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Alkoholkonsumstörung Diagnostik und Therapie der Alkoholabhängigkeit Michael Soyka, Bernau und München Die Alkoholkonsumstörung – bei der nach DSM-5 nicht mehr zwischen schädlichem Alkoholgebrauch und Alkoholabhängigkeit unterschieden wird – lässt sich mit relativ guten Ergebnissen behandeln. Die qualifizierte Entzugsbehandlung geht über die körperliche Entgiftung hinaus. Basis der Entwöhnungsbehandlung ist die ausreichend intensive und früh beginnende Psychotherapie, Medikamente können die Prognose verbessern. A lkoholkonsum ist in westlichen Gesellschaſten eher die Regel, denn die Ausnahme: Nur etwa 6–7 % der erwach- senen Bevölkerung in Deutschland leben völlig alko- holabstinent. Die durchschnittliche Trinkmenge pro Jahr ist in den letzten Jahren diskret auf knapp 10 Liter reinen Alko- hol pro Kopf zurückgegangen (2014: 9,6 Liter). Wann kann man von risikoarmem Alkoholkonsum sprechen? Die Grenz- werte hierzu haben sich über die Jahre immer wieder verän- dert. Aktuell werden als tägliche Obergrenze für Frauen bis zu 12 g reinen Alkohol (z. B. ein Glas Bier, 0,3 Liter) beziehungs- weise 24 g für Männer empfohlen (Übersicht [1]). Höherer Al- koholkonsum führt nicht automatisch zu Folgeschäden, die Wahrscheinlichkeit dafür steigt aber mit höherer Trinkmenge exponenziell an. Von riskantem Alkoholkonsum spricht man bei einer entsprechend höheren Trinkmenge. Rauschtrinken (binge drinking) liegt vor, wenn fünf oder mehr Getränke bei einer Gelegenheit konsumiert werden, bei Frauen vier oder mehr Standarddrinks à 10 g Alkohol. Die Zahl der sogenann- ten Rauschtrinker ist bei Männern mit 28,4 % doppelt so hoch wie bei Frauen (12,9 %) [1, 2]. Klinische Definitionen Von schädlichem Gebrauch spricht man in der ICD 10 (F.10.1) [3] wenn durch Alkoholkonsum eine nachweisliche physische oder psychische Schädigung der Gesundheit des Konsumen- ten aufgetreten ist. Eine akute Intoxikation oder ein Hangover © runzelkorn / Adobe Stock (Symbolbild mit Fotomodell) 52 DNP – Der Neurologe & Psychiater 2018; 19 (5) Zertifizierte Fortbildung

Diagnostik und Therapie der Alkoholabhängigkeit¶rung... · nachgewiesen werden. Für die klinische Routine spielen nach wie vor indirekte State-Marker eine große Rolle: Die Werte

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Page 1: Diagnostik und Therapie der Alkoholabhängigkeit¶rung... · nachgewiesen werden. Für die klinische Routine spielen nach wie vor indirekte State-Marker eine große Rolle: Die Werte

Alkoholkonsumstörung

Diagnostik und Therapie der AlkoholabhängigkeitMichael Soyka, Bernau und München

Die Alkoholkonsumstörung – bei der nach DSM-5 nicht mehr zwischen schädlichem Alkoholgebrauch und Alkohol abhängigkeit unterschieden wird – lässt sich mit relativ guten Ergebnissen behandeln. Die qualifizierte Entzugsbehandlung geht über die körperliche Entgiftung hinaus. Basis der Entwöhnungsbehandlung ist die ausreichend intensive und früh beginnende Psychotherapie, Medikamente können die Prognose verbessern.

