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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen Kapitel 6 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen 6.1 Diskursbeschreibungen Während im vorhergehenden Kapitel die Anlage der Untersuchung, die Planung der Gespräche, sowie der Verlauf der Erhebungen thematisiert wurden, folgt in diesem Kapitel die Darstellung der Interpretationsergebnisse, die im Rahmen der Arbeit nach der dokumentarischen Methode erarbeitet wurden. Die Transkripte der einzelnen Gruppendiskussionen werden unter Zuhilfenahme der Videoaufzeichnungen und des Tonmaterials daraufhin ausgewertet, an welchen Stellen die Jugendlichen über die Projekte, in denen sie sich befinden, sprechen und wie sie diese beurteilen. Dazu werden von den Jugendlichen z.T. längere Erzählungen angeführt, die auf die Praxisweisen in den einzelnen Projekten verweisen. Durch diese Schilderungen können kollektive Orientierungsmuster der Jugendlichen insgesamt herausgearbeitet werden. Der konjunktive Erfahrungsraum, den die Jugendlichen miteinander teilen bezieht sich dabei, so die erste Vermutung, auf die Entwicklungstypik, d.h. es kann angenommen werden, dass alle beteiligten Jugendlichen in den Projekten vor ähnlichen Herausforderungen bezüglich ihres Lebensalters stehen. Darüber hinaus erscheint es wahrscheinlich zu sein, dass auch über den Generationszusammenhang ein konjunktiver Erfahrungsraum gegeben ist. Dadurch, dass die Jugendlichen allgemeine – gesellschaftliche Probleme, wie z.B. die andauernde Massenarbeitslosigkeit – zu einer ähnlichen Zeit erleben, entsteht ein gemeinsames Wissen über eben diese Zusammenhänge, das in den Schilderungen der Jugendlichen über unterschiedliche Thematiken expliziert wird. So richtet sich die Forschungsfrage auf die in dieser Form thematisierten Zusammenhänge und auf die Frage, wie sie in den einzelnen Diskussionen über diese Frage diskutieren. Darüber hinaus wird untersucht, wie die Jugendlichen über Lernen in unterschiedlichen institutionellen Kontexten sprechen und welches Lernverständnis sich in diesen Äußerungen dokumentiert. Durch die Interpretation soll herausgearbeitet werden, welche Handlungstypologien bei den Jugendlichen herausgearbeitet werden können und auf welchen (kollektiven) Orientierungsmustern sie basieren. In einem letzten Schritt gilt es dann zu untersuchen, ob die Schilderungen darauf schließen lassen, dass diese Orientierungsmuster durch die sozialpädagogische Praxis irritiert werden. Sollten sich Anzeichen dafür ergeben, entstehen – so die These – Möglichkeiten zur Explikation, Reflexion und damit auch zur Transformation 191

Dokumentarische Interpretation der Gurppendiskussionen · Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen aber es gibt halt auch Sachen, ähm, die man für später wissen muss

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Kapitel 6

6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

6.1 Diskursbeschreibungen

Während im vorhergehenden Kapitel die Anlage der Untersuchung, die Planung der

Gespräche, sowie der Verlauf der Erhebungen thematisiert wurden, folgt in diesem

Kapitel die Darstellung der Interpretationsergebnisse, die im Rahmen der Arbeit nach

der dokumentarischen Methode erarbeitet wurden.

Die Transkripte der einzelnen Gruppendiskussionen werden unter Zuhilfenahme der

Videoaufzeichnungen und des Tonmaterials daraufhin ausgewertet, an welchen

Stellen die Jugendlichen über die Projekte, in denen sie sich befinden, sprechen und

wie sie diese beurteilen. Dazu werden von den Jugendlichen z.T. längere Erzählungen

angeführt, die auf die Praxisweisen in den einzelnen Projekten verweisen.

Durch diese Schilderungen können kollektive Orientierungsmuster der Jugendlichen

insgesamt herausgearbeitet werden. Der konjunktive Erfahrungsraum, den die

Jugendlichen miteinander teilen bezieht sich dabei, so die erste Vermutung, auf die

Entwicklungstypik, d.h. es kann angenommen werden, dass alle beteiligten

Jugendlichen in den Projekten vor ähnlichen Herausforderungen bezüglich ihres

Lebensalters stehen. Darüber hinaus erscheint es wahrscheinlich zu sein, dass auch

über den Generationszusammenhang ein konjunktiver Erfahrungsraum gegeben ist.

Dadurch, dass die Jugendlichen allgemeine – gesellschaftliche Probleme, wie z.B. die

andauernde Massenarbeitslosigkeit – zu einer ähnlichen Zeit erleben, entsteht ein

gemeinsames Wissen über eben diese Zusammenhänge, das in den Schilderungen der

Jugendlichen über unterschiedliche Thematiken expliziert wird.

