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1 Sonntag, 20. Oktober 2019 15.04 – 17.00 Uhr Die Berliner Philharmoniker Eine Sendereihe von Kai Luehrs-Kaiser (16) Die Zukunft von gestern: Harnoncourt, Gardiner und die Öffnung zum Barock Herzlich willkommen, meine Damen und Herren, zu einer neuen Folge unserer Sendereihe. Diese Folge hat eine Erkennungsmelodie. Es ist eine ambivalente, verdrängte, köstliche Musik. Man kann sie mit heutigen Ohren kaum mehr hören, ohne zu schmunzeln. Doch es ist eine großartige Melodie. Ein Kanon. Einer der ersten Ohrwürmer der Musikgeschichte. Die heutige Folge geht um das Verhältnis der Berliner Philharmoniker zur Alten Musik. Wir hören einen Dirigenten, der im Allgemeinen fast als Hassfigur der historischen Aufführungspraxis bei dieser Art Repertoire kaum mehr ernst genommen wird. Und der hier doch, mit dem Kanon in D-Dur von Johann Pachelbel eine überraschend beständige, bestrickend klangdifferenzierte Aufnahme vorgelegt hat. So geschehen im Jahre 1969. Hören Sie. Raten Sie. Und wenn Sie wollen, staunen Sie. 1 Hip-O Records/Deutsche Grammophon LC o.A. [00173] B0003493-02 Track 001 Johann Pachelbel Kanon D-Dur Berliner Philharmoniker Dirigent: Herbert von Karajan 1969 5’10

Die Berliner Philharmoniker · Für Bach immerhin lohnt sich diese Domestizierung doch. Ich glaube, man muss ohne weiteres zugeben, dass die Barockmusik die Berliner Philharmoniker

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Sonntag, 20. Oktober 2019

15.04 – 17.00 Uhr

Die Berliner Philharmoniker Eine Sendereihe von Kai Luehrs-Kaiser

(16) Die Zukunft von gestern: Harnoncourt, Gardiner und die Öffnung zum Barock

Herzlich willkommen, meine Damen und Herren, zu einer neuen Folge unserer Sendereihe. Diese Folge hat eine Erkennungsmelodie. Es ist eine ambivalente, verdrängte, köstliche Musik. Man kann sie mit heutigen Ohren kaum mehr hören, ohne zu schmunzeln. Doch es ist eine großartige Melodie. Ein Kanon. Einer der ersten Ohrwürmer der Musikgeschichte. Die heutige Folge geht um das Verhältnis der Berliner Philharmoniker zur Alten Musik. Wir hören einen Dirigenten, der im Allgemeinen fast als Hassfigur der historischen Aufführungspraxis bei dieser Art Repertoire kaum mehr ernst genommen wird. Und der hier doch, mit dem Kanon in D-Dur von Johann Pachelbel eine überraschend beständige, bestrickend klangdifferenzierte Aufnahme vorgelegt hat. So geschehen im Jahre 1969. Hören Sie. Raten Sie. Und wenn Sie wollen, staunen Sie. 1 Hip-O

Records/Deutsche Grammophon LC o.A. [00173] B0003493-02 Track 001

Johann Pachelbel Kanon D-Dur Berliner Philharmoniker Dirigent: Herbert von Karajan 1969

5’10

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II

Das war der erste Track einer sehr schönen CD mit dem Titel „The Best of Herbert von Karajan“, erschienen in den USA im Jahr 2004. Sie hörten den berühmten Pachelbel-Kanon, gespielt 1969 von den Berliner Philharmonikern, dirigiert von Herbert von Karajan. Eine verblüffend nüchterne, ebenso klaräugige wie dezente Wiedergabe eines Stückes, das heute weitgehend in den Hintergrund getreten ist und im Konzert jedenfalls nie erklingt. Und das doch, wie man sieht, noch heute in Amerika zu den Paradestücken Karajans gezählt wird – obwohl man diesen Dirigenten bei uns für Barockmusik kaum mehr für voll nimmt. Vielleicht voreilig, oder nicht? In der heutigen Sendung werden wir uns mit den Berliner Philharmonikern als Barockorchester befassen. Wir werden sehen, wie nahe die scheinbar extremsten Gegensätze oft beieinander liegen. Und wie keineswegs indiskutabel Karajan im Jahr 1969 diesen Pachelbel-Kanon dirigiert, wenn man es mit den Leistungen anderer Dirigenten, auch einiger Spezialisten, bei den Berliner Philharmonikern vergleicht. Im Jahr 1882 wurde das Orchester gegründet. Das ist jung. Denn die Geschichte der abendländischen Musik, die man „Klassik“ nennt, ist um ein Vielfaches so alt. Und andere, auch deutsche Orchester, ebenso. Die Geschichte des Leipziger Gewandhausorchesters etwa reicht bis ins 15. Jahrhundert zurück. Auch die Berliner Staatskapelle wurde – als Kurfürstliche Hofkapelle – schon 1570 gegründet. So hatten sich die Berliner Philharmoniker all jener Musik, die älter ist als sie selber, erst langsam anzunehmen. Sie mussten sich gleichsam zurückwenden in eine Zeit, die das Orchester selber nicht mehr erlebt hatte. Heute jedenfalls sieht es so aus, als spielten die Berliner Philharmoniker auf höchstem Niveau vor allem bei jenem Repertoire, das nicht viel älter ist als sie selbst. Die Alte Musik, besonders jene, die man als „Barockmusik“ bezeichnet, hat bei den Philharmonikern heute einen – historisch begründet – eher schweren Stand. Also: Alte Musik können sie nicht – oder machen sie nicht? Nun, so kann man es nicht sagen.

