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Deutsches Riga-Komitee Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. Riga-Bikernieki www.riga-komitee.de Foto: Uwe Zucchi

Deutsches Riga-Komitee Riga-Bikernieki

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Deutsches Riga-Komitee Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.

Riga-Bikernieki

www.riga-komitee.de

Foto: Uwe Zucchi

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„Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es keine Vergangenheit gibt, sondern nur die Erinnerung. Nur, was ich im Gedächtnis behalte, ist Vergangenheit – alles andere gibt es nicht mehr.“

Andrzej Szczypiorski (*3 . Februar 1924 †16. Mai 2000), polnischer Schriftsteller

Deutsche und lettische Jugendliche während der Gedenkveranstaltung am 9. Juli 2010 (auch Titelbild). Das Mahnmal auf dem zentralen Gedenkplatz istvon Feldern mit Granitsteinen umgeben. In den Namensschrein sind zur Einweihung 21 Bronzehülsen mit Namenlisten der Opfer eingemauert worden.

Foto: Volksbund-Archiv

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Den Opfern zum Gedenken –uns und den kommenden Generationen zur ErinnerungNeben dieser Broschüre hat der Volksbund zum selbenThema eine Wanderausstellung – s. S. 5 – konzipiert.Dazu hat Bundespräsident Joachim Gauck das folgendeGeleitwort geschrieben:

Die Bilder dieser Ausstellung führen uns zurück in eineZeit, von der wir wünschen, es hätte sie nie gegeben. Aufeinigen Fotos sehen wir Menschen, die sich wohl gefragthaben, ob sie jemals wiederkehren würden. „Nach unbe-kannt“ notierten die Einwohnermeldeämter damals, wennjüdische Familien zwangsdeportiert waren. Eines jenerZiele hieß Riga, im besetzten Lettland begann 1941 diemenschenverachtende „Endlösung“. Mehr als 25 000Männer, Frauen und Kinder wurden aus deutschen Städ-ten dorthin verschleppt, gequält und ermordet. Wer nichtschon auf dem Transport verdurstet, erstickt oder vor Er-schöpfung zusammengebrochen war, landete im Ghettovon Riga, im Jungfernhof oder im KonzentrationslagerKaiserwald. Die Toten wurden zu Zehntausenden namen-los in den Wäldern von Rumbula und Bikernieki ver-scharrt.

Fast wäre die Erinnerung an diese Schicksale für immererloschen. Bis 1990 wussten nur wenige Überlebendeund Angehörige von den Geschehnissen. Und noch weni-ger sprachen öffentlich darüber.

Umso dankbarer bin ich, dass es dem Riga-Komitee, sei-nen Unterstützern in Lettland und vielen anderen Ländernnach Ende des Kalten Krieges gelungen ist, die verbliebe-nen Spuren und Zeugnisse wie ein Mosaik zusammenzu-tragen und den Verstorbenen ein ehrenvolles Andenkenzu widmen. Fanatische Täter haben die Opfer einst syste-

Bundespräsident Joachim GauckSchirmherr des Volksbundes

Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.

Joachim GauckBundespräsident

Quelle: Presse- und Informa-tionsamt der Bundesregierung

matisch hingemordet und ihrer Würde beraubt.Europäische Partner tun heute alles dafür Mögliche,ihnen Würde wiederzugeben. Sieben Jahrzehnte nachdem Holocaust finden sich in und um Riga eindrucksvolleOrte des Erinnerns und Grabanlagen, die von Schülern inihren Ferien gepflegt werden. Es gibt Historiker, die vielZeit dafür aufbringen, Namenslisten zu schreiben, auchwenn sie wohl niemals vollständig sein werden. Und esgibt Engagierte – dabei denke ich besonders an denVolksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge –, die mitAusstellungen wie dieser immer wieder neuen Anlass,Raum und Zukunft für die Erinnerung schaffen.

Ihnen allen, die sich gegen das Vergessen starkmachen,danke ich und ich hoffe, dass die Betrachter der Bildervon Riga nicht passive Zuschauer bleiben, sondern dasssie mit Sensibilität und Entschlossenheit für Menscheneintreten, deren Würde oder Leben bedroht ist, ja dasssie die Menschlichkeit überall dort bewahren oder vertei-digen, wo sie nicht beachtet oder gar missachtet wird.

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Die Repräsentanten von 13 deutschen Großstädten undder Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräber-fürsorge gründeten am 23. Mai 2000 in Berlin das „Deut-sche Riga-Komitee“. Damals direkt beteiligt waren Berlin,Bielefeld, Dortmund, Düsseldorf, Hamburg, Hannover,Kassel, Köln, Leipzig, Münster, Nürnberg, Osnabrück und

Erinnerung und Begegnung

Stuttgart. 2001 traten noch Bocholt, Kiel, Lübeck, Wienund Bremen dem Komitee bei. In den folgenden Jahrensind noch viele weitere Städte dazugekommen (sieheListe Seite 29). Aufgabe dieses Zusammenschlusses istes, an das Schicksal von über 25 000 deutschen Judenzu erinnern, die in den Jahren 1941/42 nach Riga depor-

Am 23. Mai 2000 empfing der damalige Bundespräsident Johannes Rau, der auch Schirmherr des Volksbundes war, die von den Städten für das Komiteebenannten Repräsentanten (v.l.n.r.): Dr. Heinrich Schöll, Wien / Hans-Jürgen Fip, Osnabrück / Günter Apel, Hamburg / Dr. Berthold Tillmann, Münster / Ingo Groß, Kassel / Erich Herzl, Wien / Dr. Wolfgang Ostberg, Stuttgart / Renate Canisius, Köln / Dr. Georg Girardet, Leipzig / BundespräsidentJohannes Rau / Harald Böhlmann, Hannover / Maija Rubina, Riga / Adolf Miksch, Dortmund / Karl-Wilhelm Lange (damals Präsident des VolksbundesDeutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.) / Eberhard Diepgen, Berlin / Ludwig Scholz, Nürnberg / Eberhard David, Bielefeld / Heinz Winterwerber, Düsseldorf.

Foto: Bundesbildstelle Berlin

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tiert und in ihrer überwiegenden Zahl im Wald von Biker-nieki ermordet wurden.

Der Volksbund errichtete in Zusammenarbeit mit seinerlettischen Partnerorganisation, dem Brüderfriedhöfekomi-tee, und der Stadtverwaltung Riga für die Opfer eine wür-dige Gräber- und Gedenkstätte. Der Zentralrat der Judenin Deutschland, die Stadtverwaltung Riga sowie die inWien bereits noch im vorigen Jahrhundert gegründete„Initiative Riga“ unterstützten das Projekt.

Die Anlage im Wald von Bikernieki wurde am 30. Novem-ber 2001 eingeweiht, 60 Jahre nach Beginn der Deporta-tionen aus Deutschland.

Mit der Pflege der Anlage durch lettische und deutscheJugendliche wird ein lebendiges Band der Erinnerung undder Begegnung zwischen Riga und den deutschen Städ-ten geknüpft, von denen damals die Sammeltransporteausgingen.

Rechtliche Grundlage ist das deutsch-lettische Kriegsgrä-berabkommen von 1996, in dem sich die Bundesregie-rung verpflichtet hat, auch den deutschen Opfern derDeportation in Lettland würdige Grabstätten zu schaffen.

Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, der auchmit dieser Aufgabe beauftragt ist, hat in Lettland zudemseit 1991 über 60 Kriegsgräberstätten für deutsche Gefal-lene und Kriegsgefangene instand gesetzt, zum Teil neuangelegt und in seine Obhut übernommen.

Das PDF der Wanderausstellung kann unterwww.riga-komitee.de heruntergeladen oder die Ausstellung zur Ausleihe per [email protected] angefordert werden.

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Foto: Volksbund-Archiv

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Vom November 1941 bis zum Winter 1942 wurden ausdem Gebiet des damaligen Deutschen Reiches in ca. 28Transporten mehr als 25 000 Juden, Männer, Frauen,Kinder, im Verlauf der nationalsozialistischen „Endlösungder Judenfrage“ – dem Tarnbegriff für den Massenmordan der jüdischen Bevölkerung Europas – in den balti-schen Raum, in erster Linie nach Riga, deportiert. Nurdrei bis vier Prozent sollten dieses Inferno überleben.Warum verschleppte man sie ausgerechnet in die letti-sche Hauptstadt?