So richtet sich die Forschungsfrage auf die in dieser Form thematisierten

Zusammenhänge und auf die Frage, wie sie in den einzelnen Diskussionen über diese

Frage diskutieren. Darüber hinaus wird untersucht, wie die Jugendlichen über Lernen

in unterschiedlichen institutionellen Kontexten sprechen und welches Lernverständnis

sich in diesen Äußerungen dokumentiert. Durch die Interpretation soll

herausgearbeitet werden, welche Handlungstypologien bei den Jugendlichen

herausgearbeitet werden können und auf welchen (kollektiven) Orientierungsmustern

sie basieren. In einem letzten Schritt gilt es dann zu untersuchen, ob die Schilderungen

darauf schließen lassen, dass diese Orientierungsmuster durch die sozialpädagogische

Praxis irritiert werden. Sollten sich Anzeichen dafür ergeben, entstehen – so die These

– Möglichkeiten zur Explikation, Reflexion und damit auch zur Transformation

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

solchen impliziten Wissens. In Bezug auf den theoretischen Gesamtrahmen könnten

solche Praxisweisen dann als geeignet beschrieben werden, um Bildungsprozesse im

Sinne der Transformation von inkorporierten Handlungsroutinen, die zumindest zum

Teil auf ein kollektiv geteiltes, implizites Wissen zurückgehen, bei den Jugendlichen

zu ermöglichen.

Die Sequenzen wurden aufgrund ihrer dramaturgischen Bedeutung im Diskurskontext

ausgewählt. Ausgehend von den in Kapitel 4 ausgeführten Überlegungen zu

Fokussierungsmetaphern wurden gezielt solche Textstellen einer intensiven

Interpretation unterzogen, die einen interessanten thematischen Bezug zur

Forschungsfrage aufwiesen, die durch eine hohe narrative Dichte gekennzeichnet

waren oder solche, in denen die Interaktion der Jugendlichen untereinander besonders

intensiv waren. Zu Beginn der Beschreibung einzelner Diskussionssequenzen werden

die Relevanz der Textstelle und ihr Kontext in der Diskussion jeweils ausgeführt, um

die zum Teil exponierte Stellung dieser Textpassagen zu verdeutlichen.

In den beiden Gruppendiskussionen mit den Codenamen Boden und Meer wurden für

die Interpretation in erster Linie solche Passagen berücksichtigt, die im Anschluss an

die Eröffnung der Diskussionen durch den Grundreiz erfolgten. Bei der Diskussion der

Gruppe Feld wurde darüber hinaus auch die Vorbesprechung einer intensiveren

Auswertung unterzogen, um zum einen zu verdeutlichen, dass die Erhebungssituation

mit dem Moment beginnt, in dem die Gespräche der Jugendlichen beginnen und nicht

erst durch die formale Eröffnung der Diskussion durch den Grundreiz, zum anderen

wird bereits in der Vorbesprechung ein thematischer Fokus der Jugendlichen deutlich,

der sich durch die gesamte Gruppendiskussion hindurch zieht.

Aufgrund der hohen Vergleichbarkeit ist die Diskussionssequenz jeweils nach der

Präsentation des Grundreizes durch den Moderator für die komparative Analyse der

Gruppendiskussionen besonders wichtig. An der Sequenz der Diskussion des

Grundreizes in der Gruppe Boden werden die verschiedenen Arbeitsschritte

exemplarisch vorgestellt.

Die Darstellung erfolgt in der Reihenfolge der Interpretation des Datenmaterials, da

mit zunehmender Übersicht über die verschiedenen Fälle und ihre exponierten

Textstellen eine gruppenübergreifende komparative Fallanalyse der

Gruppendiskussionen mehr und mehr in die Interpretation eingeflossen ist und die

Darstellungen dadurch von Sequenz zu Sequenz dichter werden.

Im Anschluss an die Diskursbeschreibungen werden zunächst auf der thematischen

Ebene Vergleiche der einzelnen Thematiken der Jugendlichen in den

unterschiedlichen Gruppendiskussionen herausgearbeitet, die sich auf

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Gemeinsamkeiten und Unterschiede beziehen. Dazu werden zunächst die von allen

Jugendlichen thematisierten Aspekte der Schule, der Familie, Drogen und Arbeit und

Beruf miteinander verglichen und auf Kontraste und Gemeinsamkeiten hinsichtlicher

Art und Weise der Thematisierungsformen und der sich darin dokumentierenden

Orientierungsmuster untersucht.

