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Die ,,schleichende" Fraktur (Harschfraktur) 1. Beitrag auf Grund jiingster Beobachtungen. Von Prof. Dr. Wilhelm, Facharzt ffir Orthol0fidie, z. Zt. im Heeresdienst. Mit 5 Tex~bbildungen. (Eingeffangen am 15. Mai 1940.) Der polnische Feldzug mit seinen starken Anforderungen an die marschierende Truppe hat uns erneut anf die Bedeutung der Marseh- fraktur und ihre relative H/£ufigkeit mit Nachdruck hingewiesen und hat unsere Aufmerksamkeit wieder auf dieses noch reichlich ungekl~rte und. in seinem letzten Wesen auch heute noch dunkle pathologische Ge- schehen an einem bis dahin gesunden Knochen gelenkt. Denn keiner der beobachteten und behandelten F~ille hatte sich bis zum Eintreten der Fraktur in irgendeiner Weise ,,krank" geffihlt. Keiner hatte bis dahin in dem betroffenen Skeletabschnitt irgendwelche traumatischen oder sonstigen (infekti6sen oder neoplastischen) Ver~nderungen gehabt. Die Fraktur war ,,st)ontan" aufgetreten. Und doch hatte keiner unserer F£lle ein eigentliches plStzliches ,,Bruchgefiihl", das ihn sofort marsch- unf~hig machte. Sie versuchten teilweise noch trotz Schmerzen und trotz Schwellung des FuBes weiterzumarschieren, his sie nicht mehr konnten. Das Fehlen eines akuten Traumas in der Anamnese ist f/Jr (lie ,,schleiehende" Fraktur ja wesentlich. Trotzdem handelt es sich um echte Frakturen, die sich ira RSntgenbild mit Bruchspalt und Callus- bildung darstellen und deren Heilung wie die eines traumatisch gesetzten Knochenbruches verl~uit. Die Deutungsversuche dieser seltsamen Erscheinung an einem bis- her gesunden Knochen sind mannigfaltig und nicht auf einen gemein- samen Nenner zu bringen. Vor der RSntgen/ira wurde das Krankheits- bild aus begreiflichen Griinden meist verkannt. Man deutete die so- genannte ,,Fuggeschwulst" als eine entziindliehe Reizerscheinung, aus- gehend vom Pcriost (Periostitis) oder yon den Ligamenta transversalia (Syndesmitis metatarsea, Weisbach). Axhausen wandte seine GefiiB- theorie auch aui dieses Biht an und glaubte eine Embolie im Bereich der ern/~hrenden Knochengefgl3e als Ursaehe annehmen zu miissen. Deutschldnder tuelt an der entziindlich-infekti6sen Genese lest. Thropho- neurotisehe StSrungen wurden yon Turner daffir verantwortlich ge- maeht. Als Looser am pathologisch verg~nderten (raehitisehen, osteo- malaeisehen) Knoehen feine Aufhellungslinien feststellte, die er als 1 Herrn Professor Dr. E. Rehn zum 60. Geburtstage gewldmet.

Die „schleichende“ Fraktur (Marschfraktur)

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Page 1: Die „schleichende“ Fraktur (Marschfraktur)

Die ,,schleichende" Fraktur (Harschfraktur) 1. Beitrag auf Grund jiingster Beobachtungen.

Von Prof. Dr. Wilhelm,

Facharzt ffir Orthol0fidie, z. Zt. im Heeresdienst.

Mit 5 Tex~bbildungen.

(Eingeffangen am 15. Mai 1940.)

Der polnische Feldzug mit seinen starken Anforderungen an die marschierende Truppe hat uns erneut anf die Bedeutung der Marseh- fraktur und ihre relative H/£ufigkeit mit Nachdruck hingewiesen und hat unsere Aufmerksamkeit wieder auf dieses noch reichlich ungekl~rte und. in seinem letzten Wesen auch heute noch dunkle pathologische Ge- schehen an einem bis dahin gesunden Knochen gelenkt. Denn keiner der beobachteten und behandelten F~ille hatte sich bis zum Eintreten der Fraktur in irgendeiner Weise , ,krank" geffihlt. Keiner hat te bis dahin in dem betroffenen Skeletabschnitt irgendwelche traumatischen oder sonstigen (infekti6sen oder neoplastischen) Ver~nderungen gehabt. Die Fraktur war ,,st)ontan" aufgetreten. Und doch hat te keiner unserer F£lle ein eigentliches plStzliches ,,Bruchgefiihl", das ihn sofort marsch- unf~hig machte. Sie versuchten teilweise noch trotz Schmerzen und trotz Schwellung des FuBes weiterzumarschieren, his sie nicht mehr konnten. Das Fehlen eines akuten Traumas in der Anamnese ist f/Jr (lie ,,schleiehende" Fraktur ja wesentlich. Trotzdem handelt es sich um echte Frakturen, die sich ira RSntgenbild mit Bruchspalt und Callus- bildung darstellen und deren Heilung wie die eines traumatisch gesetzten Knochenbruches verl~uit.