Im ersten Halbjahr 1941 schien es, als ob eine Entfer-nung der deutschen Juden aus dem Reichsgebiet auf dieZeit nach einem siegreichen Ende des Krieges verscho-ben werden sollte. Erst im September gab Hitler seineGenehmigung für eine zunächst kontingentierte Deporta-tion. Trotz der seit langem anhaltenden BemühungenHeydrichs, dieses Ziel zu erreichen, waren bis zum Sep-tember keinerlei Vorbereitungen für eine geographischeLösung getroffen worden. Die Stadtverwaltung von Lodz,damals Litzmannstadt genannt, in deren Zuständigkeitdas einzige bis dahin existierende Großghetto auf demHoheitsgebiet des Deutschen Reiches fiel, wehrte sichvehement, aber vergeblich dagegen, in das ohnehin überfüllte Ghetto 60 000 deutsche Juden aufzunehmen.

Zur Geschichte der Deportation jüdischer Bürger nach Riga1941/1942Vortrag von Prof. Dr. Wolfgang Scheffler anlässlich der Veran-staltung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge imLuise-Schröder-Saal des Berliner Rathauses am 23. Mai 2000zur Gründung des Riga-Komitees

Die Zahl musste auf 20 000 verringert werden. Hinzu ka-men allerdings noch Tausende Roma und Sinti.

Himmler und Heydrich waren sich bewusst, dass andereZielorte gefunden werden mussten. Der besetzte sowjet-russische Raum, in dem ohnehin die Einsatzgruppen derSicherheitspolizei und des SD und die Verbände der Ord-nungspolizei ihrem Mordgeschäft bereits nachgingen,rückte damit in den Mittelpunkt der Erörterungen. Nacheinigem Hin und Her wurden Minsk und Riga als künftigeDeportationsziele für 50 000 Juden aus dem Reichsge-biet ausgewählt. Aber auch hier gab es Schwierigkeiten.Die Deportationen nach Minsk mussten wegen der her-einbrechenden Winterkatastrophe und der sich anbah-nenden deutschen Niederlage vor Moskau aufgrund derProteste der Wehrmacht abgebrochen werden. In Rigawaren trotz der Zusicherungen des Führers der Einsatz-gruppe A, Dr. Franz Walter Stahlecker, keinerlei Aufnah-memöglichkeiten vorhanden. Daraufhin ordnete derHSSPF (Höhere SS und Polizeiführer) Ostland, FriedrichJeckeln, die Räumung des erst am 25. Oktober 1941geschlossenen Rigaer Ghettos an. Am 30. November,dem Rigaer Blutsonntag, und am 8./9. Dezember wurden26 500 lettische Juden im Wald von Rumbula von SS-und Polizeiangehörigen und lettischen Hilfswilligen er-mordet. Stahlecker ließ in einem heruntergekommenenGut bei Riga, dem Jungfernhof, von lettischen Juden ausdem Ghetto in den Scheunen und Viehställen eilendsenge Pritschen montieren und „verkaufte“ das nach Berlinals „Kasernengelände“. Ein von ihm schon lange ge-wünschtes Polizeihaftlager, das überhaupt noch nicht vor-handen war, wurde ebenfalls als Unterkunft gemeldet.

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Diese zu spät eingeleiteten Maßnahmen führten dazu,dass die ersten fünf für Riga bestimmten Transporte nachmehreren zeitlichen Verschiebungen dann nach Kownogeführt wurden. 2 934 Menschen: 1 159 Männer, 1 600Frauen und 175 Kinder aus Berlin, München und Frank-furt am Main wurden im Fort IX der Stadt Kowno am25.11.1941 durch Angehörige des Einsatzkommandos 3,der deutschen Ordnungspolizei und litauische Hilfswilligeumgebracht. Am 29.11.1941 traf in Kowno das gleicheSchicksal 2 000 Juden aus Wien und Breslau – 893 Män-ner, 1 155 Frauen und 152 Kinder. Diese Exekutionen wa-ren die ersten an deutschen Juden verübten Massen -erschießungen überhaupt. Auch der erste Transport, derdirekt in Riga ankam, geriet am 30. November in die Räu-mung des Rigaer Ghettos. Ihre Insassen, ca. 730 BerlinerJuden, die am 27. November ihre Heimatstadt verlassenmussten, starben am frühen Morgen dieses Tages unmit-telbar vor der Ankunft ihrer lettischen Leidensgefährten.

Foto links und oben: Am Zaun des Rigaer Ghettos

Foto: Museum „Juden in Lettland“, Riga

Die noch nicht abgeschlossene Räumung des RigaerGhettos führte auch dazu, dass die ersten vier Transpor-te, die in den ersten Dezembertagen aus Nürnberg, Stutt-gart, Wien und Hamburg in Riga ankamen, nach Jung-fernhof gebracht wurden. Erst mit der Ankunft des Trans-ports aus Köln unmittelbar anschließend wurden dieJuden in das Ghetto gebracht, wo sie die blutigen Über-reste der unmittelbar vorher beendeten Räumung vorfan-den. Im Dezember folgten dann noch Transporte ausKassel, Düsseldorf, Münster/Bielefeld und Hannover. Inden Wohnungen der vorher ermordeten lettischen Judenwurden die Deportierten untergebracht. Da der größereTeil des von den lettischen Juden geräumten Ghettos für

Foto: BArch, Bild 183-N1212-326 / Donath

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die hereinkommenden Transporte nicht zur Verfügungstand, herrschte in den Wohnungen qualvolle Enge,zumal im Januar bis Anfang Februar 1942 zwei weitereTransporte aus Theresienstadt, drei aus Berlin, zwei ausWien und je einer aus Leipzig und Dortmund folgten.

Sowohl aus dem Ghetto als auch aus Jungfernhof wurdenviele arbeitsfähige Männer in das noch gar nicht existie-rende spätere Polizeihaftlager Salaspils gebracht, wo siebei eisiger Kälte zunächst ihre eigenen Unterkünfte undspäter das ganze Lager aufbauen mussten.

Die Transporte nach Riga setzten sich bis Anfang Februarfort und wurden erst im August bis Dezember 1942 immonatlichen Abstand (Transporte aus Berlin) wieder aufge-nommen. Einer von ihnen wurde im September 1942 nachEstland (aus Berlin und Frankfurt a. M.) weitergeleitet.

Von allen diesen Vorgängen hatte die jüdische Bevölke-rung im Reichsgebiet, als sie die Nachricht von ihrerbevorstehenden Abschiebung nach Osten erfuhr, keineAhnung. Im Gegenteil, man spiegelte ihr vor, als Aufbau-kräfte in den neu besetzten Ostgebieten Arbeit und Unter-kunft zu finden. Die Deportationsrichtlinien erließ dasJudenreferat des Reichssicherheitshauptamtes. Die örtli-chen Leitstellen der Staatspolizei (Stapo) fassten sie fürden lokalen Bereich zusammen und organisierten fürihren Zuständigkeitsbereich den gesamten Abtransport.So war der Dienstsitz der Stapoleitstellen das Zentrum,zu dem die Judentransporte der umliegenden Städte undGemeinden zumeist zusammengeführt wurden, um dannden Transport gemäß den Absprachen mit der Deutschen

Reichsbahn auf seinen verhängnisvollen Weg zuschicken. Die lokale Schutzpolizei begleitete die Trans-porte bis nach Riga. Nach dem Krieg wurde lange Zeit derEindruck erweckt, als ob der Abtransport der Juden ausdem Reichsgebiet eine Art „Geheime Reichssache“gewesen sei. Schon in den sechziger Jahre war aber inden Gerichtssälen völlig klar, dass es sich dabei um einereine Verteidigungsstrategie der Beschuldigten handelte.Im Gegenteil, die Deportation der deutschen Juden warein in den Behörden weithin bekannter Vorgang, der dieVerwaltungen umfangreich beschäftigte. Von den Ar-beitsämtern, den Industriebetrieben, den Finanzämtern,den Wohlfahrtsbehörden bis hin zu den Gerichten wurdeder Vorgang als ein bürokratischer Akt behandelt. DieBanken erließen genaue Richtlinien, wie mit den Anord-nungen des Reichsfinanzministeriums umzugehen sei.Die NSDAP und ihre Organisationen, vornehmlich dieNS-Volkswohlfahrt, versteigerten und verteilten das Habund Gut der Deportierten, nachdem zunächst vornehm-lich die Finanz ämter und andere Behörden sich aus dembeweglichen Hab und Gut für ihre Zwecke bedient hatten.

