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DISS-Journal Zeitung des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) 12 (2004) Aus dem Inhalt: Zum Gedenken an Cemal Kemal Altun Ohne Lobby Ein Antidiskriminie- rungsgesetz für Deutschland Der Einwanderungs- diskurs nach dem 11.9.2001 Interview mit Gerhard Bäcker zum Aufruf „Sozialstaat reformie- ren statt abbauen“ Tagung des Verfas- sungsschutzes NRW zur Neuen Rechten Die Rede Martin Hohmanns Die Rechte und der Sozialabbau Die Normalisierung der Armut Impressum Das DISS-Journal wird heraus- gegeben vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozial- forschung (DISS) Siegstr. 15 47051 Duisburg Tel.: 0203 / 20249 Fax: 0203 / 287 881 e-mail: diss@uni- duisburg.de http://www.uni- duisburg.de/DISS Druck: Rosch Buch- Druckerei, Scheßlitz Noch gehören Armut und Verarmung nicht zu den normalen Lebensrisiken. Sozialabbau ist weiterhin unpopulär. 100.000 demonstrieren in Berlin dage- gen. Nur noch 23 % der Bevölkerung wollen die SPD wählen. In den O-Tö- nen in Rundfunk und Fernsehen und in den Leserbriefspalten regiert die Wut: Wer hat uns verraten, Sozialdemokraten! Warum veranstaltet die SPD heute ein Reformwerk, das ihre Umfragewerte in den Keller drückt, ihre Parteimitglieder aus der Partei treibt und wütende Proteste hervorruft? Ganz einfach: Sie denkt an morgen. Schröder hat angekündigt, dass er nach 2006 weiterregieren will. Dafür hat er eine Strategie, die ihm bis zur näch- sten Bundestagswahl die Wiederwahl sichern könnte: die Normalisierung der Armut. Die Strategie hat vier Elemente: Unterscheidung, Anerkennung, Gerechtigkeit und Nutzen. Ursula Kreft und Hans Uske erklären auf den Sei- ten 11-15, wie sie funktioniert.

DISS-Journal - diss-duisburg.de · „Zuflucht gesucht - den Tod gefunden“ Zum Gedenken an Cemal Kemal Altun Heiko Kauffmann Anlässlich des 20. Todestages von Cemal Kemal Altun

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DISS-JournalZeitung des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) 12 (2004)

Aus dem Inhalt:

Zum Gedenken anCemal Kemal Altun

Ohne LobbyEin Antidiskriminie-

rungsgesetz fürDeutschland

Der Einwanderungs-diskurs nach dem

11.9.2001

Interview mit GerhardBäcker zum Aufruf

„Sozialstaat reformie-ren statt abbauen“

Tagung des Verfas-sungsschutzes NRW

zur Neuen Rechten

Die Rede MartinHohmanns

Die Rechte und derSozialabbau

Die Normalisierungder Armut

Impressum

Das DISS-Journalwird heraus-gegeben vom

Duisburger Institut fürSprach- und Sozial-

forschung (DISS)Siegstr. 15

47051 DuisburgTel.: 0203 / 20249

Fax: 0203 / 287 881e-mail: diss@uni-

duisburg.dehttp://www.uni-

duisburg.de/DISSDruck:

Rosch Buch-Druckerei, Scheßlitz

Noch gehören Armut und Verarmung nicht zu den normalen Lebensrisiken.Sozialabbau ist weiterhin unpopulär. 100.000 demonstrieren in Berlin dage-gen. Nur noch 23 % der Bevölkerung wollen die SPD wählen. In den O-Tö-nen in Rundfunk und Fernsehen und in den Leserbriefspalten regiert die Wut:Wer hat uns verraten, Sozialdemokraten!Warum veranstaltet die SPD heute ein Reformwerk, das ihre Umfragewertein den Keller drückt, ihre Parteimitglieder aus der Partei treibt und wütendeProteste hervorruft?Ganz einfach: Sie denkt an morgen. Schröder hat angekündigt, dass er nach2006 weiterregieren will. Dafür hat er eine Strategie, die ihm bis zur näch-sten Bundestagswahl die Wiederwahl sichern könnte: die Normalisierungder Armut. Die Strategie hat vier Elemente: Unterscheidung, Anerkennung,Gerechtigkeit und Nutzen. Ursula Kreft und Hans Uske erklären auf den Sei-ten 11-15, wie sie funktioniert.

„Zuflucht gesucht - den Tod gefunden“Zum Gedenken an Cemal Kemal Altun

Heiko Kauffmann

Anlässlich des 20. Todestages von Cemal Kemal Altun am 30. April 2003 fand am Mahnmalin der Berliner Hardenbergstraße eine Gedenkveranstaltung des Flüchtlingsrates, der Inter-nationalen Liga für Menschenrechte, Pro Asyl und „Asyl in der Kirche“ statt.Cemal Altun war der erste politische Flüchtling in der Bundesrepublik, der sich aus Angst undVerzweifelung vor Abschiebung und Auslieferung in einen Folterstaat das Leben nahm. SeinTod 1983 war ein Fanal, ein dieRepublik und die Öffentlichkeit be-wegendes und erschütterndes Er-eignis, das aber in der Politik we-der zum Umdenken noch zu einerHumanisierung der Asylpolitik führ-te. 1993 folgten die schwerstenEingriffe in das Asylrecht mit denrepressivsten Maßnahmen gegenFlüchtlinge: Abschiebungsgefäng-nisse und Abschiebungshaft. Seit-dem starben weit über 100 Men-schen in Abschiebehaft oder ausAngst vor der Abschiebung – zu-letzt Lewon A., ein abgelehnterAsylbewerber aus Armenien, dersich – verzweifelt und zermürbtvom deutschen Asylrecht – am ‘Tagdes Flüchtlings’, dem 3. Oktober,mit Benzin übergoss und anzünde-te und an den Folgen seiner Ver-brennungen verstarb. Er lebte seit10 Jahren in Deutschland, hinter-lässt eine Frau mit drei Kindern,denen weiter die Abschiebungdroht. Pro Asyl fordert von den Ver-antwortlichen ein Ende der ‘aus-länderpolitischen Gnadenlosig-keit’ mit brutalen Abschiebungenund Familientrennungen, die zu einem Klima der Angst unter denjenigen beigetragen haben,die oft seit vielen Jahren mit einer Duldung in Deutschland leben. Gefordert ist jetzt der Ein-satz aller Parteien für eine humane Bleiberechtsregelung, die Menschen mit langjährigemAufenthalt in Deutschland absichert.Das DISS-Journal dokumentiert die Ansprache von Heiko Kauffmann, Pro Asyl, am Mahn-mal von Cemal Kemal Altun.

Die Skulptur (Granit) von Akbar Behkalam zeigt einen kopfüber herabstürzenden Menschen mit ausgestreck-ten Armen – ein Symbol für alle Flüchtlinge, die hierzulande Schaden an Leib und Leben erlitten haben odererleiden müssen.

2 DISS-Journal 12, 2004

„Die Würde des Menschen istunantastbar. Sie zu achten undzu schützen ist Verpflichtung al-ler staatlichen Gewalt.“ (Art. 1(1) GG)„Jeder hat das Recht auf Lebenund körperliche Unversehrtheit.Die Freiheit der Person ist un-verletzlich.“ (Art. 2 (2) GG)„Alle Menschen sind vor demGesetz gleich ... Niemand darfwegen seines Geschlechts, sei-ner Abstammung, seiner Rasse,seiner Sprache, seiner Heimatund Herkunft, seines Glaubens,seiner religiösen oder politi-schen Anschauungen benach-teiligt oder bevorzugt werden.“(Art. 3 (1), (3) GG)Im Umgang mit Flüchtlingen undMinderheiten in Deutschlandwurde und wird unschwer er-kennbar, dass im Grundgesetzfestgeschriebene Grundrechteund einige wesentliche, von derBundesrepublik anerkannte undratifizierte Menschen- und Völ-kerrechtsstandards in vielen Fäl-len nicht gewährleistet bzw. nichtumgesetzt werden. Die Würdevon Flüchtlingen ist antastbar,ihre Freiheit verletzlich und ihreGleichheit anfechtbar gewor-den.Wir sind hier heute zusammen-gekommen, um Cemal KemalAltuns zu gedenken, der vor 20Jahren Opfer dieser Diskrepanzzwischen den von der Verfas-sung verheißenen Rechten undder Realität ihrer Inanspruch-nahme wurde, ein Opfer der zu-nehmenden Kluft zwischenRecht und Humanität.Trifft nicht auch heute im Fallvieler ‘Abschiebehäftlinge’ zu,deren Angst vor Abschiebungidentisch ist mit ihrer Angst vorVerfolgung, Folter und Tod, wasPeter Doebel am Todestag vonCemal Altun im HEUTE-JOURNAL inseinem Kommentar fragte:„Musste er bei uns an dieserAngst sterben? Steht nicht im

Grundgesetz: Politisch Verfolg-te genießen Asyl? Steht da nichtauch, dass hier jeder Menschdie Gerichte zu Hilfe rufen darf?Es steht da. Aber wir müssendarüber nachdenken, warumCemal Altun diesen Garantienunserer Verfassung nicht ge-traut hat ... Nachdenken müssenGesetzgeber, Gerichte, Behör-den. Sie alle haben dazu beige-tragen, dass klare menschlicheGrundsätze unseres Staatesunter einer Fülle von Wennsund Abers, von Gesetzen undVerordnungen und undurch-schaubaren Urteilen bis zur Un-kenntlichkeit verschüttet wer-den.“

Bis heute bleiben Fragen an diedeutsche Politik:Was bleibt von der menschlichenWürde, wenn man Flüchtlingewie Cemal Altun, die ein Grund-recht in Anspruch nehmen, wieSchwerverbrecher gefesselt inHandschellen zur Verhandlungim Widerspruchsverfahrenführt, oder wenn „Ausländer“ bisheute von Politikern ungestraftund absichtsvoll pauschal als„kriminell“ und „illegal“ herabge-setzt oder instrumentalisiert wer-den können, in jene, „die unsnützen“, und jene, „die uns aus-nützen“ (Beckstein)?Was bleibt von der unverletzli-chen Freiheit, wenn man Flücht-linge wie Cemal Altun in über 13Monaten Auslieferungshaft zer-mürbt oder wenn bis heuteFlüchtlinge, die keine Straftatbegangen haben, bis zu 1 ½Jahren in Abschiebegefängnis-sen – den dunkelsten Orten un-serer Demokratie – in Verzweif-lung gestürzt werden?Was bleibt von den Verfassungs-normen des Gleichheitsgrund-satzes, eines fairen Verfahrensund des Diskriminierungsver-bots, wenn man – wie im Fall vonCemal Altun – Militärdiktaturen

Akteneinsicht und Amtshilfe ge-währt oder wenn man bis heuteFlüchtlinge in Zwangsvorführun-gen Botschaftsangehörigenoder Vertretern von Unrechtsre-gimen zum Verhör in quasi„rechtsfreien Räumen“ über-lässt?Was bleibt vom Bestreben derVerfassungsväter und -müttermit dem altem, unversehrtenArtikel 16, Recht auf Asyl neueMaßstäbe internationaler Huma-nität und einer menschenrechts-orientierten Flüchtlingspolitik zusetzen – angesichts der Maximedeutscher Flüchtlingspolitik, vonZimmermann über Kanther bishin zu Schily, Flüchtlinge abzu-schrecken, ihnen den Zugangzu verwehren oder sie soschnell wie möglich wieder los zuwerden, egal wohin mit allen Mit-teln, um fast jeden Preis?Wenn ein Staat, der in seinerVerfassung ein kategorischesNein zu Folter, Todesstrafe undunmenschlicher Behandlungsagt, bereit ist, wehrlose Men-schen in seiner Obhut an Staa-ten auszuliefern, in denen ihreUnversehrtheit nicht gewährlei-stet ist, macht er sich mitschul-dig. Nicht nur der Staat, der fol-tert, verletzt die Menschenrech-te. Auch der Staat, der bereit ist,wehrlose Menschen in Staatenabzuschieben, in denen ihnenHaft, Folter, Verfolgung, un-menschliche oder erniedrigen-de Behandlung oder die Todes-strafe drohen, verletzt die Men-schenrechte. Das galt vor 20Jahren und das gilt auch nochheute.Cemal Kemal Altun ist als ju-gendlicher Oppositioneller nachDeutschland gekommen, dersich in seiner Heimat schon alsSchüler für Demokratie, Mei-nungsfreiheit und Menschen-rechte eingesetzt hat. Er konn-te und wollte nicht begreifen,dass der Staat, in dem er Zu-

Ansprache zum 20. Todestagvon Heiko Kauffmann (PRO ASYL), Berlin 30. August 2003

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flucht suchte, die Demokratie,auf die er seine Hoffnung setz-te, bereit war, ihn an sein Ver-folgerland auszuliefern; er konn-te nicht glauben, dass die deut-schen Behörden und die deut-sche Politik eher bereit waren,mit den Behörden einer Militär-diktatur zusammenzuarbeitenund den Vertretern seines Ver-folgerlandes mehr Glauben zuschenken als den Beteuerun-gen eines Flüchtlings, der vonjenen verfolgt wurde, weil er al-len Repressalien und Verbotenzum Trotz mit gewaltfreien Mit-teln aktiv im Untergrund gegenden faschistischen Staatsterrorkämpfte.

Cemal K. Altun, dessen Tod1983 von den verantwortlichenchristdemokratischen Regie-rungspolitikern, von Kohl bisZimmermann, als „bedauerlicherEinzelfall“ bezeichnet wurde –quasi als ‘Schicksalsschlag’ oder‘höhere Gewalt’, wofür niemandVerantwortung trage, denn alleswar ja ‘nach Recht und Gesetz’zugegangen – Cemal K. Altunwar nur der erste von inzwischenweit über 100 Flüchtlingen, diesich aus Angst und Verzweiflungvor ihrer Abschiebung in dasgefürchtete Verfolgerland selbsttöteten. Allein vier Menschenstarben an einem 30. August:n Vor 20 Jahren stürzte sich

Cemal Kemal Altun hier ausdem Fenster des Verwal-tungsgerichts, wo ein Klage-verfahren gegen seine zu-vor erfolgte Anerkennungals politisch Verfolgter ver-handelt wurde. Die 13mona-tige Einzelhaft des politi-schen Flüchtlings war erstdurch ein „Auslieferungsan-gebot“ des Bundeskriminal-amtes an den türkischenStaat zustande gekommen.

n Am 30. August 1994 starbder Nigerianer Kola Bankolebeim 6. Abschiebungsver-such in einer Lufthansa-Ma-schine am Frankfurter Flug-hafen. Der herzkranke Mann

erstickte an einem Knebel.Zuvor wurde er mit Klebe-band und Klettbändern anHänden und Füßen gefes-selt, „wie eine Wurst ver-packt“, mit Skisocken undeinem Rolladengurt gekne-belt, vom Bundesgrenz-schutz in das Flugzeug ge-tragen und mit gespritztenPsychopharmaka „ruhigge-stellt“.

n Am 30. August 1999 starbRachid Sbaai in einer Ar-restzelle der JVA Büren.

n Bei dem Versuch, aus derAbschiebehaft zu fliehen,stürzte der 28 Jahre alteMongole AltankhouDagwasoundel in der Nachtzum 30. August 2000 in Kö-penick in den Tod.

Wir gedenken ihrer und forderngleichzeitig von der Politik undder Bundesregierung, die ge-samte skandalöse Praxis derAbschiebungshaft auf den Prüf-stand zu bringen. Diese Praxisgehört abgeschafft. Die Gewöh-nung an Unrecht muss endlichein Ende haben.Sie alle hätten nicht sterbendürfen – und sie hätten nichtsterben müssen –, wenn rechts-staatliche und menschenrecht-liche Grundsätze und Mensch-lichkeit den Umgang Deutsch-lands und seiner Behörden ge-genüber Flüchtlingen bestim-men würden und nicht einerechtlich abgesicherte, ‘demo-kratisch’ legitimierte Erniedri-gung von Menschen. Freiheits-entzug ohne Straftatbestand,das gesamte gegenwärtige Sy-stem der Abschiebungshaft istfür einen sich als rechtsstaatli-che Demokratie definierendenStaat in jedem Fall wohl das ekla-tanteste und empörendste Bei-spiel eines institutionellen staat-lichen Rassismus in Deutsch-land.Diese Toten im Abschiebe-Ge-wahrsam oder aus Angst vor ih-rer Abschiebung sind nicht nurFolge verschärfter Asylgesetzedurch die Vorgängerregierung;

sie werfen vielmehr auch eingrelles Licht auf die Kontinuitäteiner Politik der Abwehr, Aus-grenzung und Kriminalisierungvon Flüchtlingen unter Rot-Grün. Die über 35 Toten seitdem Regierungswechsel imHerbst 1998 sind auch eine „An-klage“ gegen die rot-grünenNachfolger, die sich – wider bes-seren Wissens und gegen ihreeigenen Versprechungen, u.a.im Koalitionsvertrag von 1998 –bisher zu keiner Korrektur andiesem zermürbenden und töd-lichen System der Abschie-bungshaft und der Abschiebe-praxis durchringen konnten.Die Einwanderungs- undFlüchtlingspolitik, wie sie heutesowohl von der Regierungskoa-lition wie von der Oppositionkonzipiert wird, soll einerseitsRassismus zurückdrängen, an-dererseits produziert diese Po-litik immanent ständig Rassis-mus, vor allem in Gestalt desinstitutionellen Rassismus, derüber ‘Sonder’-Gesetze, Maß-nahmen, Verordnungen und Er-lasse – also scheinbar nachRecht und Gesetz, demokra-tisch legitimiert – daherkommtund zu Rechtlosigkeit, Armut,Krankheit, Retraumatisierung,Fremdbestimmtheit, zu Ableh-nungen und Anfeindungen, inVerzweiflung und Perspektiv-losigkeit führt.Von einem Innenminister, derglaubt, Rassismus und Rechts-extremismus allein durch die Zi-vilcourage der Bürger/Innen ein-dämmen zu können, ist zumin-dest selbst soviel an eigenerCourage zu erwarten, dass er –als Innenminister – wenigstensdas hält, was er als oppositio-neller Abgeordneter verspro-chen hatte: „... Abschiebungs-haft muss rechtsstaatlichen undhumanitären Grundsetzen ge-nügen. Leider entspricht diegängige Abschiebepraxis diesenAnforderungen allzu häufignicht. Das müssen wir ändern.Nicht zuletzt mahnen uns die tra-gischen Todesfälle in der Ab-

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schiebehaft, die Abschiebe-praxis zu überprüfen. Die Men-schenrechte sind unteilbar,auch bei uns zuhause.“ (Schilyin „Die Woche“, 24.3.95)Der Tod Cemals war ein „Zei-chen an der Wand“, ein letztesverzweifeltes Zeichen an diePolitik, innezuhalten und umzu-kehren. Die Verantwortlichenhaben dieses Zeichen nicht ver-standen und keine Lehren ausseinem Tod gezogen. Die ver-hängnisvolle institutionelle Maß-nahmepolitik gegen Flüchtlingenahm ihren unheilvollen Lauf.Die deutsche Asylpolitik ist fürviele Flüchtlinge zum Inbegriffeiner amtlich legitimierten Her-absetzung und „Entwürdigung“von Menschen geworden – Aus-druck einer demokratisch abge-sicherten, rechtlich verbrämtenMenschenverachtung.Der Kampf gegen Rassismus,der Schutz der Menschenwürdebeginnt bei den Rahmenbedin-gungen, bei den politischen undrechtlichen Vorgaben für bzw.gegen Flüchtlinge und Minder-heiten und Migrant/Innen in die-sem Land. Erst die Defizite undMängel in diesem Bereich, dasWegsehen, Verdrängen undBagatellisieren der Politik ermu-tigen rechtsextremistische Täterund geben ihnen das Gefühl, inÜbereinstimmung mit einemMehrheitskonsens zu handeln.Um die Schutzlosigkeit undRechtlosigkeit der Flüchtlinge zuüberwinden, ist die Politik des-halb gefordert, durch gesetzge-berische Maßnahmen sicherzu-stellen, dass sie niemals mehrals Menschen zweiter Klassebehandelt werden können.