Die Deutungsversuche dieser seltsamen Erscheinung an einem bis- her gesunden Knochen sind mannigfaltig und nicht auf einen gemein- samen Nenner zu bringen. Vor der RSntgen/ira wurde das Krankheits- bild aus begreiflichen Griinden meist verkannt. Man deutete die so- genannte ,,Fuggeschwulst" als eine entziindliehe Reizerscheinung, aus- gehend vom Pcriost (Periostitis) oder yon den Ligamenta transversalia (Syndesmitis metatarsea, Weisbach). Axhausen wandte seine GefiiB- theorie auch aui dieses Biht an und glaubte eine Embolie im Bereich der ern/~hrenden Knochengefgl3e als Ursaehe annehmen zu miissen. Deutschldnder tuelt an der entziindlich-infekti6sen Genese lest. Thropho- neurotisehe StSrungen wurden yon Turner daffir verantwortlich ge- maeht. Als Looser am pathologisch verg~nderten (raehitisehen, osteo- malaeisehen) Knoehen feine Aufhellungslinien feststellte, die er als

1 Herrn Professor Dr. E. Rehn zum 60. Geburtstage gewldmet.

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12 Wilhelm:

,,Umbauzonen" bezeichnete, wurden die feineren Fissuren im Knochen bei Marschfrakturen ebenfalls als derartige ,,Umbauzonen" gedeutet. Man nahm an, daft der auf Biegung oder Zug fiberm~flig beanspruchte Knochen an dieser Stelle einen inneren Umbau vollzieht, zungchst in Form lacun~rer Resorption, und dab in der Mittelphase zwischen dieser und dem vermehrten osteoblastischen Aufbau der Bruch erfo]ge. Seeliger best£tigte sparer an eigenen Versuchen die Looserschen Befunde. Asal widerlegte auf dem 60. Chirurgenkongre$ 1936 die bisherigen Anschau- ungen fiber die ,,schleichende" (Marsch)-Fraktur. Auch die Erklgrung derselben als Biegungsbrueh infolge iiberm£Biger einseitiger Antago- nistenwirkung und Ermiidung gewisser Muskelgruppen wurde von ihm abgelehnt. Er neigt vielmehr einer rein mechanischen Entstehungs- ursache aln Folge einer iibersteigerten Dauerbeanspruchung des Knochens selbst zu. Das Prim£re ist nach Asal stets die Fraktur bzw. Fissur, w/~hrend Callusbildung und Weichteilschwellung sekund~re Erschei- nungen seien. Henschen erkl£rte auf Grund seiner sehr interessanten und eingehenden krystallographischen und r6ntgennpektrographischen Untersuchungen am Knochen als prim~re Ursache die Materialermiidung des Knochengewebes selbst. Nach seiner Ansicht ist die Sto$bean- spruchung des Knochens bei gleiehzeitigem Hartspann der Muskutatur besonders gefghrlich. In eingehenden Untersuchungen techniscb-physi- kalischer Art am toten Knochen kam Haase zu dem Ergebnis, dal~ so- wohl einmalige Belastung zum Bruch fiihren kann, als auch zahlreiche kleinere Belastungen. Sie verwerfen die Struktur des Knoehengewebes und setzen in demselben sogenannte ,,Zerriittungszonen". In diesen ,,Zerriittungszonen" ]eidet nicht nur die grob mechanische Festigkeit des Knoehens, sondern auch dan darin verlaufende und verzweigte Netz der Blutwege und Saftbahnen. Nach Haases Ansicht sind in dieses Bild einzureihen 1. die verzSgerte Bruchheilung bis zur Pseudarthrose, 2. die schleichenden Frakturen (Loosersche Umbauzonen, Marschfrakturen, Dornfortsatzbriiche der Schipper); 3. die lokalen Malacien (KShlersche Krankheit, Perthes), PreBluftsch~den. - - Kiintscher ist der Ansicht, dab es sich bei den Marschfrakturen um sogenannte ,,Ermiidungsbriiche" handelt. Es gelang ihm, im Experiment mit Hilfe eines Elektromotors mit Exzenterbetrieb Knochengewebe rhythmischen Dauerbelastungen mit 70--100 kg zu unterwerfen und so Verh~ltnisse zu schaffen, wie sie der FuB bei Dauerleistungen in l~ngeren M~rschen vorfindet. ,,DAB es sich bei dem Ermfidungsbruch um eine Gefiigelockerung der Knochen- substanz durch systematische Erschiitterungen und nicht um eine Er- miidung der Muskulatur und dementsprechend verstgrkter statisch- dynamischer Beanspruchung handelt, l~Bt sich durch den Verlauf der Spannungsspitzen und der Ermiidungsbriiche zeigen." Der Ermiidungs-