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

6.2 Diskursbeschreibung Gruppe Boden

6.2.1 Textsequenz 1: Diskussion Grundreiz – formulierende und reflektierende

Interpretation

Auszug aus dem Transkript 129 Mm: Dann könnt ihr das nämlich besser lesen (.)

möglicherweise [klebt Plakat auf] Ihr kennt bestimmt alle diesen Satz „Du lernst nicht für die Schule, sondern"

130 Gw: Für dich. 131 Mm: Für dich. Genau. Oder für das Leben. Oder so. 132 Gw: Ja. 133 Mm: Ich hab das mal versucht umzudrehen und dann kommt

dabei raus, „Nicht für das Leben sondern für die Schule lernen wir" [Husten]

134 (7) 135 Und das wäre quasi jetzt der Einstieg. 136 (4) 137 Stimmt das oder stimmt das eigentlich, was man

immer zu hören kriegt? 138 Bm: Das andere. 139 Aw: Das andere. Also wenn ich jetzt gerade in ner

Schulsituation bin, denke ich äh ich nicht, das ich grad alles nur für die Schule mache, dass ich da durchkomme. Aber für die Zukunft mach ich, also hab ich mir jetzt vor einem Jahr noch nicht, wirklich noch nicht Gedanken drüber gemacht. Jetzt wo's zum Ende zu geht, dann denk ich schon, dass ich für mich lerne. Und nicht für die Schule. Aber da, vor einem Jahr hätt ich noch anders glaub ich darüber gedacht. (.)

140 Fm: Das denk ich stimmt jetzt, der Satz, weil (.) äh immer wenn ich ne Arbeit schreibe wenn ich se fertig hab ist das wieder weg. Denn brauch ich wieder n leeren Kopf für die nächste Arbeit. Dann lern ich nicht wirklich fürs Leben sondern eher für die Arbeit oder für die Schule halt.

141 Gw: Ich glaube irgendwie manche Sachen, für manchmal stimmt das, weil wenn ich jetzt irgendwie über irgendwelche Formeln schreibe, die ich später niemals wieder in meinem Leben gebrauchen werde, lern ich für die Schule fürs, praktisch gesehen auch fürs Leben, weil durch die Noten werd ich halt für das Leben, für meine Arbeit, was ich später machen werde und das ist ja auch mein Leben.

142 Aw: Aber ich glaub du fühlst dich besser, wenn du schon was gelernt hast und du weißt so von dir aus, ähm, ich weiß n Stück, also jetz sagnmal eine Formel mehr, obwohl ich die vielleicht mh gar nicht mehr brauche aber du hast, du weißt für dich, du hast was, |noch mehr im Kopf|

143 Gw: |Ja aber das ist ja| klar, aber das ist doch mehr für die Schule.

144 Dw: Mh. Der Meinung kann ich mich nur anschließen. Also es gibt halt Sachen, die man nie wieder braucht und das sind jetz nicht nur Formeln, das ist in GSW, in Deutsch und eigentlich in allen andern Fächern auch so und da lernt man eigentlich mehr für die Schule,

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

aber es gibt halt auch Sachen, ähm, die man für später wissen muss und, ähm die Sachen gehen ja auch in die Noten mit ein und die Noten sind wiederum wichtig für das spätere Leben. [Husten]

145 (4) 146 Also kann man eigentlich gar nicht sagen, dass der

oder der andere Satz richtig ist. [Husten] 147 Bm: Die sind beide richtig. 148 (3) 149 Man lernt für das Leben und für die Schule. Also

jetz-, wenn du ne Arbeit haben willst, dann brauchst du die und die Fächer, also lern ich diese Fächer und nicht die andern. So.

150 Ew: Hab ich jetz nicht verstanden, wenn ich ehrlich bin.

151 Bm: Also wenn jetz- Was willst du für ne Arbeit machen? 152 Ew: Was? 153 Bm: Was möchtest Du später werden? 154 Ew: Was will ich, ich versteh nur- 155 Gw: Was du arbeiten willst. 156 Ew: Ich will Altenpflegerin werden. 157 Bm: Ja und was brauchst du für Fächer dafür? 158 Ew: @das ist doof, wenn man sowas fragt@ 159 Bm: Ja siehst du und diese Fächer lernst du dann. 160 Ew: Ja aber |du brauchst| ja 161 Gw: |Ja aber| 162 Bm: |Und die anderen Fächer|, wozu brauchst

du die anderen Fächer dann? 163 Ew: Wenn du ganz schlechte Noten hast, dann ist es auch

schwer, irgendwo n Platz zum Beispiel zu finden, irgendwie n Ausbildungsplatz oder später dann Arbeit. Also brauchst Du |alles in allem|

164 Bm: |Ja du musst ja| nicht unbedingt schlechte Noten haben, aber ich merk das mir nie.

165 Aw: Ja das glaub ich auch nicht unbedingt alles, |aber| trotzdem-

166 Bm: |Ja is so| 167 Aw: Ist doch auch für dich cooler, wenn du weißt, das

kann ich und(.) weiß ich nich. Vielleicht brauchst d's ja irgendwann mal, vielleicht für einen Satz zu bilden, was weiß ich @(.)@ ja.

168 [räuspern] 169 Gw: Gut, fürs Allgemeinwissen iss natürlich auch nicht

schlecht, aber (.) manche Sachen denk ich echt, da bin ich mir sicher, dass ich die später nicht brauche.