Deshalb müssen wir heute er-kennen, dass auch die Demo-kratie, der freiheitlich-demokra-tische Rechtsstaat brüchig wird,wenn Schutz und Hilfe suchen-de Menschen das, was ihnen inDeutschland nach der Fluchtwiderfährt, als unerwartete Fort-setzung erlebter Schikanen undVerletzungen im Herkunftsland

erfahren müssen. Eine Demo-kratie wird brüchig, wenn einempolitischen Flüchtling sein Tod indiesem freiheitlich-demokrati-schen Rechtsstaat als letzterund einziger Weg in die Freiheiterscheint.Es ist an der Zeit, dass die Zivil-gesellschaft bewusster, hellhö-riger, sensibler, wachsamer undwiderständiger wird, wenn mitden Mitteln des Rechts oderdurch rassistisch geprägte Son-dergesetze die systematischeAusgrenzung von Menschenbetrieben wird. Cemal Altuns Todmahnt uns noch entschiedenerund offensiver, die Strukturenund Mechanismen von Aus-grenzungs- und Diskriminie-rungsstrategien anzuprangernund zu bekämpfen, auch wennsie von der Politik verschleiert,geleugnet und mit dem Hinweisauf Mehrheitsentscheidungenauch noch gerechtfertigt wer-den.„Die Ignoranz der Justiz und derOpportunismus der Bundesre-publik Deutschland waren stär-ker als sein Durchhaltevermö-gen und unser Engagement“hieß es in der Traueranzeige fürCemal Kemal Altun. Im Geden-ken an Cemal Altun und Hunder-te von Flüchtlingen, welche inDeutschland Freiheit und Zu-flucht suchten und den Tod ge-funden haben, erklären wir: Wirwerden mit aller Entschiedenheitgegen den rassistischen Bazil-lus in Politik und Gesellschaftkämpfen und niemals mehr zu-lassen, dass sich die Ignoranzvon Politik und Justiz und derOpportunismus der politischVerantwortlichen gegen dieMenschenwürde und die Men-schenrechte durchsetzen kön-nen!Cemal Kemal Altuns Vermächt-nis ist und bleibt uns Verpflich-tung im Kampf um eine bessereWelt, für Demokratie und Men-schenrechte gegen jede Formeines offenen und institutionel-len Rassismus und für eine hu-mane Flüchtlingspolitik!

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Antidiskriminierungsgesetz

Rechtliche Gleichbehandlungund Schutz vor Diskriminierungsind Menschenrechte und damitVoraussetzung für eine demo-kratische Gesellschaft.In diesem Sinne hat die Euro-päische Union ein deutlichesSignal zur Verbesserung desRechtschutzes der von Diskrimi-nierung Betroffenen gesetzt.(Dies geschah auf der Grund-lage des Artikels 13 des EG-Ver-trages in der Fassung des Am-sterdamer Vertrages mit denEU-Richtlinien zur Gleichbe-handlung „ohne Unterschiededer Rasse1 oder der ethnischenHerkunft“ (Richtlinie 2000/43/EG) sowie zur „Verwirklichungder Gleichbehandlung in Be-schäftigung und Beruf“ (Richtli-nie 2000/78/EG).)Doch tut sich die Bundesregie-rung schwer mit der Umsetzungin die deutsche Gesetzgebung(Fristen: 19.7. und 10.12.2003).Bisher gab es lediglich einenkabinettsreifen Gesetzentwurfzur Verhinderungen von Diskri-minierung im Zivilrecht (Dezem-ber 2001), der am Widerstandunterschiedlicher Interessen-

gruppen, wie Kirchen, Versiche-rungen und Banken, scheiterte.Somit ist Deutschland nach wievor europäisches Schlusslichtbei der Einrichtung einer umfas-senden Antidiskriminierungs-gesetzgebung. Dieses gilt insbe-sondere im Hinblick auf Benach-teiligungen durch Privatper-sonen aus rassistischen Moti-ven.Folgende Instrumentarien sindin den EU-Richtlinien zur Umset-zung des Gleichbehandlungs-grundsatzes vorgesehen:n Mit der Beweislasterleich-

terung wird der schwäche-ren gesellschaftlichen Posi-tion von Diskriminierungs-opfern im Vergleich zur Ge-samtbevölkerung Rechnunggetragen.Die/der Betroffene muss imStreitfall durch Tatsachenglaubhaft machen, dasseine Diskriminierung vor-liegt. Dann liegt es an derbeschuldigten Person/Orga-nisation zu beweisen, dassseiner-/ihrerseits nicht dis-kriminiert wurde. Jedoch istdie Glaubhaftmachung fürdie Betroffenen in der Pra-xis oft schwierig, z.B. wennkeine Zeugen gefundenwerden, die öffentlich aus-sagen wollen.

n Daher soll der Schutz vorViktimisierung geregeltwerden.Das bedeutet, dass niemandeinen Nachteil erleiden darf,weil er als Kläger oder Zeu-ge in einem gerichtlichenVerfahren oder bei einer Be-schwerde aufgrund einesDiskriminierungstatbestan-des auftritt.

n Ebenfalls müssen Betroffe-ne bei der Durchsetzung ih-res Anspruches auf Nicht-diskriminierung die Unter-stützung durch Organisatio-nen und Verbände bekom-men. Durch das Ver-bandsklagerecht wird ih-nen die Möglichkeit gege-ben, Klage einzureichen. Siekönnen sowohl als Vertretereinzelner Betroffener, alsauch gegen diskriminieren-de Maßnahmen generellenCharakters agieren. DiesesRecht soll für alle Verbände/Organisationen gelten, diesich laut Statuten als In-teressenvertreter der durchdieses Gesetz geschütztengesellschaftlichen Gruppenverstehen.

n Die Sanktionierung vonVerstößen gegen denGleichbehandlungsgrund-satz muss verhältnismäßig,wirksam und vor allem ab-schreckend sein.Diese beinhaltet ausdrück-lich die Leistung von Scha-densersatz an Betroffene,wenn sich die Beschuldigtendem Gleichbehandlungs-grundsatz entziehen.

n Zusätzlich zu den beschrie-benen Maßnahmen soll eineNormbereinigung durch-geführt werden.Das bedeutet, dass alle gel-tenden (gesetzlichen) Re-gelungen, Verträge, Satzun-gen etc. darauf hin überprüftwerden müssen, inwiefernsie diskriminierenden Inhaltssind, und dementsprechendabgeschafft oder verändertwerden müssen.

Ohne LobbyEin Antidiskriminierungsgesetz für Deutschland

Hartmut Reiners

6 DISS-Journal 12, 2004

1 Der Begriff „Rasse“ ist insbesondere ineinem Antidiskriminierungsgesetz fehl amPlatz und sogar Teil des Problems, zumin-dest im deutschen Sprachraum. Im inter-nationalen, besonders im englischsprachi-gen Sprachgebrauch wird „Rasse“ alspolitische Kategorie verwendet und be-zeichnet die Zielgruppe von Rassismusund fand deshalb Eingang in denRichtlinientext. Im deutschsprachigenRaum hingegen wird Rasse ausschließ-lich als biologisches Konzept verwendet.Die Verwendung des Begriffes stellt so-mit die Übernahme einer rassistischenPosition dar. Für die Umsetzung in die deut-sche Gesetzgebung ist eine Aufzählungrassistischer Diskriminierungsmerkmalevorzunehmen wie z.B. Hautfarbe, Spra-che oder äußere Erscheinung vorzuneh-men.

Antidiskriminierungsgesetz

Die Richtlinie 2000/43/EG weistdie eklatante Schwäche auf,dass sie die Diskriminierung vonNicht-EU-Ausländern aufgrundihrer Staatsangehörigkeit oderihres Aufenthaltstatus nicht ab-deckt. Somit bleibt die Existenzdes Ausländergesetzes mitsamtder rassistischen Abschiebe-praxis davon unberührt.Gleichwohl gibt es zur Schaffungeines wirksamen Schutzes vorDiskriminierung, der sich aufnahezu alle sonstigen gesell-schaftlichen Bereiche bezieht,keine Alternative. Sie kann ei-nen wichtigen Beitrag zurSichtbarmachung und Bekämp-fung des in Deutschland imma-nenten strukturellen Rassismusleisten.Dennoch ist es der Bundesre-gierung bisher nicht gelungen,

die EU-Richtlinien auch nur in ei-nem Rechtsbereich umzuset-zen. Dieses liegt in der man-gelnden Interessenvertretungder in den Richtlinien genann-ten Gruppen, insbesondere derMigrantinnen und Migranten be-gründet.Die allgemeine Akzeptanz derrassistisch motivierten Kampag-ne gegen die Neuregelung desStaatsangehörigkeitsrechtes imJahre 1999, aber auch die bis-herige Verhinderung des kom-munalen Wahlrechtes für Aus-länder zeigen, dass der Teilha-be und Gleichstellung von Min-derheiten als grundlegendesPostulat für eine gerechte Ge-sellschaft in Deutschland kaumBedeutung beigemessen wird.Damit einhergehend ist dienachhaltige Förderung einer ei-

genständigen Struktur von Anti-diskriminierungsarbeit nicht vor-handen und politisch offensicht-lich nicht opportun. Somit istauch nicht verwunderlich, dassaus der Perspektive der poten-tiell Betroffenen Diskriminierungein Alltagsphänomen ist, mitdem es sich zu arrangieren gilt,ohne den Rechts- oder auchnur den Beschwerdeweg einzu-schlagen. Eine politische Mobi-lisierung gegen Diskriminierungals Verletzung von Menschen-rechten und Verhinderung vonPartizipation ist in nur sehr ge-ringem Maße festzustellen.Somit ist die Lobby gegen einAntidiskriminierungsgesetz er-heblich besser organisiert alsdas Engagement für entspre-chende Regelungen zur Umset-zung des völkerrechtlich formu-lierten Gleichbehandlungs-grundsatzes.Um einen Beitrag zur größerenVerbreitung der Kenntnis derEU-Antidiskriminierungspolitikund ihrer Bedeutung für diedeutsche Gesellschaft zu leistenund Druck auf die Bundesregie-rung zur zügigen und umfassen-den Umsetzung auszuüben, ha-ben die Antidiskriminierungs-stellen in NRW die Kampagne„Leben ohne Rassismus“Antidiskriminierungsgesetzjetzt!“ gestartet.(Mehr Informationen unter www.NRWgegenDiskriminierung.de)

Hartmut Reiners, Diplom-Sozial-wissenschaftler, Mitarbeiter im Anti-diskriminierungsprojekt (Gefördertvom Ministerium für Gesundheit, So-ziales, Frauen und Familie NRW)vom Anti-Rassismus Informations-Centrum, ARIC-NRW e.V. (www.aric-nrw.de)

DISS-Journal 12, 2004 7

Siegfried Jäger

Paradoxe Entschärfungenim Interesse der Nation

Der Einwanderungsdiskurs nach dem 11.09.20011

Es ist vielfach vermutet worden, dass sich der Ein-wanderungsdiskurs nach den Terroranschlägenvom 11.09.2001 erheblich verschärfen würde. Be-fürchtet wurde, dass sich dieses schreckliche Er-eignis auf das allgemeine Bild der Einwanderer,insbesondere islamischer Herkunft, äußerst ne-gativ auswirken würde.

So heißt es etwa im jüngsten Jahresbericht der„Europäischen Stelle zur Beobachtung von Ras-sismus und Fremdenfeindlichkeit“ (EUMC) (lautFR vom 11.12.2002), die „Fremdenfeindlichkeit“nehme in Europa zu, die Medien berichteten oft-mals wenig differenziert über Ausländer und tole-rierten rechtsextremistische Äußerungen. Frem-denfeindlichkeit habe nach dem 11.09.2001 in derEU „wegen der verstärkten Angst vor dem Islamneue Dimensionen“ angenommen. Journalistin-nen seien oft dazu übergegangen, „Spannungenzwischen inländischen und ausländischen Schich-ten der Bevölkerung“ zu schüren und damit „Un-sicherheit und Polarisierung“ zu verstärken. Sen-sible Themen wie Asyl und Einwanderung wür-den von den Medien „hitzig“ und „sensationslü-stern“ aufbereitet. Viele Journalistinnen präsen-tierten Bilder, die Ressentiments verstärken: Frau-en mit Kopftüchern oder Kinder auf dem Weg zurKoranschule. Begriffe wie ‘Einwanderungswelle’fielen, Bilder von „bedrohlichen Menschenmen-gen“ träten zu Hauf auf.

Diese Feststellungen der Wiener Beobachtungs-stelle gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeitgelten bei verschiedenen Konjunkturen für dieZeit zwischen 1980 und 1998 durchaus, wie auchunsere Analysen zu Politik, Medien und Alltag ge-zeigt haben. Doch für die Entwicklung des The-mas Einwanderung nach dem 11.09.2001 lohnteine differenziertere Betrachtung!2

Nach dem 11.09.2001 gibt es zu den Diskurs-strängen „Terror“ und „Einwanderung“ die folgen-den Themenschwerpunkte:

1. Die Berichterstattung zum Anschlag selbst undzur Gefährlichkeit und zu den Netzwerken desTerrorismus in der ganzen Welt, insbesondereaber auch mit Bezug auf Deutschland,

2. das neue Einwanderungsgesetz,

3. die vor dem 11.09.2001 abgehandelten The-men (Kosten, Abschiebung, Kriminalität etc.)tauchen allesamt in der einen oder anderenVariante immer wieder auf, was auch nicht wun-dert, denn einmal etablierte Diskurse brechennicht einfach ab, sondern sie verfügen in derRegel über eine ziemliche Stabilität.

Das Thema Terror beherrschte seit dem Anschlagin New York und Washington die Medien in dereinen oder anderen Form durchgängig und ziehtsich bis in die unmittelbare Gegenwart durch. So

8 DISS-Journal 12, 2004

1 Zusammenfassung eines Vortrags auf dem 9. Bundeskongressfür politische Bildung am 07.03.2003 in Braunschweig. Eine aus-führliche Darstellung der Ergebnisse eines diskursanalytisch ver-fahrenden Projekts ist in Planung.

2 Diese beruht auf der Beobachtung von mehreren großen deut-schen Tages- und Wochenzeitungen, die im Zeitraum nach dem11.09.2001 bis in die Gegenwart erschienen sind, insgesamtetwa 1000 Artikel zu den Themen Terror einerseits und Einwan-derung andererseits.

Einwanderungsdiskurs

Einwanderungsdiskurs

widmen sich jeweils etwa 10 Ausgaben von SPIE-GEL und FOCUS mit Titel und Titelthema dem The-ma „Terror/Terroristen und ihre Bekämpfung“(ohne die Titel zu Afghanistan und Irak). Einhelligwird der Terror gebrandmarkt, und ein dahinterstehender religiöser Fanatismus konturiert dasFeindbild Islam.

Doch es werden auch eher moderate Töne laut,selbst in der BILD-Zeitung. Hier heißt es wenigeTage nach den Terroranschlägen, am 16.09.2001,nachdem über Anpöbeleien gegen arabischeMenschen in Deutschland berichtet wurde: „DasLetzte, was wir jetzt brauchen, ist ein Kampf derKulturen. ... Das Allerletzte sind Mit-Christen, dienun zum Feldzug gegen den Islam blasen undden weltweiten Schock nutzen, um auf den Flam-men des Infernos von New York ihr heuchlerischesSüppchen zu kochen. In Deutschland gibt es rund2,7 Millionen Moslems. Sie pauschal mit Terrorund Fanatismus gleichzusetzen, widerspricht nichtnur den Tatsachen, sondern auch der zentralenGrundlage des christlichen Glaubens. ‘Du sollstnicht falsch Zeugnis reden’ ist ein wichtiges derzehn Gebote!“

Das mediale Feindbild gegenüber Moslems undanderen Einwanderinnen in Deutschland hat sichentgegen den Erwartungen vieler nach dem11.09.2001 somit keineswegs verschärft, im Ge-genteil. Das liegt zum einen durchaus auch dar-an, dass in den Jahren davor, also etwa seit demRegierungswechsel von 1998 bereits ein mode-raterer Diskurs entstanden war. Es gab den vonden Medien der Mitte lebhaft unterstützten Aufrufzum Aufstand der Anständigen; es gab eine Fül-le von öffentlich unterstützten Initiativen und Pro-jekten gegen Rassismus und Rechtsextremismus.Damit etablierte sich im Alltag und auch in denMedien ein moderaterer Einwanderungs-Diskurs,der offensichtlich eine gewisse Stabilität erlangteund der nicht mit dem 11.09.2001 plötzlich ver-schwand. Die vordem zu beobachtenden sensa-tionslüsternen Kollektivsymbole (‘Fluten’ von Ein-wanderern, volle ‘Boote’ etc.), hitzige Feindbilderu.ä. tauchten deutlich seltener auf.

Auch haben die meisten Medien nach dem11.09.2001 tendenziell vor Alarmismus und Hy-sterie gewarnt. Zwar verstärkte sich ein FeindbildIslam mit Schwerpunkt auf einem islamistischenFundamentalismus. Eine den Einwanderungs-diskurs generell verschärfende Verschränkungdes Einwanderungsdiskurses mit dem Diskurs Is-lam und daraus resultierende zusätzliche rassi-stische Effekte waren jedoch nicht zu beobach-ten.

Die Zurückdrängung des medialen und damit auchdes alltäglichen Rassismus3 hatte jedoch ihrenPreis: ein sog. Zuwanderungsgesetz, das Einwan-derung so sehr begrenzt, wie es sich rechts-konservative und rechtsextreme Kreise nur wün-schen konnten und welches ausländerfeindlicheRessentiments nahezu restlos befriedigte.4

Obwohl mit einem Gesetz, das Einwanderung re-gelt, anerkannt wird, dass Deutschland ein Ein-wanderungsland ist und obwohl dieses Gesetzdurchaus einige wenige Zuzugserleichterungengegenüber den vorangegangenen Bestimmungenenthält, etwa dass Opfer nichtstaatlicher und ge-schlechtsspezifischer Verfolgung künftig alsFlüchtlinge anerkannt und Härtefallkommissioneneingerichtet werden sollen, gibt es aber danebenim Gesetzesentwurf zahlreiche Verschlechterun-gen gegenüber den bisherigen Regelungen undPraxen, die ja nun auch nicht sonderlich fortschritt-lich waren.5

Doch die CDU/CSU forderte nach dem Karlsru-her Bescheid, durch den der Gesetzesentwurfvorläufig zurückgestellt wurde, insgesamt 137Änderungen, bei denen es sich jedoch größten-teils um absolute Kleinigkeiten und Kleinlichkeitenhandelte, die aber den Entwurf nicht im Kern be-rühren.6 Die Absicht ist eindeutig: die Unionspar-teien wollen sich das bewährte (Wahlkampf)-Dauerthema nicht nehmen lassen.

Ein erstes Fazit lautet daher: Der rot-grünen Re-gierung ist es zwar gelungen, das wahlkampf-sensible Thema ein Stück weit zu neutralisieren.So schreibt denn auch Pro Asyl: „Der Bundes-tagswahlkampf (2002 S.J.) blieb weitgehend freivon fremdenfeindlichen Parolen...“7 Dies geschahjedoch zu Lasten demokratischer Einwanderungs-politik.

Ein weiteres Fazit kann gezogen werden: Rassis-mus ist zwar im öffentlichen Diskurs und im Alltagzurückgedrängt worden; dafür hat er sich aber inder Mitte der Gesellschaft weiter festsetzen kön-nen. Wir können davon ausgehen, dass ein insti-tutioneller Rassismus gestärkt worden ist unddurch das neue „Einwanderungsbegrenzungs-

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3 Dies zeigen auch Alltagsinterviews, die wir 2001 und 2003durchgeführt haben.