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Lange Zeit immerhin haben die Philharmoniker Barockmusik mit größter Selbstverständlichkeit gespielt. Sogar – und gerade – unter Wilhelm Furtwängler. Das zeigt die folgende, etwas bizarre Aufnahme aus dem Jahr 1944. Furtwängler dirigiert die Philharmoniker bei Händels Concerto grosso op. 6 Nr. 10 d-Moll HWV 328. Wir hören die beiden ersten Sätze: „Ouvertüre – Allegro“ und „Air. Lentement“. Und fragen uns unwillkürlich: Stammen die folgenden fünf Minuten nicht doch eher – von einem Bruckner-Zeitgenossen?

2 Deutsche Grammophon LC 00173 471 292-2 Track 304, 305

Georg Friedrich Händel Concerto grosso Nr. 6 op. 10 d-Moll HWV 328 1. Satz: Ouvertüre – Allegro 2. Satz: Air – Lentement Berliner Philharmoniker Dirigent: Wilhelm Furtwängler 8.2.1944

5’32

III

Das war der Beginn von Händels Concerto grosso Nr. 6 op. 10. War er es wirklich? Wilhelm Furtwängler dirigierte die Berliner Philharmoniker im Jahr 1944. Wir haben uns angewöhnt, Barockaufnahmen aus jener Zeit zu bespötteln und auf sie von einer höheren Warte aus herabzublicken. Tatsächlich kann sich ein heutiger Betrachter ein Lächeln kaum verkneifen, wenn er den pessimistisch verhangenen, untergangsschwangeren Tonfall jener alten Aufnahmen hört. Keine Frage: Hier fehlten Erkenntnisse oder zumindest Ansichten über die Aufführungspraxis des 17. und 18. Jahrhunderts. Über Besetzungsfragen, über Artikulation, über richtige Rubato- und Tempo-Behandlung, die heute allgemein vorausgesetzt werden können. Die Aufführung von Barockmusik aus dem Geist einer romantischen Musikauffassung ist uns inzwischen – zumindest theoretisch – reichlich ferngerückt. Zur Illustration dessen, wie lange der Umbau unserer Auffassungen von Barockmusik schon dauert, sei hier eine Geschichte erzählt.

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Sie stammt von dem britischen Dirigenten Sir Adrian Boult, der sie in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts selbst erlebt hat. Die Geschichte spielt in London. Damals war Walter Gieseking als Solist des noch recht neuen BBC Symphony Orchestra für ein Gastspiel eingeladen worden. Man hatte das d-Moll-Konzert von Bach aufs Programm gesetzt – mit Gieseking als Klavier-Solisten. Und mit Adrian Boult am Pult. Damals war es in England üblich, nur sehr wenig Proben anzusetzen. Gieseking erschien noch dazu in letzter Minute. Adrian Boult erzählt:

Gieseking „betrat das Podium der alten Queen’s Hall und starrte mit Entsetzen auf die Ansammlung von etwa siebzig Streichern, die das d-Moll-Konzert von Bach spielen sollten, das ich immer als ein robustes, kraftvolles, herzhaftes Stück empfunden und ebenso aufgeführt hatte. Auf seine Frage versicherte ich ihm [Gieseking], dass die Spieler schon wüssten, wie zu begleiten wäre, und schlug vor, einen Satz zu probieren, damit er selber urteilen könne. Nachdem der Satz beendet war, fand er die Orchesterbesetzung [mit 70 Streichern] noch immer zu stark, und obwohl der Toningenieur und ich ihm gemeinsam versicherten, dass das Klavier sich klar von den Streichern abhöbe, meinte er, die Struktur stimme nicht. Das Wort Struktur fiel mir auf, und ich fragte ihn: ‚Herr Gieseking, halten Sie dies denn für ein Konzert für Klavier oder für Cembalo?’ Er zuckte zusammen und rief: ja, natürlich, er dächte die ganze Zeit an ein Cembalo, wiewohl er auf dem riesigen Konzertflügel, der für ihn bereitgestellt war, spielen musste. Darauf schickte ich etwa fünfzig Mann des Orchesters nach Hause, und die übrigen zwanzig geigten die Begleitung zart wie eine Spieluhr, aber Gieseking war zufrieden.“ (Boult 48)

Soweit Adrian Boult. Seine Geschichte ist in mehrfacher Hinsicht frappierend. Zum einen dokumentiert sie die Orchesterstärke, mit der damals Barockmusik aufgeführt wurde. 70 Streicher, das entspricht einem Richard Strauss-Orchester. Weiterhin zeigt Giesekings Bemerkung, er denke, wenn er das Klavier bei Bach spiele, an ein Cembalo, wie vertrackt – und doch praktikabel – man sich hier gedanklich behelfen musste, um das Stück möglichst idiomatisch aufzuführen. Bei Barockmusik wurde sozusagen ‚um die Ecke musiziert’. Man spielte Klavier, man dachte an ein Cembalo.

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Und schließlich zeigt die Geschichte, wie ratlos man gegenüber der Idee einer abgespeckten Orchesterbesetzung war. Boult, nachdem er Giesekings orchestrale Schlankheitskur befolgt hat, verwechselt das Ergebnis sogleich, mit dem harmlosen Geklingel einer „Spieluhr“. Man sieht: Es fehlte den Musikern damals nicht nur die Gewohnheit eines schlankeren Barock-Stils. Auch ein Bewusstsein für die Gründe, die einen dazu bewegen könnten, war nicht vorhanden. In puncto Alter Musik hat die Revolution der historischen Aufführungspraxis seitdem – in den vergangenen mehr als 60 Jahren – indes durchschlagend gewirkt. Wir hören Barockmusik heute mit anderen Ohren. Trotzdem war der Interpretationsstil jener Jahre keineswegs etwa auf Furtwängler und Boult beschränkt. Und das war vermutlich auch gar nicht so schlecht, wie es rückblickend klingt. Denn immerhin: Die damaligen Üblichkeiten öffneten Tür und Tor für einen durchaus lebendigen, jedenfalls regen Umgang mit dem alten Repertoire. Man erlegte sich keinerlei Beschränkungen auf. Man reagierte gleichsam mit barocker Freizügigkeit auf Barockmusik. Allerdings drang man zu einer historisch reflektierten Wiedergabe so nicht vor. In der heutigen Sendung wollen wir uns ausschließlich mit der Interpretation Alter Musik bei den Berliner Philharmonikern befassen. Dabei fragt sich sogleich: Was ist Alte Musik? Nun, diese Frage mögen die Fachleute getrost unter sich ausmachen. Wir interessieren uns heute vor allem für das Repertoire, mit dem sich die Philharmoniker in den letzten Jahrzehnten auseinandergesetzt haben. Dieses Repertoire reicht kaum weiter zurück als bis zu Monteverdi. Also bis zu dem, was man als Frühbarock bezeichnen würde. Bis wie weit heran an die Gegenwart man die Alte Musik rücken soll, ist gleichfalls eine Doktorfrage. Sagen wir – unter Umgehung aller Fachbegriffe – einfach pragmatisch: Von Monteverdi bis Mozart soll unser heutiges Interesse reichen. Und: von Furtwängler bis Rattle. Denn Bülow, Nikisch und die ihren musizierten Barockes eher am Rande.