A lkoholkonsum ist in westlichen Gesellschaften eher die Regel, denn die Ausnahme: Nur etwa 6–7 % der erwach-senen Bevölkerung in Deutschland leben völlig alko-

holabstinent. Die durchschnittliche Trinkmenge pro Jahr ist in den letzten Jahren diskret auf knapp 10 Liter reinen Alko-hol pro Kopf zurückgegangen (2014: 9,6 Liter). Wann kann man von risikoarmem Alkoholkonsum sprechen? Die Grenz-werte hierzu haben sich über die Jahre immer wieder verän-dert. Aktuell werden als tägliche Obergrenze für Frauen bis zu 12 g reinen Alkohol (z. B. ein Glas Bier, 0,3 Liter) beziehungs-weise 24 g für Männer empfohlen (Übersicht [1]). Höherer Al-koholkonsum führt nicht automatisch zu Folgeschäden, die Wahrscheinlichkeit dafür steigt aber mit höherer Trinkmenge

exponenziell an. Von riskantem Alkoholkonsum spricht man bei einer entsprechend höheren Trinkmenge. Rauschtrinken (binge drinking) liegt vor, wenn fünf oder mehr Getränke bei einer Gelegenheit konsumiert werden, bei Frauen vier oder mehr Standarddrinks à 10 g Alkohol. Die Zahl der sogenann-ten Rauschtrinker ist bei Männern mit 28,4 % doppelt so hoch wie bei Frauen (12,9 %) [1, 2].

Klinische DefinitionenVon schädlichem Gebrauch spricht man in der ICD 10 (F.10.1) [3] wenn durch Alkoholkonsum eine nachweisliche physische oder psychische Schädigung der Gesundheit des Konsumen-ten aufgetreten ist. Eine akute Intoxikation oder ein Hangover

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52 DNP – Der Neurologe & Psychiater 2018; 19 (5)

Zertif izierte Fortbildung

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Alkoholkonsumstörung

(Kater) beweisen noch keinen Gesundheitsschaden und auch negative soziale Folgen sind bei schädlichem Alkoholgebrauch (umgangssprachlich häufig Alkoholmissbrauch) zwar häufig, beweisen aber noch nicht die Diagnose. Eine Alkoholabhän-gigkeit liegt nach ICD 10 (F.10.2) vor, wenn drei von sechs Kernsymptomen während des letzten Jahres vorgelegen haben (Tab. 1).

Das DSM-5 der American Psychiatric Association (APA) [4] hat die dichotome Unterscheidung von schädlichem Alkohol-gebrauch/Abhängigkeit zugunsten eines dimensionalen Kon-zeptes aufgegeben und spricht hier, wie auch bei anderen Sucht-störungen, nur noch von einer „Alkoholkonsumstörung“ – zu-mindest in der deutschen Übersetzung ein äußerst sperriger Begriff. Liegen zwei oder drei klinische Merkmale innerhalb eines 12-Monats-Zeitraums vor, liegt eine milde Konsumstö-rung vor, bei vier bis fünf positiv erfüllen Kriterien eine mode-rate, definitionsgemäß bei sechs oder mehr Kriterien eine schwere (Tab. 2).

AlkoholentzugssyndromBeim Alkoholentzugssyndrom handelt es sich um einen Sym-ptomkomplex mit verschiedenen somatischen, neurologischen und vegetativen Symptomen. Kernsymptome sind vor allem Zittern, Unruhe, Schwitzen, Schlafstörungen, aber auch ängst-liche oder depressive Verstimmungen, dann aber auch Kreis-laufprobleme, Herzrhythmusstörungen, Schlafstörungen, im Extremfall Krampfanfälle, die häufig ein Delir einleiten (ICD 10, F10.3).

Ein Alkoholdelir ist ein potenziell lebensbedrohlicher Zu-stand. Leitsymptome des Delirium tremens sind Bewusstseins-trübung, Verwirrtheit, lebhafte Halluzinationen, wobei opti-sche häufiger sind als akustische. Schlaflosigkeit, vegetative Übererregbarkeit, Angst und Zittern treten hinzu. Besonders häufig ist ein Alkoholentzugsdelir postoperativ oder bei schwe-ren anderen Erkrankungen. Eine stationäre Behandlung ist im-mer notwendig. Deutlich seltener ist die psychotische Störung durch Alkoholkonsum (Alkoholhalluzinose), sie ist durch leb-hafte, meist akustische Halluzinationen bei klarem Bewusst-sein gekennzeichnet, meist besteht ein erhebliches paranoides Syndrom. Im Gegensatz zum Delir besteht anschließend keine Amnesie für die Psychose.