4 Vgl. dazu den Mitgliederrundbrief von Pro Asyl vom 14.02.2002.

5 Vgl. dazu Keßler 2002. Vgl. auch Pro Asyl 2003.

6 Die große Zahl der Änderungsforderungen täuscht über dentatsächlichen Dissens hinweg. Alle diese Forderungen enthal-ten zwar Verschärfungen, ohne aber den Gesetzesentwurf imKern zu tangieren.

7 In dem Mitgliederrundbrief vom 14.02.2003.

gesetz“, wie es offiziell bezeichnet wurde, vertieftwird.8 Doch gerade dieser Bereich wird in denstaatlich unterstützten Aktionen und Initiativengegen Rassismus weitestgehend ausgespart odergar geleugnet.

In einem Gutachten zu den Aktivitäten der Bun-desregierung heißt es: „Aus der Opferperspektivewissen wir um diskriminierende institutionelle Prak-tiken in Ausländerbehörden, Asyleinrichtungen,aber auch in Kommunalverwaltungen, Schulenund Kindergärten. Für diese institutionelleFremdenfeindlichkeit gibt es in den vorliegendenProgrammen keine Aufmerksamkeit.“9 Sie sind inaller Regel durch Verordnungen und Gesetze ge-deckt. Auf diese Weise ist Rassismus in der deut-schen Gesellschaft an der Oberfläche abge-schwächt und zumindest teilweise wegnormalisiertund institutionell weiter gestärkt worden.10 Das istauch der Grund, weshalb rechtsextreme Partei-en in Deutschland keine Chancen haben. In Sa-chen Einwanderung ist die Politik der ‘Mitte’ in-zwischen so konservativ bis rechtslastig, daßRechtskonservative und Rechtsextremisten da-mit nicht konkurrieren können.11 Umso wichtigersind daher auch weiterhin nicht-staatliche Initiati-ven und Protestformen.12

LiteraturJäger, Margarete / Kauffmann, Heiko (Hg.) 2002: Leben unterVorbehalt. Institutioneller Rassismus in Deutschland, DuisburgKeßler, Stefan 2002: Jubeln oder verzweifeln? Flüchtlings-bewegung und Zuwanderungsgesetz, in: M. Jäger/Kauffmann(Hg.) Duisburg, S. 279-288Lösche, Peter 2003: Europas Sozialdemokraten im Niedergang?Zum Zustand der SPD und ihrer europäischen Schwesterpartei-en, Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2003, S. 207-216Lynen van Berg, Heinz / Roth, Roland (Hg.) 2003: Maßnahmenund Programme gegen Rechtsextremismus, wissenschaftlichbegleitet. Aufgaben, Konzepte und Erfahrungen, OpladenPro Asyl 2003: Zuwanderungsgesetz: schlechter als sein Ruf,Frankfurt (Februar)Roth, Roland (unter Mitarbeit von Anke Benack) 2002: Bürger-netzwerke gegen Rechts. Evaluierung von Aktionsprogrammenund Maßnahmen gegen Rechtsextremismus und Fremden-feindlichkeit (Kurzfassung)

10 DISS-Journal 12, 2004

8 Zum Institutionellen Rassismus vgl. M. Jäger/Kauffmann (Hg.)2002

9 Roth/Benack 2002. Vgl. auch Lynen van Berg/Roth (Hg.) 2003.

10 Unter Verweis auf das geplante Gesetz dürfte sich zudem diePraxis der Behörden, die mit Einwanderern zu tun haben, weiterverschärfen.

11 Lösche konstatiert als Teil der Begründung für den Nieder-gang der europäischen Sozialdemokratie: „Themen sind ... an-gesagt, die sonst von Rechtspopulisten instrumentalisiert wer-den.“ (Lösche 2003, S. 212) Zu bedenken ist, dass alle rechtenParteien in Europa mit dem Thema Einwanderung punkten.

12 Ich verweise dazu auch auf den Beitrag von Heiko Kauffmannin dieser Ausgabe.

Einwanderungsdiskurs

Siegfried Jäger / Franz Januschek (Hg.)

Gefühlte Geschichte und Kämpfe um Identität

268 Seiten, 18,00 EURO, ISBN 3-89771-730-1, 2004

Was eine Nation zu einer solchen macht, ist seit lan-gem Gegenstand wissenschaftlichen und politischenStreits: Inwieweit Abstammung, gemeinsame Ge-schichte, gemeinsame kulturelle, rechtliche oder ge-sellschaftliche Ordnungen, gemeinsame Feinde oderauch nur der manifeste Wunsch nach Zusammenge-hörigkeit dafür entscheidend sind, darüber gibt es sehrunterschiedliche Auffassungen. Deshalb lohnt es sichder Frage nachzugehen, wie mit den Fragmenten derentsprechenden Diskurse gegenwärtig umgegangenwird, um kollektive Bindungen herzustellen oder zubewahren, die die machtvolle Durchsetzung partikula-rer Interessen befördern und die Perspektive einer ei-nigen Welt behindern. Dabei trifft man auf einen er-schreckenden Zynismus, mit dem auf diskursive Mu-ster zurückgegriffen wird, die ihre tödliche Brisanz oftgenug erwiesen haben und deren moralische Verur-teilung deshalb längst zum pädagogischen Allgemein-gut gehört.

Mit Beiträgen von Heinz Brüggemann, Annelie Bunten-bach, Björn Carius, Barbara Fried, Xavier Giró, Sieg-fried Jäger / Margarete Jäger, Franz Januschek, Hei-ko Kauffmann, Clemens Knobloch, András Kovács,Jürgen Link, Alfred Schobert und Christoph Weller

Bücher

Agenda 2010

Armut ist bei uns besiegt. Der Sozialstaat hat sieabgeschafft, verbannt in die dritte Welt und in dieGeschichten der Großeltern. Dies war bisher einerder Grundpfeiler des deutschen Sozialdiskurses,selbst dann noch, als der Sozialstaat ins Geredekam. Es ging ja immer nochum seine „Gesundung“, umseinen „Umbau“. Auch dieständigen Warnungen vonOppositionspolitikern vordem „Sozialabbau“ und vor„Armut“ waren Teil dieses ge-sellschaftlichen Konsenses.Auf den Wahlplakaten derSPD in den 90er Jahrendrohten daher nochZahnlückenträger vor denunsozialen Folgen derUnionspolitik. Heute findetRot-Grün nichts dabei, Mutzur Zahnlücke zu zeigen unddie Zahnarztkosten für Fami-lien zu vervielfachen. Ande-rerseits: Aus dem „Mut zurKrücke“ wurde - vorerst -nichts. Den Vorschlag desVorsitzenden der Jungen Uni-on, Hüftoperationen für Alteden Lohnnebenkosten zuopfern, finden fast alle immer noch entsetzlich.In den Debatten über die Reform des Sozialstaatesgibt es weiterhin Streit, Polemik, unterschiedlicheMeinungen sowie ein Publikum, das verärgert ist,aber das Feld dieses Meinungsstreites hat sichverschoben und ist aktuell an einem Punkt ange-kommen, an dem alle Parteien sich vorgenommenhaben „den betagten Wohlfahrtsdampfer ‚Deutsch-land’ zur Generalüberholung ins Trockendock zulegen.“ (Stern, 43/2003) Dort angekommen, wirdaus dem „Skandal Armut“ die Frage: „Armut? – Eskommt darauf an, was man daraus macht!“

Vom Rentner zum Sozialfall

Ein Beispiel: Die Situation älterer Arbeitnehmer hatsich im letzten Jahr deutlich verändert. Durch dieReform der Arbeitsmarktpolitik geraten Gruppen vonArbeitnehmern, die ihre bisherige Lebensplanungauf weitgehende gesellschaftliche Sicherheits-

versprechen aufbauen konnten, gleich mehrfachin Konfrontation mit Verarmungsrisiken.Im ungünstigsten Fall (wir legen dazu ein Potpour-ri der bekannten Modelle zugrunde) könnte einemheute 53jährigen folgendes passieren:

• Der Arbeitnehmer ist lang-jähriges Betriebsmitglied undwar unkündbar. Sein Le-bensabend schien einiger-maßen gesichert. Durch Ver-änderungen beim Kündi-gungsschutz kann er nunentlassen werden.• In der Arbeitslosigkeit an-gekommen, konnte er bisherzwei Jahre Arbeitslosengeldbeziehen. Jetzt nur noch einJahr.• Dann ging es in die Ar-beitslosenhilfe, jetzt direkt indie Sozialhilfe.• Ersparnisse fürs Alterkonnten lange geschütztwerden. Jetzt werden sie so-fort und verschärft auf dieArbeitslosenhilfe angerech-net.• Früher gab es zur Not Ar-

beitsbeschaffungsmaßnahmen und Qualifi-zierungsmaßnahmen, die den Rutsch in dieSozialhilfe aufhielten oder revidierten. Auchdas fällt weg.

• Früher war die Frühverrentung möglich. Jetztdroht dem Arbeitslosen möglicherweise einRentenalter von 67 Jahren oder mehr. Bis da-hin muss er sich unter Umständen mit Sozial-hilfe begnügen und auf die Rente warten.

• Dort angekommen, konnte er sich früher aufeine Rente freuen, die seinen Lebensunter-halt weitgehend gedeckt hat. Jetzt, wo er nichtsmehr eingezahlt hat und die privaten Notgro-schen vom Staat kassiert sind, kann der dannverarmte Ältere nur mit einer Sozialhilfe-Renterechnen, deren Höhe auch immer weiter ab-gesenkt wird.

Auch früher gehörten 53-jährige aus der Arbeits-welt ausgemusterte Menschen zu den „Überflüssi-

Die Normalisierung der ArmutUrsula Kreft / Hans Uske

DISS-Journal 12, 2004 11

Agenda 2010

gen“, sie wurden aber mit Hilfe sozialpolitischerPraktiken in den „verdienten Ruhestand“ überführt,durch Sozialplanregelungen, Frühverrentungs-modelle, auf diese Situation zugeschnittene Regelnbeim Arbeitslosengeld usw. Die alte Sozialpolitik hatsie als Rentner behandelt. Die neue „Agenda-So-zialpolitik“ sieht in ihnen nur noch kostentreibendeSozialfälle, die selber schauen müssen, wie siezurechtkommen. Armut ist zwar nicht das Ziel die-ser Sozialpolitik, wohl aber einer ihrer Effekte. Da-mit dies möglich ist, müssen Verarmungsrisikennormalisiert werden. Armut, bisher nur als Lebens-form der Menschen in den Sozialhilfeghettos, derGestrandeten und Gestrauchelten an den Rändernder Gesellschaft akzeptiert sowie als Lebensformallein erziehender Mütter (die zu 28,1% Sozialhilfebeziehen) und deren Kinder, muss in allen Berei-chen der Gesellschaft normal werden. Oder an-ders gesagt: Es geht um eine neue Form der ge-sellschaftlichen Wiedereingliederung der aus derWirtschaft Ausgeschlossenen.

Die wirtschaftlichen Gründe modernerVerarmungsprozesse

In seinem Aufsatz „Die Fallstricke des Exklusions-begriffs“ warnt Robert Castel davor, den Begriff der„Exklusion“ ins Zentrum der Analyse gesellschaftli-cher Ausschlussprozesse zu stellen. „Von Aus-schluss zu sprechen heißt, eine völlig negativeBenennung anwenden, die einen Mangel bezeich-net, ohne zu sagen, worin er besteht und woher erkommt.“ (Castel 2000, S.12) Tatsächlich habenmoderne Ausschlussprozesse ihren Grund in tief-greifenden Veränderungen von Wirtschaft und Ar-beit:• Die Ablösung tayloristischer Produktionskon-

zepte, die seit den 70er Jahren diskutiert undpraktiziert wird, verlangt einen anderen Typ vonArbeit: Der industrielle Massenarbeiter, dernach Anweisungen Detailarbeiten verrichtet,wird ersetzt durch den „selbständigen“ Arbeit-nehmer, der Zielvereinbarungen umsetzt. Ein-fache, angelernte (und daher austauschbare)Arbeit wird immer weniger nachgefragt. Sie wirdtendenziell überflüssig.

• Damit einher geht die Erosion des Normal-arbeitsverhältnisses. Es löst sich auf zugunstenneuer, häufig ungeschützter Arbeitsformen (be-fristete Beschäftigung, Leiharbeit, geringfügi-ge Beschäftigung, (Schein)-Selbständigkeit).Diese Beschäftigungsverhältnisse produzierenneue Verarmungsrisiken.

• Schlanke Produktionskonzepte, die sich aufsKerngeschäft konzentrieren und den Rest als

Dienstleistungen einkaufen, verändern dieUnternehmenslandschaft. Immer mehr Tätigkei-ten werden an Sub-Unternehmen vergeben, dieselber wiederum Sub-Unternehmen beschäfti-gen. Am Ende dieser Kette wächst die Zahl derEin-Personen-Unternehmen, inklusive des Er-folgsmodells „Ich-AGs“. Die Kehrseite dieses„Trends zur Selbständigkeit“ ist häufig derZwang zur Selbstausbeutung, hohe Verschul-dungs- und Konkursrisiken.

• Massenarbeitslosigkeit wird mehr denn je zurproduktiven Bedingung moderner Produktion.In den Zeiten des industriellen Massenarbeitersmusste Vollbeschäftigung nicht unbedingt zuPersonalengpässen führen. Der Wirtschaftstand im Prinzip ein globaler Arbeitsmarkt zurVerfügung, den sie durch Migration ausschöpf-te. In der nach-tayloristischen globalisiertenWirtschaft verengt sich das Arbeitskräfteange-bot durch die steigenden Anforderungen anQualifikationen und Kompetenzen des Perso-nals. Aus dem einen großen Arbeitsmarkt fürMassenarbeit wurden viele segmentierte Teil-märkte. Häufig herrscht daher Facharbeiter-mangel trotz Massenarbeitslosigkeit.

Diese gesellschaftlichen „Mega-Trends“ erklären,warum welche Exklusionsprozesse, wo und in wel-chem Umfang stattfinden, sie erklären aber nochnicht die Form, in der sie verwaltet werden. DieWiedereingliederung der Ausgeschlossenen erfolgtüber den Sozialdiskurs und die daran angeschlos-senen sozialstaatlichen Praktiken. Erst in der Zu-sammenschau der „Mega-Trends“ mit dem Diskurswird erklärbar, warum ein 53-jähriger „überflüssi-ger“ Arbeitnehmer früher als Rentner und heuteals Sozialfall behandelt wird.

Der Wandel des Sozialdiskurses

Der Sozialdiskurs der Bundesrepublik hat sich inden 80er und 90er Jahren deutlich verändert.

1. Bis Mitte der 80er Jahre verstand sich die Bun-desrepublik als Vollbeschäftigungsgesellschaft.Auch wenn sie diese immer weniger repräsentier-te, so blieb doch die Wiederherstellung der Vollbe-schäftigung das erklärte wichtigste politische Zielaller Parteien und Verbände. Dauerhafte Massen-arbeitslosigkeit galt als unerträglicher Skandal,unmittelbare Bedrohung und gesellschaftlichesKernproblem. Die 80er Jahre waren aber auch einJahrzehnt der Normalisierung. Massenarbeitslosig-keit wurde Teil der westdeutschen, später gesamt-deutschen Normalität. Skandalisierungen gab undgibt es zwar immer noch, sie betreffen aber nur

12 DISS-Journal 12, 2004

Agenda 2010

noch die Höhe der Arbeitslosenzahlen. Der Skan-dal tritt dann ein, wenn diese Zahlen „zu hoch“ sind,wobei das Maß der Normalität mit jedem Anstiegauf einen neuen „Sockel“ gewachsen ist. „Vollbe-schäftigung“ klingt heute wie ein Anachronismuseiner anderen Ära.

2. Der „Sozialstaat“ ist von der „Errungenschaft“zur „Fessel“ geworden. Das Programm der „Er-neuerung der Sozialen Marktwirtschaft“ der 80erJahre war noch begleitet von einer Rhetorik, diealle sozialen Lasten in ein Konzept des sozialenFortschritts einband. In den90er Jahren wurde dieserFortschritt selbst zum Pro-blem, der Begriff „Sozialstaat“beschrieb nicht länger nurökonomische Gegebenhei-ten, sondern diente zugleichals Chiffre für all jene Lebens-praxen und Haltungen, dieden Gesellschafts-Körper‘verfetten’ und ‘verweichli-chen’ könnten - die dauerhaf-te Zerstörung dieser Praxenwurde als Gemeinschaftsauf-gabe inszeniert. Das Bild derDeutschen als fette und fauleSchlaraffen, die sich im kol-lektiven Freizeitpark zu Todeamüsierten, wurde damalspopulär. Mitte der 90er Jahrehäuften sich die Befunde.Das Problem der Deutschensei ihre „fest verankerteSozialstaatsmentalität“ (FAZ, 20.5.1996), ihnen feh-le die „mentale Standortfähigkeit“ (Roman Herzog1996). Gebraucht werde eine Wende von der„Wohlfahrts- zur Risikomentalität“ (Die Welt,16.1.1996). Es gehe darum, „die Zähigkeit, mit derdie Deutschen an gewohnten - aber nicht mehrfinanzierbaren - Besitzständen kleben, (...) aufzu-weichen“ (Die Welt, 22.4.1996) und dadurch „derim Korsett des Sozialstaates sich dem Kreislauf-kollaps nähernden Gesellschaft Luft zu verschaf-fen“ (FAZ, 29.6.1996). Diese Problemsicht hat sichweitgehend durchgesetzt, auch wenn die heutigeAgenda-Rhetorik weicher daherkommt.

3. „Sozialabbau“ wird immer seltener skandalisiert.Allenfalls gilt die Sorge, dass es dabei „gerecht“zugehen soll. Dass es „Einschnitte“ geben muss,ist weitgehend konsensfähig, weil im Diskurs keineAlternativen zugelassen sind. Umverteilungskon-zepte waren zwar früher schon verdächtig, galtenaber immerhin als diskussionswürdig. Heute er-

scheinen sie als weltfremd. Daran ansetzendenGegen-Diskursen wird bestenfalls Sozialromantikbescheinigt. Sie haben keine Chance, als seriöswahrgenommen zu werden.

4. Missbrauchsdebatten und daran angekoppelteBekämpfungspraktiken sind seit jeher Teil desSozialdiskurses. Es gibt zwei Typen des Miss-brauchsvorwurfs:Im ersten Typus richtet sich der Missbrauchsvor-wurf gegen spezifizierte Gruppen, die kollektiv-symbolisch als „schwarze Schafe“ aus der großen

Herde der Anständigen iso-liert werden. Der Kampf ge-gen die „Unechten“ ist stetsvon der Versicherung beglei-tet, dass es auch „Echte“gibt. In dieser Form des Miss-brauchsvorwurfs werdenVerstöße gegen bestimmteNormen festgestellt, die derMissbraucher missachtet.Die „Ehrlichen“ dagegen er-halten ihre Sozialleistungenzu Recht; sie werden sogarin Broschüren und Beratun-gen aufgefordert, ihr Rechtin Anspruch zu nehmen.Im zweiten Typus gerät dernormale Gebrauch sozial-staatlicher Leistungen unterMissbrauchsverdacht. DassRentner immer älter werden,nicht mehr arbeiten und inUrlaub fahren macht sie ver-

dächtig, auf Kosten der Jungen zu leben. Die Rent-ner sind hier Missbraucher im Nachhinein, gemes-sen an jenen Opfern, die Erwerbstätige, kinderrei-che Familien und andere Gruppen zur Sicherungihrer Rente zu erbringen haben. Das Gleiche giltfür Kinderlose, die die Alterspyramide durcheinan-der bringen, mitunter aber auch für Kinderreiche,die unvernünftigerweise kleine Sozialhilfeempfän-ger in die Welt setzen. Alleinerziehende könnenunter Missbrauchsverdacht geraten, weil sie sichmöglicherweise leichtfertig haben scheiden lassen,ebenso Kranke, wenn sie zu häufig zur Kur fahren.Beide Missbrauchstypen sind Teil des Sozial-diskurses. Es fällt aber auf, dass der zweite Typusseit den 90er Jahren immer dominanter wird.