Anfängliche Unsicherheiten in der Abwicklung des be-hördlichen Vermögensraubs wurden mit dem Erlass der11. Verordnung zum Reichbürgergesetz beseitigt, derzu-folge ein Jude beim „Verlassen des Reichsgebiets“ nichtnur seine Staatsangehörigkeit, sondern auch sein Vermö-gen verlor. Die „Reichsvereinigung der Juden in Deutsch-land“ und die noch bestehenden jüdischen Gemeinden,die unter dem Kuratel der Geheimen Staatspolizei(Gestapo) standen, wurden gleichermaßen in den Ver-waltungsvorgang miteinbezogen. Sie hatten die Deporta-

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der Hunger und die konsequent sich daraus ergebendenKrankheiten führten dazu, dass allein in Jungfernhof inden Wintermonaten über 800 Menschen starben.

Im Rigaer Ghetto wurden die Angekommenen, soweit sie arbeitsfähig waren, erst zum Schneeräumen und dann nach und nach bei zahlreichen Dienststellen und Betrie-

tionslisten nach den Richtlinien der Gestapo zusammen-zustellen, die dann von der Stapo überarbeitet und ge-nehmigt wurden. Sie betreuten die Menschen bis zum Ab-transport. Durch Sonderabgaben auf das „SonderkontoW“ der Reichsvereinigung musste die jüdische Bevölke-rung schließlich den Abtransport in den Tod selbst bezah-len. Gemäß den Richtlinien nur mit dem Allernotwendig-sten versehen, wurde das Gepäck der für den Abtransportbestimmten Personen in den Sammelstellen durch dieGestapo kräftig gefilzt, da die Anweisungen der jüdischenOrganisationen mit denen der Gestaporichtlinien sehr oftnicht übereinstimmten und die Polizisten ohnehin dieBestimmungen willkürlich auslegten. Anfänglich standennoch alte Personenwaggons zum Abtransport bereit. Indem strengen Winter 1941/1942 stellte man dann nurnoch ungeheizte Güterwagen zur Verfügung, was zuzahlreichen Erfrierungen bei den Transportinsassen führ-te. In Riga musste man die Toten ausladen.

Der Schock über diese Verhältnisse war gewaltig. Bei derAnkunft auf dem Güterbahnhof in Riga wurden die Insas-sen mit Gebrüll und teilweise mit Gewalt aus den Wagengetrieben. Diejenigen, die den Fußmarsch nach Jungfern-hof oder in das Ghetto nicht leisten konnten, wurden mitLkw fortgeschafft. Man sah sie nie wieder. Über die ver -eisten Straßen mussten sich die Menschen zu ihremUnterbringungsort hinschleppen. Die Unbill des Wetters,nicht nur der böse Wille, sondern auch die hervorzuhe-bende deutsche Unfähigkeit, für die Deportierten zu sor-gen, führten dazu, dass es Tage und Wochen dauerte, bisdie dann gewährte mangelhafte Ernährung halbwegs ge-sichert war. Die katastrophale Unterbringung, die Kälte,

Bielefeld: Anfänglich standen noch alte Personenwaggons zum Ab-transport bereit.

Foto: Stadtarchiv Bielefeld

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ben zur Arbeit eingesetzt. In nahezu 200 Arbeitsstellenwurden die jüdischen Arbeitskräfte, so merkwürdig esklingt, zu einem integralen Bestand des ohnehin knappen Arbeitskräftereservoirs, über dessen Verfügbarkeit es zuheftigen Auseinandersetzungen, sogar zu tätlichen Strei-tereien unter den Deutschen kam. In Salaspils war bei den barbarischen Lebens- und Arbeitsbedingungen die

Massengrab

Foto: Landesarchiv NRW/Abteilung Westfalen, Münster

Sterblichkeit besonders hoch. Nur ein Bruchteil der dorthingebrachten Männer kehrte nach vollendetem Aufbaudes Lagers im Sommer 1942 völlig entkräftet in das RigaerGhetto zurück. Bereits im Februar, aber vor allem am 26. März 1942, fanden sowohl in Jungfernhof als auch imGhetto große Selektionen statt, denen in beiden Lagernnahezu 3 000 als arbeitsunfähig angesehene Menschenzum Opfer fielen. Unter dem Vorwand, sie in ein Lager inDünamünde zu bringen, das in Wirklichkeit gar nicht exi-stierte und wo es in einer Konservenfabrik angeblich leich-tere Arbeitsbedingungen gäbe, transportierte man die Op-fer zu den Massengräbern im Wald von Bikernieki und er-schoss sie. Von diesem Zeitpunkt an war das Ghetto vorallem ein Arbeitsghetto. Jungfernhof bestand als Judenla-ger noch bis zum Sommer 1942. Die meisten Arbeitskräftewurden dann in das Rigaer Ghetto gebracht, die übrigenerst 1943.

Die Lebensbedingungen im Ghetto können hier nichtgeschildert werden. Die Arbeitsbedingungen in denBetrieben und Dienststellen waren unterschiedlich undhingen von der Willkür der Befehlsgeber ab. Sie reichtenvon fast KZ-ähnlichen Verhältnissen bis zu den soge-nannten guten Betrieben. Die Suche nach Lebensmitteln,der mit der Todesstrafe bedrohte Tauschhandel und vieleweitere Unwägbarkeiten bestimmten das Leben. Zwi-schen dem Versuch, eine irgendwie den Verhältnissenangepasste Lebensweise zu organisieren, und der stän-digen Willkür der Polizeikräfte versuchte man zu überle-ben. Um den täglichen Marsch zu den Betrieben zu spa-ren, richtete man in Fabriken und Dienststellen soge-nannte „Kasernierungen“ ein, deren „Qualität“ wiederum

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Arbeitskräfte weiterhin in den Kasernierungen der Betrie-be lebte, war das KZ Kaiserwald die „Schaltstelle“ für alleHäftlinge. Alle Scheußlichkeiten, die mit dieser Institutionverbunden waren, ereigneten sich auch hier. Medizini-sche Versuche, Folterungen, willkürliche Erschießungen,Selektionen, usw. Der aus Mauthausen gekommene KZ-Arzt Dr. Eduard Krebsbach leitete auch die Kinderaktion,bei der alle noch vorhandenen Kinder unter 14 Jahren zurErschießung weggeschleppt und anschließend ermordetwurden.

Bereits seit Frühjahr 1943 wurden auch kleine Komman-dos zu den „Enterdungsaktionen“ geschickt („Stützpunkt-kommandos“ genannt), die man nach einiger Zeit er-schoss und durch neue ersetzte.

vom vorhandenen oder nicht vorhandenen Engagementder jeweiligen Vorgesetzten abhing.

Einen besonders üblen Ruf erwarb sich der Kommandeurder Sicherheitspolizei und des SD, Dr. Rudolf Lange, des-sen Schießwut keine Grenzen kannte. Dass eine Steige-rung des Elends noch möglich war, erfuhren die Ghettoin-sassen anlässlich ihrer Überführung in das neu errichteteKZ Kaiserwald in einem Vorort von Riga. Die Räumungdes Ghettos, die im Sommer 1943 begann, zog sich bis inden Spätherbst hin. Im Ghetto sammelte man alle jene,die als arbeitsuntauglich galten und deportierte über 2 000 von ihnen Anfang November nach Auschwitz. Nurein kleines Säuberungskommando blieb dann im leerenGhetto bis 1944. Auch wenn die überwiegende Zahl der

Foto: Axel Vogel

Spuren des ehemaligen Ghettos in Riga: Verblasste Aufschrift „KÖLNER STR.“ auf einem verrosteten Metallblech, Juli 2010

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Befreit wurden die Deportierten in Schleswig-Holstein,Buchenwald und anderen Orten. Einige, die von The-resienstadt aus nach Riga deportiert worden waren,gelangten am Ende des Krieges an den Ausgangsort wie-der zurück. Die Männer, die nach Bergen-Belsen kamen,fielen zum großen Teil den dort herrschenden Krankhei-ten zum Opfer. Eine Gruppe weiblicher Häftlinge wurdevon Hamburg Richtung Kiel getrieben, wo sie dank desSchwedischen Roten Kreuzes nach Schweden in dieFreiheit gelangten.