170 Aw: Ja. [räuspern] 171 (7) 172 Mm: Was brauchst du denn, für später? 173 Gw: Für später? |Weiß ich auch nicht| 174 Mm: |Ja, wenn du |sagst, du weißt

manche Sachen, die du nicht wei-, also die du nich mehr brauchst

175 Bm: Man braucht nur die Hauptfächer, Deutsch, Englisch, Mathe

176 Aw: Nee. 177 Bm: Also für meinen Begriff ja. 178 Dw: Aber zum Beispiel: Wozu braucht man jetzt Musik? 179 Bm: Ja oder wozu braucht man Kunst? 180 Dw: Oder Technik? 181 Bm: Oder |Textil Gestalten und Werken brauch man doch

gar nicht|

195

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

182 Ew: |Und auch Kunst und Musik die Fächer das ist gar nicht|

183 Bm: |oder Sport wozu braucht man das überhaupt, Alter?|

184 Ew: |so schlecht, das ist jetzt| 185 Wenn du nur immer Mathe hast oder Deutsch, das ist

ja eigentlich schon n bisschen anspruchsvoller als Kunst und so |und da ist Kunst eigentlich| n bisschen Entspannung.

186 Bm: |mh, drei Stunden weniger| 187 Aw: Ich hab früher Musiins-, n Musikinstrument gespielt

und mein Musiklehrer hat immer gesagt: Solang man Musik macht (.) also von selbst, äh dann öffnen sich viel mehr Schubladen im Kopf. Also du lerns-, der kanns, das macht dich, dein Kopf n bisschen mehr freier. Da kannst du immer mehr dazu lernen, also nicht nur dass du jetz da Lieder singst, oder so, das ist ja auch was für dich.

188 Dw: Na, in Musik ähm macht man jetzt aber nicht unbedingt um was mit irgendwelchen Instrumenten

189 Aw: Nee, nicht unbedingt 190 Dw: Ja, man lernt über Bach und-und das 191 Aw: Das gehört doch alles zum Allgemeinwissen. 192 Dw: Ja gut, aber trotzdem, wozu brauchen wir das bitte?

Das interessiert eigentlich niemanden. 193 Aw: Ja mich interessiert Mathe auch alle nich- 194 Gw: und dann

sitzte bei „Wer wird Millionär" und dann wars das. 195 Ew: @He ja@ 196 (3) 197 Gw: Ja ist doch so. 198 Aw: Hatt ich eigentlich nicht vor hin zu gehen. 199 Gw: Irgendwann kann mans immer gebrauchen. Das meiste.

Nicht alles, aber 200 Aw: Brauch nich alles für meinen Job, den ich später

noch mal machen werde. 201 Bm: Ja, wozu lernst Du das denn? 202 Ew: Aber du weißt doch auch nicht von Anfang an, du

weißt ja nicht in der vierten oder fünften Klasse was du werden willst, das weißt du ja-, das entscheidet sich ja nicht immer so schnell und du kannst ja nicht nur dann n paar-, zum Beispiel dich total auf Mathe und Deutsch spezialisieren und dann kannst du nachher was weiß ich kein

203 (2) 204 äh Beruf dafür finden, den du ma-, wenn du dann n

Beruf findest, den du gerne machen willst und das sind grad nicht deine Fächer da, die dazu passen, dann hast du irgendwie verschissen. Also du brauchst ja alles, damit du dich später entscheiden kannst, das ist ja d-, auch so ne kleine Hilfe dann. Denn ich weiß ganz genau, dass ich nicht Mathelehrerin werden will, zum Beispiel, oder irgendwas mit Mathe zu tun haben will, und das hätt ich ja sonst nicht gewusst, also von daher, also ist jetzt n bisschen leicht ausgedrückt, |so aber|

205 Bm: |Aber ich| mein nicht von der fünften Klasse aus, ich meine jetzt. Du weißt, was du jetzt werden willst also-

206 Ew: Ja, aber du musstest vorher das ganze Wissen haben, um alle Seiten auszuprobieren, um alles mal gesehen zu haben.

207 Bm: Glaubst Du ich weiß noch was von der fünften

196

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Klasse? 208 Ew: Ja -türlich. 209 Bm: Ich weiß |nur noch von letzten Tagen.| 210 Ew: |sonst könntest du jetzt nicht|

Bruchrechnen und nichts. Also wenn du's jetzt kannst.

211 Bm: Ja das, diese kacke- 212 Ew: Das brauchst du alles, um weiterz-, um andere

schwerere Sachen 213 |damit machen zu können,| so 214 Dw: |Das baut alles aufeinander auf| 215 Ew: mit Formeln oder

so, kommt ja auch mal n Bruchstrich mal drin vor und wenn du das nicht könntest, dann hättst du Pech gehabt.

216 (6) @(.)@ 217 (8) 218 Mm: Aber viel schlauer bin ich jetzt immer noch nicht.

Was braucht man denn, um zu leben? 219 Fm: Essen. 220 Gw: Schule. 221 Mm: Also was 222 Gw: Essen. Schlafen. 223 Ew: @(.)@ 224 Mm: ne, wenn wir jetzt bei diesem Lernen bleiben. Also

essen, hast du vorhin gesagt, das sind so die Grundbedürfnisse, aber was sagt der Satz denn eigentlich? Also wenn man den jetzt wieder umdreht: Du lernst für das Leben, das klingt ja unheimlich toll. Aber was lernt man denn eigentlich für's Leben?