Die Chancen einer unpopulären Reform

Trotzdem haben alle diese Veränderungen es bis-her nicht wirklich vermocht, die Betroffenen davonzu überzeugen, dass der geplante Opfergang an

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„Die anderen Meinungen, dieohnmächtige Wut von Betroffe-nen, die auf Demonstrationen,

in Leserbriefen, in den diversenO-Tönen der Medien oder in

Alltagsgesprächen stattfinden,sind natürlich ein Problem, dasgelöst werden muss. Aber dafürzeichnet sich eine Strategie ab,die bis zur nächsten Bundes-

tagswahl durchaus greifenkönnte. Sie enthält vier Elemen-

te: Unterscheidung, Anerken-nung, Gerechtigkeit und Nut-

zen.“

Agenda 2010

ihnen eine Wohltat vollbringt. Die christlich-libera-le Regierung wurde abgelöst, weil die Wähler inRot-Grün eine Alternative zu den neoliberalen Här-ten vermuteten. Schröder wurde wiedergewählt, weiler eine Politik versprach, die keinem richtig weh-tat.Warum veranstaltet die SPD also heute ein Reform-werk, das ihre Umfragewerte in den Keller drückt,ihre Parteimitglieder aus der Partei treibt und wü-tende Proteste hervorruft? In dem Leitantrag desSPD-Parteivorstandes zum Sonderparteitag in Ber-lin, der den Titel trägt „Mut zur Veränderung“, wirddie Frage plausibel beantwortet:„Die Alternative ist eindeutig: Entweder wir moder-nisieren unsere soziale Marktwirtschaft oder wirwerden modernisiert, und zwar von den unge-bremsten Kräften des Marktes, die das Sozialebeiseite drängen.“Man könnte einwenden, dies sei die Strategie,Selbstmord zu begehen, um den Tod zu vermei-den, aber das trifft die Sache nicht. Tatsächlich for-muliert die Partei an dieser Stelle nur die Resultatedes Sozialdiskurses, eine ökonomisch-soziale Ver-nunft, die in den Medien, der Fachwelt und derPolitik von niemandem ernsthaft in Frage gestelltwird. Ein Kanzler, der gegen diesen geballten Sach-verstand frühere Wahlversprechen wahr macht, hatbei der nächsten Wahl verloren. Ein Kanzler, derden Sozialabbau durchführt, hat immerhin dieChance, als Tatenmensch 2006 vom Wähler be-lohnt zu werden. „Wenn die Bürgerinnen und Bür-ger mitbekommen, dass es eine vernünftige Alter-native zu diesen Umbaumaßnahmen, die ja in ganzEuropa gegenwärtig diskutiert und entschiedenwerden, nicht gibt, dann werden sich auch Umfra-gen wieder ändern.“ (Schröder in der ARD) Dieanderen Meinungen, die ohnmächtige Wut vonBetroffenen, die auf Demonstrationen, in Leser-briefen, in den diversen O-Tönen der Medien oderin Alltagsgesprächen stattfinden, sind natürlich einProblem, das gelöst werden muss. Aber dafür zeich-net sich eine Strategie ab, die bis zur nächstenBundestagswahl durchaus greifen könnte. Sie ent-hält vier Elemente: Unterscheidung, Anerkennung,Gerechtigkeit und Nutzen.

Die Wiederherstellung des Unterschieds

Weil die „Reform“, also der Sozialabbau, politischerKonsens ist, funktioniert die Abgrenzung zwischenRegierung und Opposition nicht mehr richtig. In denMedien führt das häufig zu der Forderung: Setzteuch doch endlich zusammen und vollendet ge-meinsam das Reformwerk. Doch so einfach ist dasnicht. Für die Regierung und für die Opposition istdie Reform in erster Linie ein Mittel, um die Regie-

rungsgewalt zu behalten bzw. zu bekommen. Dazumüssen sie sich abgrenzen. Die SPD muss sichunterscheiden, herausstellen, dass es sich bei denUnionsvorschlägen um „maßlose Angriffe auf denSozialstaat handelt“. Z.B. so:„Das unterscheidet uns doch von unserer politi-schen Konkurrenz. Für CDU und FDP ist die Priva-tisierung gewissermaßen Selbstzweck. Die ande-ren denken nur an diejenigen, die ohnehin von al-leine zurechtkommen. (…) Wir werden, auch dasunterscheidet uns von den anderen, das Prinzipder solidarischen Absicherung von Lebensrisikenniemals preisgeben. Sozialer Rechtsstaat heißt füruns eben auch Ausgleich zwischen Jungen und Al-ten, Erwerbstätigen und Rentnern, Gesunden undKranken.“ (Schröder im Vorwärts, 25.10.2003)

Am Horizont künftiger Wahlkämpfe erscheint da-her eine Strategie der Neubesetzung des „Sozia-len“. Die Vorschläge der Herzog-Kommission las-sen sich von denen der Rürup-Kommission unter-scheiden. Die Varianten des Sozialabbaus lassensich daher begrifflich neu besetzen. Ziel könntedann die Wiederherstellung der alten Polarität „So-zialer Ausgleich“ (SPD) versus „Soziale Grausam-keit“ (CDU) auf neuem Niveau sein.

Armut und Anerkennung

Ein paar Tage nach der beschlossenen Renten-kürzung wandte sich die Bundesministerin für Ge-sundheit und Soziale Sicherung, Ulla Schmidt, ineiner Zeitungsanzeige an die Betroffenen:„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Rent-nerinnen und Rentner, in Deutschland sind wir zu-recht stolz darauf, dass die Älteren bei uns in Wür-de leben können. Das soll so bleiben. (…) Wer nureine niedrige Rente hat, für den haben wir eineGrundsicherung ab dem 65. Lebensjahr geschaf-fen. Dadurch werden diese niedrigen Renten auf-gestockt, und niemand wird sich schämen müssen,wenn er diese Grundsicherung in Anspruch nimmt.Das ist kein Almosen, sondern darauf bestehtRechtsanspruch.“Tatsächlich hatten Rentner auch früher schon ei-nen Rechtsanspruch auf Sozialhilfe. Aber Sozial-hilfe stigmatisiert. Sozialhilfe erscheint als Almosen,verweist die Opfer symbolisch „an den Rand“ derGesellschaft. Umbenannt in Grundsicherung ist derSozialhilfebezug gesellschaftlich anerkanntes Ein-kommen, das bescheidene, aber immer noch wür-devolle Ende einer etwas missglückten Normal-biographie in unserer Mitte. Die Normalisierung derArmut verzichtet auf Schuldzuweisungen. Armut ist,wie früher bei den verarmten „Kriegsversehrten“und den verwitweten „Trümmerfrauen“ der Nach-

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Agenda 2010

kriegszeit „Schicksal“, Grund für Gesten der Wür-digung, der Anerkennung der Lebensleistung.

Die Wiederherstellung der Gerechtigkeit

Der Haupteinwand, den die meisten Leute gegenden Sozialabbau haben, ist, dass er nicht gerechtund ausgewogen stattfindet. Junge Menschen sindder Meinung, für die Rentner zu bluten, Rentnersind der Meinung, jahrzehntelang gearbeitet zuhaben, und jetzt um die Lebensleistung betrogenzu werden. Kinderreiche sind verbittert, weil Kin-derreichtum arm macht, Kinderlose, weil sie diehöchsten Steuern bezahlen, Kranke, weil sie dasSchicksal mit Krankheit und immer höheren Kostendoppelt bestraft, Gesunde, weil sie immer mehrGeld zahlen für Leistungen, die sie nicht in An-spruch nehmen, Arbeitslose, weil sie immer härte-ren Zumutungen ausgesetzt sind, Beschäftigte, weilsie für immer weniger Lohn alles bezahlen müs-sen. In den Debatten über den Sozialabbau wer-den Vergleiche angestellt, und die fallen interesse-geleitet für den Vergleichenden ungünstig aus. Sosind wir denn alle – je nach Standort – Ausbeuterund Ausgebeutete.Angesichts dieser vielfältigen Interessenlage ist dieKonstruktion von „Gerechtigkeit“ im Diskurs überden Sozialabbau ein schwieriges Geschäft. Gleich-wohl muss es „gerecht“ zugehen, denn nur so kön-nen Opfer akzeptiert werden. Wer „Soziale Gerech-tigkeit“ verspricht, muss nachweisen, dass alleBeteiligten mitmachen, niemand auf Kosten derGemeinschaft „sein Süppchen kocht“.Die Gemeinschaft, das Soziale, muss daher per-manent symbolisch gereinigt werden vom Asozia-len. Die immer wieder neu organisierte Enttarnungvon Drückebergern, Sozialschmarotzern und Fau-lenzern ist eine Form der Sozialabbau-Hygiene,Beweis und anschließende Genugtuung, aberSisyphosarbeit.Deshalb gibt es jedes Jahr neue, mediengerechtinszenierte Beispiele. In diesem Sommer ging „Mi-ami-Rolf“ durch die Medien - „Ihm zahlt das Sozial-amt die schöne Wohnung am Strand von Miami.“(BILD) sowie „Viagra-Kalle“ - „Jeden Tag eineViagra-Pille gratis vom Sozialamt? Müssen wir Steu-erzahler denn für alles blechen?“ (BILD)Wegen „Miami-Rolf“ wurde schnell ein Gesetz ge-ändert, und nach Ärger mit dem Sozialamt titeltedie BILD-Zeitung im zweiten Fall: „Viagra-Kalle lässtden Kopf hängen“. Parallel dazu forderten etlichePolitiker wieder einmal „härtere Zumutbarkeits-gesetze“ ein, die längst bestehen. Neu war allen-falls der Vorschlag von Wirtschaftsminister Clement,Drückebergern künftig nur noch Sachleistungen

auszuzahlen. Entsprechende Erfahrungen mit demAsylbewerberleistungsgesetz liegen ja vor.

Der Nutzen der Armut

Wenn ein Unternehmen kurz vor dem Konkurs steht,ist es für die Beschäftigten durchaus sinnvoll, aufTeile des Lohns, 13. Monatsgehalt, kurze Arbeits-zeiten und marode Betriebsteile samt Belegschaf-ten zu verzichten. Das ist immer noch besser alsdie Arbeitslosigkeit. Auch Betriebsräte und Gewerk-schaften sehen das ein und schließen mit den Un-ternehmen entsprechende Vereinbarungen.Wenn nun die „Deutschland AG“ dem globalenWettbewerb nicht mehr standhält, dann muss sieeben auf dieselbe Weise saniert werden. Ver-armungsprozesse müssen als Teil dieser Sanierungerscheinen, sie müssen sich für die Beschäftigtender Deutschland AG – also die Wähler - lohnen,als Zukunftsinvestition erscheinen.„Unser Weg in die Zukunft: Agenda 2010 – Arbeitund Wachstum, Bildung, Ausbildung und Innovati-on, Modernisierung von Arbeitsmarkt und Arbeits-vermittlung, Zukunftssicherung der sozialen Siche-rungssysteme“ heißt eine programmatische Über-schrift im Leitantrag des SPD Parteivorstandes.Diese Vision wird in den nächsten drei Jahren sicht-bar gemacht werden. Mit etwas Glück werden wirden Aufschwung erleben, den Rückgang der Ar-beitslosenzahlen und des Haushaltsdefizits. Mögli-cherweise holen sogar die deutschen Schüler beider nächsten PISA-Untersuchung auf. An Beweis-mitteln wird es nicht fehlen. Und vielleicht lächeltuns 2006 Kanzler Schröder auf Wahlplakaten an,auf denen dann steht: Danke Deutschland – Eshat sich gelohnt.

Literatur:

Castel, Robert (2000): Die Fallstricke des Exklusionsbegriffs, in:Mittelweg 36, 3/2000, S.11-25

Kreft, Ursula (2000): Soziale Ordnung und soziale Krise in deut-schen Printmedien. In: Grewenig, Adi / Jäger, Margret (Hg.): Medi-en in Konflikten. Holocaust, Krieg, Ausgrenzung. Duisburg, S. 177-200

Kreft, Ursula / Uske, Hans (1998): Schlanke Produktion - schlankerStaat - schlanke Menschen, in: Buntenbach, Annelie / Kellershohn,Helmut / Kretschmer, Dirk (Hg.): Ruck-wärts in die Zukunft. ZurIdeologie des Neokonservatismus, Duisburg, S.120-149

Uske, Hans (1995): Das Fest der Faulenzer. Die öffentliche Ent-sorgung der Arbeitslosigkeit, Duisburg

Uske, Hans (2000): „Sozialschmarotzer“ und „Versager“. Miss-achtung und Anerkennung in Diskursen über Massenarbeitslosig-keit, in: Holtgrewe, Ursula / Voswinkel, Stephan / Wagner, Gabriele(Hg.): Anerkennung und Arbeit, Konstanz, S.169-192

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Der Aufruf „Sozialstaat reformierenstatt abbauen“ ist von einer Reihenamhafter Wissenschaftlerinnenaus dem sozialwissenschaftlichenund ökonomischen Sektor unter-zeichnet worden. Kannst Du kurzdie Eckpunkte skizzieren und mar-kieren, an welchen Stellen er sichvon der traditionellen gewerkschaft-lichen Position unterscheidet?

Der Aufruf ist initiiert und verbreitetworden in Reaktion auf die von derrot-grünen Bundesregierung imMärz dieses Jahres vorgelegten,mit „Agenda 2010“ umschriebenenMaßnahmen zum Ab- und Umbaudes Sozialstaates. Er bezieht sichaber nicht im Detail auf die einzel-nen Kürzungen und Einschnitte,sondern auf die Argumentations-linien, die die Politik, die Medienund die wissenschaftlichenBeratungsgremien seit langem be-herrschen. Diese Mainstream-Ar-gumentation - bis weit in die Grü-nen und die Sozialdemokratie hin-ein - basiert ja auf der These, dassdie tiefe wirtschaftliche, fiskalischeund arbeitsmarktpolitische Krise,die nun seit Jahren die LageDeutschlands charakterisiert,durch den Sozialstaat verursachtsei: die Sozialleistungen sind zuhoch und zu teuer, sie lähmen dieBereitschaft, eine Arbeit aufzuneh-men, überfordern die öffentlichenHaushalte und verteuern die Pro-duktion; zugleich ist der Arbeits-markt verkrustet und Einstellungenwerden verhindert usw. usf. Verant-wortlich für Arbeitslosigkeit undWirtschaftsschwäche wird also dasSoziale gemacht, und aus dieserSichtweise heraus ist es geradezugeboten, den Sozialstaat abzubau-en – je radikaler umso besser, umendlich aus der Misere herauszu-kommen. Diese Sichtweise derzwar schmerzhaften aber„alternativlosen“ Einschnitte ist po-

pulär und wird von vielen Menschengeteilt. Nur so ist auch zu verste-hen, dass derzeit in der Politik ge-radezu ein Wettlauf um die größ-ten Tabubrüche eingesetzt hat.Der Aufruf wendet sich gegen die-se Sichtweise und benennt Faktenund Argumente, die zeigen, dassnicht das Soziale die Krise bewirkt.Im Unterschied zur gängigen ge-werkschaftlichen Argumentationbleibt es also nicht bei dem Hin-weis, dass die Maßnahmen undForderungen zum Sozialabbau „so-zial unausgewogen“ sind. DieserBezug allein auf die fehlende so-ziale Gerechtigkeit und die „Gefähr-dung des sozialen Friedens“ ver-kennt die Dramatik der Entwick-lung, die auf ein neues, am angel-sächsischen Kapitalismus orien-tiertes Gesellschaftsmodell orien-tiert. Der Aufruf stellt deshalb vorallem heraus, dass die Krisen-diagnose falsch ist und dass inso-fern auch die proklamierten Zieledurch die eingeschlagene Politiknicht erreicht werden. Der Sozial-staat wird eingerissen, die Gesell-schaft ändert ihr Gesicht – aber diehohe Arbeitslosigkeit wird dadurchkeineswegs verringert. Wir kritisie-

ren dabei insbesondere die Auffas-sung, dass die Arbeitslosen durchnoch stärkeren finanziellen undadministrativen Druck in Beschäf-tigung gebracht werden könnten.Es fehlt aber nicht an Arbeitsbe-reitschaft, sondern an Arbeitsplät-zen. Die Abschaffung der Arbeits-losenhilfe, die Kürzung der Bezugs-dauer von Arbeitslosengeld, ver-schärfte Zumutbarkeitskriterien,Festschreibung der Sozialhilfe-sätze – über diese Maßnahmensollen die Arbeitslosen veranlasst,ja gezwungen werden, jede Arbeitanzunehmen. „Arbeit um jedenPreis“ – das schafft einen Niedrig-lohnsektor in Deutschland, dernicht zu mehr Arbeitsplätzen führt,sondern zu einer Verdrängung vonregulärer Arbeit durch „bad jobs“.Es gehört nicht viel prognostischeFähigkeit dazu, um eine Verschär-fung der Einkommensspaltungenund von Armut vorhersagen zu kön-nen.

Sicher können in einem solchenAufruf, der ja auf Intervention an-gelegt ist, keine differenzierten Lö-sungsvorschläge unterbreitet wer-den. Deshalb interessiert mich vorallem, wie die Forderungen nachweiterer Arbeitszeitverkürzung oderStärkung der Kaufkraft, die wir jabereits aus den siebziger Jahrenkennen, die angestrebten positivenEffekte auf den Sozialstaat undden Arbeitsmarkt zeitigen können– angesichts von Internationalisie-rung und Globalisierung der Wirt-schaft? Hält eine keynesianischeWirtschafts- und Sozialpolitik heu-te noch die richtigen Antwortenvor?

Der Aufruf belässt es nicht bei derkritischen Analyse, sondern ver-sucht auch Wege und Maßnahmenzur Überwindung von Arbeitslosig-keit, Haushaltskrise und Stagnati-

Die gegenwärtige Politik istnicht alternativlos

Fragen an Prof. Dr. Gerhard Bäcker zum Aufruf „Sozialstaat reformieren statt abbauen“

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Anfragen hinsichtlich Vorträgen undBeteiligungen an Podiumsdiskus-sionen sind nicht mehr zu zählen.Meine Erfahrungen der letzten Mo-nate haben mir dabei aber auchgezeigt, dass es in der Tat schwie-rig ist, Opposition zu organisieren.Die Menschen sind mit dem Kurskeineswegs einverstanden, mer-ken, dass mit „Reform“ gemeint ist,dass sie zahlen müssen und füh-len sich betrogen – vor allem vonder SPD. Aber daraus resultiertnoch keine Gegenbewegung: DieAngst um den Arbeitsplatz ist über-groß, die einzelnen Maßnahmensind verwirrend und unüberschau-bar, das Gefühl „den Gürtel engerschnallen zu müssen“, ist weit ver-breitet und – vor allem – es fehlenAlternativen und Perspektiven. Dasschafft eine Stimmung der Resi-gnation und Ratlosigkeit, die leichtin Anfälligkeit für populistische undrechtsradikale Strömungen und Ak-tionen umschlagen kann. Die Ge-werkschaften haben deshalb nachmeinem Dafürhalten vor allem dieAufgabe, Alternativen zu entwickelnund zu verbreiten und auch Aktio-nen voranzubringen. Das ist aller-dings nicht einfach, da es eine po-litisch-parlamentarische Oppositionnicht mehr gibt und diese Rolleauch nicht von den Gewerkschaf-ten übernommen werden kann.Schwierig ist auch das Verhältniszur SPD – hier sieht alles nach ei-ner grundsätzlichen Revision desVerhältnisses zur SPD aus

Die Fragen stellte Margarete Jäger.Der Aufruf ist unter der Adressewww.sozialpolitik-aktuell.de/docs/sozialaufruf.pdf im Internet einzu-sehen.

entiertes nachfrageorientiertes Ge-gensteuern allein noch keine „Lö-sung“ aller Probleme bringt. DiePolitik muss den Weg ebnen fürProduktinnovationen und Investitio-nen, für qualifizierte Dienstlei-stungsbeschäftigung, für umweltge-rechtes, qualitatives Wachstum.

Wie waren die Reaktionen auf denAufruf? Ist der Ruf aus dem wis-senschaftlichen Raum bei Teilender Parteien und Gewerkschaftenangekommen?