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bruch ist demnach (nach Ki~ntschers Ansicht) kein biologischer Vor- gang wie die Umbauzone, sondern ein rein mechanisches Geschehen, ein Bruch, entstanden durch Lockerung des Materialgefiiges, infolge starker rhythmischer Be- anspruchung. Kleine sieht die ticfere Ursache der- artiger Knochenbrfiche in einer Polyhypovitaminose, in einem Fehlen der Vita- mine A, C und D. Dazu kommt nach seiner Mei- nung erst spi~ter der ~ber- belastungsschaden. Nach ibm habcn osteomalaci- sche Knochenerkrankun- gen (Osteomalacie, I~aehi- tis) und ~berbelastungs- sch~den die gleiche P~tho- genese.

Die Beobachtung von Wachsmuth, da~ Marsch- frakturen in erster Linie junge Rekruten in der ersten Ausbildungszeit be- fallen, Rekruten, die k6r- perlich ungeschult nnd ohne sportliche Vorbil- dung zum Heere kommen, wird durch unsere Beob- achtungen best~tigt. Bei allen FAllen handelt es sich um schw~,chliche Al,b . 1.

Konstitutionsformen mit schwach entwickelter GesamtkSrpermuskulatur. Alle geben iiberein- stimmend zu, vor ihrem Eintr i t t in die Wehrmacht keinen Sport ge- trieben zu haben. Was die Lokalisation derartiger Brfiche angeht, so betrafen nach Asal und Wachsmuth yon 590 Frakturen:

488 den MittelfuB, 6 den Schenkelhals, 70 das Schienbein, 4 das Fersenbein und 12 das Wadenbein, 3 das Becken. 7 den Oberschenkelkopf,

Die hier beobachteten F/i, lle betrafen in iiberwiegender Mehrzahl die Mittelfu6knochen, nut 1 Fall betraf das Becken.

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14 Wilhelm:

Es folgen nunmehr aus der Reihe unserer Beobachtungen 3 Falle, die eine anschauliche Erliiuterung zu den obigen theoretischen Deutungs-

versuchen darstellen. Fall1.23 J. alter, sehm~ch-

tig gebauter Soldat, im Zivil- beruf landwirtschaftlicher

Dienstknecht, sportlich nicht vorgeschult. Bei dem Vor- marsch in Polen erstmals ste- chende und ziehende Schmerzen im r. MittelfuB, mul~te auf dem Marsch zeitweise gefahren wer- den. Pat. bemerkte auf dem r.FuBrficken eine schmerzhafte druckempfindliehe Schwellung. Gang hinkend unter deutlicher Schonung des r. Fui]es. Bei Lazarettaufnahme zeigte das R6ntgenbild folgenden Befund (s. Abb. i): Metatarsalknochen II in seiner proximalen H~Ifte yon einem deutlichen periosta- len CMlusring umgeben. Spon- giosa an dieser Stelle in ihrer Struktur unregelm~ig verwor- fen (,,Zerrfittungszone"). Noch keine Bruchlinie. Kontrollbild 6 W. spi~ter (Abb. 2) nach Be- handlung mit Gipsverband und Bettruhe zeigt immer noch die frfihere Callusbildung. Die Strukturverwerfung der Spon- giosa ist noch starker, man er- kennt eine zickzackfSrmige feine Linie in dieser Spongiosaverwer- lung (Bruchlinie). Klinisch be- stehen immer noch leichte Schmerzen beim Abwickeln des FuBes.

