War das nicht auch schon zu Ihrer Zeit als Außenminister so? Westerwelle: Ich habe oft Verhandlungen erlebt, die bis drei Uhr morgens gingen, und dann werden da so zweideutige Signa- le gegeben. Man sagt sich in seiner Müdig- keit, dein Anliegen ist ja durch, prima. Hast du gut hingekriegt. Schön. Und dann ist es sechs Uhr morgens, du bist noch gar nicht aufgestanden, und draußen klopft dein Pressesprecher. Er wollte nur mal sagen, was wir da gestern als großen Durchbruch verkün- det haben, ich glaube, Herr Mi- nister, das gilt nicht mehr. Das gab’s damals auch. Aber heute sind die Fliehkräfte noch stärker. Wir müssen aufpassen, Europa ist so kostbar. SPIEGEL: Herr Westerwelle, wie geht es Ihnen heute? Westerwelle: Heute geht es mir weit besser, als es mir in den 18 Monaten oft ergangen ist. Aber es geht mir heute auch schlechter, als es mir in den 18 Monaten oft ergangen ist. Im Moment ist mein Mund entzündet. Das ist beim Es- sen wirklich entsetzlich. Es fühlt sich an, als hätte man Stachel- draht im Mund. Aber das ist halt so. Das kriegen wir alles wieder hin. SPIEGEL: Sie erholen sich gerade von einer Lungenentzündung. Westerwelle: Ich hatte sechs Monate lang großes Glück. Aber dann saß ich im Flug- hafenbus, und da hat sich jemand die Seele aus dem Leib gehustet. Das war es dann. Ich bekam eine Lungenentzündung und musste für fünf Tage ins Krankenhaus, auf die Station, wo ich erstmals mit der Chemo behandelt wurde. Das waren keine guten Erinnerungen. SPIEGEL: Sind Sie müde, erschöpft? Westerwelle: Ich schlafe viel, lese viel, was
 ja auch eine Form von Erholung ist. Am Anfang konnte ich das überhaupt nicht, konnte mich nicht konzentrieren. SPIEGEL: Können Sie Sport treiben? Westerwelle: Spazieren gehen, ja. Ich war auch schon mal auf dem Golfplatz. Auf Sylt bin ich Fahrrad gefahren. Es geht alles sehr langsam voran. Sie gehen erst eine Runde um den Teich, eine kleine Runde, und brauchen 20 Minuten. Dann gehen Sie eine größere Runde, 30 Minuten. Jetzt habe ich zweimal hintereinander eine Stunde geschafft. Da sitzt jetzt eine ge-
* Dirk Kurbjuweit und Klaus Brinkbäumer in einem  Kölner Hotel.
sunde Leserschaft und sagt sich, eine Stun- de spazieren gehen, was soll das? Huh, für mich sind das Erfolgserlebnisse, da möch- ten Sie anschließend ein Stück Torte essen. SPIEGEL: Was Sie aber nicht tun. Westerwelle: Doch, klar. SPIEGEL: Torte geht? Westerwelle: Bestimmte Sorten. Alles, was die Schleimhäute reizt, geht nicht, Obst zum Beispiel. Sie können sich nicht vor- stellen, wie viel Glück eine Dosensuppe mit Reis und Hühnerbrühe für mich be- deutet. Das beißt nicht im Mund. Heute Mittag habe ich versucht, eine Wurst zu essen. Das hätte ich besser gelassen. Aber das ist alles hinzukriegen.
SPIEGEL: Sie haben jetzt eine an- dere Blutgruppe als früher, die Blutgruppe des Spenders. Verän- dert das auch Ihre Identität? Westerwelle: Nein. Sie bleiben derselbe Mensch. Aber mit einem Erfahrungsgewinn im Hochge- schwindigkeitsraffer. SPIEGEL: Ihr Ehemann hatte die Sorge, dass sich etwas Entschei- dendes Ihrer Identität verändern könne. Westerwelle: Der Michael hörte: neues Immunsystem, neue Blut- gruppe. Da hat er gefragt: „Än- dert sich sonst noch etwas?“ Der Arzt sagte: „Wie meinen Sie das?“ Michael: „Nicht, dass Gui- do anschließend mit den Kran- kenschwestern flirtet.“ Das hätte
die Grundlagen unserer Beziehung ge- ändert. Aber nein, da hat sich nichts  verschoben. SPIEGEL: Sie sind immer noch der Guido Westerwelle von früher? Westerwelle: Durch das Erlebnis werden Sie ein anderer Mensch. Sie bleiben Guido, mit all den Vorteilen und Nachteilen und guten Eigenschaften. Aber durch die Er- fahrungen werden Sie schon ein anderer. SPIEGEL: Was ist anders geworden? Westerwelle: Sie freuen sich an den kleinen Dingen des Lebens, wundern sich, worü- ber Sie sich aufgeregt haben, möchten am liebsten jedem Gesunden sagen, nutze dein Leben. Carpe diem. SPIEGEL: Leben Sie in ständiger Angst vor einem Rückfall?