Die Reaktionen waren erfreulich undenttäuschend zugleich. Erfreulichwar, dass – im E-Mail-Schneeball-verfahren – in knapp drei Wochenüber 500 Wissenschaftlerinnen un-terschrieben haben. Natürlich hät-ten es noch mehr sein können, undes fällt auch auf, dass die Namenvon manchen exponierten Wissen-schaftspersonen, die noch in den80er und 90er Jahren für ein gesell-schaftliches Reformprojekt gewor-ben haben, fehlen. Enttäuschendwar aber vor allem die Reaktion inden Medien: Trotz aller unserer An-strengungen - die großen Zeitun-gen und Rundfunk bzw. Fernsehenhaben die Initiative totgeschwiegenund die Politik – soweit überhauptReaktionen vorkamen – hat sich aufden Hinweis der „Alternativlosigkeit“des eingeschlagenen Weges be-schränkt. So ist das wohl in Zei-ten, in denen der neoliberaleMainstream vorherrscht und kriti-scher Journalismus kaum noch zufinden ist. Und es ist auch wohlauch so, dass manche Wissen-schaftlerinnen es vorziehen, sich ineiner Zeit gesellschaftlich-sozialerZuspitzungen vornehm zurück zuhalten.

Aus meiner Sicht haben die Ge-werkschaften einige Mühe, die be-triebliche Basis gegen die Agenda2010 und andere sogenannteReformprojekte zu mobilisieren.Wie lässt sich dies erklären undvor allem, was könnten die Gewerk-schaften tun?

Die Gewerkschaften haben auf denAufruf sehr positiv reagiert. Alleindie an meine Person gerichteten

on aufzuzeigen. Wir wenden unsentschieden gegen die These der„Alternativlosigkeit“ der gegenwär-tigen Politik, die nur darauf abstellt,die Opposition gegen den neoliberalenKurs als „unsinnig“ oder als pures„Besitzstandswahren“ zu denunzie-ren. Alternativen aufzuzeigen, dasheißt, für Reformen einzutreten, dieihren Namen verdienen und einePerspektive nach vorn weisen. Da-bei ist klar, dass manche Positio-nen allgemein bleiben und dassauch das Rad nicht immer neu er-funden werden muss. Wenn alsoeinige der erhobenen Positionenund Forderungen alt sind, so istdies noch kein Gegenargument. Soist und bleibt es in einer Zeit knap-per Arbeitsplätze und von Perso-nalabbau in nahezu allen Bereichender Wirtschaft grundsätzlich rich-tig, die Arbeitszeiten zu verkürzenund Arbeit gerechter zu verteilen.Der gegenteilige, derzeit von derPolitik, den Arbeitgeberverbändenund den Medien eingeforderte Weg,in Zeiten höchster Arbeitslosigkeitdie Arbeitszeiten zu erhöhen, mehrund länger zu arbeiten, Feiertagezu streichen führt in die Irre – dieArbeitslosenzahlen werden steigen,die Verdrängung auf dem Arbeits-markt wird zu Lasten der Schwäch-sten weiter zunehmen. Auch dieForderung nach einer Stärkung derKaufkraft ist alt, aber dennoch rich-tig. Richtig weil die wirtschaftlicheStagnation im Wesentlichen durchdie rückläufige private Nachfrageverursacht wird. Die aktuellen Kür-zungen von Löhnen und Soziallei-stungen verschärfen dieses Nach-frageproblem, und durch den Ex-port wird es alleine keinen ausrei-chenden Konjunkturanstoß geben.Unbestritten ist allerdings auch,dass wir in einem engen europäi-schen und weltwirtschaftlichen Ver-bund leben und nationalstaatlichisolierte Maßnahmen schnell ver-puffen können. Deswegen ist ins-besondere eine enge europäischeZusammenarbeit erforderlich. Soetwas kommt aber nicht automa-tisch – hier muss die Bundesrepu-blik als größtes EU-Land endlicheine Vorreiter-Rolle spielen. Unbe-stritten ist schließlich auch, dassein schlichtes, keynesianisch ori-

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Lob und Hudel

Willy Schmidt, ChristophLeclaire, AndreaMeschede, Ulrich Schnei-derBuchenwald – EinKonzentrationslagerMultimediale CD-ROMBonn (Pahl-Rugenstein)2002ISBN 3-89144-355-8EURO 24,95

Projekte, die versuchen,Geschichte multimedial zuerfassen, gibt es viele. Die-se CD-ROM stellt sichaber eine besondere Auf-gabe. Sie will die Ge-

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schichte des Konzentrati-onslagers Buchenwaldnicht (vermeintlich) objek-tiv darstellen, sondernstellt sich ganz bewusstauf die Seite der Opfer. DieCD-ROM erzählt eineGesichte des Widerstan-des trotz aller Hoffnungs-losigkeit in den Lagern ambesonderen Beispiel Bu-chenwald.Das Dispositiv KZ als über-steigerte Form des Ge-fängnisses bildet eine ver-selbständigte Enklave in-nerhalb des „SS-Staats“, inder sich besondere For-men des antifaschisti-schen Widerstandes ent-wickeln konnten. In die-sem „Vermächtnis ehe-maliger Buchenwalder“(Klappentext der CD-ROM)wird deutlich, dass sich einGroßteil der Häftlinge nichtin die Perversion desLageralltags ergeben und

die Möglichkeiten des Wi-derstandes genutzt hat.„Nur wer kämpft, kann ge-winnen. Wer nicht kämpft,hat schon verloren.Die Zukunft gehört uns –trotz alledem.“ Das habensich die ehemaligenBuchenwalder nach ihrerSelbstbefreiung geschwo-ren. In diesem Sinne solldie CD-ROM auch zur Un-terstützung der pädagogi-schen Arbeit dienen. Hier-zu bietet sie zahlreicheMöglichkeiten, wozu auchdas Ausdrucken von zeit-geschichtlichen Doku-menten und vier Arbeits-blättern gehören, die zurVorbereitung eines Besu-ches in Buchenwald die-nen. Besonders hervorzu-heben sind die multime-dialen Elemente. KleineFilmsequenzen aus Le-sungen von ehemaligenKZ-Häftlingen zu den ent-

sprechenden Themen undLiedern, die im KZ oderaus den Erfahrungen die-ser Zeit entstanden sind,machen die Geschichtegreifbar. Durch die über-sichtliche Strukturierunggerät der Nutzer nicht insSurfen und kann sich trotz-dem in der Hypertext-landschaft frei bewegen.Diese sachliche Strukturie-rung, die dem Thema an-gemessen ist, gestaltetdie Informationsgewin-nung allerdings strecken-weise recht zäh.Alles in allem handelt essich bei der CD-ROM umeine gelungene Präsenta-tion, die Geschichte undGedenken multimedialaufbereitet und vor allemein Vermächtnis derBuchenwalder vorlegt, dasseinesgleichen sucht.F.J.

Geschichte schreiben mit Foucault Wie die germanistische Sprachwissenschaft (im Unter-schied zur Literaturwissenschaft) tut sich auch die Ge-schichtswissenschaft schwer, Foucaults Diskurstheorieund seine Analysetechniken zur Kenntnis zu nehmen undfür eigene Analysen fruchtbar zu machen. Der Unterschiedbesteht vor allem darin, dass die Geschichtswissenschaftdies schon viel länger tut. Aber wie die hier angezeigtenBände beweisen: Sie tut es. Achim Landwehrs Einfüh-rung in die historische Diskursanalyse gibt einen Über-blick über den Forschungsstand, sie beleuchtetwissenschaftsgeschichtliche und theoretische Grundla-gen, stellt ein methodisches Verfahren vor und illustriertdieses Verfahren anhand von Studien, die es dazu be-reits gibt. Michael Masets Dissertation setzt sich vor al-lem mit den Kritikern an Foucault auseinander (beson-ders Jörn Rüsen), arbeitet die Unterschiede des sich aufFoucault berufenden Ansatzes historischer Analyse zutraditionellen Verfahren der Geschichtswissenschaft her-aus, begründet Foucaults Diskursanalyse als histo-riographiegeschichtliche Methode und setzt sich mit Pro-blemen der Begriffsgeschichte auseinander (ReinhartKoselleck, Dietrich Busse), die er vor allem als „dochIdeengeschichte“ kritisiert. Darüber hinaus diskutiert erdiskurshistorische Forschungen zur frühneuzeitlichenFrauen- und Geschlechtergeschichte. JürgenMartschukat, der sich vor allem mit dem Diskurs desstaatlichen Tötens beschäftigt hat, gibt eine sehr inter-essante Aufsatzsammlung heraus, die einen spannen-den Überblick über eine Fülle historisch-empirischer For-schungen gibt, die sich auf Michel Foucaults Diskurs-theorie berufen. Zusammen betrachtet, erlauben diesedrei Texte einen guten Einstieg in eine Kritisch-Histori-sche Diskursanalyse. Sie zeigen, dass auch Diskurs-diachronie erfolgreich sein kann und der Vorwurf, dassDiskursanalyse gegenüber historischen Diskurs-verläufen hilflos sei, unberechtigt ist. (S.J.)

Jürgen Martschukat (Hg.)Geschichte schreibenmit FoucaultFrankfurt/M. (Campus)2002ISBN 3-593-37114-6EURO 34,90, 287 Seiten

Michael MasetDiskurs, Macht undGeschichte. FoucaultsAnalysetechniken unddie historische For-schungFrankfurt/M. (Campus)2002ISBN 3-593-37113-8EURO 34,90, 268 Seiten

Achim LandwehrGeschichte des Sag-baren. Einführung in diehistorische Diskurs-analyseTübingen (editiondiskord) 2001ISBN 3-89295-713-4EURO 16,00, 223 Seiten

Lob und Hudel

Emanuel LévinasSchwierige Freiheit.Versuch über dasJudentumFrankfurt/M. (JüdischerVerlag) 2. Aufl. 1996ISBN 3-633-54062-8EURO 18,80, 185 Seiten

Lévinas gilt als der bedeu-tendste jüdische Religi-onsphilosoph der Gegen-wart. Sein Werk fordert ei-nen extremen Humanis-mus ein und damit einesich selbst verpflichtendeHinwendung zum anderenMenschen. Auf diesemHintergrund erfolgen seineBesinnungen auf die Ur-sprünge des Judentumsund seine Reflexionenüber den Nationalsozialis-mus. Mit seinen Aufsätzenund Essays zum Thema„Schwierige Freiheit. Ver-such über das Judentum“liegt eine Vielzahl von Ver-

suchen über jüdisches le-ben und Denken im 20.Jahrhundert vor, derenLektüre Leserinnen, diesich bisher nicht oder nuram Rande mit jüdischemDenken befasst haben,nicht ohne weiteres ein-leuchten wird. Gibt es beiLévinas nun einen Gott,oder gibt es ihn nicht? Hei-liges und Göttliches undMenschliches zusammen-zudenken, als Einheit zubetrachten, ist uns zumeistchristlich sozialisiertenMenschen nicht an derWiege gesungen worden.Entweder glauben wir anGott oder wir tun dies nicht.Im Anderen die Vorraus-setzung der Existenz sei-ner selbst zu sehen, wennman dies nicht banal alsNotwendigkeit allen Sozia-len versteht, und dies alsBedingung jeder Ethik an-zusehen und zugleich alsheilig, das ist ein Gedan-ke, der uns völlig abstruserscheinen mag. Dochmöge das folgende Zitatdazu dienen, über Lévinas„Religion“ intensiver nach-zudenken: „Der Umgangmit den Seienden, der mitdem ‘Du sollst nicht töten’beginnt, entspricht nichtdem Schema unserer ge-wöhnlichen Beziehungenzur Welt: Subjekt, das sei-nen Gegenstand wie eineNahrung erkennt oder ab-sorbiert, Bedürfnis, dasbefriedigt wird. Er kehrtnicht zum Ausgangspunktzurück, indem er sich in Zu-friedenheit, Selbstgenuß,Selbsterkenntnis verwan-delt. Er leitet den Beginndes geistigen Weges desMenschen ein. Eine Reli-gion für uns kann auf kei-nem anderen Weg liegen.“S.J.

„Was für den Stalinismusgilt, gilt mutatis mutandisauch für seine asymmetri-sche Dublette, den Natio-nalsozialismus.“

Bernhard Henri LévyJean Paul Sartre – DerPhilosoph des 20.JahrhundertsMünchen (Hanser) 2002ISBN 3-446-20148-3EURO 32,90, 672 Seiten

In einer über 600 Seitenstarken Biographie ver-sucht Bernard-Henri Lévydas vielfältige und ereig-nisreiche Leben von JeanPaul Sartre nachzuzeich-nen. Die außergewöhnli-che Beziehung zwischenSartre und Simone deBeauvoir, Sartre - der Autorvon Theaterstücken undDrehbüchern, von Roma-nen, Dramen, Essays undVorworten, der politischeJournalist und Herausge-ber von Les temps moder-nes. Das spannende Le-ben des „totalen Intellektu-ellen“, der „Regisseur aufallen Bühnen“ ist und „aufallen Registern“ spielt,wird von Lévy interessantund anregend erzählt.Sartre - der Philosoph,dessen Werk in eine früheund eine späte Phase un-terschieden wird - denSartre um Das Sein unddas Nichts und den Sartreum die Kritik der dialekti-schen Vernunft: Das politi-sche Engagement ergibtsich für Sartre unmittelbaraus seiner Philosophievon Freiheit und Verant-wortlichkeit. Die Beschrei-bung des politisch aktivenSartre vollzieht Lévy striktaus einer totalitarismus-theoretischen Perspektive.Ob er nun seine Überein-stimmung mit Sartre auf-zeigen will oder eine kriti-sche Distanz herzustellenversucht - der Ansatz ist oftdie Totalitarismusthese.Wird dem ‚frühen Sartre’das Prädikat „Championdes Antitotalitarismus“ ver-liehen, da „die Definitiondes Menschen als eines

Wesens des Nichts undder Negativität“ das „ersteGegenmittel“ gegen Tota-litarismus sei, so sei der‚späte Sartre’ der „totalitä-ren Versuchung“ erlegen,obwohl er das „begrifflicheRüstzeug“ dagegen ge-habt hätte.Diese Betrachtungsweisegipfelt in einer Passage, inder Lévy zwecks Nachweisseiner These in Auszügenaus Sartres Text Was istein Kollaborateur? dasWort ‚Kollaborateur’ syste-matisch durch ‚Stalinist’ersetzt, um auszudrücken,dass Sartre im Jahr 1944„auf dem Höhepunkt derZerrissenheit und vielleichtdes Wahnsinns“ im Begriffist, „selbst zu jenem Stali-nisten zu werden, dessenBeschreibung er geradegeliefert hat“.Dass er eine hochaktuelleVariante der These vor-bringt, in der Nationalso-zialisten, Stalinisten und„fundamentale Moslems“(!) als Exponenten ein unddesselben Phänomensnamens Totalitarismusbetrachtet werden, machtden falschen Ansatz dabeinicht richtiger. Im Gegen-teil: der Erklärungsgehalteiner derart undifferen-zierten Betrachtungsweisevon Ausprägungen staatli-cher Macht geht stark ge-gen Null, nicht zuletzt, weildie ‚totalitären’ Aspekte derkapitalistischen Gesell-schaft westlicher Prägungund ihrer freiheitlich-de-mokratischen Grundord-nung gänzlich aus der Be-trachtung herausgehaltenwerden.1

Die totalitarismustheore-tische Beschreibung vonSartres Leben zieht sichleider entsprechend demvielfältigen Engagementdes Philosophen undSchriftstellers wie ein roterFaden durch die gesamteBiographie. Spannendeund lesenswerte Passa-gen gibt es trotzdem. Obnun ein Gang in die Stadt-bibliothek ausreicht, umdiese lesen zu können

oder nicht, soll jeder selbstentscheiden.J.Z.

1 Die Totalitarismusthese fun-giert durch die Abgrenzungder sogenannten politischenMitte gegen ‚Extreme’ nachrechts, links und neuerdingsauch gegenüber religiös moti-viertem ‚Extremismus’ lediglichals Herrschaftsideologie derkapitalistischen Gesell-schaftsordnung aus einer sichselbst gegen Kritik immunisie-renden Position heraus.

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Lob und Hudel

Emmanuel ToddWeltmacht USA – EinNachrufMünchen (Piper) 14. Aufl.2003ISBN 3-88698-803-1EURO 19,90, 265 Seiten

Was steht in dem viel zi-tierten Buch des Franzo-sen? Etwa dies: Nach1945 waren die USA eineArt von römischem Imperi-um, d. h. eine Weltmachtmit universalem Ethos, aufAbsprachen bedacht unddeshalb als Schutzmachtakzeptiert. Denn es drohtedie Sowjetunion. Nach derWende hat sich auch Ame-rika gewendet. Es meint,nun Weltherrscher zu sein,der das universale Ethosnicht mehr nötig hat, derseine Macht brachial aus-spielen, die Verbündetenvor den Kopf stoßen undmilitärisch überall präsentsein kann. Eine Täu-schung. Ein „overstret-ching“. Auch deshalb, weildie US-Wirtschaft auf tö-nernen Füßen steht. Ame-rika produziert nicht, son-dern konsumiert immensund bezahlt das mit denKapitalströmen vom Aus-land, die vom immer nochmächtigen Dollar ange-lockt werden. Amerikanerbezahlen nicht mit Produk-ten, sondern der Differenzanderer Währungen zumDollar. Schon will das Aus-landskapital nicht mehr inProduktion investieren,sondern sich in der Wall-street spekulativ vermeh-ren. Das wird nicht ewig gutgehen. Zur gleichen Zeitkonsolidieren sich die an-deren Kräfte. Die Entwick-lungsländer werden voran-schreiten, die Alphabe-tisierung und die Gebur-tenbeschränkung bewei-sen es. Und Europa/Ja-pan/Russland werden einimmer ausdrücklicheresGegengewicht gegen dieUSA darstellen. Wirtschaft-lich haben sie die USAlängst überholt. Sie wer-den sich konsolidieren.Die Welt der Zukunft wird

Rainer Diaz-BoneKulturwelt, Diskurs undLebensstil. Eine diskurs-theoretische Erweite-rung der bourdieuschenDistinktionstheorie.Opladen: (Leske +Budrich) 2002ISBN 3-8100-3526-2EURO 39,00, 456 Seiten

Die Arbeit von Rainer Diaz-Bone kann als ein weite-rer Versuch angesehenwerden, den Ansatz derDiskursanalyse für sozio-logische Fragestellungennutzbar zu machen. Zielder Arbeit ist die Entwick-lung einer diskurstheore-tisch radikalisierten Dis-tinktionstheorie, um dasFeld der Kulturproduktiondiskurstheoretisch er-schließen zu können. Ent-sprechend ist die Arbeit ineinen ersten theorie-entwickelnden Teil und ei-nen zweiten Teil, in dem dieErgebnisse am empiri-schen Material getestetwerden, gegliedert. Ge-genstand des empiri-schen Teils sind die Dis-kurse über Heavy Metalund Techno.Für die Theorieentwick-lung bezieht sich Diaz-Bone auf die Diskurs-theorie Michel Foucaults

Birgit RommelspacherAnerkennung undAusgrenzung.Deutschland als multi-kulturelle Gesellschaft,Frankfurt/M. (Campus)ISBN 3-593-36863-3EURO 21,50, 236 Seiten

Wer erinnert sich nicht:Kaum sprachen die einenvon vermeintlicher ‘Leit-kultur‘, schienen anderesich schon nicht mehr si-cher, was sie mit ‘multi-kultureller Gesellschaft‘eigentlich gemeint hatten.Birgit Rommelspacherzeichnet die Mechanismennach, durch die in unsererGesellschaft Definitions-macht ausgeübt wird undfest umrissene Bilder desAnderen fortwährenddurchgesetzt werden. VonBeginn an geht es ihr da-bei um den Zusammen-hang zwischen der Kon-struktion von „Fremdheit“und sozialen Hierarchien,und es ist einer der Ver-dienste des Buches, miteiner Fülle von Material ausunterschiedlichen Diszipli-nen diese Verknüpfungensymbolischer und materi-eller Grenzziehungen zubeschreiben und immerim Blick zu behalten. In dendrei Teilen ‘Selbst- undFremdbilder‘, ‘Kulturen imKonflikt‘ und ‘Modelle desZusammenlebens‘ spanntRommelspacher einenweiten Bogen, der sowohldie psychischen Investitio-nen des Einzelnen in sol-che Bilder und Wir-und-

keine amerikanische undkeine andere Supermachtmehr kennen. Sie wirdpolypolar sein.E.O.