Abb. 3. Es handelt sich im vor- liegenden Fall um eine typi-

sche Marschfraktur, die trotz Bettruhe und Ruhigstellung des Ful~es in der ,,Zerrfittungszone" zun£chst noch welter fortschreitet. Von diesem Zu, stande his zum vSlligen Bruch bedarf es nur eines ungeschickten Schrittes, einer Stauchung auf hartem Boden oder eines StoBes gegeneinen Stein. Die Voraussetzungen ffir einen richtigen Bruch sind damit in dem Augen- blick gegeben, in dem die den FuB ffihrende Muskulatur unter dem Zwang einer ungewohnten Dauerleistung ermiidet und versagt. Auf die

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e igent i imliche Tatsache , dab t ro tz Ruhigs te l lung und E n t l a s t u n g die urspri ingl iche Verwerfungs- und Zerrf i t tungszone im K n o c h e n zur vol lendeten Bruchl in ie for tschre i ten kann, weist auch Scheller hin und beschre ib t einen de ra r t igen Fa l l , bei dem t rotz Ruhigs te l lung ein Fissur - spal t zu einem regelrechten Bruchspa l t sich erwei ter te mi t reichl icher

Callusbildimg. Fall 2. Der 26 J. alte Pat., sehmi~ehtig gebaut, zog sich am 30. VIII. 39 beim

Verladen eines Transportes dureh Sturz vonder Verladerampe einen nicht kompli- zierten Brueh des 5. r. Mittol- fuBknochens zu. DieFraktur wurde sofort lege artis behan- delt und im (~ipsverband ruhiggestellt. Diese Ruhig- stellung wurde 4 W. lang durehgeffihrt. Dann erfolgte Weiterbehandlung mit Mas- sage und vorsichtigen Bela- stungsversuehen. Am 25. X. 39 erfolgte Entl'Lssung zur Trup- pc, wo der Pat. zuniiehst mit Innendienst besehgftigt wur- de. Am 13, X[. 39, also 10 W. spiiter, nahm er erst- reals am Exerzierdienst trail und gab sich Miihe, den lang- samen Sehritt zum Parade- marseh zu ]er~en. Gegen Abb. :~. Abend verspfirto er in seinem ehemals verletzten Fu[] an tier alton Bruehstclle ein unangenehmes Ziehen, das am n/~ehsten Morgen bei jedem Sehritt sieh verst/~rkte. Die R6ntgertaufnahme des Fuftes ergab eine Refrakturierung der alten Bruehstelle (s. Abb. 3). Kliniseh war deutliehes Crepitieren zu fiihlen. Also eine spontane Refrakturierung unter dem Einfluft des Exerzierdienstes - - 10 W. naeh einer eehten Fraktur i Und was diesen Fall besonders herausstellt, ist das im RSntgenbild feststellbare Zusammentreffen einer alten KShlersehen Malaeie des II . MetatarsMgelenkes am gleichen Fuft. Pat. gab an, daft er in der 2. Waehstumsperiode 1/~ngere Zeit an Besehwerden in diesem Fuft gelitten habe, besonders rtaeh Anstrengungen. J~rztliehe Hilfe sei aber damals nieht in Ansprueh genommen worden. Aueh dieser Pat. - - seinem Habitus naeh der asthenisehen Konstitutionsform zuzureehnen - - hatte vor Eintritt in die Wehr- maeht keine sportliche Vorsehulung durchgemaeht.

Der Fa l l ist ein deut l ieher Hinweis auf die Gef/~hrdung yon Mittel- fuBfrakturen naeh kl iniseher Hei lung du tch 1/~ngere e rmi idende Bet/~tigung, also yon Knoehen , die vornehmlieh be im Abrol len des Ful3es auf Biegung beansprueh t werden. Er lehr t uns die im Lehrbueh gewShnlieh auf- gezeigte Zei t fiir die Hei lung eines Mit te l fuf lbruehes eher im Sinne einer Verl/~ngerung als einer Verki i rzung zu bereehnen. Er seheint aber aueh die eingangs erw/~hnte Theorie Haases, naeh der Spon tan f r ak tu ren und lokMe MMaeien in das gleiehe Gebie t der Mater ia lze r r i i t tung des Knoehen-

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16 Wilhelm:

gewebes, sei es durch einmalige Belas tung oder durch zahlreiche kleinere

Dauerbelas tungen, hineingehSren, zu best~tigen.

Fall 3. Der letzte unserer F~lle betraf das Becken. Schleichende F r a k t u r e n im Bereich des Beckens sind v e r h ~ l t n i s m ~ i g selten im Schrift- t u m zu l inden. Wachsmuth beschreibt 3 F~lle yon Spontanbr i ichen im Bereich des Schambeinastes, denen Daubenspeck 1 2 weitere hinzuffigt

Abb. 4.