Westerwelle: Nein, aber ich freue mich über  jeden guten Blutwert. SPIEGEL: In Ihrem Buch schildern Sie eine Szene, da sagen Sie zu Ihrem Mann: Du erzählst nichts mehr von deiner Arbeit. Und er sagt: Du fragst mich ja nicht mehr danach. Macht Krebs egozentrisch? Westerwelle: Nein, nicht egozentrisch. SPIEGEL: Besessen? Westerwelle: Besessen auch nicht. Das ist mir beides zu hart. Aber Ihre Gedanken kreisen natürlich ums Existenzielle, ums Überleben, um Ihre Schmerzen, um Ihre Probleme. Man kümmert sich eigentlich nur noch um die existenziellen Sachen, aber irgendwann platzt dann der Knoten, und man sagt sich: Das geht so nicht. Du kannst ja nicht spazieren gehen und statt die Schönheit der Bäume zu sehen, be- schäftigst du dich damit, ob deine Leuko- zyten jetzt bei über fünf oder unter zwei sind. Mein Ziel war es, nicht nur zu über- leben, sondern auch wieder zu leben. SPIEGEL: Mussten Sie sich das ganz bewusst beibringen? Also auch, mal wieder ins Konzert zu gehen? Westerwelle: Ja. Ich bin zum Beispiel ge- fragt worden: Musstest du nach Salzburg fahren? Klassische Frage. Nein, musste ich nicht. Es hat mir aber unglaublich viel gegeben. Ich war oft dort, und ich liebe Opern. Und da kann man sagen, ja, es ist ein Risiko, doch egal, ich möchte es.  Musste ich zu dem Geburtstag nach Sylt reisen, wo ich mir auf dem Rückweg die Lungenentzündung geholt habe? Nein, musste ich nicht. Aber ich möchte ja nicht die nächsten Jahre meines Lebens in Pan- toffeln im Park um den Teich herum- schluffen. SPIEGEL: Gibt es so etwas wie eine voll- ständige Genesung: dass Sie so leben kön- nen wie früher? Westerwelle: Das weiß man noch nicht. SPIEGEL: Aber das ist möglich? Westerwelle: Ja, das Ziel ist vollständige Genesung. Aber das kann dauern. SPIEGEL: Ihr Buch liest sich übrigens auch wie eine Liebeserklärung an den Ehe- mann, wie eine Dankesschrift, wie eine Streitschrift gegen Klischees. Als wollten Sie ganz beiläufig sagen, selbstverständlich können auch Homosexuelle tiefe Verbun- denheit fühlen, Fürsorge zeigen, füreinan- der da sein. War das Ihre Absicht? Westerwelle: Es ist meine Absicht, und das ist auch die Lehre dieser Zeit. Man sagt gleichgeschlechtlichen Ehen eine gewisse Oberflächlichkeit nach, weil schon das Wort homosexuell die Sexualität betont. Aber das ist nicht so, bei Michael und mir schon gar nicht. Ich wusste das vorher, aber jetzt noch tausendmal mehr: Wir füh- ren keine Ehe zweiter Klasse. SPIEGEL: Herr Westerwelle, wir danken  Ihnen für dieses Gespräch.
Twitter: @Brinkbaeumer, @DirkKurbjuweit
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Westerwelle, SPIEGEL-Redakteure*
Zwischen zwei Leben
Titel
Geschwindigkeits- und Flughöhenrekordhalterin sowie Wegbereiterin
für Weltraumflüge. Produktionsleiter: Breitling, der privilegierte Partner
der Aeronautik dank seiner zuverlässigen, präzisen und bahn bre-
chenden Instrumente – wie der Chronomat, des Pilotenchronografen par
excellence. Willkommen in der Welt der Legende, der Spitzenleistung
und der Performance.