Nicht jeder Alkoholabhängige entwickelt ein Alkoholent-zugssyndrom, klinisch ist es allerdings sehr häufig. Das klini-sche Erscheinungsbild ist beim chronischen Alkoholismus durch eine Vielzahl von Symptomen und Komorbiditäten ge-prägt, was nicht überrascht, da Alkoholkonsum stark neuroto-xisch wirksam ist und zahlreiche Zellen- und Gewebestruktu-ren schädigt.

Ein systematischer Review und Metaanalyse von Patienten mit Alkoholentzugssyndrom zeigte, dass Alkoholentzugs-krampfanfälle, niedrige Konzentration von roten Blutplättchen und Natrium sowie höhere Gammaglutamyltransferase (GGT)-Spiegel prädiktiv für schwere Entzugssyndrome oder epilepti-sche Anfälle waren. Die Bedeutung von Thrombozytopenie und Hypokaliämie ist zu beachten [5]. Andere Studien weisen zum Beispiel auf höhere Spiegel von Homocystein bei Patien-ten mit Alkoholbelastung hin [6].

Diagnose des AlkoholismusDie Diagnose erfolgt meist klinisch, anhand der aktuellen ICD-10-Kriterien, kann aber auch durch Testverfahren untermauert werden. In der aktuellen S3-Leitlinie zum Screening alkoholbe-zogener Störungen [1], werden verschiedene Testverfahren ge-nannt. Man muss nicht in jedem Fall standardisierte Untersu-chungsinstrumente zur Verifizierung eines Alkoholismus ein-setzen, erst recht nicht bei klinisch eindeutigem Bild. Als Scree-ning-Instrument wird weithin der Alcohol Use Disorders Identification-Test (AUDIT) empfohlen.

Abgesehen vom klinischen Erscheinungsbild, das für einen erfahrenen Kliniker häufig wegweisend genug ist, gibt es auch eine Reihe von Labormarkern (Übersicht in [7]), die eine län-gere Alkoholbelastung anzeigen können (Tab. 3). Zu den so-genannten State-Markern (Zustandsmarkern) gehört zum einen die Blutalkoholkonzentration selbst, alternativ auch Atem alkoholkonzentration, aber auch direkte Stoffwechsel-metabolite von Alkohol [7] wie Ethylglucuronid (ETG), Ethyl-sulfat (ETS) und Phosphatidylethanol (PETH). Vor allem ETG hat eine große Bedeutung erlangt, es kann auch in Haaren

Tab. 1: Störungen durch Alkohol (ICD-10 F 10.1, 10.2) [3]

1. Schädlicher Gebrauch Schädigung der psychischen und physischen Gesundheit

2. Abhängigkeit Starker Wunsch oder eine Art Zwang, Alkohol zu konsumieren

Verminderte Kontrollfähigkeit

Körperliches Entzugssyndrom

Nachweis einer (erhöhten) Toleranz

Fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen

Konsum trotz Nachweis schädlicher Folgen

> 3 Kriterien in den letzten 12 Monaten

Tab. 2: DSM 5: 11 Kriterien für Alkoholkonsumstörung [4]

— Erfüllt Rollenerwartungen nicht

— Physische Schädigung

— Wiederkehrende soziale/interpersonelle Probleme

— Toleranz

— Entzug

— Höherer Konsum als vorgesehen

— Verlangen, Kontrollminderung

— Hoher Zeitaufwand für Beschaffung und Einnahme

— Vernachlässigung wichtiger Aktivitäten

— Konsum trotz Wissen um negative gesundheitliche Folgen

— Suchtverlangen (Craving)