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Bei Furtwängler, so haben wir bereits gehört, wurde durchaus regelmäßig Barockmusik gemacht. Auch unter Karajan noch. Die Ära Abbados öffnete die Berliner Philharmoniker erstmals für die Gurus der historischen Aufführungspraxis – allen voran für den Dirigenten Nikolaus Harnoncourt. Und unter Simon Rattle hat sich die gesamte Ästhetik der Philharmoniker stark an den Erkenntnissen der Alte-Musik-Bewegung auszurichten begonnen. Fast lässt sich von einem Sieg der Alten Musik sprechen. Und der bedeutet: Heute ist kaum ein Repertoire, das die Berliner Philharmoniker spielen, frei vom hörbaren Einfluss der Alte Musik-Bewegung. Wie sich die Zeiten ändern! Und auch damit werden wir uns in dieser Folge auseinandersetzen. Machen wir, indem wir uns diesen Wandel vor Ohren führen, einen Sprung von 22 Jahren. Von Händel zu Händel. Und von der Kriegszeit in die Nachkriegszeit. In den 60er Jahren war die Barockmusik wohl zunächst einmal Vehikel für bedeutende Solisten. Zum Beispiel hier für den Sänger Dietrich Fischer-Dieskau. Erstaunlich: So weit diese Aufnahme von heutigen Auffassungen entfernt sein mag, so riesig ist noch einmal der Unterschied zum Händel-Verständnis Furtwänglers. Begleitet von den Berliner Philharmonikern, singt Dietrich Fischer-Dieskau die Arie des Apollo „Cara pianta“ aus Händels Kantate „Apollo e Dafne“. Dirigent der Aufnahme im Jahr 1966 war Günther Weissenborn.

3 Deutsche

Grammophon LC 00173 463 519-2 Track 002

Georg Friedrich Händel „Cara pianta“ aus „Apollo e Dafne“ Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton (Apollo) Berliner Philharmoniker Dirigent: Günther Weissenborn 1966

4’47

IV

Ein durchaus beruhigtes, entpathetisiertes Händelbild spricht aus dieser Aufnahme aus dem Jahr 1966. Dietrich Fischer-Dieskau sang die Arie des Apollo aus Georg Friedrich Händels Kantate „Apollo e Dafne“.

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Die Berliner Philharmoniker wurden von Günther Weissenborn dirigiert. Man hört: Viel hat sich auf dem Weg mit Händel verändert. Und doch hält sich diese Veränderung ganz im Rahmen einer nicht-historischen Aufführungspraxis. Was bedeutet das? Einerseits werden hier weiterhin die Instrumente aus der Tradition des 19. Jahrhunderts benutzt. Die Philharmoniker sind ein Orchester, das dem 19. Jahrhundert entstammt. Aber auch die großbogige Phrasierung, die überreiche Instrumentierung, der Gebrauch von Rubato und Vibrato zeigen ganz und gar jene heute antiquiert wirkende Art der Darbietung. Der rhetorische, deklamatorische, klanglich körperhafte Charakter der Musik wird unterschlagen. Erst durch dieses Unterschlagen gewinnt die Barockmusik jenes feierliche Gepräge und Gepränge, das für die 60er Jahre so typisch war. Barockmusik war hier ganz eine Sprache festlicher Verinnerlichung. Ein pietätvoller Ausdruck des Glaubens. Eine Musik, mit der sich Inbrunst, Glaube und religiöser Eifer ausdrücken ließen – aber stets in einer etwas bieder wirkenden Temperiertheit. Boshaft ausgedrückt: Die Barockmusik dieser 60er Jahre klang immer ein wie der Musikhintergrund eine sonntäglichen Kaffeetafel. Es war die Musik für die behagliche Feierlichkeit zwischendurch. Dagegen sei hier nichts gesagt. Nur: Dem Selbstverständnis heutiger Barock-Musiker entspricht dies nicht mehr. Der damals beliebte Ausdruck lautete: „Festliches Barock“. Heute kommt dieser Formel eher ein gewisser Drohcharakter zu. Barock ist nicht mehr festlich. Immerhin: Wie wir bei der schönen Aufnahme mit Fischer-Dieskau gehört haben, kamen hierbei Ausdruckswerte zum Tragen, die seither – fast – verklungen sind. Der Bach-Ton eines Karl Richter und Karl Münchinger etwa traf einen Ton milder Melancholie und intensiver Einkehr. Er scheint heute fast verloren. Und das darf man hier durchaus einmal beklagen. Denn so wissenschaftlich genau, wie es die Apostel der Alten Musik schon seit den 50er Jahren wissen wollten, kann man es in der Musik nun einmal nicht nehmen. Wir wissen nicht, wie Bach und Händel geklungen haben. Und wir werden es nie mehr herausfinden.