Prof. Dr. Wolfgang Scheffler(* 22. Juli 1929 † 18. November 2008)

Jüdische Häftlinge bei der Errichtung des Konzentrationslagers Salaspils

Foto: BArch, Bild 101III-Duerr-054-30A / Dürr

Mit der Annäherung der Front 1944 begannen SS und Po-lizei mit der systematischen Rückführung der in den balti-schen Staaten noch lebenden jüdischen Häftlinge nachWesten.

Über Libau wurden sie zunächst in das KZ Stutthof beiDanzig und im Lager und der weiteren Umgebung unter-gebracht. In Stutthof erfuhren sie noch einmal die ganzegrausame Wirklichkeit des Konzentrationslagers. Die wei-tere Rückführung erfolgte dann 1945 großen Teils in Fuß-märschen, bis sie von der Roten Armee befreit wurden.Der andere Teil gelangte mit dem Schiff nach Westen.

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Das „Buch der Erinnerung“

Diese Rekonstruktion der Wege ist bis dahin noch nie vorgenommen worden.

-Überlebende werden genannt.

Um dem Gedenkbuch eine einheitliche Struktur zu geben,war die Unterstützung lokaler Archive und regionaler For-scher unerlässlich. Anhand eines von Professor Schefflererarbeiteten „Leitfadens“ erfährt der heutige Leser undNutzer unter anderem:

- wie sich die allgemeinen Bevölkerungszahlen zwischen den Volkszählungen von 1933 und 1939 veränderten,

- wie sich die Verhältnisse für Juden in den Bereichen dereinzelnen Gestapo(leit)stellen entwickelten,

- wo Sammellager eingerichtet worden waren und welche Verhältnisse dort herrschten,

- welche Vorbereitungen sowohl Täter als auch Depor- tierte zu treffen hatten,

- auf welche Weise die Zuführungen aus den einzelnen Städten erfolgten und schließlich,

- welche Personen oder welcher Personenkreis für die Deportationen verantwortlich zeichneten und

- wie sie durchgeführt wurden.

Die dadurch entstandene Transparenz lässt die lokalenGegebenheiten erkennen. Immer wieder auftauchendeBesonderheiten lassen sich so leicht zuordnen.

In 17 Texten erhält der Benutzer von 14 verschiedenenAutoren einen Einblick in die Deportationsgeschichte derStädte und Regionen Berlin, Bielefeld, Dortmund, Dres-den, Düsseldorf, Hamburg, Hannover, Kassel, Köln, Leip-zig, Münster, Nürnberg, Osnabrück, Schleswig-Holstein,Stuttgart, Theresienstadt (Prag, Brünn) und Wien.

Das zweisprachige „Buch der Erinnerung“ ist ein Gedenk-buch an die nach Kowno (Litauen), Riga (Lettland) und Reval(Estland) verschleppten deutschen, österreichischen undtschechoslowakischen Juden. Es unterscheidet sich von denbis dahin erschienenen Gedenkbüchern durch die strikte Einteilung nach den Deportationszielen, denen die Transporteins „Reichkommissariat Ostland“ in chronologischer Reihenfolge zugeordnet werden. In den einzelnen Abschnit-ten werden insgesamt 32 Deportationen aus verschiedenenStädten zwischen dem 17. November 1941 und dem 26. Oktober 1942 dargestellt. Zu dieser Neueinteilung führtenfolgende Vorüberlegungen:

- Die Deportationen nach Kowno, die zunächst für Riga geplant waren, erhalten zum ersten Mal eine zusam-menfassende Darstellung.

-Die Riga-Transporte werden so zusammengestellt, wie sie tatsächlich die jeweilige Gestapo(leit)stelle verließen. Die Transporte werden durch die Möglichkeit transpa-renter, erkennen zu können, woher Juden zusammenge-zogen wurden. Mehrfachnennungen von Deportierten können so vermieden werden.

- Zwei Transporte sind neu zu datieren, die dazu gehöri-gen Namen des einen werden zusammengeführt, der andere erhält einen neuen Zielort und wird aus der bis- herigen Liste der Riga-Transporte entfernt.

- Soweit sie sich anhand der noch existierenden Materia-lien der einzelnen Gedenkstätten eruieren lassen, sollenWege aufgezeigt werden, die die Menschen gehen mussten, wenn sie die Zeit im Ghetto überlebt haben.

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Darüber hinaus standen den Verfassern – neben unge-zählten Privatpersonen, darunter Überlebende der Depor-tationen nach Riga, Lokalhistoriker, Geografen und Me-teorologen – zur Seite:

46 deutsche Archive (Bundesarchiv, Hauptstaats-, Landes-und Stadtarchive), das Dokumentationsarchiv des öster-reichischen Widerstands in Wien, Terezín Memorial, YadVashem in Jerusalem, United States Holocaust MemorialMuseum in Washington, die Survivors of the Shoah VisualHistory Foundation in Los Angeles, das Sonderarchiv inMoskau, das lettische Staatsarchiv in Riga, das Stadtar-chiv der Stadt Riga, die Staatsanwaltschaften Hamburgund Düsseldorf, die Universität Breslau, die Wiener Libraryin London, die Zentralstelle der LandesjustizverwaltungenLudwigsburg, die Gedenkstätten Auschwitz, Buchenwald,Bergen-Belsen, Dachau, Neuengamme, Sachsenhausen,Stutthof und Theresienstadt, das LandesverwaltungsamtBerlin/Entschädigungsbehörde und mehrere Dokumentati-onszentren.

Mit diesen mehr als 1 000 Seiten umfassenden beidenBänden liegt also erstmalig ein Gedenkbuch vor, das dieDeportationen vom 17. November 1941 bis zum 26. Sep-tember 1942 nach Estland, Lettland und Litauen detailliert aufschlüsselt. Dadurch werden individuelle Besonderhei-ten der Transporte deutlich, die einerseits einem vorgege-benen Organisationsrahmen folgen, andererseits aber – ähnlich wie die Pogromnacht in den einzelnen Orten –eine eigene Dynamik entwickeln. Die Publikation stelltdamit eine wichtige Ausgangsbasis für weiterführendeArbeiten im lokalen und regionalen Raum dar.

Dr. Diana Schulle

Innenminister Otto Schily stellte am 27. März 2003 das „Buch der Erin-nerung“ im großen Vortragssaal der „Stiftung Neue Synagogen Berlin -Centrum Judaicum“ erstmalig vor.

Foto: Volksbund-Archiv

„Buch der Erinnerung. Die ins Baltikum deportierten deut-schen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden“,bearbeitet von Wolfgang Scheffler und Diana Schulle, her-ausgegeben vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorgee. V. in Verbindung mit der Stiftung „Neue Synagoge Berlin –Centrum Judaicum“ und der Gedenkstätte „Haus der Wann-see-Konferenz“

Das Buch ist nur noch im Verlag De Gruyter als Reprint(print on demand) oder eBook oder kombiniert als Print/ eBook erhältlich (weitere Angaben, s. u.http://www.degruyter.com/view/product/53211)

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Plan der Gräber- und Gedenkstätte in Riga-Bikernieki

Ein Waldweg, der „Weg des Todes“, führt die Besucher vom zentralen Gedenkplatz zu den einzelnen Grabfeldern.

Foto: Sergejs Rizs

Die genaue Adresse des Haupteingangs der Gräber- und Gedenkstätte Riga-Bikernieki lautet:

Bikernieku iela 1001 Riga, Lettland, GPS-Daten: 56°57'52.12"N, 24°12'42.28"E.

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und das macht, insbesondere am Abend, dieses Gefühlnoch stärker und tragischer. In der Mitte dieses Bereichs,wo Menschen in den Tod getrieben wurden, an der Kreu-zung der Achsen von Haupteingang und Erinnerungsweg,wurde eine symbolische Kapelle eingerichtet. Die Kapellebesteht aus zwei zueinander senkrechten Betonbögen(Höhe 6 Meter). Die Bögen, die sich über den Säulenerheben und sich überkreuzen, stehen damit als Symbolfür die alte Todesstrafe der Kreuzigung.

In die Mitte der Kapelle ist der Namensschrein gesetzt. Erhat die Form eines Würfels aus schwarzem poliertemGranit (Höhe 1,5 Meter). In ihm sind die verplombten Kap-seln mit den Namenslisten der Opfer aus den Städten,aus denen die Ermordeten kamen, eingeschlossen. Aufden seitlichen Flächen des Altars steht in Lettisch,Hebräisch, Russisch und Deutsch die Inschrift der Tora(HIOB 16; Vers 18): „Ach Erde, bedecke mein Blut nicht,und mein Schreien finde keine Ruhestatt“. Die Kapelle istdas kompositorische Zentrum des Denkmals, zentralerGedenkplatz und Bereich für die Gedenkveranstaltungen.Der weiße Beton der Kapelle kontrastiert mit den gespal-tenen Granitsteinen. Die Denkmäler ergänzen sich ge-genseitig, wodurch ein – auch emotionaler – Zusammen-halt der Gedenkstätte gebildet wird.