 
 
Der Bundesnachrich- tendienst (BND) hat Freunde aus aller Welt systematisch ausge- späht, unter anderem die Innenministerien der USA, Polens, Österreichs, Däne- marks und Kroatiens. Auch Anschlüsse der US-Vertretungen bei der Europäischen  Union in Brüssel und den Vereinten Natio- nen in New York sowie des amerikanischen  Finanzministeriums in Washington gehör- ten zu den Suchbe- griffen, die der BND zur Spionage nutzte. Sogar die Hotline des US-Außenministeriums für Reisewarnungen stand auf der Liste.
Das Interesse des deutschen Dienstes beschränkte sich nicht auf staatliche Einrichtun- gen: Er spähte auch Nichtre- gierungsorganisationen wie Care International, Oxfam oder das Internationale Komi-
tee des Roten Kreuzes in Genf aus. In Deutschland standen zahlreiche ausländische Bot- schaften und Konsulate auf der BND-eigenen Selektoren- liste: So wurden E-Mail-Adres- sen, Telefon- und Faxnum- mern von Vertretungen der USA, Frankreichs, Großbri-
tanniens, Schwedens, Portugals, Griechen- lands, Spaniens, Ita- liens, Österreichs, der Schweiz und selbst des Vatikans überwacht. Diplomatische Einrich- tungen fallen nicht  unter Artikel 10 des Grundgesetzes, der deutsche Telekommu- nikationsteilnehmer vor dem Abhören schützt. Vor drei  Wochen war bekannt geworden, dass der BND nicht nur im  Auftrag des US-Ge- heimdienstes NSA  europäische Partner ausspioniert, sondern diese auch in eigener Regie abgehört hat.
Im Oktober 2013 hatte Kanzlerin Angela Merkel  einen Spähangriff der NSA auf eines ihrer Handys mit den Worten verurteilt: „Aus- spähen unter Freunden – das geht gar nicht.“ Für den BND galt diese Losung offenkundig nicht. jös, mkn
Integration
Richter unterrichten
Bayern startet im Januar ein neues Integrationsprojekt für Asylbewerber mit Bleibeper- spektive. Richter, Staatsanwäl- te und Rechtspfleger werden in den Flüchtlingsheimen Rechtskunde lehren. Migran- ten sollten „insbesondere die Werte der Demokratie, der Gleichberechtigung von Mann und Frau, der Toleranz, der Meinungs- und Religionsfrei- heit sowie die Grundprinzi- pien unserer Rechtsordnung“ lernen, schreibt der bayeri- sche Justizminister Winfried Bausback in einem internen Rundbrief. Dolmetscher kön- nen vor Ort den Unterricht übersetzen. Mit einer überar- beiteten Broschüre über die deutsche Rechtsordnung in den Sprachen Englisch, Ara- bisch, Paschtu, Urdu und Dari möchte Bausback auch „das Phänomen Paralleljustiz“ be- kämpfen. Zudem soll es eine App für Smartphones und  einen Erklärfilm mit dem  Arbeitstitel „Willkommen in Deutschland – Was Sie über das deutsche Recht wissen müssen“ geben. cnm
Kittihawk
22 DER SPIEGEL / Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Bundesnachrichtendienst
Geht richtig gut In großem Ausmaß hat der BND befreundete Staaten ausspioniert.