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und den feldtheoretischenAnsatz Pierre Bourdieus,wobei letzterer in der Arbeitvorrangig als Distinktions-theoretiker ausgewiesenwird. Da der Autor davonausgeht, dass kulturelleWertigkeit (symbolischesKapital) vorrangig diskur-siv hergestellt wird, kriti-siert er vor allem die reprä-sentative Funktion, dieBourdieu dem Diskurs zu-weist. Dieses Manko ver-sucht Diaz-Bone durcheine Integration derDiskurstheorie in dieDistinktionstheorie zu be-heben. Dies geschiehtüber eine Erweiterung desbourdieuschen Zwei-Raum-Modells um einedritte Ebene. Als Ergebnisder Verbindung soll vondrei Räumen ausgegan-gen werden: dem sozialenRaum, dem Raum der Le-bensstile und dem Raumder Diskurse. Alle dreiRäume sind relativ auto-nom, sie stehen jedoch ineinem wechselseitigenEinflussverhältnis undweisen aus diesem Grundauch strukturelle Homo-logien auf.Insgesamt kommt die Ar-beit im empirischen Teil zuüberzeugenden Ergebnis-sen. Der Anspruch der An-wendbarkeit des entwik-kelten Modells wird daherdurchaus erfüllt. Relativ un-verständlich bleibt aller-dings, warum im empiri-schen Teil für die Codie-rung die Grounded Theoryherangezogen wird. Dertheoretische Teil widmetsich relativ ausführlich derReproduktion der heran-gezogenen Theorien, umdann m. E. leider etwas zuzügig zu Ergebnissen zukommen. Eine tiefere Aus-führung und Begründungder erarbeiteten Verknüp-fungsstellen wäre begrü-ßenswert gewesen. Allesin allem ein überzeugen-des und spannendesBuch.G.Q.

Lob und Hudel

Rechtsextremismus und Rassismusgehören zusammen. Ein wesentli-ches Feld, in dem diesen beiden Phä-nomenen entgegengetreten werdenkann, ist die Jugendarbeit. Im Gegen-satz zu Wilhelm Heitmeyers These,dass Belehrungen gegen Erfahrungennicht ankommen, wird in diesen bei-den Publikationen davon ausgegan-gen, dass es vielmehr von der „Ver-fügbarkeit entsprechender Interpre-tationsmuster ab[hängt; FJ], die ra-tional begründet sein müssen und vonder politischen Jugendbildung vermit-telt werden können“ (ChristophButterwegge im Vorwort).Beide Bände unterteilen sich in ei-nen theoretischen und einen prakti-schen Teil, in dem verschiedene Spie-le vorgestellt werden. Beide Bücherwurden aus der Praxis erarbeitet. In„Rechtsextremismus – was heißt daseigentlich heute?“ sind die Methodenaus einem Projekt gleichen Namensder Jugendbegegnungsstätte AnneFrank entstanden, und UlrikeKloeters arbeitet u.a. in der Jugend-und Erwachsenenbildung im Bereichdes Antirassismus. Die vorgestelltenMethoden sind in der Praxis vielfacherprobt und wissenschaftlich durchdas DISS evaluiert worden.Die Bedeutung solcher Bücher ist fürdie pädagogische Arbeit nach wie vor

sie-Unterscheidungen alsauch die tiefen Verwurze-lungen dieser Diskurseund Machtverhältnisse inder christlich-europäi-schen Geschichte be-schreibt. Dass nur dieAuseinandersetzung mitden Diskursen und Prakti-ken der Vergangenheitauch ein Verständnis ge-genwärtiger Ambivalenzenermöglicht, verdeutlichtbeispielsweise das Kapi-tel ‘Kultur-Geschlecht-Re-ligion. Am Beispiel derKopftuchdebatte‘. In denSchlusskapiteln wendetsich Rommelspacher Ka-nada und den USA zu undgibt damit Einblicke in un-terschiedliche politischeKonzepte des Multikultu-ralismus. Überzeugendplädiert sie für eine Politikder Anerkennung, die glei-chermaßen Pluralisierungund Egalisierung beinhal-tet und als solche nicht nurden Diskursen symboli-scher Ausgrenzung unddes Rassismus entge-gentritt, sondern sichdurch eine aktive Antidis-kriminierungs- und Gleich-stellungspolitik auch mitpolitischen, rechtlichenund ökonomischen Un-gleichheitsverhältnissenauseinander setzt.‘Anerkennung und Aus-grenzung‘ sei dringend zurLektüre empfohlen, auchwenn – oder gerade weil– man am Ende aufgrundder Menge des angeführ-ten interdisziplinären Mate-rials zahlreiche Markierun-gen zum Weiterlesen inRommelspachers Litera-turverzeichnis vorgenom-men haben wird.T.Q.

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VergleichendeRezension

Ulrike Kloeters (ARIC)Bausteine – Anti-rassismustrainings inder JugendarbeitDuisburg (ARIC) 2002EURO 6,00 zzgl. EURO2,00 Porto und Verpak-kung, 158 Seiten, A4Bezug über ARIC NRWGravelottestr. 1847053 Duisburg

JugendbegegnungsstätteAnne Frank (Hg.)Rechtsextremismus –was heißt das eigentlichheute? Über Rechtsex-tremismus, Rassismusund Zivilcourage. Prä-vention für Schule undBildungsarbeitFrankfurt (Brandes &Apsel) 2003ISBN 3-86099-766-1EURO 14,90, 173 Seiten

eine sehr große, denn nur mit dem ent-sprechenden Vorwissen kann Rassis-mus und Rechtsextremismus begeg-net werden. Die beiden hier besproche-nen Arbeiten stellen sowohl eine theo-retische Grundlage für Trainer undÜbungsleiter als auch praktische päd-agogische Spiele und Projekte zur Ver-fügung, um dieses Vorwissen unter Ju-gendlichen zu bilden, zur Verfügung.Beiden Autoren geht es weniger da-rum, dezidiertes Wissen mit den Me-thoden zu vermitteln, sondern es solldie Auseinandersetzung mit der The-matik angeregt werden. „Ein Trainingist kein ‘Angel-Maker’! Es gilt als An-gebot, Anregung und Impuls.“ (so Ulri-ke Kloeters)Es geht nicht nur um „Angebot, Er-kenntnis und Impuls“, sondern immerauch darum, Zivilcourage zu zeigen unddem Rassismus entgegenzutreten, inwelcher Form er auch immer in Er-scheinung tritt. Hierzu bieten beideBände auch Bausteine des Argumen-tationstrainings. Obwohl beide Bücherihren bereits betonten Stellenwert be-sitzen, favorisiere ich Ulrike KloetersBuch, da sie den Alltagsrassismus inden Mittelpunkt stellt und Rassismusnicht allein als ein Problem ansieht,das man bei Rechtsextremen antrifft.F.J.

Totaler Sieg imKrieg

Franz Januschek

Alle einigermaßen wachen Deutschen wis-sen, wer das deutsche Volk auf den „tota-len Krieg“ eingeschworen hat und wie dasendete. Deshalb war es auch völlig klar,was Deutschen einfallen würde, wenn ih-nen die Medien berichten, der amerikani-sche Präsident habe in einer Rede den „to-talen Sieg“ (im „Krieg gegen den Terroris-mus“) gefordert. (FAZ und FR vom 28.8.03)Dies war eine Anspielung, die überhauptkeiner weiteren journalistischen Erläuterun-gen bedurfte. Solche Erläuterungen konn-ten sich die Journalistinnen somit ersparen;und der Gefahr, ein ähnliches Schicksal zuerleiden wie die Ministerin Däubler-Gmelinnach ihrem Bush-Hitler-Vergleich, musstensie sich nicht aussetzen. Und doch habensie zu verstehen gegeben, wie sie (und si-cherlich sehr viele Deutsche) die US-Poli-tik sehen. Das sprachtheoretisch Interes-sante dabei ist, dass nicht der Urheber derÄußerung die Anspielung gemacht hat, son-dern diejenigen, die nichts weiter taten, alsdiese Äußerung, ins Deutsche übersetzt,wiederzugeben. Denn total victory reimt sichnicht auf total war, wohl aber totaler Siegauf totaler Krieg. Dem Präsidenten Bushkann man auch kaum viel Wissen über deut-sche Geschichte und deutsche Sprache un-terstellen (vielleicht hat ihm sein Opa maletwas über die guten Geschäfte erzählt, dieman mit den Nazis machen konnte), so dasser die Brisanz seiner Formulierungen sichernicht ahnte. (Vielleicht hat allerdings Rums-feld, dessen Familie aus Deutschlandstammt, dem Redenschreiber vorher etwasgesteckt, um auszuprobieren, was diskur-siv möglich ist. Das hatte auch Jörg Haidervor Jahren getan, als er vom „totalen Krieggegenüber der freiheitlichen Opposition“sprach und damit in Österreich einen gro-ßen Skandal in den Medien auslöste.)

Die LandesarbeitsgemeinschaftFriedenswissenschaftin Nordrhein-Westfalen

Wissenschaftliche Kommunikation und Ko-operation im Forschungsfeld Frieden

Gegründet 1995 in Folge der Empfehlungen der im Auftragdes Wissenschaftsministeriums NRW erstellten Studie„Zum Stand der Friedenswissenschaft an den Hochschu-len Nordrhein-Westfalens“

Arbeitsschwerpunkte

n Förderung der Kommunikation und der Kooperationzwischen Wissenschaftler/innen des Landes im Be-reich der Friedens- und Konfliktforschung;

n Durchführung von Projekten zur Förderung interdiszi-plinärer friedenswissenschaftlicher Lehre an verschie-denen Hochschulen des Landes;

n Entwicklung des friedenswissenschaftlichen Weiter-bildungsstudiums;

n Initiierung und fachliche Beratung von Arbeitskreisen,u.a. des AK „Medien und Krieg/Frieden - Deeskalieren-de Kriegs- und Friedensberichterstattung“;

n Konzeptionelle und organisatorische Vorbereitung/Durchführung von Fachkolloquien und öffentlichen Ver-anstaltungen;

n Kooperationen mit anderen friedenswissenschaftlichenOrganisationen und Einrichtungen im deutschsprachi-gen Raum;

n Öffentlichkeitsarbeit und Serviceleistungen (Bibliothek,Referent/-innenkartei).

Folgende Projekte wurden in den letzten Jahren u.a. durch-geführt

n Konzeptionierung und Organisation der Tagung „Aus-bildung und Kooperation im Bereich innergesell-schaftliche zivile Konfliktbearbeitung“ i. A. der Staats-kanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen

n Friedenswissenschaftliche Lehrprojekte im Rahmendes Landesprogramms „Qualität der Lehre“

n Erstellung der kommentierten Bibliographie „Deeska-lierende Kriegs-/Friedensberichterstattung“

n Koordination des kooperativen zweisemestrigen Stu-diengangs „Friedens- und Konfliktforschung“

Infos unter

LAG FriedenswissenschaftFernUniversität HagenIm Dünningsbruch58084 HagenTel./Fax: 02331/987-4797e-mail: [email protected]

22 DISS-Journal 12, 2004

Innenministerium und Verfas-sungsschutz (VS) des LandesNordrhein-Westfalen veranstal-teten am 8. Oktober 2003 inDüsseldorf eine politisch nichtunumstrittene Tagung zur soge-nannten „Neuen Rechten“ (NR).Die Überlegungen, die der Ta-gung zugrunde lagen und ausder Sicht des VS für sie spra-chen, werden in einer Presse-mitteilung offen angesprochen:Der VS möchte mit einer intel-lektuell „aufgerüsteten“ Mitar-beiterschaft und verstärkter Öf-fentlichkeitsarbeit sein Verständ-nis vom „Schutz unserer Verfas-sung“ unter die Leute bringenund sich als „Ansprechpartnerfür Wissenschaft, Medien undpolitische Bildung“ profilieren.

Im Hintergrund dieser Offensivesteht der seit Jahren anhalten-de Konflikt mit der rechts-intellektuellen Wochenzeitung„Junge Freiheit“ (JF), die sich zuUnrecht vom VS-NRW beobach-tet fühlt. Derzeit strebt sie eineEntscheidung des Bundesver-fassungsgerichts an, um dieBeobachtung unterbinden zulassen.Im Vorfeld der Tagung hatte dieJF denn auch schwere publizi-stische Geschütze aufgefahren,um anhand der Liste der einge-ladenen Referenten das Ge-spenst einer Zusammenarbeitvon Linksextremisten und Ver-fassungsschützern aufzubauen.Im Fadenkreuz der Anwürfe, dievon CDU-Politikern und der„Welt am Sonntag“ unterstütztwurden, standen der Journalistund bekannte Rechtsextremis-mus-Experte Anton Maegerle(der dann allerdings wegen ei-

nes Unglücksfalles in der Fami-lie absagen musste) und Chri-stoph Butterwegge, seines Zei-chens Professor an der Univer-sität Köln. Den Höhepunkt derKampagne bildete ein Interviewder JF mit dem Klüngel-ForscherErwin K. Scheuch, in dem die-ser seinem Kollegen Butter-wegge die wissenschaftlicheReputierlichkeit absprach.

Es stand also einiges auf demSpiel, was die Resonanz derTagung in der mediopolitischenÖffentlichkeit anbetrifft. DerCDU-Fraktionssprecher NorbertNess kündigte schon mal eineNachfrage im nordrhein-westfä-lischen Landtag an (WAZ8.10.03). Da passte es den Ver-anstaltern ganz gut in den Kram,dass der ehemalige Redakteurund langjährige Autor der JF,Götz Kubitschek (Institut fürStaatspolitik, Edition Antaios)seine Nerven nicht im Zaum hal-ten wollte. Gezielt versuchte ernach der einleitenden Rede desInnenministers Fritz Behrensund dann noch einmal nach derRede des PolitikwissenschaftlersKurt Sontheimer einen Eklat zuprovozieren, indem er die Links-extremismus-Anwürfe wieder-holte, Meinungsfreiheit rekla-mierte und den Innenministerquasi ultimativ zu einer Stellung-nahme aufforderte. Nachdemdies nicht gelungen war, verab-schiedete sich Kubitschek vonder Veranstaltung und demon-strierte damit, dass es ihm imwesentlichen nur um die Schlag-zeile „Verfassungsschutz verbie-tet Vertreter der Neuen Rechtendas Wort“ gegangen war. Der„Spiegel“ nannte das Vorgehen

Kubitscheks mit Recht „plump“.Im Anschluss daran propagier-te Kubitschek in der JF die neueStrategie: „Ab heute stehen dieRechten für Sit-ins und Teach-ins“.

Die theoretischen Grundlagen inSachen „Neue Rechte“ botennach den Eröffnungsreden Re-ferate von Wolfgang Gessen-harter, Professor an der Bun-deswehrhochschule Hamburg,und Dr. Thomas Pfeiffer, wobeiletzterer die Sichtweise des VS-NRW vertrat. Während Gessen-harter sich auf die Bezüge zwi-schen Carl Schmitt und der heu-tigen NR kaprizierte und die Vor-bildfunktion von dessen Demo-kratieverständnis herausarbei-tete, versuchte Pfeiffer einenallgemein gehaltenen Überblickzu geben. Dabei fiel auf, dasssich der VS der in der Rechts-extremismusforschung in denverschiedensten Varianten kur-sierenden These von der Mittel-stellung der NR zwischen Kon-servatismus und Rechtsextre-mismus nicht anschließt. Hierspielt sicherlich die das Handelndes VS bestimmende juristischePerspektive eine zentrale Rolle.Justiziabel sind eben nur mehroder weniger eindeutige Zuord-nungen von Aussagen, Hand-lungen, Organisationen zum ex-tremistischen, außerhalb desRahmens der Verfassungsord-nung stehenden Lager. Insofernmuss der VS das Etikett „NeueRechte“ denjenigen vorbehal-ten, die sich als „intellektuelleStrömung innerhalb des Rechts-extremismus“ identifizieren las-sen. Als Merkmale der solcher-maßen verorteten NR führte

„Dickbrettbohren“Tagung des Verfassungsschutzes zur Neuen Rechten

Helmut Kellershohn

DISS-Journal 12, 2004 23

Raunen und Runen

Pfeiffer an: (1.) intellektuellerAnspruch (Avantgarderolle) ;(2.) Rückgriff auf antidemokra-tische Theoretiker der Weima-rer Republik (Konservative Re-volution); (3.) Versuch, gesell-schaftliche Diskurse zu prägenund Begriffe zu besetzen (Stre-ben nach kultureller Hegemo-nie); (4.) Bemühen um eine„Erosion der Abgrenzung“ zwi-schen rechtsextremistischenund demokratischen Kräften(Brückenbildung zur gesell-schaftlichen Mitte); (5.) informel-le Struktur (vorwiegend Formie-rung in Diskussionsrunden undim Umfeld publizistischer Orga-ne). Pfeiffer betonte, dass dieNR zwar eine heterogene Strö-mung sei und in punkto Breiten-wirkung bislang nur begrenztErfolg gehabt habe, dennochsei, so sein Resümee, die NR„eine häufig unterschätzte Ge-fahr für die Demokratie“.

Nach der Mittagspause verteil-te man sich auf vier Arbeitsgrup-pen, die einzelne Aspekte ver-tiefen sollten. In der Abschluss-diskussion trafen Rechts-extremismusforscher wie Wolf-gang Gessenharter, ChristophButterwegge, Uwe Backes undder Leiter des VS-NRW HartwigMöller aufeinander. Besondersdie Auseinandersetzung zwi-schen dem von der JF heftig an-gefeindeten Butterwegge unddem totalitarismustheoretischargumentierenden Uwe Backes(Hg. des Jahrbuchs „Extremis-mus & Demokratie“) war mitSpannung erwartet worden.Backes versuchte in gewohnterManier, das Spektrum der Neu-en Rechten aufzuspalten unddie JF, um die es in der Diskus-sion im Wesentlichen ging, vondem von ihm so genannten „in-tellektuellen Rechtsextremis-mus“ abzugrenzen. Er empfahldem VS, sich auf die intellektu-ellen Rechtsextremisten zu be-schränken und auf eine Beob-achtung der JF zu verzichten.

Butterwegge dagegen machteam Beispiel des bevölkerungs-politischen Diskurses deutlich,wie neu-rechte Ideologeme indie Mitte der Gesellschaft ein-dringen. In diesem Kontext siehter die Bedeutung der JF unddas von ihr ausgehendeGefahrenpotential. Zudem be-tonte er, wie schon des öfteren,dass die NR heute „nicht mehralternativlos einer völkischenBlut-und-Boden-Romantik ver-haftet“, sondern von einer neo-liberalen Grundhaltung aus„markt-, wettbewerbs- und lei-stungsorientiert“ sei. Man argu-mentiere standort-, nicht völ-kisch-nationalistisch. Folgteman Butterwegge, dürften frei-lich Alain de Benoist oder Karl-heinz Weißmann nicht als NeueRechte bezeichnet werden.Die Rechtsextremismusfor-schung hat also, das zeigte dieDiskussion, ein erhebliches Pro-blem, ihr Untersuchungsobjektgenauer zu umreißen bzw. ihreKlassifikationsmodelle zu be-gründen. Das gilt aber sicher-lich auch für viele andere For-schungsbereiche und ist daherkein Argument gegen dieseForschung. Auf eine Gefahr seiallerdings abschließend hinge-wiesen: eine Rechtsextremis-mus-Forschung, die sich primärals Auftragsforschung bzw.Politikberatung verstünde, ver-löre ihre Fähigkeit zur kritischenDistanz gegenüber dem, wassie erforschen will. Da klingt dieFeststellung Hartwig Möllers zurArbeit des VS fast schon wieeine gelungene Beschreibungdes Forschungsalltags: „Wir ar-beiten hier nicht mit verdecktenMitteln. Wir observieren nie-manden. Das Mittel der ‚NeuenRechten’ ist ja die Publikationvon Büchern und Zeitschriften.Wir analysieren alles und lesenzwischen den Zeilen. Und dar-über berichten wir ausführlich.“„Dickbrettbohren“ nannteMöller das.