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nachgewiesen werden. Für die klinische Routine spielen nach wie vor indirekte State-Marker eine große Rolle: Die Werte für GGT, Alanin-Aminotransferase (ALAT), Aspartat-Amino-transferase (ASAT) sind bei Alkoholismus oft erhöht (Tab. 3). Auch das mittlere korpuskuläre Volumen der Erythrozyten (MCV) ist bei Alkoholismus häufig erhöht (alkoholbedingte Knochenmarksdepression, Vitaminmangel) sowie das Koh-lenhydrat-defiziente-Transferrin (CDT). Alle genannten Para-meter können die Sensitivität und Spezifität der Diagnose ver-bessern und werden auch in der S3-Leitlinie empfohlen [1]. Im Einzelfall können sie auch zum Monitoring der Abstinenz-kontrolle bei forensischen Fragestellungen (Führerscheinent-zug) herangezogen werden. Keiner der Marker ist direkt be-weisend für Alkoholismus, in der Summe sind sie aber aussa-gekräftig.

Behandlung der AlkoholabhängigkeitPatienten mit Alkoholmissbrauch (schädlichem Gebrauch) kommen in der Regel wegen anderer Erkrankungen zum

Hausarzt oder werden wegen Alkoholintoxikation notfallmäs-sig gesehen. Das stationäre Versorgungssystem für Alkohol-patienten ist fast völlig auf die Behandlung der Abhängigkeit ausgerichtet. Speziell bei Patienten mit problematischem Al-koholkonsum sind Kurzinterventionen im Bereich der primär-ärztlichen ambulanten Versorgung sinnvoll, ihre Effizienz ist bei Alkoholmissbrauch gut belegt, nicht bei Abhängigkeit [1]. Kurzinterventionen (kurzes Gespräch, schriftliche Informati-on) werden auch in verschiedenen Therapieleitlinien empfoh-len. Therapieziele bei Alkoholabhängigkeiten sind in Tab. 4 aufgeführt.

Die Komorbidität mit psychischen Störungen wie Depressi-on und Angst ist hoch [8]. Antidepressiva verbessern das Trink-verhalten nicht [9].

Entzugsbehandlungen Es dominieren Symptome einer sympathoadrenergen Hyper-aktivität. Die körperliche Entgiftung (Entziehung) kann sowohl ambulant als auch stationär durchgeführt werden, wobei sich im deutschen Sprachraum der Begriff qualifizierte Entzugsbe-handlung für eine suchtpsychiatrische oder suchtmedizinische Akutbehandlung, die über die körperliche Entgiftung hinaus-geht, eingebürgert hat. Sie ist deutlich effizienter als die reine körperliche Entgiftung. Bei dieser kommt es vor allem darauf an, die alkoholbedingten Ausfallerscheinungen und Entzugs-symptome zu behandeln, Komplikationen zu vermeiden und die Vitalfunktionen zu sichern. Das Hauptprinzip der Alkohol-entzugsbehandlung ist eine ausreichende Sedierung, mit der Zittern, Schwitzen, Übelkeit und vor allem auch psychiatrische Symptome behandelt werden können. In der qualifizierten Ent-zugsbehandlung soll auch eine Motivation zur Inanspruchnah-me weiterführender Hilfen und psychosozialer Therapien und die Vermittlung spezifischer Behandlungsangebote eingeleitet werden.