Es handel t sieh dabei meistens um Rekruten , die in der ersten Aus-

bildungszeit s tanden. Auch der von uns beobachtete Fall betraf einen Rekruten, der 4 W. nach Dienst-

eintritt im Anschlufl an einen 25 km langen l~arsch ziehende Sohmerzen im li. Hfiftgelenk und in der li. BeckenhMfte, ausstrahlend in den li. Oberschenkel ver- spiirte. Er konnte am Abend dieses Marschtages kaum mehr mit dem li. Bein auf- treten. Jede Stauehung vom Boden her schmerzte. Am n~chsten N[orgen waren die Schmerzen geringer, stellten sich aber beim Dienst wieder in st~rkerem MaBe ein. Das Gehen erfolgte jetzt unter deutlichem Hinken. Er hatte aber eine ge- wisse Scheu, sich zum Arzt zu melden. Am 2. X. 39 meldete er sich doch krank und erhielt Bettruhe verordnet. Der Truppenarzt nahm damals an, dab es sich um eine Insertionstendinitis am li. Tuber ischii handele. Am 11. X. 39 wieder dienstf~hig geschrieben, machte er noeh Dienst bis zum 18. X. 39 mit, allerdings

1 Daubenspeck: Mfinch. med. Wschr. 1939, 1.

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unter Schmerzen und Hinken. Am 18. X. erfolgte RSntgenaufnahme, die folgen- den Befund ergab (s. Abb. 4): Im li. aufsteigenden Schambeinast verl/~uft yon oben nach unten eine feine, unregelmal~ig gerhnderte Bruchlinie, die am oberen Pol be- ginnende Calluswucherung aufweist. Diagnose: ,,Schleichende" Fraktur des li. aufsteigenden Schambcinastes.

Konstitutionell ist dcr 26j. Pat. schw/~chlich cntwickclt, schlank aufgeschossen, im m~13igen Erniihrungszustand und untergewichtig (Gr. 178 cm, Gew. 641/~ kg). Er stammt aus einer unbegiitcrtcn Familic dcs rhein. Industriegebietes, war aber

AI)I~. 5.

nie ernstlieh krank gewesen. Im Berufe Weber, hatte er bis zum Eintri t t ins Heer keinen Sport getrieben. Die Blutsenkung war normal. Die Calciumbestimmung im Serum betrug 12 rag-%, also Normalwert. Die Behandlung bestand in Bett- ruhe, vitaminreicher Kost, innerlich wurde Phosphorlebertran und Kalzan ver- abreicht, 5rtlieh Kurzwellenbehandlung gegeben. Die R6ntgenkontrolle 5W. sp/~ter 1/iBt zwar die Bruchlinie noch erkennen. Sie ist abet yon kr/~ftigen Callus- wiilsten umgeben (s. Abb, 5). Die Beschwerden sind bis auf geringe Reste ge- schwunden.

Der En t s t ehungsvo rgang de ra r t ige r Schambe in f r ak tu r en wird m i t dem Zug der hier anse tzendcn Muske lg ruppen und dem Gegenzug ihrer Antagon i s ten gedeu te t und erkli i r t . Der Bruch s i tz t im Bereich der ehema~igcn Epiphysenl in ie , die vicl le icht erst verh/iltnism/il3ig spii t zur kn6chernen Verschmelzung kam. DaB in diesen Zonen Ermi idungs -

Deutsche Zeitschrift ftir Chirurgie. 254. Bd. 2

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] 8 Wilhelm:

erscheinungen eher auftreten' als in kompakten Knochenteilen, ist glaub- haft. Als ausl6sende Ursache ist wohl das allm£hliche Versagen der nach der ungewohnten Marschleistung iibermiideten, im Bereich des Scham- und Sitzbeines ansetzenden Muskelgruppen anzusprechen, deren Spiel ein reichlich kompliziertes ist. Die Adduetoren sind trotz ihrer gemein- samen adductorischen Komponente teilweise Hiiftstrecker (Adductor magnus), teilweise -beuger (Adductor longus, brevis und minimus), sie rotieren teilweise nach auBen, teilweise nach innen. Ihnen gesellen sich die Kniebeuger (Biceps, Semigruppe) bei, die Hfiftstrecker sind, gleich- zeitig aber auch das Bein inneh rotieren; kurz ein wechselvo|les Muskel- spiel mit dem grSBten Dreh- und Zugmoment an der Stelle der alten Epiphysenlinie, in der dann, wie betont, der Bruch erfolgt. Beim Exerzier- und l~bungsmarsch werden aber gerade diese Muskelgruppen besonders stark beanspmcht.