24 DISS-Journal 12, 2004

Siegfried Jäger/Jobst Paul (Hg.)»Diese Rechte ist immer nochBestandteil unserer Welt«Aspekte einer neuen Konservati-ven Revolution354 Seiten19,90 EUROISBN 3-927388-78-52001Natürlich haben wir es heute nichtmehr mit Faschismus zu tun;doch es ist auch nicht zu bestrei-ten, dass sich Elemente völkisch-nationalistischen und neu-konser-vativen Denkens bis in die Gegen-wart gehalten haben oder wieder-belebt wurden.Dieser Band präsentiert die Er-gebnisse eines DISS-Collo-quiums, das der Frage nachging,ob Deutschland angesichts vonGlobalisierung und Rechtsent-wicklung »eine neue Konservati-ve Revolution« (Pierre Bourdieu)ins Haus stehe. Die Beiträge wur-den ergänzt durch einige aktuelleArtikel, so etwa durch einen Bei-trag des israelischen HistorikersZeev Sternhell und Jürgen LinksThesen zu den Ereignissen des11. September 2001.

Weitere Autorinnen:Alex Demirovic, Martin Dietzsch, AdiGrewenig, Rolf Dieter Hepp,Margret Jäger, Siegfried Jäger, Sa-bine Kergel, Clemens Knobloch,Matthias Küntzel, Wolfgang Luutz,Jobst Paul, Thomas Müller, HeribertSchiedel, Alfred Schobert

Raunen und RunenBücher

Martin Hohmann, Bundestags-abgeordneter der CDU, hat sichin den vergangenen Jahren alsrechter Ultra bereits einen Na-men gemacht. Nun verbreitetHorst Mahler eine Hohmann-Rede in einer Mailingliste. Seitseinem antisemitischen Comingout im Dezember 1997 erreichtMahler als Antisemit und Holo-caust-Leugner immer neue Spit-zenwerte auf der nach oben of-fenen Verrücktheits-Skala.Wenn er nun Hohmann atte-stiert, dieser habe „Mut“ doch„noch nicht den vollen Durch-blck [sic]“, dann muss sich inbesagter Rede schon eine ge-hörige Portion Antisemitismusfinden. Da die Rede hält, wasMahler verspricht, kamen beiBeobachtern der Cyber-Nazi-Szene zunächst Zweifel an ihrerEchtheit auf. Vielleicht war esauch die Hoffnung, es könnedoch nicht wahr sein, dass einCDU-Parlamentarier derart aufNazi-Diktion zurückgreift, so,wenn er den „einzelne(n), denman früher Schmarotzer ge-nannt hätte“, geißelt. Die Zwei-fel hielten nicht lange: auf derHomepage des CDU-Kreis-verbandes Neuhof fand sichHohmanns Neuhofer Rede vom3. Oktober.

„Gerechtigkeit für Deutschland“ist Hohmanns Thema. So wid-met er sich eingangs der Sozi-alpolitik, genauer angeblichemSozialmissbrauch. „Wie vieleMenschen in Deutschland klop-fen ihre Pläne und Taten auchdarauf ab, ob sie nicht nur ei-gennützig, sondern auchgemeinschaftsnützig sind sie derGemeinschaft nützen, ob sie un-ser Land voranbringen?“ Ist das

schlecht eingedeutschter Ken-nedy? Oder geht Hohmann imKampf gegen Parasiten amVolkskörper „Gemeinnutz immervor Eigennutz“, wie es im 25-Punkte-Programm der NSDAPhieß? Vor dem Begriff „Volksge-meinschaft“ schreckt Hohmannzurück. Aber er meint: „Das Wir-Denken, die Gemeinschafts-bezogenheit, müssen [...] zwei-fellos gestärkt werden.“ Dasgeht bekanntlich am bestendurch Abgrenzung gegen ver-meintlich Fremdes.

Hohmann hegt den „Verdacht,daß man als Deutscher inDeutschland keine Vorzugsbe-handlung zu genießt“ (sic!). Erbelegt ihn unter Rückgriff aufseine parlamentarische Arbeitund erwähnt einige Anfragen andie Bundesregierung, derenBeantwortung ihn „nachdenk-lich“ gemacht habe. „Nachdenk-lich“ macht Hohmann u.a., dassdie Bundesregierung sich nichtfür die Entschädigung deut-scher Zwangsarbeiter einsetzenwolle. Schließlich macht ihn„nachdenklich“, dass die Bun-desregierung nicht dem Vor-schlag folgen wolle, „angesichtsder Wirtschaftsentwicklung unddes Rückgangs der Steuerein-nahmen [...] ihre Entschädi-gungszahlungen nach dem Bun-desentschädigungsgesetz (alsoan – vor allem jüdische – Opferdes Nationalsozialismus) der ge-sunkenen Leistungsfähigkeitdes deutschen Staates anzu-passen“. Der von der Bundes-regierung bekundete „Respektvor dem damaligen Leiden die-ser Menschen“, der es „gebie-te, das Entschädigungsniveauuneingeschränkt aufrechtzuer-

halten“, macht Hohmann „nach-denklich“.

Er sieht da wohl eine „Schief-lage“, wünscht er sich doch „ei-nen Konsens [...], wie er in vie-len anderen Ländern“ bestehe,nämlich: „Der eigene Staat mußin erster Linie für die eigenenStaatsbürger da sein.“ Dass die-se Maxime hier nicht gelte, führtHohmann auf die deutsche Ge-schichte zurück. So ergibt sichzugunsten sozialpolitischer Ge-rechtigkeit die Notwendigkeitgeschichtspolitischer Operatio-nen. Zwar bekräftigt Hohmann,„kein Kundiger und Denkender“könne „ernsthaft den Versuchunternehmen, deutsche Ge-schichte weißzuwaschen odervergessen zu machen“. Dochdas ist lediglich Rhetorik, umdesto heftiger dafür zu streiten,dass diese deutsche Vergan-genheit keine moralischen undpolitischen Konsequenzen mehrhaben möge. Und kämpfen müs-se man, denn: „Immer wiedererfahren wir, wie stark die 12Jahre der NS-Vergangenheit bisin unsere Tage wirksam sind.“

Das Treiben der Neonazis meintHohmann damit nicht: Ganzumgehen kann er dieses The-ma allerdings nicht. Doch alsPflichtübung führt es zu halsbre-cherischer Denk-Akrobatik:„Das Häufchen seiner [Hitlers]Adepten am rechtsextremenRand der politischen Szene istnicht zu verharmlosen.“ Schlimmgenug, dass der Satz sich überdie verharmlosende Rede vom„Häufchen“ selbst dementiert.Hohmann setzt noch eins drauf:„Nicht die braunen Horden, diesich unter den Symbolen des

„Braune Hordenunter den Symbolen des Guten“

Alfred Schobert

DISS-Journal 12, 2004 25

Raunen und Runen

Guten sammeln, machen tiefeSorgen.“ Es mag zwar sein, dassman gelegentlich But und Göseleicht verwechseln kann.Hohmanns Rede gibt aber An-lass zu der Befürchtung, dass ermanche Transparente jüngererNazi-Aufmärsche („Opi war keinVerbrecher“), tatsächlich für„Symbole des Guten“ hält.

Während die Hitler- undStrasser-Jungs Hohmann keineSorgen bereiten, macht ihm„eine allgegenwärtige Mut-zerstörung im nationalen Selbst-bewußtsein, die durch HitlersNachwirkungen ausgelöst wur-de“, allerdings „schwere Sor-gen“. Die „Schuld von Vorfah-ren“ an den „Menschheitsver-brechen“ habe „fast zu einerneuen Selbstdefinition derDeutschen geführt“. Deren Zen-trum sei „der Vorwurf: die Deut-schen sind das ‘Tätervolk’. Andiesem Bild werde mit „neuroti-schem Eifer“ gearbeitet. Oderaber für ein deftiges Autoren-honorar – als besonders schlim-mes Beispiel dafür nenntHohmann einen „amerikani-sche[n] Junior-Professor (Dani-el Jonah Goldhagen)“.Hohmann hätte auch gleich ‘derJude Goldhagen’ sagen kön-nen, denn im folgenden schlägter exakt diesen Ton an und hef-tet den auftretenden histori-schen Personen mehrfach einSubstitut des gelben Sterns an(„der Jude Felix Teilhaber“ usw.).

Gegen all die, die „fast neuro-tisch auf der deutschen Schuldbeharren“ (wie Hohmann Pfar-rer Joachim Gauck zitiert) stellter „die provozierende Frage:Gibt es auch beim jüdischenVolk, das wir ausschließlich inder Opferrolle wahrnehmen,eine dunkle Seite in der neue-ren Geschichte oder waren Ju-den ausschließlich die Opfer, dieLeidtragenden?“ Zur Beantwor-tung greift Hohmann ausgerech-

net auf Henry Fords Buch „TheInternational Jew“ zurück. „Dar-in“, so Hohmann, „prangert Forddie Juden generalisierend als‘Weltbolschewisten’ an. [...] Fordbrachte in seinem Buch eineangebliche ‘Wesensgleichheit’von Judentum und Kommunis-mus bzw. Bolschewismus zumAusdruck.“

Hohmann weiß, dass er hier aufideologischen Sprengstoff ge-stoßen ist. Er spricht von „The-sen, die für unsere Ohren derNS-Propaganda vom ‘jüdischenBolschewismus’ ähneln“. Stattaber den Kampfmittelräumdienstzu verständigen, hantiertHohmann mit seinem Fund her-um. Ausgiebig liefert Hohmann,gestützt auf ein Buch von Johan-nes Rogalla von Bieberstein,weitere vermeintliche Belege fürdie antisemitische These vom„jüdischen Bolschewismus“ undkommt zu folgendem Ergebnis:„Mit einer gewissen Berechti-gung könnte man im Hinblick aufdie Millionen Toten dieser erstenRevolutionsphase nach der ‘Tä-terschaft’ der Juden fragen. Ju-den waren in großer Anzahl so-wohl in der Führungsebene alsauch bei den Tscheka-Erschie-ßungskommandos aktiv. Daherkönnte man Juden mit einigerBerechtigung als ‘Tätervolk’ be-zeichnen.“

Es gehört freilich zu Hohmannsdemagogischem Geschick, dasser hier nur, grammatisch korrektim Konjunktiv, ein hypotheti-sches Zwischen-Ergebnis for-muliert. Zwar hat er lang undbreit (die Passage umfasst zir-ka ein Viertel des gesamtenRedetextes) die nazistische Pro-paganda vom jüdischen Bol-schewismus reproduziert und„die Juden“ als „Tätervolk“ ge-brandmarkt, aber das soll allesnur ein Gedankenspiel gewesensein – man kennt diese Schreib-technik von Ernst Nolte.

Hohmann präsentiert abschlie-ßend ein „Tätervolk“, das aus (ingroßer Zahl jüdischen, von Gottabgefallenen) Bolschewistenund Nazis besteht, deren „ver-bindendes Element“ die „reli-gionsfeindliche Ausrichtung unddie Gottlosigkeit“ gewesen sei-en. „Die Gottlosen mit ihren gott-losen Ideologien, sie waren dasTätervolk des letzten, blutigenJahrhunderts.“ Gegen „das Bö-se“ dieser Art sieht HohmannGott auf seiner Seite – einenGott mit nationaler Präferenz:„Mit Gott in eine gute Zukunftbesonders für unser deutschesVaterland!“

Diese auf Deutschland zentrier-te christlich-abendländische Ak-zentuierung der Totalitarismus-these Ernst Noltes kann aller-dings nicht darüber hinweg täu-schen, dass die CDU in Gestaltihres Abgeordneten Hohmannein massives Antisemitismus-Problem hat.

26 DISS-Journal 12, 2004

Raunen und Runen

Siegfried Jäger

Kritische DiskursanalyseEine Einführung

2., überarbeitete und erweiterteAuflage, 403 Seiten, EURO 23,00ISBN 3-927388-40-8, 2001

Kritische Diskursanalyse, inspiriertvon den Schriften Michel Foucaultsund orientiert an kultur- und literatur-wissenschaftlichen Analyse- undInterpretationsverfahren, erfreut sichzunehmender Beliebtheit in allenDisziplinen, die mit Texten zu tun ha-ben. Die vorgelegte 2. Auflage stellteine erheblich erweiterte und über-arbeitete Fassung der Ausgabe von1993 dar. Insbesondere die vielfacheempirische Erprobung dieses Kon-zepts in Projekten des DISS und ananderer Stelle war die Grundlage füreine intensive Überarbeitung diesesLehrbuches.

Bücher

Die so genannte Neue Rechte(NR) hat ein Problem: die wich-tigsten Prozesse in diesem Lan-de laufen weitgehend ohne sieab. Sie muss sich mit der un-dankbaren Rolle desjenigenbegnügen, der die Vorgängeinterpretiert und je nach Sicht-weise kritisiert oder absegnet.Das gilt speziell in Hinblick aufdie derzeitige „Reform“ desSozialstaates - nicht gerade einLieblingsthema der NR. In derAusgabe vom 26. September2003 der „Jungen Freiheit“ (JF)erhalten Gastautor EberhardStraub (den man im eigentlichenSinne nicht als der NR zugehö-rig betrachten kann) und die JF-Redakteurin Angelika Willig Ge-legenheit, ihre Positionen zumSozialstaatsproblem zu umrei-ßen. Die Debatte hat exempla-rischen Charakter.

„Sozialstaat retten“

Der Historiker Straub (Jg. 1940)war bis 1986 Feuilletonredak-teur der FAZ und bis 1997 Pres-sereferent des Stifterverbandesfür die Deutsche Wissenschaft.Er gehörte zu den „Zitelmän-nern“, die in den 90er Jahrender Nation einen Schnellkurs inSachen „Selbstbewusstsein“ zuverpassen suchten. SeineHauptsorge gilt denn auch derNation und ihrer Legitimations-grundlage, der Freiheit undGleichheit der Staatsbürger. MitTocqueville warnt er sowohl vorden „lähmenden Wirkungen ei-nes demokratischen Wohlfahrts-staates ohne die korrigierendeFreiheit“ als auch vor dem Wir-ken der „neue[n] Aristokratie [...]

des Geldes“. Deren Freiheit sei„keiner sittlichen Idee verpflich-tet, nur Ausdruck des immer be-weglichen und nach Vermehrungdrängenden Kapitals“. Freiheitund Gleichheit stünden in einemSpannungsverhältnis zueinan-der, und es bedürfe einer In-stanz, die beides miteinandervermittle und ausbalanciere.Tocqueville habe daher die Auf-nahme der Idee der sozialenGerechtigkeit in die Staats-zielbestimmung befürwortet, da„der freie Markt und die freieKonkurrenz [...] aus sich herauskeine gerechten Verhältnisseschaffen“ könnten. „Die Freiheitdes Wirtschaftsliberalismus“, soStraub, entfalte sich „wohltätig“[!] nur unter der Voraussetzung,„dass sie auf übergeordneteZiele und Aufgaben verpflichtet“wird.

Diese Vision eines nationalenSozialstaates, der „mit seinerVernunft [!] rein ökonomischen,eigennützigen Interessen“ alsFreiheit und Menschenwürdeschützende Ordnungsmachtentgegentritt, mag hoffnungslosidealistisch klingen; sie greift auftraditionell wertkonservative undkonservativ-etatistische Vorstel-lungen vom „Staat als sittlicherIdee“ zurück. Gleichwohl ver-weist Straub auf einen wichtigenPunkt, den er denjenigen politi-schen Kräften, die am Projektdes Nationalstaats gegen dieEntwicklung eines europäischenBundesstaates festhalten wol-len, ins Stammbuch schreibt: dieWirkmächtigkeit der nationalenIdee sei aller historischen Erfah-rung nach daran gebunden,

dass die Strukturen der Klassen-gesellschaft durch Egalisie-rungsprozesse in politischer undsozialer Hinsicht gemildert undsoziale Mobilität ermöglicht wer-den könnten. Mit Blick auf dieCSU hält er daher die ehemalspropagierte Parole „Freiheitoder Sozialismus“ für kontrapro-duktiv.

„Sozialstaat abbauen“

Den neoliberalen Gegenpart zuStraub übernimmt die mit einerArbeit über Jaspers undHeidegger promovierte Philoso-phin Angelika Willig (Jg. 1963).Am Neoliberalismus interessiertdie JF-Redakteurin freilich we-niger die ökonomische Argu-mentation gegen angeblichmarktfremde Eingriffe von Sei-ten des Sozialstaates oder Ge-werkschaften, auch wenn sie wieselbstverständlich das Klageliedüber die hohen Lohn- und Lohn-nebenkosten sowie die hoheRegulierungsdichte in Deutsch-land („halbsozialistisches Sy-stem der Umverteilung“) an-stimmt. Ihr Hauptaugenmerkrichtet sie vielmehr auf die men-tale und politische Verfasstheitder Nation. Von der „neue[n]deutsche[n] Faulheit“ ist dieRede, und Frechheit, Dumm-heit, Respektlosigkeit, Dreistig-keit, Undiszipliniertheit, Ober-flächlichkeit seien quer durchalle Volksschichten, „vom Mini-sterialdirigenten bis hinunterzum Sonderschüler“, die ganznormalen deutschen Tugenden.Von wegen „anständiges Volk“!Da hilft nur noch die Solidaritätder Leistungswilligen und Lei-

Sozialstaat - Ja bitte, nein danke!Rechte Gedanken zum Abbau des Sozialstaats

Helmut Kellershohn

DISS-Journal 12, 2004 27

Raunen und Runen

stungsstarken. Diese Leistungs-elite aber habe ein Problem: Siesei unfähig, „ihre sozial privile-gierte Stellung moralisch zurechtfertigen“! Hier will Willigaushelfen. Ihre Forderung nach„radikale[r] Streichung“ sozial-staatlicher Zuwendungen ver-knüpft sie mit einem radikalenAngriff auf das bundesrepubli-kanische Demokratieverständ-nis.

Nicht Tocqueville ist ihr Ge-währsmann, sondern der uner-wähnt bleibende Ludwig vonMises, der einer der ideologi-schen Erzväter der radikal-liberalen Zeitschrift „eigentüm-lich frei“ um Andre F. Lichtschlagist und neuerdings auch in derJF wiederentdeckt wird. Manversteht sich in diesem Kreis als„libertär“ und möchte mit allenMarktradikalen, Anarchisten [!]und Kapitalisten dem Staat denKampf ansagen. Eigentümli-cherweise hat man keineBerührungsängste, sich mitPreußenfans, jungkonserva-tiven Etatisten usw. an einenTisch zu setzen. Diesbezüglichempfiehlt sich ein Blick in dieDarstellung des Liberalismusvon v. Mises: „Das Programmdes Liberalismus hätte [...], inein einziges Wort zusammenge-fasst, zu lauten: Eigentum, dasheißt: Sondereigentum an denProduktionsmitteln.[....] Alle an-deren Forderungen des Libera-lismus ergeben sich aus dieserGrundforderung.“ (Ludwig v.Mises: Liberalismus, Jena 1927,S. 17) In politischer Hinsicht be-deutet das: Ist die kapitalistischeEigentumsordnung gefährdet,hat der Nachtwächterstaat aus-gedient, schränkt der „halb-sozialistische“ Interventionsstaatdie Bewegungsfreiheit des ka-pitalistischen „Sondereigen-tums“ zu stark ein, darf es fürLudwig von Mises eben auchder Faschismus sein, um fürAbhilfe zu sorgen. Denn „der

Faszismus und alle ähnlichenDiktaturbestrebungen ...[haben]für den Augenblick die europäi-sche Gesittung gerettet [...]. DasVerdienst, das sich der Fas-zismus damit erworben hat, wirdin der Geschichte ewig fortle-ben.“ (ebd., S. 45)

Bei Willig riecht es zwar nichtnach Mussolini, aber ähnlich:Die Wende zum Besseren kön-ne in Deutschland nicht vonKonservativen und Rechtspo-pulisten, überhaupt nicht vonder Politik, sondern „nur von derWirtschaft“ selbst ausgehen.Warum? – Mit schuld an der Mi-sere des Sozialstaats sei inDeutschland das Demokratie-verständnis. Man nehme es hierviel zu „genau“, jede Stimme zäh-le gleich, „egal wie viel ihr Besit-zer“ leiste. Und statt wie in denUSA Demokratie als einen for-malen, unpolitischen Entschei-dungsmechanismus zu verste-hen, vertrete man hier die Idee,„dass die Gleichheit des Stimm-zettels sich in einer sozialenGerechtigkeit realisieren müs-se“. Demgegenüber sei dieWirtschaft grundsätzlich „antide-mokratisch“ strukturiert, es gebekeine Mehrheitsentschei-dungen, keine „Mitleidsideolo-gie“, sondern eine „natürlicheRangordnung“ von oben nachunten. Und mit Blick auf völki-sche Idealisten unter den JF-Lesern empfiehlt sie den „auto-ritären Staat [...], der die Gabenstreng“ verteile. Alle Macht dem„freien Unternehmertum“, Wirt-schaftsfachleute in ein Not-standskabinett – so Willigs De-vise.