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Aus genau diesem Grunde ist die Zeit der Dogmenstrenge in Bezug auf Alte Musik heute längst wieder vorbei. Heute heisst es fast wieder: „Anything goes“. Es gibt nichts, was nicht geht. Nur, sagen wir: Händels Wassermusik mit einem 100-Mann-Orchester, die kehrt voraussichtlich nimmer wieder. Wir werden es leicht verschmerzen. Erst mit Beginn der 90er Jahre indes, reichlich spät, kamen in der Berliner Philharmonie die ersten Prediger der historischen Aufführungspraxis an: in Gestalt von Nikolaus Harnoncourt, Christopher Hogwood und John Eliot Gardiner. Dieser späte Zeitpunkt ist der Karajan-Ära geschuldet. Karajan wollte von den neuen Erkenntnissen bei der Barockmusik tatsächlich nichts wissen. Diese Revoluzzer der Gestrigkeit hätten seine eigene, auf Klangbrillanz gestellte Ästhetik in Frage gestellt. Dass Karajan die Möglichkeit verschenkte, frühzeitig Spezialisten zu seinem Orchester einzuladen, hat nun anschließend den Prozess eines Umschwungs ungemein beschleunigt. Es hat ihn hastiger gemacht und, wie ich fürchte: manche Überstürztheit provoziert. Man glaubte wohl etwas gut machen zu müssen. Was waren die Folgen? Der geschlossene Klang der Berliner Philharmoniker wurde nach Karajans Abgang umso rascher aufgebrochen – das gesamte Klangbild revolutioniert. Und bis heute hat es eine Kehrtwende, ja eine Umstellung der Klangideale radikaler bewirkt als bei wohl jedem anderen Spitzenorchester dieser Welt. Auch das werden wir in dieser Sendung noch genauer sehen. Maßgeblichen Anteil jedenfalls hatten an dieser Entwicklung zweifellos die Auffassungen der Alte Musik-Dirigenten. Dass Harnoncourt & Co. seit Abbados Zeiten auch bei den Philharmonikern dirigierten, zeigt übrigens ein Tauwetter auf beiden Seiten: Die Philharmoniker waren neugierig geworden. Und die Spezialisten waren weich geworden. Denn die betreffenden Dirigenten hatten auch selber lange gezögert, bevor sie sich traditionellen Klangkörpern zuwandten. Sie alle verfügten ja über eigene Ensembles, hatten also den Gang zu herkömmlichen Orchestern gar nicht nötig. Heute, nach über 60 Jahren der Alte Musik-Bewegung, dirigieren wohl alle Spezialisten der historischen Aufführungspraxis (mit Ausnahme von René Jacobs) auch herkömmliche Orchester.

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Am 5. Oktober 2002, bereits einige Jahre nach seinem Debüt bei den Berliner Philharmonikern, dirigierte Nikolaus Harnoncourt in Berlin ein reines Bach-Progamm: zwei Suiten und das d-Moll-Konzert für Oboe, Violine, Streicher und Basso continuo. Der Konzertmitschnitt wurde in der Jubiläumsedition der Philharmoniker erstmals veröffentlicht. Man muss zugeben: Bachs Suiten gehören – schon wegen der Endlosigkeit ihrer Satzfolgen – nicht zu seinen allerbesten Werken. Noch erstaunlicher: Was Nikolaus Harnoncourt 2002, fast 50 Jahre nach dem Beginn der Alte-Musik-Bewegung, mit den Philharmonikern erreichte, ist, wie ich finde, durchaus kein Ruhmesblatt. Man muss wohl bedenken, dass sich auch die Philharmoniker zu diesem Zeitpunkt schon lange der historischen Aufführungspraxis geöffnet hatten. Dennoch: Wie wenig wurde hier im Grunde genommen erreicht! Hören wir Anfang und Schluss der Suite Nr. 1 C-Dur BWV 1066. Nämlich den 1. Satz: Ouvertüre: Grave – Vivace – Grave sowie den 6. Satz: Bourée I und II und den 7. Satz: Passepied I und II. Nikolaus Harnoncourt dirigiert die Berliner Philharmoniker. 4 Philharmoniker

LC 13781 BPH 06 12 D Track 001, 006, 007

Johann Sebastian Bach Suite (Ouvertüre) Nr. 1 C-Dur BWV 1066 1. Satz: Ouvertüre: Grave – Vivace – Grave 6. Satz: Bourée I und II 7. Satz: Passepied I und II Berliner Philharmoniker Dirigent: Nikolaus Harnoncourt 2002

13’32

V Ein bisschen enttäuschend, was die Berliner Philharmoniker hier unter Nikolaus Harnoncourt zustande bringen. Sie hörten die Sätze 1, 6 und 7 aus Bachs Suite Nr. 1 in C-Dur – ein Konzertmitschnitt aus dem Jahr 2002. Rätselhaft genug, dass die Philharmoniker ausgerechnet diesen Mitschnitt in ihrer Jubiläumsbox selber veröffentlicht haben. Die Streicher klingen durchaus tropfnass und verwaschen, die Konturen wackeln. Was Harnoncourt an Artikulation und Gestik vermehrt, das fehlt dem Orchester an Selbstbewusstsein und Profil. Ein Musizieren wie auf Eiern!