SettingEine stationäre Entgiftung wird vor allem beim Risiko eines alkoholbedingten Entzugsanfalls oder Entzugsdelirs, schwerer körperlicher Erkrankungen oder bei Vorliegen anderer soma-tischer oder psychosozialer Störungen, unter der eine Alkohol-abstinenz ambulant nicht erreicht werden kann, empfohlen. Eine stationäre Behandlung wird angeraten bei — schweren Entzugssymptomen,— schweren multiplen somatischen und psychischen Begleit-

oder Folgeerkrankungen,— Selbstmordgefährdung,— fehlender sozialer Unterstützung,— Misserfolg/Scheitern bei ambulanter Entgiftung.Elektrolyt- und Vitaminmangelzustände (Vitamin B1, B6, B12, Folsäure) sind zu substituieren. Vitamin B1 ist vor allem bei Patienten mit schlechtem Allgemeinzustand zur Prophylaxe eines Wernicke-Korsakow-Syndroms indiziert. Die weitere Pharmakotherapie ist symptomorientiert, flexible Dosierungs-schemata sind wohl besser als fixe Dosierungen. International werden vor allem Benzodiazepine zur Entzugsbehandlung und Delirprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit eingesetzt, die Effi-zienz ist sehr gut belegt [10, 11, 12, 13, 14]. Benzodiazepine re-

Tab. 3: Biomarker für Alkoholkonsum [1]

Direkte Marker Gewebe

ETOH ↑ Serum, Urin

ETG ↑ Serum, Urin, Haar

PETH ↑ Serum, Urin

ETS ↑ Serum, Urin

Indirekte

GGT ↑ Serum

ASAT ↑ Serum

ALAT ↑ Serum

ASAT/ALAT (Ratio > 2 : 1) Serum

Bilirubin ↑ Serum

MCV ↑ Serum

CDT ↑ Serum

ETOH = Ethanol; ETG = Ethylglucuronid; PETH = Phosphatidylethanol; ETS = Ethylsulfat

Tab. 4: Therapieziele bei Alkoholabhängigen [1]

— Sicherung des Überlebens

— Behandlung von Folge und Begleiterkrankungen

— Förderung von Krankheitseinsicht und Motivation zur Veränderung

— Aufbau alkoholfreier Phasen

— Verbesserung der psychosozialen Situation

— Dauerhafte Abstinenz

— Angemessene Lebensqualität

Zertif izierte Fortbildung Alkoholkonsumstörung

54 DNP – Der Neurologe & Psychiater 2018; 19 (5)

Page 4: Diagnostik und Therapie der Alkoholabhängigkeit¶rung... · nachgewiesen werden. Für die klinische Routine spielen nach wie vor indirekte State-Marker eine große Rolle: Die Werte

duzieren Tremor, Unruhe, Schlafstörung, Hypertonus und an-dere Entzugssymptome. Klinisch am meisten eingesetzt wer-den Chlordiazepoxid und Diazepam (lang wirksame Benzodi-azepine, Halbwertszeit: 24 Stunden), aber auch Oxazepam und Lorazepam. Klinisch spricht viel für die beiden erstgenannten Substanzen. Oft sind 20 – 30 mg Diazepam am ersten Tag aus-reichend um Entzugssymptome zu kontrollieren, es können aber auch deutlich höhere Dosen notwendig werden. Bei schlechtem Allgemeinzustand oder eingeschränkter Leber- und Nierenfunktion in höherem Alter werden eher Benzodia-zepine mit mittlerer oder kürzerer Halbwertszeit (Oxazepam)zur besseren Steuerbarkeit empfohlen.

Fast nur im deutschsprachigen Raum wird auch Chlomethia-zol zur Behandlung des Alkoholentzugssyndroms und Alko-holdelirs eingesetzt, allerdings nur im stationären Rahmen (Höchstdosis 24 Kapseln à 192 mg). Bei mittelschweren Entzü-gen sind meist sechs bis acht Kapseln ausreichend. Cave: zu starke Sedierung, Atemdepression, Hypotonie, hohes Suchtpo-tenzial. Wichtige Nebenwirkung: erhöhte Speichel- und Bron-chialsekretion, deswegen kein Einsatz bei respiratorischer In-suffizienz oder abstinentiver Lungenerkrankung. Cave: Atem-depression. Die Datenbasis ist eher begrenzt, auch wenn viele Kliniker gute Erfahrungen mit Chlomethiazol gemacht haben [15, 16].