225 Fm: Die Grundbausteine. 226 Mm: Was sind denn Grundbausteine? 227 Fm: Ja, also, äh, wie ä-wie rechnet man nen Bruch aus?

Wie rechnet man geteilt? Wie rechnet man minus, und so? Das man auf diesen einfachen Sachen äh |schwierigere|

228 Gw: |Sachen aufeinander aufbaut| 229 Fm: ja- Formeln und so

aufbauen kann. Zum Beispiel die Zahl Pi ausrechnen oder so.

230 Gw: Mh. 231 Fm: Ja das ist zwar sehr hoch gegriffen, aber 232 Ew: @(.)@ 233 Fm: äh, ja, hätten die früher das-, die einfachen

Sachen nicht gelernt, könnten se jetz ja sauschwere Sachen nicht.

234 (6) 235 Gw: [räuspern] Lesen. 236 (4) 237 Aw: Ja. 238 Fm Oder der Satz soll heißen, man lernt das ganze

Leben dazu? Man lernt im ganzen Leben. 239 (7) 240 Gw: Tja. 241 (6) 242 Aw: Ich denk auch, wenn man jetzt inner Schule

irgendwas lernt, vielleicht in 20 Jahren, vielleicht erinnerst du dich dann wieder dran und das hilft dir dann in ner bestimmten Situation. Was du da vielleicht mal gelernt hast.

243 Cm: Wer weiß'n noch was man vor 20 Jahren gelernt hat? 244 [@-@]

197

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

245 Cm: Wer weiß- |wer weiß was no-,| 246 Aw: |Ja wenn das dir so| im Gedächtnis

geblieben ist? 247 Bm: |So leicht ist das nicht.| 248 Cm: vor zwei Jahren gelernt hat? 249 Aw: So wichtig ist? 250 Bm: Du trinkst wohl Alkohol und Alkohol zerstört deine

Gehirnzellen, also- 251 Aw: Ja. 252 Bm: dann weißt du nicht, vor 20 Jahren, oh, das hab ich

ja noch gelernt. 253 Ew: @Ich glaub nicht, dass man soviel@ trinkt, dass man

sowas nicht mehr weiß. Dann vergisst du ja die ersten Jahre deines |Lebens, also -|

254 Bm: |Dann komm mal zu mir, wirste sehen, wie viel ich trinke|

255 Ew: -das wär n bisschen hoch gegriffen würd ich sagen.

256 Bm: Na (.) klar. 257 Ew: Den Satz kann man immer so n bisschen-, wenn ich

in-ner Schule sitze, würd ich eher sagen, ja, nicht für das Leben, sondern für die Schule lern ich und wenn ich dann jetzt hier so sitze und darüber diskutiere, dann denk ich eher, dass es-, dass ich für das Leben lerne und |nicht für die Schule.|

258 Bm: |Ich lern das für das| Leben weil ich brauch gute Noten, ich brauch gute Arbeit und ich brauch Geld. Und das heißt-, Geld regiert die Welt und das wars. Fertig. Wenn du in der Schule lernst, hast gute Noten, hast gute Arbeit, hast Geld. Fertig. |Das ist doch gut zu wissen|

259 Ew: |Ja deswegen| sind das so Grundbausteine, die man haben muss, und man lernt ja-

260 Bm: Ohne gute Arbeit und nix kannste nich überleben. 261 Ew: Man lernt zwar für die Schule aber somit auch fürs

Leben. 262 Bm: Also ist der Satz (.) auch so richtig. 263 Ew: Ja. 264 Dw: Also eigentlich find das-das, wenn der alleine so

stehen würde, das der eher unvollständig ist. 265 (3) 266 Also von dem, was wir gerade so diskutiert haben

und 267 Gw: Beide zusammen 268 Dw: Ja. 269 Gw: Beide sind |wichtig.| 270 Dw: |Du musst| die irgendwie beide ((...)). 271 Gw: Beide gehören zusammen. 272 Fm: Oder beide sind falsch. Richtig und falsch

eigentlich. [Husten] 273 Aw: In manchen Situationen ist der eine richtig und mal

ist der andere richtig. 274 Gw: Ja. 275 Ew: Das kann man sich dann so zurecht legen, wie's

einem grade geht. 276 (7)

198

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Formulierende Interpretation35

129-275 OT: Lernen für die Schule und/oder für das Leben

129-137 Präsentation Grundreiz

138 Bm stimmt der geläufigen Version des Satzes zu.

139 UT: Lernen und Zukunft

Erst gegen Ende der Schullaufbahn denkt Aw, dass sie nicht nur

punktuell für das Weiterkommen lernt, wie das in akuten schulischen

Situationen der Fall ist, sondern für sich selbst und ihre Zukunft.

140 UT: Lernen für aktuelle Anforderungen

Fm lernt lediglich den Unterrichtsstoff für die nächste Klassenarbeit,

und „löscht“ dann alle Daten, um „Platz“ für Neues zu schaffen.