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Hier kommt zum Tragen, dass auch ein Großmeister der Zunft wie Harnoncourt immer nur an das anknüpfen konnte, was an Spielkultur und musikalischer Sprachkenntnis in einem Orchester vorhanden war (oder ist). In der soeben gehörten Aufnahme – hinsichtlich Klang und Gesamteindruck – ist der Unterschied zum altmodischen Barock-Stil der 60er oder 70er Jahre – für meine Ohren – erstaunlich gering. Anders gesagt: Das „Terrorkommando Festliches Barock“, wie man es scherzhaft genannt hat, ist auch hier anscheinend noch munter am Werk. Und dennoch vielleicht: Eine Einspielung mit Charme. Gerade in den flotteren Passagen der Bourrée kommt das Orchester hier offenbar auf den Geschmack – und die Lust an der Sache springt auf den Zuhörer über. Genau dieser Umstand ist es, der uns lehren mag, undogmatischer und vorurteilsfreier alle möglichen Aufnahmen anzuhören. Unabdingbare musikalische Wahrheit gibt es nicht. Es mag zwar falsch gespielte Musik geben. Wenn man die Noten schlichtweg links liegen lässt. Ein echtes Wahrheitskriterium aber finden wir in den Noten nicht – ebenso wenig wie in allen musikhistorischen Abhandlungen. Hier müssen wir uns also auf das eigene Hören verlassen. Und das ist im Endeffekt ja auch eine gute Nachricht. Machen wir nun eine weitere Stichprobe bei einem Dirigenten, dem in den 90er Jahren durchaus eine Vorreiter-Position zugebilligt wurde: Christopher Hogwood. Der Engländer hatte damals mit diversen CD-Aufnahmen besonders das Haydn-, Mozart- und Beethoven-Bild um viele Facetten bereichert. Hogwood galt als weniger radikal als Harnoncourt, für musikalisch lebendiger als Gustav Leonhardt und für weniger divenhaft als John Eliot Gardiner. Viele andere der heute wichtigen Dirigenten der Alten Musik – wie William Christie, Marc Minkowski, Roger Norrington – waren damals noch nicht so bekannt oder galten als weniger einschlägig als Christopher Hogwood. Der dirigierte am 6. Mai 1991 die Sinfonie Nr. 47 in G-Dur von Joseph Haydn. Reichhaltig und satt hingetuscht, aber doch ungemein locker und behaglich, findet Hogwood hier eine Synthese zwischen dem malerischen Stil der Vergangenheit und dem Bewusstsein für klangrednerische Artikulation. Es war ein Anfang. Sie hören den 4. Satz: Finale, presto assai. 5 09-50783 Joseph Haydn

Sinfonie Nr. 47 G-Dur Hob I:202 4. Satz: Finale, presto assai Berliner Philharmoniker Leitung: Christopher Hogwood 1991

5’45

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Das war der 4. Satz: Finale, presto assai aus der Sinfonie Nr. 47 von Joseph Haydn. Christopher Hogwood dirigierte in einem Live-Mitschnitt mit den Berliner Philharmonikern im Mai 1991, ohne erkennbar umstürzlerische Richtungsänderung in der Betrachtung dieses Repertoires. Es stellt sich die Frage, ob sich die Berliner Philharmoniker vielleicht nie von ihren Eigenschaften als großes Symphonieorchester abkehren konnten – auch dort nicht, wo dies für Barockmusik von ihnen erwartet wird? Ich glaube, das genaue Gegenteil ist der Fall. Zunächst: Die Philharmoniker haben sich viel längere Zeit und viel kontinuierlicher um einen eigenen Zugang zur Barockmusik bemüht, als man dies gemeinhin annimmt – und als dies für viele andere Orchester gilt. Sie taten es nämlich gleichsam auf verlorenem Posten. Denn die Hinwendung zur Alten Musik geschah, ausgerechnet, unter Herbert von Karajan, jenem Dirigenten, der unter Freunden der Alten Musik geradezu ein Feindbild repräsentiert. Paradoxerweise widmete sich gerade Karajan in den 60er und 70er Jahren anscheinend leidenschaftlich einer Reihe von Barockkomponisten. Diese Komponisten waren nicht so sehr die ganz Großen der Zunft wie Bach, Vivaldi oder Händel. Von ihnen führte Karajan nur die ganz populären Werke auf – gleichsam die unvermeidlichen Blockbuster. Daneben aber besaß Karajan eine Art Faible für Barock-Komponisten wie etwa Giuseppe Tartini, Arcangelo Corelli, Giuseppe Torelli, Francesco Manfredini und Tomaso Albinoni. Also eher für liebenswerte Vertreter aus der zweiten Reihe. Doch noch aus einem weiteren Grunde ist diese Liste sehr interessant. Denn hierbei handelt es sich ausnahmslos um Komponisten, die seitdem, in der Alte Musik-Bewegung, kaum mehr eine Rolle spielen. Jedenfalls dann, wenn wir den Mainstream des Barockverständnisses betrachten. Damit meine ich: Selbstverständlich werden heute nahezu alle barocken Klein- und Großmeister von diversen Ensembles in irgendeiner Weise gepflegt. Nur dass diese Pflege im Fall der genannten Komponisten über einen kleineren Rahmen kaum mehr hinauskommt. Das war damals anders. Das ist der Unterschied. Es ist, als hätte man die Tartinis, Corellis und Albinonis plötzlich fallen gelassen – wie heiße Kartoffeln. Und das, obwohl man durchaus davon ausgehen darf, dass auch Corelli, Tartini und Albinoni gute Werke komponierten, deren Qualität keineswegs weit unterhalb eines beliebigen Werkes von Händel, Alessandro Scarlatti oder Charpentier angesiedelt werden müssen.