Zur Monotherapie sind Betablocker und Clonidin ungeeig-net, können aber bei hohem Blutdruck und Tachykardie einge-setzt werden. Neuroleptika vom Typ Haloperidol sind nur in Kombination mit Benzodiazepinen oder Chlomethiazol bei an-derweitig nicht zu kontrollierendem Alkoholdelir mit psycho-tischen Symptomen oder starker Unruhe sinnvoll. Schwere Entzugssymptome oder Delire treten vor allem bei Patienten mit hoher Alkoholbelastung, schweren Entzügen in der Vorge-schichte, Hypokaliämie, Thrombozythämie und hohen Homo-zysteinspiegeln auf [5, 6].

Wenig belegt ist die Wirksamkeit von Antikonvulsiva zur Entzugsbehandlung. Auch die Datenbasis bezüglich der Ver-hinderung von epileptischen Anfällen ist limitiert. Es gibt ei-nige Daten zur Carbamazepin (zur Anfallsprophylaxe im Alko-holentzug zugelassen), Valproinsäure und Gabapentin. Nicht empfohlen wird in der aktuellen S3-Leitlinie Gammahydroxy-buttersäure wegen einer eher ungünstigen Nutzen-Risiko-Be-wertung (therapeutische Breite, Abhängigkeitspotenzial). Der Einsatz von Alkohol ist obsolet, auch der GABA-B-Agonist Baclofen wird nicht empfohlen. Die genannte S3-Leitlinie schlägt einen Versorgungsalgorithmus zur Pharmakotherapie des akuten Alkoholentzugssyndroms vor:

Beim Delir können Benzodiazepine oder Chlomethiazol in Kombination mit Neuroleptika (Haloperidol 5 – 10 mg/Tag) eingesetzt werden, bei schweren Entzugserscheinungen Benzo-diazepine oder Chlomethiazol, bei leichten bis mittelschweren Entzugssyndromen alternativ auch Antikonvulsiva (z. B. 3 – 4 × 200 mg Carbamazepin, 2 – 3 × 300 mg Oxcarbamazepin, 2 × 500 – 1.000 mg Valproat, 4 × 300 – 400 mg Gabapentin, 2 × 1.000 mg Levetiracetam in den ersten 24 Stunden). Für sehr seltene, so nicht beherrschbare Entzugssymptome werden Pro-pofol und Barbiturate empfohlen [17], diese Fälle liegen aber in der Hand des Intensivmediziners.

Psychotherapie (Entwöhnungsbehandlungen)Die Literatur zur Psychotherapie der Alkoholabhängigkeit ist ausgesprochen umfangreich. Es lässt sich eine gewisse Hierar-chie der Therapieziele definieren (Tab. 4). Viele der Behandlun-gen basieren stark auf Gruppentherapien. Bei schweren Fällen der Alkoholabhängigkeit wird eher zu stationären, bei leichte-ren Fällen zu ambulanten oder teilstationären Behandlungen geraten. Bezüglich der Behandlungsergebnisse liegen im deutschsprachigen Raum eine Vielzahl von Katamnesen vor, die belegen können, dass nach längeren, vor allem stationären Behandlungen Abstinenzraten von über 40 % erreichbar sind [18].

Die meisten Entwöhnungstherapien sind eklektisch struk-turiert, beinhalten also Elemente verschiedener Therapieschu-len und integrieren verschiedene Interventionskomponenten. Einige der Interventionskomponenten haben dabei eine be-sonders gute Evidenzbasierung (Tab. 5).