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Merkel
Flüchtlinge
Mehr Schutz
 
 
Wuppertaler Modell
Die Wuppertaler Steuerfahn- dung und die Kölner Staats- anwaltschaft ermitteln gegen weit mehr Banken wegen des Verdachts der Beihilfe zur Steuerhinterziehung als bis- her bekannt. Es soll sich um fast 30 Verfahren gegen inter- nationale Geldinstitute und deren Filialen handeln, die in den meisten Fällen ihren Sitz in der Schweiz haben. Sie  basieren auf Informationen aus angekauften Datensätzen und einer rastermäßigen Aus- wertung von Selbstanzeigen ( 49/2014). Ergeben sich daraus Hinweise auf die Beihilfe zur Steuerhinterzie- hung durch Bank und Mit-
arbeiter, leiten die Wupper- taler Steuerfahnder Verfah- ren ein. Ziel ist die Verhän- gung einer sogenannten  Verbandsgeldbuße. Die Steu-
erfahnder haben dazu das „Wuppertaler Modell“ ent- worfen. Damit werden die Gewinne der Bank abge- schöpft, die sie durch die
 Betreuung steuerunehrlicher Kunden erzielt haben. Zu- sammen mit einem Straf- zuschlag wird eine Geldbuße festgelegt. Die Banken zah- len in der Regel, damit die Verfahren gegen ihre Mitar- beiter eingestellt werden – und in der Hoffnung, dass die Öffentlichkeit nichts da- von erfährt. Was nicht immer gelingt: So wurde zuletzt eine 17 Millionen Euro teure Geldbuße gegen die Com- merzbank bekannt. Zuvor hatten die UBS 300 Millionen und die Credit Suisse 149 Mil- lionen gezahlt. Für Nord- rhein-Westfalen ist das Wup- pertaler Modell ausgespro- chen lukrativ – mehr als 600 Millionen Euro wurden be- reits eingenommen. bas
Auf dem Mobiltelefon des mutmaßlichen Kindermörders  Silvio S., 32, befanden sich Fotos von Jungen, aber auch von Mädchen, wie eine erste Auswertung des Geräts ergab. Die Ermittler hatten gelöschte Dateien wieder sichtbar machen können: Auf einem Video ist der Missbrauch des vierjährigen Mohamed zu sehen. Ein Bild zeigt einen „bewusstlosen,  toten oder schlafenden Jungen, bei dem es sich um Elias han- deln könnte“, wie aus einem internen Polizeibericht hervor-
geht. Im Schrank von Silvio S. im brandenburgischen Nieder- görsdorf stellten die Beamten zudem Jungen- und Mädchen- bekleidung sicher. Fraglich ist, ob diese neu oder getragen war. Ob S. auch etwas mit dem Verschwinden der fünfjähri- gen Inga aus Sachsen-Anhalt zu tun hat, ist weiterhin unklar. In einer ersten Vernehmung hatte er gestanden, neben  Mohamed auch Elias aus Potsdam getötet zu haben. Seitdem schweigt S. win
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Deutschland investigativ
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Neue Beweise
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Schweizer Bankensitz am Paradeplatz in Zürich
Kondolenzbücher für Mohamed und Elias
 
 
Wehrpflicht
Freiwilliger Gesellschaftsdienst Angesichts der Herausforde- rungen, die auf Staat und  Gesellschaft durch Einwande- rung und Alterung zukom- men, wird die Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 in Teilen der CDU als Fehler an- gesehen. „Ich hätte die Wehr- pflicht nie abgeschafft“, sagte der stellvertretende Vorsit- zende der Unionsfraktion und ehemalige Verteidigungs- minister Franz Josef Jung. Weil eine Wiedereinführung des Zwangsdienstes der Be- völkerung jedoch schwer zu vermitteln wäre, wollen die Wehrpflicht-Anhänger in der CDU Wehr- und zivile Diens-
te auf freiwilliger Basis aus- weiten. In einem Antrag für den Parteitag im Dezember in Karlsruhe fordert der CDU-Bundesfachausschuss Außen-, Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik den Ausbau des bestehenden Bun- desfreiwilligendienstes zu ei- nem „Freiwilligen Gesell- schaftsdienst“. Dieser richtet sich an 18- bis 25-jährige Deutsche und „insbesondere“ Migranten. Er soll, so das Pa- pier, „bis zu 400000 Stellen, also zwei Drittel eines Ge- burtsjahrganges, umfassen“. Anders als beim Bundesfrei- willigendienst sollen die  Teilnehmer auch in der Bun- deswehr dienen dürfen, und zwar im Status von Re- servisten. csc, gt
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Ortsmeldungen aus den vergangenen Tagen: Wismar, Magdeburg, Pirna, Freital, Sehnde, Krölpa, Niederau. Die Gewalt breitet sich aus. Base- ballschläger, Fausthiebe, Brandan- schläge, Sprengladungen. Bei Pegi-
da-Demonstrationen werden Jour- nalisten geschlagen. Rotes Kreuz und
Technisches Hilfswerk melden Angriffe. Nicht nur Ausländer leben gefährlich in Deutschland; die Menschen, die ihnen helfen wollen, auch.