Entlang der Waldwege zwischen den Gräbern, die da-mals zum Todesweg von Menschen wurden, sind Beton-pfähle aufgestellt. Sie stehen – jeweils mit einem von dreiSymbolen versehen – für die unterschiedlichen Opfer-gruppen.

Zur Gestaltung der Gedenkstättefür die Opfer des Nationalsozialis-mus im Wald von Bikernieki Die Hauptidee zur Gestaltung des Denkmals kam vondiesem Platz selbst. Dieser Ort ist wie eine große Grubemit einem flachen Boden und mit Höhenunterschiedenvon bis zu vier Metern. Es war ein Wunsch, für jedesOpfer einen Granitstein aufzustellen.

So kamen die Architekten auf die Idee der „geöffnetenErde“, die das ganze Grauen des Geschehens zeigt. DieSteine als Denkmäler, die – vom Grubenboden in alleRichtungen verbreitet – in den Wald weisen. Diese Steinesind wie ein Schrei der schuldlos Getöteten und lassenerkennen, dass der gesamte Ort ein einziger Hinrich-tungsplatz war. Der Schrei der unschuldigen Toten, deraus dem Boden kommt. Er lässt uns diese Tragödie nichtvergessen. 70 Zentimeter hohe Betonwände umfassenden Platz, um das Bild der „geöffneten Erde“ zu verstär-ken.

Der Gedenkort ist in Quadrate (nach Zahl der Massengrä-ber) aufgeteilt. Jedes Quadrat ist 4,5 x 4,5 Meter groß undmit 110 bis 120 von 0,5 bis 1,1 Meter großen Steinen ver-sehen. In den 48 Quadraten und daneben sind bislang 57polierte Granitplatten mit den Namen der Städte im Bo-den eingelassen, aus denen die Menschen nach Riga ge-bracht wurden.

Die Steine stehen eng zusammen, wie die Leute vor derErschießung. Die Gruppen aus Steinen sind zusammen-gesetzt wie eine Familie: Eltern, die ihre Kinder zu schüt-zen versuchen, Brüder, Schwestern, die nebeneinanderim Angesicht des Todes stehen. Die Steine haben wieMenschen unterschiedliche Größen und Schattierungen

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Entlang des Weges stehen Betonstelen mit dem Davidstern, einem Kreuzoder einem Dornenkranz. Denn außer den jüdischen Opfern des Ghettoswurden auch lettische Verfolgte – für sie steht das Kreuz – und Kriegs-gefangene unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Nationalitätermordet.

Foto links:„Diese Steine sind wie ein Schrei der schuldlos Getöteten und lassenerkennen, dass der gesamte Ort ein einziger Hinrichtungsplatz war.“(Sergejs Rizs)Foto: Volksbund-Archiv

Foto: Volksbund-Archiv

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Die Symbole sind: der Davidstern, das Kreuz oder eineDornenkrone für die umgebrachten politischen Gefange-nen bzw. die jeweils tot hier angekommenen Kriegsge-fangenen der Roten Armee oder für sonstige Opfer derZivilbevölkerung, die erkennbar ebenfalls keiner Konfes-sion zugerechnet werden können. Die Betonpfähle sindoben mit Stahldornen besetzt, als Symbol für den letztenWeg der Opfer in den Tod.

Die Massengräber sind über den Boden erhöht und durchKantsteine eingefasst, um sie im Wald erkennbar zu ma-chen. In der Mitte jedes Massengrabs ist ein großer Granit-stein oder eine Komposition aus zwei oder drei Steineninstalliert.

Sergejs Rizs

Die einzelnen Grabfelder sind mit Kantsteinen eingefasst und durch Naturstein-Stelen gekennzeichnet.

Der Architekt Sergejs Rizs (links) im Juli 2010 bei der Erläuterung derÜberlegungen zur Gestaltung der Gedenkstätte in Riga-Bikernieki mitProf. Volker Hannemann, stellvertretender Präsident des Volksbundes.

Foto: Sergejs Rizs Foto: Volksbund-Archiv

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45 Jahre war weitgehend vergessen und verdrängt, dassin Riga (neben Kaunas und Minsk) die Vernichtung derdeutschen Juden begann. 1989 stieß ich im noch sowjeti-schen Riga auf die Spuren von Ghetto und Deportatio-nen. Das Buch von Bernhard Press „Judenmord in Lett-land“ führte zu den Orten des Nazi-Terrors ab Juli 1941:

- die Überreste der ehemaligen Großen Choralsynagoge an der Gogolstraße,

- das ärmliche Viertel der „Moskauer Vorstadt“ südöstlich des Hauptbahnhof, das damals zum Ghetto gemacht wurde,

- die Gebäudereste des heruntergekommenen Guts und provisorischen Auffanglagers „Jungfernhof“ an der Daugava,

- das Wäldchen von Rumbula mit vielen Massengräbern unweit der Ausfallstraße Maskavas iela,

- die monumentale Gedenkstätte am Ort des früheren „Arbeitserziehungslagers“ Salaspils im Südosten von Riga,

- der Wald von Bikernieki am östlichen Stadtrand von Riga, damals nur „Hochwald“ genannt.

Aufwühlend und unfassbar war, welches Grauen sich indiesem sonnigen, so friedlich erscheinenden Wald fastfünfzig Jahre zuvor abgespielt hatte. Eine doppelteSchande war, wie sehr die Erinnerung an die Gequälten,Ermordeten, Verscharrten verweht und verdrängt war:KEIN Erinnerungszeichen in den Straßen des ehemali-gen Ghettos. Die Massengräber von Bikernieki in einemverwahrlosten und vergessenen Zustand.

Verschollen, aber nicht mehr vergessen

Über Jahrzehnte war in der deutschen und lettischenÖffentlichkeit praktisch unbekannt, dass in Riga die mas-senhafte Ermordung der deutschen, österreichischen undtschechischen Juden ihren Anfang genommen hatte.

Aufbrechende ErinnerungIn Salaspils entstand 1967 eine große Gedenkstätte. InBikernieki gibt es seit 1974 einen Gedenkstein, in Rumbu-la seit 1964. Nirgendwo war auch nur mit einem einzigenWort erwähnt, dass hier zum großen Teil jüdische Men-schen ermordet worden waren. Als Rigaer Juden in den1960er Jahren die Massengräberstätte in Rumbula wür-dig gestalteten, geschah das gegen die Widerstände derBürokratie. Gedenkveranstaltungen der Holocaust-Über-lebenden wurden von Vertretern der regierenden Kom-munistischen Partei und des Geheimdienstes KGBgestört.

Mit der Unabhängigkeit öffnete sich auch die kollektiveErinnerung in Lettland. 1990 konnte der damals 65-jähri-ge Ghetto-Überlebende Margers Vestermanis in Riga mitdem Aufbau des Archivs und Museums „Ebreji Latvija(Juden in Lettland)“ in der Skolas iela 6 beginnen.

Winfried Nachtwei, ehemaligerBundestagsabgeordneter von

Bündnis 90 / Die Grünen,setzt sich sich seit vielen Jahren für ein würdiges

Gedenken an die in Riga ermordeten Juden ein.

Foto: Uwe Zucchi

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Begünstigt durch die neue Reise- und Informationsfreiheitzwischen Ost und West erwachte auch in Deutschland dieErinnerung an die 1941/42 nach Riga Deportierten. Zum50. Jahrestag der Deportationen Ende 1991 fanden inetlichen Städten erstmalig Gedenkveranstaltungen statt.

Beim ersten Welttreffen der lettischen Juden im Juli 1993wurde an der Gogolstraße das erste Holocaust-MahnmalLettlands eingeweiht. In einer Feierstunde im ehemaligenJüdischen Theater ehrte der lettische Staat Dutzende„Judenretter“. Auf dem Umweg über das American JewishCommittee und durch internationalen Druck konnte An-fang 1998 eine Entschädigungsrente für die jüdischenGhetto- und KZ-Überlebenden im Baltikum durchgesetztwerden.