141 UT: Bedeutung von Noten für die Karriere

Die faktische Niederschlagung des Lernfortschritts in Form skalierter

Noten ist wichtig für das berufliche Fortkommen, was ja auch das

Leben ist.

142-147 UT: Lernen als Selbstzweck/ „Selbstbefriedigung“

142 Mehr Wissen führt zu dem guten Gefühl, ich kann was.

143 Letztlich sei dies jedoch mehr für die Schule.

144 Es gibt Sachen, die lernt man nur für die Schule, manches muss man

für später wissen, schlägt es sich in Noten nieder, ist es wichtig für das

spätere (!) Leben.

147 Bm stimmt den beiden Sätzen zu.

149-164 UT: Lernen für den Beruf

149-159 Unterrichtsfächer sollten speziell auf den späteren Beruf hin

ausgewählt werden. Frage nach dem Sinn anderer Fächer.

163-164 Gute Noten sind insgesamt wichtig für den Beruf.

167-171 UT: Selbstzweck des Lernens

Zweckfreies Lernen ist gut für das eigene Gefühl, oder – wie Gw sagt

- trägt zum Allgemeinwissen bei, und ist wahrscheinlich zukünftig

irrelevant.

35 Die Abkürzungen OT und UT stehen für Oberthema und Unterthema.

199

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

172-206 UT: Relevanz von Inhalten in der persönlichen Zukunft

172 immanente Nachfrage von Mm: Was brauchst Du für später?

173-199 Hauptfächer vs. musisch orientierte Nebenfächer und Sport oder

Technik.

200 Nicht alle Inhalte sind arbeitsmarktrelevant.

201 ...und dementsprechend sinnlos.

202-206 Breite Grundqualifikation ist nötig, damit eine zeitlich spätere

Berufsentscheidung möglich wird.

212-237 UT: Das Wissensgebäude

212-217 Einzelne Wissensbestände bauen aufeinander auf.

218 imm. Nachfrage – Was braucht man, um zu leben?

219-223 Menschliche Grundbedürfnisse müssen befriedigt werden.

225-237 Grundbausteine des Wissens

238-257 UT: Lebenslanger Lernprozess

238 lebenslanges Dazu-Lernen als Lebenslanges Lernen

239-241 Bestätigung von Gw

242-257 Bedeutung des schulischen Lernens kann sich nur in der Retrospektive

erklären lassen (Perspektivenwechsel).

258-275 UT: Das Leben ist die berufliche Existenz

258 Für das Leben, das sich über die Arbeit definiert, braucht man gute

Noten.

261-263 Somit erwirbt man durch das „Lernen für die Schule“ einen

dauerhaften Effekt für das Leben (Die Noten wirken sich auf die

Arbeitssuche aus).

264-275 Beide Sätze des Grundreizes gehören zusammen, ein richtig oder

falsch zu bestimmen ist in der Eindeutigkeit nicht möglich

Reflektierende Interpretation

In Bezug auf die Diskursorganisation insgesamt fällt auf, dass die Selbstläufigkeit der

Diskussion in dieser Gruppe über viele und lange Passagen weitestgehend gegeben ist.

In der Diskussion über den Grundreiz werden unterschiedliche Themenfelder sehr

200

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

präsent, die auch im späteren Diskursverlauf immer wieder aufgegriffen werden. So

führt beispielsweise die Diskussion über die Notwendigkeit des schulischen Lernens

dahin, sich über die Entwicklung einer Perspektive im späteren Leben in beruflicher

und privater Hinsicht auszutauschen. Einige dieser Themen werden auch von den

anderen Gruppen in ähnlicher Weise expliziert, so z.B. die Frage nach der Bedeutung

von Schulabschlüssen und formalen Zeugnissen (vgl. Gruppendiskussion Meer,

Textsequenz 2: Eintrittskarte für’s Leben, Kap. 6.4.2, S. 322).

129-275

Lernen erscheint hier insgesamt eher in der Interpretation der Aneignung von

Informationen (schulisch geprägter Lernbegriff), die zu Wissen verdichtet werden

können. Insgesamt überwiegt jedoch der Eindruck, dass genau dies allerdings

zumindest in der Schule oder durch den schulischen Unterricht nicht erfolgt. Mehrfach

wird die Frage nach der Verwertbarkeit von Informationen für den späteren

(beruflichen) Lebensalltag gestellt und damit implizit konkrete, handlungsrelevante

Informationen im Lehr-Vermittlungssystem eingefordert.

129-137

Spontan wird die Negation des Grundreizes durch Gw vervollständigt (Proposition).

Dabei führt sie eine neue, alltagssprachlich wahrscheinlich bekanntere Version des

Grundreizes ein: Man lerne nicht für die Schule, auch nicht für das Leben, sondern für

sich selbst. Diese Lesart des Grundreizes findet sich auch in der Gruppendiskussion

Feld und wird dort intensiv interpretiert (vgl. Transkript Gruppendiskussion Feld, Qm

504).