Sinn der Debatte

Die Debatte zwischen Straubund Willig ist in mehrfacher Hin-sicht interessant. Erstens zeigtsich an ihr eine gewisse Ab-straktheit und ‘Ideologie-lastigkeit’ der Argumentation. Es

geht mehr um Sinnstiftung undOrientierung, um das Setzenvon ‘Duftmarken’ als um die kon-krete Analyse einer konkretenSituation. Natürlich fühlt undweiß man sich im Willen zum Ein-satz für die Nation verbunden,aber über die Definition der ak-tuellen Belange der Nation, jaselbst über das Grundver-ständnis von Nation, gehen diePositionen doch ziemlich aus-einander. Während Straub aneinem staatlich vermittelten Ge-sellschaftsvertrag bzw. an einemkonstitutionellen Verständnisvon Nation festhält, transformiertWillig die Bürger-Nation in eineArt Führer-Gefolgschaftsver-hältnis.Zweitens: Die Funktion der De-batte besteht offensichtlich dar-in, die Bandbreite strategischerOptionen im Übergangsfeldzwischen Konservatismus undRechtsextremismus nicht zuleugnen, sondern im Gegenteilsie aller erst deutlich zu kontu-rieren. Das hat durchaus exem-plarischen Charakter und ver-weist auf das Selbstverständnisder Neuen Rechten (bzw. derJF). Es geht ihr darum, über ei-nen Prozess der Vermittlung dieDifferenzen zwischen den diver-sen Strömungen im besagtenÜbergangsfeld abzuflachen undan einem ideologischen Block zuarbeiten, der in der Lage ist, daspolitische Koordinatensystemder Republik nach rechts zu ver-schieben.

28 DISS-Journal 12, 2004

Raunen und Runen

Das DISS hat im Auftrag desDüsseldorfer Versorgungsam-tes eine systematische Sichtungder Publizistik der extremenRechten im Ruhrgebiet vorge-nommen. Es stellten sich zweiOrgane als für die Thematikbedeutend heraus: die Zeit-schrift Freiheit Wattenscheidund das nur im Subkultur-Un-derground erhältliche Blatt För-derturm.Im Abgleich mit anderen Aktivi-täten der extremen Rechten imRevier und den organisatori-schen Zusammenhängen derPeriodika (Redaktion, Förderer,Anzeigenkunden usw.) wurdeeine Übersicht über Themenund journalistische Mittel er-stellt, auf deren Grundlage ex-emplarische Feinanalysendurchgeführt wurden. Sie wid-meten sich den regionalspe-

Gegen beleidigte Resonanzen:

Medienbild IsraelAus dem Projekt des DISS zum Thema „Medienberichterstattungzur Zweiten Intifada“ (September 2000 bis August 2001) ist einBuch hervorgegangen, das inzwischen im Münsteraner LIT-Ver-lag erschienen ist. Der Band hat einen Umfang von 368 Seitenund kostet 25,00 Euro.Nachdem die Kurzfassung des Projektberichts teilweise kritische,manchmal sogar beleidigte Resonanz in den Medien erfahrenhatte, besteht damit die Gelegenheit, die Argumentation diffe-renziert nachzuvollziehen. Es zeigte sich, dass die Print-Mediensowohl Israelis wie Palästinenser oft sehr unkritisch-negativ dar-stellten, wobei auch Anschlussstellen an rassistisches und anti-semitisches Denken zu beobachten waren.Bestelladresse:LIT-Verlag, Grevener Str 179, 48159 MünsterTel. 0251-235091, e-mail: [email protected]

Seit März 2003 ist das DISS mitder Evaluation des Europa-Pro-jektes KICK IM KOPF – Vielfaltin Deutschland, befasst, wel-ches Anfang 2002 startete undbis Ende 2004 laufen wird. Hier-bei handelt es sich um ein Ko-operationsprojekt zwischen derFH-Düsseldorf - Forschungs-schwerpunkt Rechtsextremis-mus und Neonazismus und derGeorg-Simon-Ohm Schule Be-rufskolleg 13 der Stadt Köln imRahmen des XENOS-Program-mes. Das Berufskolleg verfügtüber einen Vollzeit- und ein Teil-zeitbereich, welcher hauptsäch-lich im Medienbereich speziali-siert ist. Ziel des Projektes ist es,soziale Ausgrenzungsphäno-mene zu beleuchten und mit denSchülerInnen Strategien zu er-arbeiten, diesen entgegenwir-ken zu können. Der Zwischen-bericht zeigt, dass diese Phäno-mene von den SchülerInnenzwar als gesellschaftliche Wirk-lichkeit wahrgenommen und inden Fragebögen auch als „er-lebt“ beschrieben werden, die-se gesellschaftliche Wirklichkeitaber bei persönlichen Gesprä-chen von der Realität abgekop-pelt wird - Ausgrenzungspro-zesse finden statt, aber nicht beiuns. Die Auswertung der Inter-views hingegen zeigt, dass dieSchülerInnen in ihrem Alltag Aus-grenzungsprozesse sehr wohlerleben, diese aber häufig ver-drängen bzw. umdefinieren. Inder Restlaufzeit soll das Projektdurch den Einbezug andererSchulen, auch im OstenDeutschlands, ausgeweitet wer-den.I.T.

Xenos-Projekt

Kick im KopfRechtsextreme Agitation

im Ruhrgebiet

zifischen Themen wie Regional-geschichte mit völkisch-nationa-listischem bzw. NS-Bezug, Arbeitund Arbeiterkultur im Ruhrgebiet(auch als Vorgabe für Identitäts-bildung), „Heidentum“ und Ger-manentümelei mit Regional-bezug (Freiheit Wattenscheid).Zentrale Themen wie „Kulturre-volution von rechts“ und „Globa-lisierungskritik von rechts“, die inder bisherigen Forschung nurlückenhaft untersucht wordensind, wurden gesondert heraus-gearbeitet.

Die Empfehlungen zur Präventi-on rechtsextremer Agitation, diesich insbesondere an kommu-nale und regionale Handlungs-trägerInnen richten, wie auch dieTextanalysen sind auf unsererhomepage www.uni-duisburg.de/diss nachzulesen.

DISS-Journal 12, 2004 29

Diss-intern

Wer an einem Bahnhofskiosknach Lektüre für die Zugfahrtsucht, findet in der AbteilungWochenzeitungen - oftmals aus-gerechnet neben der JÜDISCHEN

ALLGEMEINEN und dem FREITAG -die JUNGE FREIHEIT. Wer dieseZeitung öffentlich als rechtsex-trem bezeichnet, muss damitrechnen, dass ihm erstauntePersonen entgegnen, dies seidoch ein durchaus seriösesBlatt, ein wenig „konservativ“,ein wenig „umstritten“ ja, aberdoch interessant und keines-wegs demagogisch. Da wir mitsolchen Entgegnungen in letz-ter Zeit häufiger zu tun beka-men, entschlossen wir uns,nach dem von Helmut Kellers-hohn bereits 1994 herausgege-benem Band „Das Plagiat. Dervölkische Nationalismus der JUN-GEN FREIHEIT“ erneut eine Ana-lyse der Zeitung vorzunehmen.Es zeigte sich: Die Nation alsüberhöhte Abstammungs-gemeinschaft wird weiterhin ge-gen das neuzeitliche Konzeptvon Demokratie mobil gemacht.„Nation statt Demokratie“ ist dasdurchgängige Motto. Die JUNGE

FREIHEIT bewegt sich, mal ge-tarnt, mal mit offenem Visier imrechten Grenzraum desVerfassungsbogens und be-

Der Beirat des DISS hat sich ent-schlossen, die Bücher des DISSzukünfig (ab 2004) als „editionDISS“ im Unrast-Verlag Münster er-scheinen zu lassen. Dieser kleine,aber leistungsfähige Verlag kannhöhere Auflagen für unsere Büchererzielen. Von der Kooperation mitihm versprechen wir uns eine er-hebliche Arbeitserleichterung. Diedamit frei werdenden Kapazitäten,die bisher durch Herstellung undVertrieb absorbiert wurden, könnenso für die wissenschaftliche Arbeit

An deutschen Bahnhöfen:

Nation statt Demokratie

treibt Woche für Woche intellek-tuelle Aufrüstung gegen diemoderne demokratische Gesell-schaft, die als „dekadenteSpaßgesellschaft“ abqualifiziertwird.Das Buch ist soeben erschienenund kann über den Buchhandelbestellt werden.

Martin Dietzsch / Siegfried Jäger/ Helmut Kellershohn / AlfredSchobertNation statt Demokratie. Seinund Design der „Jungen Frei-heit“243 Seiten, 19,80 EURO, ISBN 3-927388-84-X, 2003

Edition DISS im Unrast-Verlag Münster„gegen den Strich“ zum Einsatzkommen.Alle DISS-Bücher - soweit nochnicht vergriffen - sind also ab1.1.2004 über den Unrast-Verlag inMünster zu beziehen. Die AdresselautetUnrast -VerlagAm Hawerkamp 11Postfach 8020D - 48043 MünsterTelefon: 0251/666293Fax: 0251 666120eMail: info@unrast-V erlag.dewww.unrast-verlag.de

30 DISS-Journal 12, 2004

Margarete Jäger / Siegfried Jäger(Hg.)Medien im KriegDer Anteil der Printmedien ander Erzeugung von Ohnmachts-und Zerrissenheitsgefühlen301 Seiten18,00 EUROISBN 3-927388-79-32002

Im Krieg der NATO gegen Jugosla-wien haben die Medien eine her-ausragende Rolle gespielt. Sie ha-ben dazu beigetragen, Zustim-mung, mindestens aber Hinnahmedes Krieges im Massenbe-wusstsein zu erzeugen. Durch ihreimmer wieder beteuerte Haltung,Fakten bringen zu wollen, dies abernicht zu können, durch die ständi-ge Präsentation erschütternder Bil-der, konnten sich Hilflosigkeit undOhnmachtsgefühle ausbreiten, ob-wohl der Krieg durch die Bevölke-rung weitgehend abgelehnt wurde.Daran konnten auch die kritischenStimmen in den Medien nichts aus-richten.Fünf Aspekte werden herausgearbei-tet:- Die angebliche Unvermeidbarkeit

des Krieges- Die Kritik am Krieg- Die Funktion der Bilder- Die Diskussion der militärischen

und politischen Strategien- Die Sicht der Medien auf ihre Rol-

le im Krieg

Diss-internBücher

Erfreulich, aber ausbaubar:

Der Förderkreis des DISSWissenschaftliche Arbeit, besonders solche, die sich nicht demMainstream unterwirft, hat ihren Preis. Das DISS führt immer wie-der auch nicht durch Fördermittel unterstützte Projekte durch, wieetwa das Projekt „BrandSätze“, das Projekt „Biomacht“ u.a. Es sindgerade solche unabhängigen Projekte, die, weil sie sich demhegemonialen wissenschaftlichen Diskurs widersetzen, nicht odernur in geringem Maße durch Forschungsmittel der großenForschungsförderungsinstitutionen unterstützt werden. Solche Pro-jekte werden nicht zuletzt durch den Förderkreis ermöglicht, derseit seiner Gründung 1987 wesentlich dazu beiträgt, die laufen-den Infrastrukturkosten des Instituts aufzubringen.Für das Jahr 2003 gibt es dazu Erfreuliches zu berichten: Der För-derkreis des DISS hat sich in diesem Jahr erheblich erweitert. Dasermöglicht uns trotz auch finanziell immer schwieriger werdenderZeiten, unsere Arbeit gegen den diskursiven Strich aufrechtzuer-halten und - in bescheidenem Maße - auch zu erweitern. Dazubeigetragen hat eine kleine Aktion, durch die wir die Teilnehmerin-nen an unseren seit 1987 jährlich durchgeführten workshops undColloquien angeschrieben und zum Beitritt zu unserem Förderkreisgebeten haben.An die Leserinnen dieses DISS-Journals richten wir daher auchdie Bitte:

Werden Sie Mitglied im Förderkreis des DISS .Sie erhalten das zweimal im Jahr erscheinende DISS-Journal undwerden auf Wunsch zu den jährlichen wissenschaftlichen Colloquiendes DISS eingeladen. Die Beiträge (ab 10 Euro monatlich) sindsteuerlich absetzbar, und Sie erhalten automatisch jährlich eineSpendenquittung. Wir erbitten die Beiträge auf das Konto209011667, Stadtsparkasse Duisburg, BLZ 350 500 00.Wir schicken Ihnen gerne ein Beitrittsformular zu.

Nachdem das DISS die JUNGE

FREIHEIT im Frühjahr 2003 zueiner Gegendarstellung ver-anlassen konnte, ist sie dergerichtlichen Verpflichtung,die unrichtigen Behauptun-gen in Zukunft zu unterlassen,nicht nachgekommen. Bis zuunserer Intervention warendie inkriminierten Passagenweiterhin im elektronischenArchiv der JUNGEN FREIHEIT

nachzulesen. Das DISS hatKlage erhoben.

Rechtsstreit mitder J UNGEN FREIHEIT

DISS-Journal 12, 2004 31

Diss-intern Bücher

Margarete Jäger / Heiko Kauffmann(Hg.)

Leben unter Vorbehalt. Institutionel-ler Rassismus in Deutschland

308 Seiten, 19,90 EURO, ISBN 3-927388-83-1, 2002

Aus unterschiedlichen politischenund gesellschaftlichen Blickwinkelnwerden Gesetzesvorschriften, Pra-xen und Verfahrensweisen vorge-stellt und kritisiert, denen Einwan-derer und Flüchtlinge in Deutsch-land begegnen und die beseitigtwerden müssen, wenn eine huma-ne Asyl- und Einwanderungspolitiknicht zum Etikettenschwindel ver-kommen soll.

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Krieg ohne Ende?Sonderheft Irak-Krieg 2003DISS-Journal undkultuRRevolution42 Seiten A4, 5,00 EURO

Im Zentrum dieses Heftes steht die„Initiative Intelligente De-Eskala-tionsstrategie“. Ergänzt wird dieserSchwerpunkt durch Beiträge zumKrieg im deutschen Mediendiskurssowie Länderberichte über Italien,Spanien, Japan und Frankreich.Die Sondernummer versteht sichals Angebot an die Friedensbewe-gung zur Diskussion in (vorüberge-hend) ruhigeren Zeiten.

Anzufordern beim DISS

Hans Uske / Michael Heveling-Fischell / Waldemar Mathejczyk

Risiko Migration

Krankheit und Behinderung durch

Arbeit140 Seiten, 14,00 EUROISBN 3-927388-81-5, 2001Migrantinnen arbeiten im Durch-schnitt unter höheren Arbeitsbela-stungen, sie verunglücken öfter beider Arbeit und sind häufiger schwer-behindert. Anhand aktueller Datender Krankenkassen, der Rentenver-sicherung und der Berufsgenossen-schaften wird der Frage nachgegan-gen, warum es heute noch ein be-sonderes Risiko für Migrantinnengibt und was dagegen zu tun ist.

Eva Kaewnetara / Hans Uske (Hg.)

Migration und AlterAuf dem Weg zu einer kultur-kompetenten AltenarbeitKonzepte – Methoden – Erfahrungen167 Seiten, 14,80 EURO, ISBN 3-927388-77-7, 2001Seit den 80er Jahren wird darüber dis-kutiert, was passieren muss, wennArbeitsmigrantinnen ins Rentenalterkommen. Die Probleme, die für die Be-troffenen, die Gesellschaft und die Ein-richtungen der Altenhilfe entstehen, sindprognostiziert und es herrscht weitge-hend Konsens über einen entsprechen-den Handlungsbedarf.So haben sich Verantwortliche in politi-schen Institutionen, Wohlfahrtsverbän-den und auch in der Forschung damitbeschäftigt, wie Angebote der Altenhilfedieser Situation gerecht werden könnenund wie sich die Bedürfnisse von älte-ren Migrantinnen in die bestehendenStrukturen einpassen lassen.Dazu wurde eine Reihe von Modellver-suchen installiert, in denen neue Wegeeiner für Migrantinnen offenen oder spe-ziell auf sie bezogenen Altenhilfe erkun-det wurden. Ihre Erfahrungen und Ergeb-nisse sind jedoch bisher kaum veröffent-licht, wichtiges Know-how geht so verlo-ren.Das Buch „Migration und Altenhilfe“ be-absichtigt, die in solchen Projekten auf-gefundenen Antworten zu dokumentie-ren, einzuordnen und für die Praxis zu-gänglich zu machen. Es enthält Beispieleerfolgreicher Praxis und Reflexionen derdamit zusammenhängenden Probleme.

DISS-Bücher zum Thema Migration und Alter

Bisher konnten Lehrkräfte für den Unterricht in kulturkompetenter Pfle-ge nicht auf systematische Unterrichtsmaterialien zurückgreifen. DasBuch schließt diese Lücke. Es bietet Hintergrundwissen und Vorschlä-ge zur Gestaltung des Unterrichts.Im Hinblick auf die bedarfsgerechte Versorgung von älteren Migrantenist es grundlegend, die Migrationsgeschichte der eingewanderten Men-schen zu kennen. Das Modul Kultur liefert Hintergründe dazu, was dar-unter zu verstehen ist, wie kulturelles Handeln entsteht, wie es zu Unter-schieden kommt, was diese bedeuten und welche Fehlinterpretatio-nen bzw. Missverständnisse hieraus entstehen können.Ein weiteres Modul ist in der alltäglichen Pflegepraxis angesiedelt.Schmerz ist hier ein wichtiges Thema. Hier existieren unter Pflegendenbesonders viele Vorurteile, gleichzeitig sind die Forschungsergebnis-se im Hinblick auf kulturelle versus individuelle Besonderheiten imSchmerzerleben relativ eindeutig. Das Modul Kulturkompetente Pflegeschließlich umfasst Grundwissen über Demographie und Lebensbe-dingungen von altgewordenen Arbeitsmigrantinnen, Ansätze für einekulturkompetente Pflegepraxis sowie ein Konzept interkultureller Kom-petenz in der Pflege.

128 Seiten DIN-A-417,00 EUROISBN: 3-972388-85-8(September 2003)

Berufsfortbildungswerk des DGB (bfw)Rhein-Ruhr-Institut an der Universität Duisburg-Essen (RISP

(Hg.)

Pflege in derEinwanderungsgesellschaft

Module für den Unterricht

KulturMigrationsgeschichte

SchmerzKulturkompetente Pflege

Berufsfortbildungswerkdes DGB (bfw) /Rhein-Ruhr-Institut an derUniversität Duisburg-Essen (RISP) (Hg.)Pflege in der Ein-wanderungsgesellschaft

Neu erschienen