Ist das Weimar? Fängt es so an? Woran würden wir es merken? Gibt es ein Vorgefühl des Verderbens? Eine Ahnung am Abgrund? Werden wir später auf das Jahr 2015 blicken und uns fragen, warum wir die Katastro- phe nicht kommen sahen?
Wie sähe unser „Weimar 2015“ aus? Es ist ja niemand in Sicht, auf den die Zeilen von Stefan George passen würden: „Er führt durch sturm und grausige signale / Des frührots seiner treuen schar zum werk / Des wa- chen tags und pflanzt das Neue Reich.“ Weder der AfD- Mann Björn Höcke (der mit der Deutschlandfahne) noch der Shootingstar Marcus Pretzell (der mit dem Schießbefehl) haben das rechte Führer-Format.
Aber die „Frankfurter Allgemeine“ erinnert schon mal an den Untergang des weströmischen Reiches: „Guido Westerwelle, der uns ‚spätrömische Dekadenz‘ vorhielt, und Thilo Sarrazin, der vor der ‚Abschaffung‘ Deutschlands warnte, erfahren durch Merkel eine späte, sicher ungewollte Rechtfertigung.“ Muslime ante  portas! Das Abendland in Gefahr! Von da ist es nur ein kleiner Schritt bis zum Recht auf Notwehr.
Eine Stimmung des nationalen Notstands breitet sich aus. Das ist gefährlich. Denn die öffentliche Ordnung beruht auf der Fiktion, dass der Staat sie garantieren kann. Aber wenn die Ordnung an zu vielen Orten gleichzeitig gebrochen wird, ist der Staat dann macht- los und die Ordnung dahin?
Sebastian Haffner hat über den Moment der „Machter- greifung“ 1933 geschrieben: „Es war, man kann es nicht anders nennen, ein sehr verbreitetes Gefühl der Erlö- sung und Befreiung von der Demokratie.“ Kann man sich das heute vorstellen? Kann das wieder passieren?
Es heißt, Weimar sei nicht an einer zu großen Zahl von Radikalen zugrunde gegangen, sondern an einer zu kleinen Zahl von Demokraten. Das ist die These von der Res publica amissa, so der an Cicero angelehnte  Titel eines Buches des Altphilologen Christian Meier. Das vernachlässigte Gemeinwesen hatte keine Zukunft.
Wir würden unser Weimar erleben, wenn wir den Sieg der neoliberalen Alternativlosigkeit zuließen, den Triumph des nationalen Egoismus und der Verachtung für die Schwachen. Wenn wir die Niederlage der repu- blikanischen Zivilität duldeten.
Ist das vorstellbar? Ja. Es ist vorstellbar, dass das Gift des Neoliberalismus den republikanischen Geist zer- setzt und die verbleibenden Hohlräume sich mit rech- tem Denken füllen.
Die Demokratie endet nicht mit einem Knall,  sondern mit einem Wimmern.
An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein und Jan Fleischhauer im Wechsel.