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Heutzutage werden ununterbrochen verdiente Kleinmeister wie Conradi, Heinichen oder Bononcini wieder entdeckt. Gerechtigkeit für Pachelbel und Torelli steht noch aus. Fast scheint es, dass es Karajan selber war, der den Experten der Alten Musik so verhasst gewesen ist, dass man Komponisten, die in seiner Gunst standen, diese Abneigung entgelten ließ. Sie hatten sozusagen Feindberührung gehabt – und waren dadurch obsolet geworden. Übrigens hatte Karajans Beschäftigung mit dem Barock auch einen privaten Aspekt. Karajan besaß einen Wohnsitz in dem Schweizer Nobel-Skiort St. Moritz im Engadin. Hierher lud er sich im Sommer gern einige Musiker der Berliner Philharmoniker ein. Man machte gemeinsam Musik, und konnte so die Kontakte pflegen. Gleichzeitig fielen Schallplattenaufnahmen dabei ab. Nun gab es nur ein Problem: Die Säle in St. Moritz waren für Beethoven-Symphonien oder das romantische Repertoire zu klein. Also mussten Werke für kleinere Besetzungen her. Dies war die große Chance für etliche Barock-Komponisten. Denn ihre Ensembles waren überschaubar – und sprengten auch nicht die kleinste Kirche. Aus diesem Grund nahm Karajan hier um 1970 herum einige Barock- und Weihnachtsalben auf – zumeist im Ballsaal des Victoria Hotels und in einer kleinen Waldkirche mit sehr guter Akustik, der Èglise au Bois. Diejenigen Musiker der Berliner Philharmoniker übrigens, die nicht hierher eingeladen wurden, beäugten die Sommerfrische ihrer Kollegen mit begreiflichem Neid. So hat Karajan mit diesen Aufnahmen sich selbst und auch der Sache vielleicht nicht unerheblich geschadet. Fast scheint es, als hätte er beinahe den Ruf der Komponisten ruiniert, die er damals aufs Programm setzte. Auch die folgende Aufnahme des Concerto grosso op. 1 Nr. 8 von Pietro Locatelli entstand bei dieser Gelegenheit. In gutem Ruf steht die Aufnahme nicht. Doch die metallisierten Streicher, mit klanglichen Heckspoilern und Nebelleuchten, haben immerhin mit Furtwänglers Barock-Bild nur noch wenig zu tun. Und auch die pietistische Innerlichkeit der Generation von Karl Richter und Günther Weissenborn hatten einen anderen, religiöseren Zugang. Karajan erfand sich ein ganz eigenes Barockbild. Und er zeigte hierdurch auch, wie weit die Spanne der Möglichkeiten innerhalb der eher romantischen Barock-Deutungen war. Keine Frage: Wer glaubt, mit einem traditionellen, romantischen Orchester klängen alle Barock-Komponisten gleich, der irrt.

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Immerhin haftet, wie mir scheint, Karajans Messing-Klang immer noch an den Barock-Versuchen der Berliner Philharmoniker bis heute. Ganz losgeworden sind sie ihn nicht. Eigentlich beruhigend. Hören Sie aus Pietro Locatellis Concerto grosso op. 1 Nr. 8 die beiden Anfangssätze: Largo – Grave und Vivace. Man hört diese Karajan-Aufnahmen nicht mehr häufig. Verdienen sie nicht schon fast wieder eine gewisse Zuneigung? 6 Deutsche

Grammophon LC 00173 449924-2 Track 009, 010

Pietro Locatelli Concerto grosso op. 1 Nr. 8 1. Satz: Largo – Grave 2. Satz: Vivace Berliner Philharmoniker Leitung: Herbert von Karajan 1970

5’17

VII Sie hörten die beiden Eingangssätze aus Pietro Locatellis Concerto grosso op. 1 Nr. 8. Herbert von Karajan dirigierte die Berliner Philharmoniker im August 1970 in St. Moritz. Schwer zu sagen, wie viele Streicher an dieser Form des Breitwand-Barock beteiligt waren. Charakteristisch, dass Karajan den Generalbass des Stückes ganz zurückdrängt zugunsten einer seidigen Sphärenharmonie. Alle Rauheit, alles Unebene, alle Strichgeräusche und alle Gestik der Musik scheint abgeschliffen. Alles dient der großen, melodischen Linie, dem Sostenuto. Meist ist es langsam. Alles aber ist Atmosphäre, Hauch, ein ätherisches verklärtes Nichts. Eine Bestätigung von Harnoncourts Diagnose, bei unhistorischen Darbietungen dieser Art werde zu wenig artikuliert – und zu viel ‚gemalt’. Interessant immerhin, wenn wir jetzt sehen, wie Karajan selber sich in sich selbst unterscheidet. Machen wir uns nun den Spaß, Karajans Locatelli mit Karajans Händel zu vergleichen. Sogleich zeigt sich, dass Karajans Ästhetik scheinbar weniger dem Sinn des jeweiligen Komponisten folgt. Sondern dass seine Sichtweise viel stärker von der Ästhetik abhängt, die er zum Zeitpunkt der betreffenden Aufnahme gerade vertrat. Diese Ästhetik hat sich, gerade mit den Berliner Philharmonikern, im Laufe der 60er Jahre rasend schnell entwickelt. Für Karajan wurde, wie eben beobachtet, die Klangfläche, der Glanz der Großstrukturen immer wichtiger. Dagegen trat der Rhythmus, das Gliederhafte, gleichsam der Knochenbau der Musik immer mehr in den Hintergrund.

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Noch drei Jahre früher – und ein Haus weiter – hatte Karajans Barockbild noch durchaus robuster, kernhafter, sogar differenzierter geklungen. Händels Concerto grosso op. 6 Nr. 6 ließ Karajan im Jahre 1967 sehr viel polyphoner, unterscheidbarer, wenn auch bereits kühl geschönt und festlich verbrämt spielen. Wir hören hier ein Barockverständnis, das von demjenigen Harnoncourts mit den Philharmonikern nicht so weit entfernt ist wie wir das erwarten. Es ist dieselbe klangliche Ausgelassenheit, ein ähnlicher Regenbogen von Farben und Nuancen. Hören Sie die „Musette“ aus Händels Concerto grosso op. 6 Nr. 6 in g-Moll HWV 324. Karajan dirigiert die Berliner Philharmoniker im Victoria-Saal von St. Moritz. Das war im Jahre 1967.