So best£tigen unsere 3 F~lle die bereits im Schrifttum niedergelegte Erfahrung, dab derartige ,,schleichende" Frakturen eine gewisse kon- stitutionelle Minderwertigkeit (meistens Bindegewebsschw~che, Habitus asthenicus) voraussetzen. Hinzu tritt eine durch keine sportliche Vor- schulung an gr6Be~e Leistungen gewohnte, schw~chlich entwickelte und demgem~B friihzeitig zur Ermiidung und ~bermiidung neigende Mus- kulatur. Diese Erfahrung wird unterstrichen und best~tigt durch die Tatsache, daB in dem sportlich ausgezeichnet durchgefibten 100000Mann- Heer der Systemzeit im Jahre etwa 20 Marschfrakturen beobachtet wurden, w~hrend ihre Zahl in der alten Armee vor dem Weltkriege wesentlich h6her lag.

Die Lehren, die wir aus den mitgeteilten FMlen ziehen k6nnen, sind demnach folgende:

1. Die sportliche Vorschulung unserer heranwachsenden mii, nnlichen Jugend ist im Hinblick auf ihre sp~ttere Ausbildung im Heeresdienst eine notwendige Forderung. Diese Vorschulung sollto als erster Anlauf fiir den Wehrmachtsdienst den besonderen Bediirfnissen desselben an- gepaBt werden.

2. Besondere Aufmerksamkeit sollte im Rahmen der sportlichen Vorschulung der Ertfichtigung des FuBes, der Leistungssteigerung seiner stfitzenden, tragenden und aufriehtenden Kr~fte (Muskulatur und Band- apparat) durch entsprechende l~bung (vor allem BarfuBlaufen!) ge. widmet werden.

3. Unter Zugrundelegung der Annahme Kleines, dab jede Spontan- fraktur ihre letzte Ursache in einer Polyhypovitaminose hat, muB die Ern~hrung des Heeres wie der fibrigen Bev61kerung m6glichst vitamin- reich gestaltet werden.

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4. Die Biegungsbrfiche der Metatarsalknochen dfirfen nicht zu friih wieder einer fiber das gewLhnliche AusmaB hinausgehenden Belastung und Beanspruchung unterworfen werden.

5. Bei jedem unk/aren einseitigen Mi~telfuBsehmerz naeh t/~ngerem ermfidenden Gehen bzw. nach Dauerm/irschen ist wegen der MSglich- keit einer Spontanfraktur unbedingt ein RSntgenbild anzufertigen. Das gleiche gilt unter den gleichen Voraussetzungen a~uch fiir den einseitigen Beckenschmerz, der nieht innerhalb der n/~ehsten 24 Stunden wieder verschwindet. Die Gef~d~r einer Fehldiagnose ist hier besonders groB.

Zusammen/assung.

Aus dem verb/~]tnism/il3ig groBen einschl/~gigen Krankengu t yon Spontanfrakturen werden drei besonders bemerkenswerte F~lle mitgeteilt. Die verschiedenen bisherigen im Schrif t tum niedergelegten Deutungs- versuche dieses eigenartigen Geschehens am gesunden Knochen werden kurz gestreift. Bei den mitgeteilten F/~llen handett es sich um schw/~ch- liche, der asthenischen Konst i tu t ionsform angehLrende, in der ersten Ausbildung stehen(le Soldaten, die vor Eint r i t t in den Heeresdienst keinerlei sportliche Vorschuhmg durchgemacht haben. Zum Schlusse werden aus den Beobachtungen dieser F/ille die entsprechenden Lehren gezogen und in fiinf Leits~tzen niedergelegt.

Asal: VerLff. Hecressan.wes. 1937, 104, 132; Zbl. Chir. 1936, 21. - - Dauben- speck: Miinch. reed. Wschr. 1939, 17. - - Haase: Zbl. Chir. 1936, 21. --- Henschen: ebenda 19';13, 23. - Kleim~: Miinch. reed. Wschr. 19'~9, !)70. - - Kiintscher: Zbl. Chir. 1938, 26. - - Looser: Dtsch. Z. Chit. I,~2, 210 (1920). Scheller: Med. Welt 1939, 1333. --- Seeliger: Arch. klin. Chir. 122, 58S (1923). - - Wachsmuth: Dtsch. Mil.arzt 1937, 193.

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