Jakob Augstein Im Zweifel links
Weimar 2015
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Bundeswehrhelfer in Berliner Notunterkunft
Archiv gefunden
Auch der Militärische Ab- schirmdienst (MAD) lässt nun seine Geschichte aufar- beiten. In der Vergangenheit hatte der Geheimdienst der Bundeswehr Anfragen zur  eigenen Historie unter ande- rem mit dem Hinweis abge- wiegelt, man habe kein Ar- chiv. Inzwischen räumt der Dienst ein, dass sich dieses in Köln befinde. Die Aufar- beitung übernimmt das Zen- trum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Der MAD ist damit die 14. Bundesbehörde (darunter sieben Ministerien), die ihre Vergangenheit auf braune
 
 
 
 
Sicherheit
Abhören leichter gemacht Das Bundesinnenministe- rium will eine neue Sicher- heitsbehörde aufbauen. Mit deren Hilfe soll Internetkom- munikation besser über- wacht und Verschlüsselung geknackt werden. Aufgabe der Behörde sei es unter an- derem, neue Methoden zu entwickeln, um in verschlüs- selte Kommunikation, etwa bei Messenger-Diensten ein- dringen zu können, heißt es in Regierungskreisen. Auch
bei der Onlinedurchsuchung, bei der der Rechner einer Zielperson infiltriert wird, sowie beim Abhören von Gesprächen könnte die Be- hörde neue technische Werk- zeuge entwickeln. Dafür will das Innenministerium bis zu hundert Kryptologen und Netzwerkexperten einstel- len. Die Institution soll aller- dings nicht selbst überwa- chen, sondern nur die Tech- nik dafür entwickeln. Die Anwendung würde weiter- hin Sicherheitsbehörden wie dem Bundeskriminalamt oder dem Bundesamt für Verfassungsschutz obliegen. Die Pläne sind allerdings  regierungsintern umstritten. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) will das  Projekt demnächst vor Ab- geordneten des Bundestags präsentieren. hst, jös
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Deutschland investigativ
Nein, so darf man dem Fürsten nicht kommen. Nicht in dieser Causa. Denn es geht um eines der allerheiligsten Spiele des Adels und um ein Hochamt europäischer Blau- blüter zugleich: Es geht um die Jagd! Und so klagt Ferdi- nand Fürst von Bismarck auch gleich via „Bild“ pluralis majestierend: „Wir können nicht hinnehmen, dass die Tradition zerstört wird.“ Sein Sohn, der Gregor, Graf von Bismarck, assistiert: „Wir haben uns entschlossen, die Fra- ge gerichtlich klären zu lassen.“ Dabei ist die Frage gar keine Frage, sie ist Gesetz. Und das schon seit 1999. Da- mals hat der schleswig-holsteinische Landtag beschlossen, Jagdgatter zu verbieten, eingezäunte Waldgebiete also, in denen Wild gehalten wird, auf dass es sich nicht davon- machen kann, wenn es erlegt werden soll. Die Bismarcks haben zwei derartige Gehege im familieneigenen Sach- senwald bei Friedrichsruh. Wenn sie zur Jagd rufen und die geladenen Gäste unter Waffen heranschreiten, kön- nen diese fröhlich auf Damhirsch und Wildschwein bal- lern – und beim Totverblasen garantiert auf eine schöne Strecke schauen. Waidgerecht sei das nicht, klagen Kriti- ker schon lange. Mancherorts werden Tiere sogar gefüt- tert und traben zutraulich heran, wenn der Jagdmann naht. Wie putzig! Und peng: Wildbret. „Mit einer moder- nen, naturnahen Jagd hat das rein gar nichts zu tun“, fin- det Schleswig-Holsteins Umweltminister Robert Habeck. Andere Spielverderber sprechen gar von einem „Jagd- Bordell“. 15 Jahre Übergangsfrist hatte das Kieler Parla- ment seinerzeit den Bismarcks eingeräumt, bis Ende Ok- tober 2014. Seit zwölf Monaten also müssten die Zäune verschwunden sein, doch die Nachkommen des Reichs- kanzlers schert das nicht. „Unsere Familie ist seit etwa 140 Jahren Eigentümerin des Wildgatters und betreibt die- ses rechtmäßig und erlaubt“, befindet Ottos Ururenkel Gregor. Und daran will er festhalten. Eisern. ldt
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Jagdhornbläser „Fürst Bismarck“
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Kontroverse Anträge Die gewerkschaftsnahen  Politiker in der Union wollen Selbstständige, die keine  Angestellten haben – soge- nannte Solo-Selbstständige – künftig in die gesetzliche  Altersvorsorge einbeziehen. Dabei gehe es „insbesondere um eine Absicherung in der gesetzlichen Rentenversiche- rung“, heißt es in einem An- trag des Arbeitnehmerflügels der Union (CDA) für den CDU-Parteitag im Dezember in Karlsruhe. Die CDA drängt auf mehr Rechte für Beschäftigte in einer zuneh-
mend digitalisierten Arbeits- welt. „Auch muss es in der digitalen Arbeitswelt faire Löhne und gute Arbeitsbe- dingungen geben“, heißt es in den Anträgen der CDA zum Parteitag. Der CDU- Bundesvorstand will dort durchsetzen, dass künftig ein größerer Anteil der  Mitgliedsbeiträge in die  Kasse der Zentrale fließt. Demnach sollen die Landes- und Kreisverbände pro  Mitglied statt wie bisher 64 Cent bis zum Jahr 2018  einen Euro im Monat dem Konrad-Adenauer-Haus überlassen. In mehreren Landesverbänden stößt das auf Unmut. ama, mad, ran
Afghanistan
Angriff aufs Konsulat Im Norden Afghanistans ist ein Anschlag auf das deut- sche Generalkonsulat nur knapp gescheitert. Laut  internen Bundeswehr-Papie- ren schleuderten Unbekann- te am 20. Oktober aus einem fahrenden Auto eine Hand- granate auf die Vertretung der Bundesrepublik im Zen- trum der Provinzhauptstadt
Masar-i-Scharif; sie explo- dierte jedoch in einem Gra- ben vor dem Konsulat. Die Hintergründe des Anschlags sind unklar. Im früher rela- tiv sicheren Masar-i-Scharif, wo die Bundeswehr ihr letz- tes Feldlager in Afghanistan betreibt, verschlechtert sich die Lage zunehmend. Das Auswärtige Amt hat des- wegen vor Kurzem die  Sicherheitsvorkehrungen für die Außenstelle dort ver- schärft. mgb
Waidmannsheil!