7 Deutsche Grammophon LC 00173 449924-2 Track 008

Georg Friedrich Händel Concerto grosso op. 6 Nr. 6 in g-Moll HWV 324 „Musette“ Berliner Philharmoniker Leitung: Herbert von Karajan 1967

7’36

VIII Das war aus Händels Concerto grosso op. 6 Nr. 6, die „Musette“. Herbert von Karajan dirigierte, die Berliner Philharmoniker spielten einen Komponisten, von dem sie sonst weitgehend die Finger gelassen haben. Was immer man zugunsten dieser Aufnahme sagen mag: Die Haltung der Berliner Philharmoniker zum Barock wirkt bislang eher zufällig und durchaus indifferent. Sie ergab sich eher aus dem jeweiligen Zeitgeist und aus der Subjektivität eines Dirigenten, weniger aus der Erkenntnis der Sache. Auch unter Claudio Abbado hat sich das nicht wesentlich geändert. Im Grunde hat Abbado in seiner Zeit als Philharmoniker-Chef jenes Tabu respektiert, das seit Ende der 70er Jahre übermächtig auf der Aufführung barocker Werke lag: Abbado mied Bach, Händel und die ihren. Er wagte sich allzu selten hinter Mozart zurück. Stattdessen beförderte er die Einladung an Spezialisten, die dann als Gastdirigenten ein Klima schaffen und eine Spielweise begünstigen konnten. Abbado selbst pflegte in seiner Zeit im Grunde genommen das Karajan-Repertoire weiter – das seinerseits ein Furtwängler-Repertoire war. Dadurch, dass Barockmusik nun den Spezialisten anvertraut wurde, fand aber im Grunde eine Umkehr, eine Entspezialisierung statt.

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Denn nun machte man wieder alle Musik – und zwar, so weit wie möglich, in der dieser Musik entsprechenden Art und Weise. Auch bei Mozart, der schon der Klassik zugehört, blieb es für Abbado selbst eher bei Sympathiebekundungen. So etwa im Jahr 1996, als Abbado die „Haffner-Serenade“ mit den Philharmonikern aufführte. Wie so oft, gelang Abbado auch hier eine inspirierte, höchst glaubhafte, zum Teil anrührende Haltung zur Musik. Vielleicht zählt das zum Höchsten, was man von einer musikalischen Darbietung sagen kann. Dennoch zählt die folgende, schöne Aufnahme nicht zu dem, womit man Abbado in Erinnerung behalten möchte. Denn dafür wirkt die Interpretation irgendwie zu unentschieden – zwischen Tradition und Erneuerung, zwischen großer Geste und Filigranarbeit. Hören Sie einen Konzertmitschnitt vom Dezember 1996. Die Serenade D-Dur KV 250, die sogenannte „Haffner-Serenade“, beginnt mit dem Marsch KV 249: Maestoso. Darauf die Serenata: Allegro maestoso – Allegro molto. Die Solo-Violine spielt Reiner Kussmaul. 8 Berliner

Philharmoniker LC 13781 BPH 06 10 D Track 001, 002

Wolfgang Amadeus Mozart Serenade D-Dur KV 250 („Haffner-Serenade“) Marcia KV 249: Maestoso 1. Serenata: Allegro maestoso – Allegro molto Berliner Philharmoniker Leitung: Claudio Abbado 1996

21’49

IX

Das war der Beginn der „Haffner-Serenade“ von Wolfgang Amadeus Mozart. Claudio Abbado dirigierte die Berliner Philharmoniker im Jahr 1996. Das Violin-Solo wurde von Reiner Kussmaul gespielt. Man hört deutlich, wie straff Abbado hier besonders die Streicherflächen zusammenhält. Die Oberfläche ist dünner, aber fester geworden. Die Holzbläser wirken emanzipiert. Das Blech nimmt eine gewisse offiziöse Repräsentationspflicht historisch gewissenhaft wahr. Die Pauken sind lauter geworden. Keine Rede mehr von Einebnung und windschnittiger Klangdynamik. Doch gerade beim Einsatz der Solo-Violine schleicht sich ein gewisser, antiquierter Häkeldeckchen-Stil ein. Die Geige wirkt pittoresk, liebevoll verkleinert, ein bisschen wie musikalische Spitzenklöppelei. Man wusste wohl immer noch nicht so recht, in welche Richtung man gehen wollte. Nur Absichten hatte man schon. All das hat sich tatsächlich mit dem Erscheinen Simon Rattles in Berlin gründlich geändert.

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Facharbeit am Alte Musik-Sektor wurde nun nicht länger nur den Gästen von der Spezialisten-Front überlassen. Alte Musik wurde zur Chefsache erklärt. Mit den Berliner Philharmonikern hat sich Simon Rattle mehrfach etwa der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach zugewandt. Die Aufführungen waren erneut Beispiele dafür, wie viel mittlerweile auf dem Wege und in Bewegung ist. Anbietbar waren die Ergebnisse kaum. Ein Kritiker-Kollege schrieb treffend, die Streicher der Berliner Philharmoniker klängen bei Bach wie „faules Holz“. Und tatsächlich: Labbrige Konturen, darunter ein schwächliches Basso continuo. Man brachte nicht den Mut auf, sich zum großen melodischen Bogen zurückzubekennen. Aber die eigene rhetorische Gewandheit reichte auch nicht aus, um sich mit Spezialensembles im Mindesten messen zu können. Dieses negative, oder sagen wir besser: abwartende Urteil nun lässt sich indes nicht durchweg aufrechtherhalten. Rattle hat im Jahr 2005 eine immerhin beachtliche, konzertante Aufführung von Mozarts „Così fan tutte“ in Berlin und Salzburg dirigiert. Freilich: Die kurzbogige Klangästhetik war auch hier noch nicht geeignet, einen Mozart-Stil zu etablieren, wie er dem Rang des Orchesters angemessen wäre. Im Mai 2004 schon dirigierte Simon Rattle in der Philharmonie auch ein echtes Barock-Werk, das in vielfacher Hinsicht gefährlich ist. Bachs „Brandenburgisches Konzert Nr. 1“ vereint mehrere Risiken: Es ist so bekannt und so oft eingespielt worden, dass es jeder Klassik-Kenner mühelos mit allen möglichen Meister-Aufnahmen vergleichen kann, die er noch im Ohr hat. Außerdem verlangt es einen Violin-Solisten, der gleichsam die Visitenkarte der historischen Kenntnisse präsentiert. Und als erster Teil des Zyklus von sechs Brandenburgischen Konzerten vermittelt das F-Dur-Konzert, wenn man es isoliert spielt, noch dazu einen gewissen Wunschkonzert-Eindruck, den man heute kaum noch einer seriösen Konzertdramaturgie verzeiht. Sei es drum: Mit Bachs Brandenburgischem Konzert Nr. 1 F-Dur BWV 1046 bewies Simon Rattle im Jahr 2004 tatsächlich, dass es vorwärts geht. Das Ensemble, gut durchhörbar und symmetrisch entspannt, hat die Glitzerstein-Ästhetik, den Strassbesatz seines Superklangs, abgelegt. Denn mit Bachs Brandenburgischen Konzerte hatte sich auch schon Herbert von Karajan sehr prominent, in zwei überaus lukrativen Gesamtaufnahmen von 1964 und 1978/79 befasst. Jetzt, bei Rattle, klingt das Orchester durchaus stumpfer, handwerklicher, ja natürlicher – und damit sachgerechter als bei dem Gastspiel Harnoncourts zwei Jahre zuvor.