Gedenkstätte Bikernieki und das Deutsche Riga-KomiteeAnfang der 1960er Jahre wurden die Massengräber imWald von Bikernieki mit Kantensteinen umfasst und in dieListe zu schützender Territorien aufgenommen. 1985erhielt der Architekt Sergejs Rizs vom städtischen „Kom-munalprojekt“ den Auftrag, den Plan für eine Gedenkstättezu erarbeiten. 1991 wurden die begonnenen Bauarbeitenwegen Finanzierungsproblemen eingestellt. In diesemJahr legte der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorgein Riga auf dem alten „Großen Friedhof“ an der Miera iela(Friedensstraße) den ersten deutschen Soldatenfriedhofauf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion an. Waseinerseits eine menschliche Pflicht und öffentliche Aufga-be des Volksbundes war, machte zugleich die offizielleErinnerungsverweigerung gegenüber den Deportations-opfern in beschämender Weise deutlich. Darauf machteich bei Veranstaltungen wie auch bei einem Gespräch zwi-schen Volksbund-Präsident Hans-Otto Weber und demGrünen-Fraktionsvorsitzenden Joschka Fischer aufmerk-sam. Die Initiative ergriff Erich Herzl aus Wien. Er und seinMitstreiter Kurt Fräser hatten in Riga ihre Eltern verloren.Sie gründeten 1996 die „Initiative Riga“ für eine würdige

Gedenkstätte in Bikernieki und gewannen die Unterstüt-zung höchster österreichischer Repräsentanten.

Mit dem Ende 1996 in Kraft getretenen deutsch-lettischenKriegsgräberabkommen galten nun auch Gräber von De-portierten als Kriegsgräber. Im März 1997 übernahm derVolksbund das Projekt Gräber- und Gedenkstätte Biker-nieki in Zusammenarbeit mit der „Initiative Riga“. In Rigaarbeitete er mit dem Brüderfriedhöfe-Komitee, seiner let-tischen Partnerorganisation, und der Stadtverwaltung zu-sammen.

Der 1998 neu gewählte Präsident des Volksbundes, derfrühere Regierungspräsident von Brauschweig und lang-jährige Stadtdirektor von Hannoversch-Münden, Karl-Wil-helm Lange, trieb die Idee eines Städte-Komitees voran,um die Erinnerung lokal zu verankern, die politische Basisdes Projekts zu verbreitern und seine Finanzierung abzu-sichern. Erste Komitee-Mitglieder sollten die Städte wer-den, in denen Gestapo-Leitstellen die Deportationen orga-nisiert hatten. Nach dem Empfang beim Bundespräsiden-ten unterzeichneten die versammelten Stadtoberhäupteram 23. Mai 2000 in Berlin die Gründungsurkunde des„Deutschen Riga-Komitees“,… „getragen von dem Willen, die Erinnerung an ihreermordeten Bürgerinnen und Bürger dauerhaft zu bewah-ren und ihrer zu gedenken,in der Überzeugung, dass die Gräber- und GedenkstätteRiga dazu einen bedeutenden, die Heimatstädte um-schließenden zeitgeschichtlichen Beitrag leistet,mit dem Ziel, den auf einer langen gemeinsamen Ge-schichte ruhenden Beziehungen unserer beiden Länder,ihrer weiteren Entwicklung und dem Frieden in Europa zudienen.Mit der künftigen Pflege der Anlage durch lettische unddeutsche Jugendliche soll ein lebendiges Band der Erin-nerung und der Begegnung geknüpft werden zwischenRiga und den deutschen Städten, von denen damals dieSammeltransporte ausgingen.“

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Einweihung der Gedenkstätte BikerniekiAm 30. November 2001, dem 60. Jahrestag des „RigaerBlutsonntags“, versammelten sich in Bikernieki mehrereHundert Menschen, unter ihnen viele ehemalige Ghetto-und KZ-Häftlinge. Nach den Ansprachen der lettischenStaatspräsidentin Vaira Vike-Freiberga sowie des öster-reichischen und des deutschen Botschafters traten Ver-treter der Städte des Riga-Komitees vor und stelltenMetallkapseln mit den Namenslisten ihrer in Riga umge-kommenen Bürger in den Gedenkstein. Danach wurdedie Deckplatte auf den Gedenkstein gesenkt: Es war, alswürden die Ermordeten nun erstmalig würdig bestattet.Prof. Dr. Gertrude Schneider, Überlebende eines WienerTransports und Erforscherin der Ghetto-Geschichte,sagte: „Der Fluch’ nicht gedacht soll ihrer werden‘, wirdjetzt aufgehoben.“

An der Bikernieku ieala (Bikernieki-Straße) im OstenRigas informieren jetzt zwei Steintafeln in vier Sprachen:

„Hier im Wald von Bikernieki wurden in den Jahren 1941-1944 durch das NS-Regime und dessen freiwillige Helfertausende Juden aus Lettland, Deutschland, Österreichund Tschechien sowie politisch Verfolgte und sowjetischeKriegsgefangene ermordet.“

Gräber- und Gedenkstätte Riga Bikernieki

Im Jahr 2001 erbaut vom Volksbund Deutsche Kriegsgrä-berfürsorge aus Mitteln der Bundesrepublik Deutschland,des Nationalfonds der Republik Österreich und der im„Deutschen Riga Komitee“ vereinten Städte.

Bereits ab 1992 veranstaltete der Volksbund - zunächstdurch den Landesverband Bremen, später auch weitereLandesverbände - Workcamps in Riga. Seit Juli 2002pflegen lettische und deutsche Jugendliche auch die Ge-denkstätte in Bikernieki.

Im Juli 2010 besuchte eine vom Vizepräsidenten desVolksbundes, Prof. Volker Hannemann, geleitete Delega-tion mit Repräsentanten von 24 deutschen Städten inRiga die Orte des Nazi-Terrors, unter ihnen viele (Ober-)Bürgermeister, Stadträte und Beigeordnete, Präsidentenvon Landesparlamenten und der Generalsekretär desZentralrats der Juden in Deutschland. Mit dabei warenauch 25 deutsche und lettische Jugendliche des Work-camps.

Die Delegationsmitglieder brachten aus ihren Städten„Steine für Bikernieki“ mit und legten sie vor Ort nieder.Tief beeindruckt von den Besuchen im ehemaligen Ghet-to und in Bikernieki kamen die Delegationsmitgliederüberein, die Zusammenarbeit im Rahmen des Riga-Ko-mitees wiederzubeleben und zu vertiefen.

Im November 2012 luden die Stadt Magdeburg und derLandesverband Sachsen-Anhalt im Volksbund zu einemersten Symposium des Riga-Komitees ein, an dem Ver-treter aus 14 Städten teilnahmen. Im April 2015 folgte das2. Symposium in Münster, September 2016 wird Osna-brück Gastgeber des 3. Symposiums sein.

Für keinen anderen Ort der NS-Vernichtungspolitik gibtes einen solchen Städteverbund zur Erinnerungsarbeitmit so vielen lebendigen Bändern der Erinnerung wie fürRiga.

Im Sommer 2015 zählt das Riga-Komitee 53 Mitglieds-städte, zwei weitere Städte sind im Beitrittsverfahren. Esist ein in der deutschen Erinnerungs- und Gedenkkultureinzigartiger Zusammenschluss, entstanden vor dem Hin-tergrund der Spurensuche und der Erinnerungsarbeitengagierter Bürgerinnen und Bürger, Organisationen undStädte.

Winfried Nachtwei

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Vor einem Meer aus Stelen steht Judith Neuwald-Tas-bach auf der idyllisch wirkenden Lichtung unter hohenKiefern. Lange verharrt die Frau hier bewegt. 5 000 Stei-ne, geschlagen aus ukrainischem Granit, grob in ihrerStruktur, aber unterschiedlich in ihrer Größe und Farbe,verleihen dem Ort im Wald von Bikernieki nahe der letti-schen Hauptstadt Riga etwas Friedvolles. Doch die 50Jahre alte Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsen-kirchen weiß: Der Boden im Wald von Bikernieki ist mitBlut getränkt. Die Steine sollen vor allem an tausendegetötete deutsche Juden erinnern, ermordet von Sicher-heitspolizei und lettischen Hilfskräften bei Massener-schießungen. Betroffen war auch die Familie von JudithNeuwald-Tasbach. 26 Familienmitglieder verschlepptendie Nazis nach Riga, nur zwei überlebten, darunter derVater der Gelsenkirchenerin. Knapp 70 Jahre nach denGeschehnissen steht Judith Neuwald-Tasbach zumersten Mal an dem Ort, an dem nicht nur ihrer FamilieFurchtbares widerfuhr.