 
 
 
 
A n Selbstbewusstsein hat es Jean- Claude Juncker noch nie geman- gelt. Kurz bevor sich die Staats-
und Regierungschefs der 20 größten In- dustrienationen im türkischen Antalya zum Gipfel treffen, verteilt der Chef der Brüsseler EU-Kommission schon mal  fleißig Lob – an sich selbst. „Die EU hat Führungsstärke bewiesen“, schreibt Jun- cker an die Teilnehmer. Jetzt sei es an  ihnen, dem Beispiel Europas „im Kampf  gegen schädlichen Steuerwettbewerb“ zu folgen.
Ausgerechnet Juncker. Ausgerechnet der Mann, unter dessen Dauerregentschaft sich der Kleinststaat Luxemburg zur inter- nationalen Steueroase mauserte, gibt nun
den Vorkämpfer gegen die Abgabentrick- ser aus den Chefetagen internationaler Großkonzerne.
Dabei vergeht kaum ein Tag, an dem der Behördenchef nicht von seiner Vergan- genheit als Premier des wirtschaftsfreund- lichen Großherzogtums eingeholt wird. Noch im November will das EU-Parlament einen Bericht verabschieden, in dem jene ruinösen Arrangements der Luxemburger Steuerverwaltung gebrandmarkt werden, mit denen Multis wie Amazon oder Fiat ihre Steuerlast jahrelang oft auf nahezu null drücken konnten.
Einen politisch Verantwortlichen be- nennt das Abschlusspapier der sogenann- ten Lux-Leaks-Affäre allerdings nicht. Der
Grund: Neben dem Rat der Mitgliedstaa- ten hat sich auch Junckers Kommission immer wieder geweigert, den Parlamen- tariern Zugang zu wichtigen Akten zu  verschaffen, zum Beispiel zu den Pro- tokollen einer vertraulichen Expertenrun- de aus den Finanzministerien der 28 Mit- gliedsländer, die regelmäßig die EU-  Besteuerungsregeln für Großkonzerne un- tersuchte.
Der konnte diese und andere Dokumente der Gruppe Verhaltenskodex („Code of Conduct Group“) und der Rats- arbeitsgruppe Steuern, insgesamt mehrere Hundert Seiten, einsehen. Sie belegen, wie weit Worte und Taten in der europäischen Steuerpolitik auseinanderklafften, zumal
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bei jenem langjährigen Regierungschef, der seit Jahren eine Schlüsselfigur in der europäischen Finanzpolitik ist.
In seinen Reden und Interviews beteu- erte Juncker stets, dass sich das Großher- zogtum natürlich keineswegs „auf Kosten der Nachbarländer“ bereichert habe – und schon gar nicht, indem es Steuerhinterzie- her angelockt habe. Im politischen Alltag aber kämpften seine Leute um genau jene Konzernvorteile, die ihr Chef so wortreich anprangerte. Das Steuerprivileg – der oberste Paragraf von Luxemburg.