138

Validierung des Gegenhorizontes durch Bm.

139

Elaboration der Negation des Grundreizes (Gegenhorizont) durch eine

Differenzierung auf der Zeitachse. Während Aw früher und in aktuellen

Schulsituationen punktuell für den Leistungserfolg gelernt hat, denkt sie am Ende

ihrer schulischen Laufbahn, dass sie eher für sich selbst lernt. Dabei wird das „Selbst“

zunächst nicht weiter expliziert und damit nicht deutlich, was sie darunter versteht.

140

Elaboration des Grundreizes in Form einer Exemplifizierung durch Fm. Lernen ist

für ihn das Anhäufen von Informationen, die nach Gebrauch wieder gelöscht werden

müssen, wie auf einer Festplatte, um Platz für Neues zu schaffen. Implizit äußert Fm

201

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

damit, dass seiner Meinung nach das Gehirn nur eine begrenzte Aufnahmekapazität

für Informationen hat.

141

Elaboration durch antithetische Differenzierung bei Gw, da nicht das Lernen wichtig

ist für das Leben, sondern die Noten, die quasi als Resultat des Lernens für die Schule

einen Gebrauchswert für späteres berufliches Weiterkommen darstellen.

Dementsprechend ist nicht das durch das Lernen erworbene Wissen relevant, sondern

lediglich die Skalierung der Wissensvorräte in ein Notensystem. Erstmals erscheint

eine Annäherung an die Figur Arbeit = Leben, an dieser Stelle zwar noch moderat, da

die Arbeit als auch zum Leben gehörend kategorisiert wird. Dementsprechend ist da

auch noch etwas anderes.

142

Opposition von Aw, die die Bedeutung des Lernens für die eigene Gefühlslage

thematisiert. Mehr zu wissen bedeutet demnach für Aw eine Steigerung des

Selbstwertgefühls, Selbstbestätigung und eigene Anerkennung: Ich kann etwas. Ihre

Anerkennung resultiert aus der Gewissheit über die eigene Leistung. In der Äußerung:

„Du weißt, du hast was, noch mehr im Kopf“ wird deutlich, dass ihr Referenzsystem

für Anerkennung das eigene Selbst ist und dies einem hypothetischen Gegenüber

entgegengestellt werden kann. Interessant ist vor allem die Konsistenz dieses

Orientierungsrahmes „Selbstbewusstsein und Selbstverantwortung“ auch an anderen

Stellen der Gruppendiskussion (vgl. Transkript Gruppendiskussion Boden 1052-1082)

für Aw.

143

Antithese durch Gw, die augenscheinlich die Äußerungen von Aw nicht

nachvollziehen kann und daran anknüpft, dass man mehr im Kopf habe, aber dies nur

im Kontext für Schule interessant ist. Sie kommt nicht auf die Idee, dass in der Schule

erworbenes Wissens eine Relevanz für ihren Alltag haben kann.

144

Validierung Dw: Viele schulische Inhalte haben keinen konkreten

Verwertungszusammenhang und damit keine Relevanz für aktuelle Lebensvollzüge.

Das Problem der unterschiedlichen Diskursebenen, bzw. Referenzsysteme wird

deutlich, indem sie sich wiederum auf die Leistungsskalierung bezieht und die

Anerkennungsthematik von Aw nicht weiter aufgreift. Während Aw aus dem

Lernerfolg Anerkennung und Wertschätzung ihrer Person bezieht – die unabhängig

202

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

vom thematischen Inhalt des Lernens sein kann – erhalten bei Dw die Inhalte nur auf

einer formalen Ebene eine Bedeutung, nämlich über die Notenvergabe.

Die unterschiedlichen Referenzsysteme sind darüber hinaus auch durch eine

unterschiedliche temporäre Perspektive gekennzeichnet (Hier und Jetzt in

Selbstreferentialität, d.h. in der aktuellen Frage nach Anerkennung und die Prognose

der Zukunft in Fremdreferentialität, die Anerkennung durch die Integration in den

ersten Arbeitsmarkt sucht).

Versuch einer ersten Konklusion (= rituelle Konklusion, das wird noch genauer

herauszuarbeiten sein, bzw. sich erst in der Gesamtperspektive eröffnen): Kein Satz ist

richtig.

147

Bestätigung der Konklusion durch Bm in Form einer Negation: Beide Sätze sind

richtig. Auf der performativen Gesprächsebene (Beziehungsebene) geht es auch bei

Bm um die Anerkennungsthematik, allerdings in einer anderen Aktualität: Es scheint –

an mehreren Stellen in der Diskussion so – als ob Bm in der konkreten Gruppe nach

Anerkennung sucht. Auffällig in diese Richtung weist der Umstand, dass er sich

oftmals widersprüchlich verhält und sich augenscheinlich der Gruppenmeinung

anpasst. Wenn er an einer Stelle noch eine ganz klare Meinung vertreten hat, so fällt

das argumentative Gerüst in sich zusammen, wenn er Gegenargumente zu hören

bekommt und er endet dann zumeist in einer „rituellen“ Konklusion der harmonischen

Beendigung des Diskurses.