Zu den wirksamen Interventionskomponenten gehören mo-tivationale Therapien wie das Motivational Interviewing [19], die kognitive Verhaltenstherapie oder andere verhaltensthe-rapeutische Interventionen, Paar-/Familientherapie, Angehö-rigenarbeit sowie das in Deutschland wenig eingesetzte Kon-tingenzmanagement. Ebenfalls empfohlen, aber wesentlich weniger gut evidenzbasiert sind psychodynamische Kurzzeit-therapien. Weitere Interventionsformen sind die Bearbeitung typischer klinischer Problemstellungen, die in der Entwöh-nungsbehandlung Alkoholkranker angesprochen werden. Es sind die Erlernung alternativer Verhaltensweisen, Umgang mit Stresssituationen, Verzicht auf Pseudoressourcen wie Al-kohol zugunsten „genussvoller“ Erlebnismomente, Genuss-training, Vermeiden oder Umgang mit alkoholassoziierten Stimuli oder Schlüsselreizen. Liegt eine komorbide psychische Störung vor (Depression, Angst, etc.), so ist diese mit zu be-handeln.

In der Nachsorge Alkoholkranker spielen der Hausarzt, Suchtambulanzen sowie Selbsthilfegruppen eine überragende Rolle.

Tab. 5: S3-Leitlinie-Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störung

Therapieziele: Abstinenz primäres Therapieziel, Trinkmengenreduktion legitim (A)

Empfohlene Interventionskomponenten:

— Verhaltenstherapie (A)

— Kontingenzmanagement (B)

— Paartherapie (A)

— Psychodynamische Kurzzeittherapie (B)

— Angehörigenarbeit (A)

— Entwöhnung als „Komplexbehandlung“

— Acamprosat, Naltrexon (B)

Empfehlungsgrade: A = „soll“ eingesetzt werden (starke Empfehlung) B = „sollte“ eingesetzt werden (Empfehlung)

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Pharmakologische RückfallprophylaxeDie Rückfallprophylaxe ist ein schmales Erfolgskapitel [14, 20, 21; Metaanalysen: 22, 23; Cochrane-Analysen: 24, 25], obwohl man die bioneurologischen Grundlagen und die für Suchter-krankungen relevanten Hirnareale recht gut definieren kann [26, 27] (Abb. 1). Lange Zeit war nur Disulfiram verfügbar, das den Abbau von Acetaldehyd durch Blockade der Aldehydde-hydrogenase hemmt und bei gleichzeitiger Aufnahme von Al-kohol zu Unverträglichkeitsreaktionen führt. Klinische Stu-dien mit Disulfiram haben eher schwache Ergebnisse gezeigt [14, 18]), wobei Studien bei schwerkranken Patienten und spe-ziellem Setting etwas günstigere Ergebnisse zeigten. In Deutschland stellte die Industrie 2011 die Herstellung ein. Ak-tuell kann Disulfiram verordnet, aber nur aus dem Ausland bezogen werden. Die Kosten werden wohl nicht von der Kran-kenkasse übernommen.

Zugelassen ist Acamprosat, eine wahrscheinlich über gluta-materge Neurone wirksame Substanz, deren genauer Wirkme-chanismus allerdings etwas mysteriös ist. Acamprosat wird re-lativ schlecht resorbiert, bei einem Körpergewicht von über 60 kg wird eine Dosis von 6 × 333 mg empfohlen. Psychotrope Effekte liegen nicht vor, die Verträglichkeit ist in aller Regel gut. Oft tritt ein spontan reversibler Durchfall auf. Acamprosat wurde in vielen Studien untersucht, es hat einen gewissen Ef-fekt auf die Abstinenzrate, wie auch zahlreiche Metaanalysen belegen [23, 24]. Die Substanz wird wenig eingesetzt, ebenso der Opiatantagonist Naltrexon, der vor allem in den USA stu-diert wurde. Naltrexon blockt die Opioidrezeptoren und indi-rekt auch die alkoholinduzierte Dopaminausschüttung, somit also „belohnende“ Effekte nach Alkoholkonsum. Die Wirkung zielt am ehesten darauf ab, dass es nach Alkoholkonsum zu kei-nem Rückfall mit „schwerem“ Trinken kommt, beziehungswei-se Naltrexon hat einen Effekt auf die Menge konsumierten Al-kohols. Eine Depotform von Naltrexon existiert [28], ist aber in Deutschland nicht verfügbar.