Um möglichst viel Firmengeld ins Land zu locken, stritten seine Beamten um Steu- ermodelle mit „hybriden Finanzinstru- menten“ und vor allem für die sogenannte Patentbox. Eingeführt, um den techni- schen Fortschritt anzuregen, hatten vor  allem belgische, niederländische und  luxemburgische Finanzpolitiker den Steu- ervorteil in ein Instrument verwandelt, mit dem Konzerne die Erträge aus Paten- ten oder Lizenzen in ihre Benelux-Töchter lenken und dort zu niedrigen Sätzen ver- steuern konnten. Zum Vorteil der eigenen
Staatskasse und zum Nachteil aller ande- ren EU-Länder sowie der großen Mehrheit kleiner und mittlerer Unternehmen, für die eine solche Vorzugsbehandlung nicht infrage kam.
Dabei wussten die Vertreter der übrigen EU-Länder bestens Bescheid, mit welchen Tricks sie über den Tisch gezogen werden sollten; das deutsche Mitglied in einer Steu- ergruppe des Rats kabelte im März 2013 im EU-typischen Kürzeljargon nach Berlin: Immer wieder seien „Zweifel an der Un- schädlichkeit“ einiger Steuermodelle auf- gekommen, „es handelt sich vornehmlich um die Lizenzboxregelungen von LUX und NDL“.
Doch geschehen ist über die Jahre – nichts. Immer wenn die Steuergruppe Än- derungen vorschlug, setzten sich Luxem- burg, Belgien und die Niederlande erfolg- reich zur Wehr: kein Wunder, pflegen sich die Vertreter der Beneluxländer doch vor den Sitzungen in Brüssel regelmäßig in se- paraten Runden abzusprechen.
Sogar einen Informationsaustausch über Steuervorbescheide für große Konzerne lehnten Luxemburg und die Niederlande im engen Schulterschluss ab – und zwar bereits 2010, vier Jahre vor dem späteren Lux-Leaks-Skandal.
Der Befund ist heikel. Nicht nur den Kommissionspräsidenten Juncker holt ein- mal mehr seine Vergangenheit als Regie- rungschef der Steuersparoase Luxemburg ein. Auch ein zweiter wichtiger Mann an der Spitze der europäischen Institutionen muss sich unangenehmen Fragen stellen: der niederländische Finanzminister Jeroen Dijsselbloem. Selbst nachdem er zum Chef der Euro-Gruppe aufgestiegen war, blockte sein Land alle Änderungen ab.
Einer, der seit Jahren versucht, Licht in das Dunkel der EU-Konzernbesteuerung zu bringen, ist Sven Giegold, 45. Der grüne Europaparlamentarier ist Widerstand ge- wohnt. Doch was er erlebte, als er nach den Sitzungsprotokollen jener geheimnis- vollen Steuerarbeitsgruppe fragte, war auch für ihn neu. Giegold wurde behandelt wie ein Spion, der Geheimdienstberichte einsehen möchte.
Zuerst mauerte der Rat, dann lieferte die EU-Kommission Papiere, die an den entscheidenden Stellen geschwärzt waren. Trotzdem musste der Abgeordnete sein Handy abgeben, als er in Raum 232 eines Brüsseler Kommissionsgebäudes einige Dokumente zu lesen bekam. Mit Bleistift und Papier konnte er sich Notizen machen, mitnehmen durfte er seine Aufzeichnun- gen nicht.
Was die zuständigen EU-Behörden so hartnäckig verweigerten, entpuppte sich beim Lesen als Geschichte eines giganti- schen Betrugs mithilfe des Steuerrechts. Interne EU-Papiere belegen, wie Vergüns- tigungen bei der sogenannten Patentbox
vor allem Konzernen zugutekamen, die ihre Lizenzen, Copyrights, Patente oder Markenrechte einfach einer Tochterfirma in Luxemburg oder Den Haag überschrie- ben, um sie dort mit dem Unternehmens- gewinn zu verrechnen. Ob in den Bene- lux-Niederlassungen tatsächlich geforscht wurde, spielte dagegen keine Rolle.
Die Folge: Selbst für Milliardengewinne ging die Steuerlast gegen null, wie eine Aufstellung der EU-Experten beweist. In Belgien, das die Patentbox 2007 eingeführt hatte, sank der Steuersatz fü