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Doch – leider – die Rechnung kommt unweigerlich hinterher. Denn bekanntlich hat die Abmattung besonders des Streicherklangs einen hohen Preis. Dann nämlich, wenn die sogenannten ‚großen Schinken’ des romantischen Repertoires glanzvoll in Szene gesetzt werden wollen. Also: Für das Kernrepertoire von Beethoven bis zu den Gurre-Liedern. Für sie ist der kurzatmig aufgeraute, ziselierte Kleinmut einer am Barock geschulten Ausdrucksweise nicht eben zureichend. Hier müssen sozusagen größere Kaliber her. Für Bach immerhin lohnt sich diese Domestizierung doch. Ich glaube, man muss ohne weiteres zugeben, dass die Barockmusik die Berliner Philharmoniker seit den 90er Jahren mehr unter Druck gesetzt hat als jedes andere Repertoire. Weil man im Vergleich zu den Spezialensembles der historischen Aufführungspraxis ein Defizit an sich erkannte, versuchte man sich zu ändern. Man hat dabei – seit Abbado, stärker noch bei Rattle – vielleicht manches erreicht. Aber man verlor dadurch auch Eigenschaften des Orchesters, die man bis dahin für typisch gehalten hatte – und auf die man stolz war. Diese Eigenschaften waren: Kompaktheit, Glanz und eine Neigung zu sublimer Größe. Fähigkeiten mithin, die für die Aufführung für die Werke ab Beethoven mindestens sinnvoll, wenn nicht sogar unabdingbar sind. So hat die Barockmusik, die man nicht spielen zu können glaubte, die Berliner Philharmoniker durchaus auch in eine kleine Krise gestürzt. Diese Krise ist, wie ich glaube, zu beschreiben mit dem Wort: Entspezialisierung. Man wollte alles, nicht nur das klassisch-romantische Repertoire. Man hat dabei Eigenschaften verloren, indem man sie freiwillig aufs Spiel gesetzt hat. Wenn den Berliner Philharmonikern heute nicht mehr ohne weiteres der Spitzenstatus zugebilligt wird, den man sich unter Furtwänglers und Karajans Leitung erworben hatte, so liegt jedenfalls, wie ich meine, hier die Ursache dafür. Es bleibt festzuhalten, dass die Entwicklung der Berliner Philharmoniker in dieser Hinsicht durchaus untypisch war. Weder die Wiener Philharmoniker noch das Concertgebouw Orchester oder die amerikanischen Orchester haben sich durch die historische Aufführungspraxis in ihrer Identität wesentlich irritieren lassen. Sie blieben sie selbst. Auch andere deutsche Spitzenorchester wie die Staatskapelle Dresden oder das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wirken durchaus unangekränkelt von allen diesbezüglichen Zweifeln.

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Ich persönlich sehe in Deutschland nur ein einziges Orchester, das sich diesem Experiment erfolgreich und konsequent unterzogen hat. Dies ist das seither fusionierte RSO Stuttgart unter seinem Chef Roger Norrington. Im Ganzen: ein höchst schwieriges – und dabei hochbrisantes Thema. Mit der Alten Musik hängt heute die Identitätsfrage der Berliner Philharmoniker unmittelbar zusammen. Ich denke, dass die Antwort auf die Frage, warum das so ist, eindeutig auf der Hand liegt: Es handelt sich um Spätfolgen der Karajan-Zeit. Karajan hatte – jedenfalls äußerlich – so sehr gegenüber der historischen Aufführungspraxis ‚gemauert’, dass man nach seiner 34-jährigen Ära glaubte, etwas aufholen zu müssen. Etwas gutmachen zu müssen. Dazu freilich schickte sich das Orchester selber an. Es kam damals ohnehin zu einem großen Generationsumbruch. Claudio Abbado, der selber mit Barock-Musik wenig anfangen konnte, machte sich zum Vermittler dieser Öffnung, die zugleich eine Schließung war. Denn ob das Kunststück, Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis auf ein modernes Orchester zu übertragen, gelingen kann, dieser Beweis steht bislang noch aus. Kommen wir zum Abschluss für heute. Und hören wir, als formelle Verbeugung vor der Annäherung an eine historisch inspirierte Aufführungspraxis, den Konzertmitschnitt von Bachs 1. Brandenburgischen Konzert aus dem Jahr 2004. Simon Rattle dirigiert ein hier ein beinahe freundschaftlich mit sich im Reinen wirkendes Orchester: die Berliner Philharmoniker. Dass es eine große Aufnahme ist, würde wahrscheinlich niemand behaupten. Und doch immerhin – eine höchst genießbare. Hören Sie die Sätze 1 bis 4 aus Bachs Brandenburgischem Konzert Nr. 1 in F-Dur – unter Simon Rattle. Und damit, versöhnlich, auf Wiederhören – bis zum nächsten Mal.

9 Eigenaufnahme 99-21509

Johann Sebastian Bach Brandenburgisches Konzert Nr. 1 F-Dur BWV 1046 Berliner Philharmoniker Leitung: Simon Rattle 2004

20’49