Deutlich geringer ist die Datenbasis für Nalmefen, das ant-agonistisch am μ-Opioidrezeptor und agonistisch am κ-Opioidrezeptor wirksam ist [29, 30, 31]. Die Wirksamkeit wurde in mehreren placebokontrollierten Doppelblindstudien untersucht, wobei nicht die Abstinenzrate, sondern von vorn-herein eine Trinkmengenreduktion das Hauptzielkriterium war. Die Patienten bekamen das Medikament bei Bedarf („as

needed“), also nicht in festgelegtem Dosisschema. Insgesamt ergaben die (wenigen) vorliegenden Befunde einige Hinweise darauf, dass die Trinkmenge unter Therapie mit Nalmefen bei eher mittelschwer kranken Alkoholpatienten etwas geringer war, als unter „Treatment as usual“. Die klinische Relevanz die-ses innovativen Ansatzes ist noch offen und kontrovers.

Andere Medikamente sind zur Behandlung der Alkoholab-hängigkeit aktuell nicht zugelassen. Von einigem Interesse dürfte der GABA-B-Agonist Baclofen sein, der in Frankreich eine temporäre Zulassung besitzt, obwohl die Datenbasis bis-lang begrenzt ist [14, 32, 33]. Die Baclofen-Therapie hat nach ei-nem Selbstbericht des mittlerweile verstorbenen französischen Arztes Oliver Ameisen [34] einige Anhänger, man kann disku-tieren, ob sie nicht eine Art partielle Substitutionsbehandlung bei Alkoholabhängigkeit darstellt. Zu den Medikamenten, die aktuell untersucht werden, aber nicht zugelassen sind, gehören überwiegend Substanzen, die in anderen Indikationsbereichen überprüft wurden, wie Gabapentin, Topiramat oder Ondanse-tron. Keine der Substanzen kann aktuell für die klinische Pra-xis empfohlen werden.

Fazit für die PraxisDie Behandlungsergebnisse bei Alkoholabhängigkeit sind nicht schlecht, gerade auch verglichen mit anderen psychischen Er-krankungen. Eine ausreichend intensive und möglichst früh beginnende Psychotherapie bleibt die Basis der Behandlung. Hier gibt es gute Erkenntnisse über ausreichend evidenzbasier-te Interventionskomponenten. Einige Medikamente könnten die Prognose weiter verbessern. Hier besteht aber noch großer Forschungsbedarf.

Literaturwww.springermedizin.de/dnp

Prof. Dr. med. Michael Soyka Psychiatrische Universitätsklinik LMU München und Medical Park Chiemseeblick Rasthausstraße 25, 83233 Bernau/FeldenE-Mail: [email protected]

Interessenkonflikt Der Autor erklärt, dass er sich bei der Erstellung des Beitrages von kei-nen wirtschaftlichen Interessen leiten ließ, und dass keine potenziellen Interessenkonflikte vorliegen. Der Verlag erklärt, dass die inhaltliche Qualität des Beitrags von zwei unabhängigen Gutachtern geprüft wurde. Werbung in dieser Zeit-schriftenausgabe hat keinen Bezug zur CME-Fortbildung. Der Verlag garantiert, dass die CME-Fortbildung sowie die CME-Fragen frei sind von werblichen Aussagen und keinerlei Produktempfehlungen enthal-ten. Dies gilt insbesondere für Präparate, die zur Therapie des darge-stellten Krankheitsbildes geeignet sind.

Abb. 1: Neurobiologische Konzepte

Neurobiologische Konzepte – relevante Hirnareale für Suchterkrankungen

System für die Belohnungserwartung

(insbesondere Nucleus accumbens und ventrales Pallidum)

Gedächtnis- und Lernsystem (Amygdala, Hippocampus)

Motivations- und Antriebssystem (orbitofrontaler Kortex)

Kognitives Kontrollsystem (präfrontaler Kortex)

Zertif izierte Fortbildung Alkoholkonsumstörung

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