Ab November 1941 ließen die Nazis tausende Juden ausdem so genannten „Altreich“ nach Riga deportieren, woes vom Ghetto aus oft direkt in den Tod ging. Was häufignoch immer unbekannt ist: Nicht mit dem systematisiertenTöten in den Gaskammern von Auschwitz begann derHolocaust an deutschen Juden, „sondern mit Massener-schießungen im Wald von Bikernieki“. So formuliert es derehemalige Bundestagsabgeordnete der Grünen, WinfriedNachtwei, aus dessen Heimstadt Münster ebenfalls viele

Mitmenschlichkeit ging verloren

Juden nach Riga verschleppt worden waren. Nachtwei,der sich seit Jahren für ein würdiges Gedenken an die inRiga ermordeten Juden einsetzt, war Redner auf derGedenkfeier in Bikernieki anlässlich des zehnjährigen Be-stehens des Deutschen Riga Komitees. Das Komitee,das auf eine Initiative des Volksbundes Deutsche Kriegs-gräberfürsorge zurückgeht und aus 40 Städten besteht,konnte schließlich 2001 den lange vergessenen Opferneine Gedenkstätte widmen. Auch wenn es für Judith Neu-wald-Tasbach ein schwerer Gang wurde: Es war ihr eininneres Bedürfnis, bei einer Gedenkstunde am ehemali-gen Ort des Schreckens dabei zu sein.

Gedenken an die in Riga ermordeten Juden

Judith Neuwald-Tasbach zum ersten Mal in Rumbula

Foto: Uwe Zucchi

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Die Gelsenkirchenerin stellt sich der schmerzvollen Ver-gangenheit. Etwa als die 70 Teilnehmer starke Delegationdes Volksbundes andere Orte besucht, wo die Nazis lautdem Experten Nachtwei „Unfassbares, aber Unbestreit-bares“ verübt haben. Zum Beispiel im ehemaligen Ghettovon Riga am jüdischen Friedhof. Reinhard HeydrichsSicherheitsdienst (SD) ließ hier unter unsäglichen Bedin-gungen bis zu 30 000 Juden aus Deutschland zusammen-pferchen. Beim Blick auf Häuser, die noch aus jenendüsteren Tagen stammen, und Straßen, die einst „KölnerStraße“ und „Leipziger Straße“ hießen, drängen sichJudith Neuwald-Tasbach bange Fragen auf. Haben hierirgendwo zwischen kleinen Holzhäusern und trostlosenMietskasernen die Großeltern ihre letzten Stunden ver-bracht?

Bei der Gedenkstunde in Bikernieki bleibt die Frage nachSchuld und Verantwortung nicht aus: Diese Frage trifftsowohl die Täter als auch diejenigen, die es in den deut-schen Städten zugelassen hatten, dass Freunde, Ver-einsmitglieder und Unternehmer wie Judith Neuwald-Tas-bachs Großvater quasi über Nacht ihre Rechte verlorenhatten. „Dekoriert im Ersten Weltkrieg war mein Großva-ter deutscher als viele Deutsche“, sagt sie. „Trotzdemhatte 1941 keiner eine Hand für ihn gerührt.“ Nirgendwofand er Schutz, Unterschlupf und Achtung, dieser Gedan-ke hat für die Frau etwas Traumatisches: „Da verliert mandas Vertrauen in die Menschen.“ Trotzdem freut JudithNeuwald-Tasbach, dass viele Kommunen nun späte Ver-antwortung für das Geschehene übernehmen. Repräsen-tanten aus 24 Städten, die dem „Deutschen Riga-Komi-tee“ angehören, waren nach Bikernieki gekommen.

Auch Stephan Kramer, Generalsekretär des Zentralratesder Juden in Deutschland, stimmte das Engagement eini-ger deutscher Städte hoffnungsvoll. Gleichwohl gelte es,noch mehr deutsche Bürger nach Riga zu bringen, sosagt er. „Um das Unfassbare in seiner ganzen Grausam-keit zu verstehen, müssen wir ein größeres Bild zeigen.Und das beinhaltet neben Vernichtungslagern wie Ausch-witz auch Riga und die anderen Mordstätten in Mittel- undOsteuropa“.

Ein Bild vor Ort machten sich Bremer Jugendliche, die aneinem Workcamp des Volksbundes teilnahmen. Ihre Auf-gabe war es, mit künstlerischen Mitteln die Geschichtedes Ghettos wieder sichtbar zu machen. Eine Teilnehme-rin, die von Neuwald-Tasbachs Familiengeschichte ge-rührt war, ermunterte die Gelsenkirchenerin zum Weiter-machen: „Mit ihrem Workshop entreißen sie die ermorde-ten Juden dem Vergessen.“ Für Judith Neuwald-Tasbachwäre es das Schlimmste: Menschen wie ihre Großelternzu vergessen, die hier irgendwo im Wald von Bikerniekiverscharrt liegen.

Axel Vogel, Juli 2010

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Mit dieser Aufgabe wurden sie dazu gebracht, sich be-wusst mit dem Schicksal ehemaliger Bürger ihrer Heimat-städte auseinanderzusetzen, die vor 70 Jahren zur Depor-tation gezwungen und in den Tod geschickt wurden.

Aktive Rückmeldungen zu dem Projekt gab es unter an-derem aus Bremen, Coesfeld, Hamburg, Hannover, Kas-sel, Osnabrück, Stuttgart und Würzburg.

Schülerinnen und Schüler einer 8. Klasse aus Coesfeldhaben dabei auf die Eingangsfrage eine besondere Ant-wort gefunden. Sie schrieben persönliche Briefe an dieOpfer, die sie zuvor auf einem Foto gesehen hatten.

Persönliches Andenken bewahren

Wie kann man Gedenken – in diesem Fall an deportierte deutsche Juden – bei den nachwachsenden Generationenwach halten und dabei das Einzelschicksal in den Vorder-grund stellen?

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Schülerinnen und Schüler auf den Spuren des jüdischen Lebens inCoesfeld am Gedenkstein des ehemaligen jüdischen Friedhofes.

Diese Frage stellt sich immer wieder in der Gedenk- undBildungsarbeit insbesondere mit jungen Menschen. EineIdealform dafür gibt es nicht, aber bestimmte Projekt-formen haben sich bewährt.

So kam es zum Beispiel Horst Hoheisel bei seinem Work-shop mit lettischen und deutschen Jugendlichen in Rigadarauf an, dass diese möglichst viele unterschiedlicheeigene Ideen entwickeln, wie man an den ehemaligen al-ten jüdischen Friedhof in der heutigen Parkanlage erin-nern kann. Beispielhaft sollten diese Ideen dann proviso-risch am Ort visualisiert werden. Dabei wurde der Work-shop dann auch noch sehr emotional bis hin zu Tränenund heftigen Diskussionen mit lettischen Passanten undPicknickgruppen auf dem Friedhof.

Es sind also Anlässe und Anreize zur unmittelbaren Aus-einandersetzung zu geben. Dies war auch Absicht desProjektes „Steine für Bikernieki“.

Um einen engen Bezug zwischen den einzelnen Mit-gliedsstädten im Riga-Komitee und dem Ort Bikerniekiherzustellen, sollten junge Menschen ganz speziell dieSteine auswählen, die die Delegierten vor Ort für ihre Hei-matstadt niederlegten.

Foto: Claudia Haßkamp

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Foto: Stadtarchiv Coesfeld

Jacob Cohen

Minchen Cohen (später Süßkind)

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Die im Liebfrauenpark versammelten Coesfelder Juden unmittelbar vor ihrem Abtransport nach Münster am 10. Dezember 1941

Gustav CohenMartha Freund

Dora Eichenwald Salomon Eichenwald Karlheinz Freund Henriette Goldschmidt

Ida Cohen

Ella Nathan

Josef Nathan

Paul DavidErich Isaak

Richard Freund Kurt Eichenwald

Hermann CohenLudwig Cohen

Emma Cohen

Samuel Goldschmidt

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Eine Auswahl aus den persönlichen Briefen der Schülerinnenund Schüler aus Coesfeld:

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Lageplan der auf dem zentralen Gedenkplatzgesetzten Namenssteine der Mitgliedsstädte

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Die Gründungsmitglieder (23. Mai 2000):

Berlin, Bielefeld, Dortmund, Düsseldorf, Hamburg, Hannover, Kassel, Köln, Leipzig, Münster, Nürnberg (mit Bamberg,Bayreuth, Coburg, Fürth, Würzburg), Osnabrück, Stuttgart

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Städteliste Riga-Komitee

Die weiteren Mitgliedsstädte:

Bocholt (Beitritt 1.3.2001), Kiel (1.3.2001), Lübeck (1.3.2001), Wien (1.3.2001), Bremen (5.11.2001), Steinfurt (4.2.2002),Warendorf (20.2.2002), Paderborn (10.3.2002), Dresden (15.5.2003), Billerbeck (6.6.2005), Vreden (14.9.2006), Coesfeld(9.11.2006), Bochum (27.1.2007), Gelsenkirchen (8.11.2007), Magdeburg (25.2.2008), Recklinghausen (5.3.2009), Gütersloh (9.11.2009), Haltern am See (27.1.2010), Marl (27.1.2010), Viersen (14.6.2010), Herford (17.5.2011), Moers(4.10.2011), Marburg (4.9.2012), Bünde (9.11.2012), Stadtlohn (11.12.2012), Dülmen (24.1.2014), Drensteinfurt (26.1.2014),Ahlen (26.1.2014), Werne (19.5.2014), Gescher (27.5.2014), Mainbernheim (16.7.2014), Krefeld (23.9.2014), Rheine(27.1.2015), Telgte (6.2.2015), Herten (10.6.2015), Südlohn (2015), Ahaus (2015)

Symbolisch aufgenommen:

Brünn / BrnoPrag / PrahaRigaTheresienstadt / Terezin

Beispiel für die vor Ort auf der Gedenkstätte in Bikernieki auspoliertem Granit gesetzten Namenssteine der Mitgliedsstädte

Foto: Uwe Zucchi

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Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. ist einehumanitäre Organisation. Er widmet sich im Auftrag derBundesregierung der Aufgabe, die Gräber der deutschenKriegstoten im Ausland zu erfassen, zu erhalten und zu pfle-gen. Der Volksbund betreut Angehörige in Fragen derKriegsgräberfürsorge, er berät öffentliche und private Stel-len, er unterstützt die internationale Zusammenarbeit aufdem Gebiet der Kriegsgräberfürsorge und fördert die Begeg-nung junger Menschen an den Ruhestätten der Toten.

Heute hat der Volksbund knapp 350 000 aktive Förderersowie über eine Million Gelegenheitsspender und Interes-senten. Mit ihren Beiträgen und Spenden sowie den Erträ-gen aus der Haus- und Straßensammlung, die einmal imJahr stattfindet, finanziert der Volksbund zu etwa 70 Prozentseine Arbeit. Den Rest decken öffentliche Mittel des Bundesund der Länder.

Gegründet wurde die gemeinnützige Organisation am 16. Dezember 1919 – aus der Not heraus. Die noch jungeReichsregierung war weder politisch noch wirtschaftlich inder Lage, sich um die Gräber der Gefallenen zu kümmern.Dieser Aufgabe widmete sich fortan der Volksbund, der sichals eine vom ganzen Volk getragene Bürgerinitiative ver-stand. Bis Anfang der dreißiger Jahre baute der Volksbundzahlreiche Kriegsgräberstätten aus.

Ab 1933 unterwarf sich die Führung des Volksbundes auseigenem Antrieb der Gleichschaltungspolitik des NS-Regi-mes. Die Errichtung von Soldatenfriedhöfen des ZweitenWeltkrieges übernahm der Gräberdienst der Wehrmacht.

Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.

Ab 1946 hat der Volksbund in kurzer Zeit über 400 Kriegs-gräberstätten in Deutschland angelegt. 1954 beauftragtedie Bundesregierung den Volksbund mit der Aufgabe, diedeutschen Soldatengräber im Ausland zu suchen, zusichern und zu pflegen.

Im Rahmen von bilateralen Vereinbarungen erfüllt derVolksbund seine Aufgabe in Europa und Nordafrika. Inseiner Obhut befinden sich heute 832 Kriegsgräberstät-ten in 45 Staaten mit etwa 2,7 Millionen Kriegstoten. Meh-rere tausend ehrenamtliche und 571 hauptamtliche Mitar-beiter/innen erfüllen heute die vielfältigen Aufgaben derOrganisation. Nach der politischen Wende in Osteuropanahm der Volksbund seine Arbeit auch in den Staaten deseinstigen Ostblocks auf, wo im Zweiten Weltkrieg etwadrei Millionen deutsche Soldaten ums Leben kamen –mehr als doppelt so viele, wie auf den Kriegsgräberstättenim Westen ruhen. Diese Aufgabe stellt den Volksbund vorimmense Schwierigkeiten: Viele der über hunderttausendGrablagen sind nur schwer auffindbar, zerstört, überbautoder geplündert.

Seit 1991 hat der Volksbund 330 Friedhöfe des ZweitenWeltkrieges und 188 Anlagen aus dem Ersten Weltkrieg inOst-, Mittel- und Südosteuropa wieder hergerichtet oderneu angelegt. Bis Februar 2015 hat er 827 751 Kriegstoteauf 82 Kriegsgräberstätten endgültig bestattet.

Zur langfristigen Sicherung seiner Arbeit hat der Volksbund 2001 die Stiftung „Gedenken und Frieden“ gegründet.

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Mit der Anlage und Erhaltung der Friedhöfe bewahrt derVolksbund das Gedenken an die Kriegstoten. Die riesigen Gräberfelder erinnern die Lebenden an die Vergangenheitund konfrontieren sie mit den Folgen von Krieg und Gewalt.

Zu diesem Zweck vermittelt der Volksbund unter anderemFahrten zu den Kriegsgräbern, veranstaltet nationale undinternationale Workcamps zur Pflege von Kriegsgräber-stätten und informiert in Schulen und Schulfreizeiten. DasLeitwort lautet „Versöhnung über den Gräbern – Arbeit fürden Frieden“. Außerdem hat er in der Nähe von vier Fried-höfen Jugendbegegnungs- und Bildungsstätten errichtet, woSchul- und Jugendgruppen ideale Rahmenbedingungen fürfriedenspädagogische Projekte vorfinden.

Bundeswehrsoldaten und Reservisten unterstützten denVolksbund durch Arbeitseinsätze auf in- und ausländischenKriegsgräberstätten, bei der Organisation der Workcamps,bei Gedenkveranstaltungen sowie der Haus- und Straßen-sammlung.

Der Volkstrauertag, der jedes Jahr im November vom Volks-bund bundesweit ausgerichtet und unter großer Anteilnah-me der wichtigen politischen und gesellschaftlichen Institu-tionen und der Bevölkerung begangen wird, ist ein Tag desGedenkens und der Mahnung zum Frieden.

Bundespräsident Joachim Gauck ist der Schirmherr desVolksbundes.

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Foto: Volksbund-Archiv

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Impressum

Herausgegeben vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.,Hauptstadtbüro, Lützowufer 1, 10785 Berlin Ansprechpartner: Thomas Rey M.A., Telefon: +49 (0)30-230936-47, Fax: +49 (0)30-230936-99, www.riga-komitee.de, Email: [email protected]

Bitte unterstützen auch Sie die Arbeit des Deutschen Riga-Komitees:

Commerzbank KasselIBAN: DE23 5204 0021 0322 2999 00BIC: COBADEFFXXXVerwendungszweck: Spende Riga-Komitee/Kollektions-Nummer 145

Verantwortlich: Daniela Schily, Generalsekretärin

Redaktion: Thomas Rey M.A.

Gestaltung: Sara Smith, Andrea Fritzsche

Fotos: Volksbund-Archiv, Uwe Zucchi,

Sergejs Rizs, Axel Vogel, Claudia Haß-

kamp, Stadtarchiv Coesfeld, Bundesbild-

stelle Berlin, Bundesarchiv und Museum

„Juden in Lettland“

Druck: Schreckhase, 3/10/2015

Gefördert durch:

Lützowufer 1, 10785 [email protected]

Tel. 0800 - 7777 - 001Fax 0561 - 7009 - 221

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Den Opfern zum Gedenken –uns und den kommenden Generationen zur Erinnerung

Foto: Uwe Zucchi

Seitenansicht des Namensschreins