149-159

Anschlussproposition von Bm in Form einer das Orientierungsmuster Arbeits- und

Berufswelt elaborierenden Darstellung. Am konkreten Beispiel von Ew versucht er zu

verdeutlichen, dass man den Fächerkanon auf seine Verwertbarkeit für den

ausgesuchten, späteren Beruf hin überprüfen müsse.

Antithetische Differenzierung, wobei der Inhalt nur implizit aus dem Kontext heraus

klar wird. Ew will darauf verweisen, dass man noch mehr brauche, als nur unmittelbar

relevante Schulfächer zur Ausübung einer bestimmten Tätigkeit.

Rückfrage Bm, Irritation bezüglich der anderen Unterrichtsfächer.

163-164

Exemplifizierung Ew: Auflösung der antithetischen Differenzierung und Subsumption

der „nicht konkret verwertbaren“ Unterrichtsfächer unter die Notenlogik des

203

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Gesamtbildes: Das Gesamt der Noten ist ausschlaggebend für berufliches

Weiterkommen.

Antithese Bm: Er drückt aus, dass nicht unbedingt die Leistung in den anderen

Fächern ausschlaggebend für seine Argumentation ist, sondern das Problem, dass er

sich nicht alles merken kann. Hier wird seine Argumentation wiederum diffus:

Einerseits plädiert er zunächst für die Abschaffung derjenigen Fächer, die keinen

konkreten Verwertungszusammenhang für den später angestrebten Beruf aufweisen,

andererseits fällt diese Argumentation bei Gegenrede zusammen und er reagiert auf

einen völlig anderen Aspekt und „glättet die Wogen der Auseinandersetzung“ durch

eine Art Kompromiss auf der Beziehungsebene.

167-171

Antithetische Differenzierung von Aw, die sich sowohl zur Verwertbarkeitsthematik

von Bm als auch zur Thematik des Relevanzsystems „Noten“ von Ew durch

Insistierung auf dem Relevanzsystem „Selbst“ bzw. eigene Anerkennung durch

Vergewisserung der eigenen Leistungsfähigkeit bezieht und die Proposition von Bm

weiter ausführt.

Antithese Gw: Bezug auf das Allgemeinwissen, doch auch das (auch bezeichnet als

Allgemeinbildung) wird jedoch der Verwertbarkeitsthematik untergeordnet

(wohingegen gerade beim Allgemeinwissen die Bewertungsgröße Verwertbarkeit

nicht angemessen erscheint).

Validierung von Aw – längere Pause, die auf die Schwierigkeit der Gruppendiskussion

verweist, da sich die TN auf unterschiedlichen Ebenen bewegen und scheinbar „im

Kreis drehen“

172

Immanente Nachfrage von Mm durch Aufgreifen des Themas, was „für später“

gebraucht wird. Die Gleichsetzung des „Lebens“ mit „späteres Leben“ erfolgte durch

die Teilnehmer und dokumentiert das Verständnis schulischen Lernens. Schulisches

Lernen wird im Kontext von Verwertbarkeit in der Zukunft im Beruf- und

Arbeitsleben thematisiert, d.h. es wird davon ausgegangen, dass in der Schule

grundsätzlich Dinge gelernt werden, die von zukünftiger Bedeutung sein können.

M.a.W. werde in der Schule eine unbestimmte Menge an Wissen erzeugt, die in einer

zeitlich zukünftigen Perspektive verwertbar erscheint.

Interessant ist diese Auffassung vor allem vor dem Hintergrund der Diskussionen über

das theoretische Konstrukt einer Informations- bzw. Wissensgesellschaft (vgl. Scherr

2002, Stehr 1999, 2000, 2001, Arens 2002), in der das Wissen, bzw. die Information

204

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

von einem hohen „Obsoleszenztempo“ – Verfallsgeschwindigkeit (vgl. Mertens 1974)

- gekennzeichnet ist.

Interessant ist, dass Gw spontan keine Antwort geben kann und ihre Ratlosigkeit auch

so exploriert.

173-199

Spontane Proposition von Bm: Wesentlich sind nur die Hauptfächer Deutsch,

Englisch, Mathe: Nur so genannte Hauptfächer entfalten Relevanz für beruflichen

Alltag, worin sich z.B. auch niederschlägt, dass die willkürliche Aufteilung in Haupt-

und Nebenfächer von Bm unhinterfragt bleibt und übernommen wird. Diese

Proposition hatte sich implizit schon als Anschlussproposition angedeutet (423-435),

m.a.W. ist es für die eigene Orientierung unhintergehbar nötig, mit abstakten

mathematischen Größen umgehen zu können und die Sprache zu beherrschen, wobei

nicht nur die Bedeutung der deutschen, sondern auch der englischen Sprache

thematisiert wird, da weil Englisch als internationale Sprache zunehmende Bedeutung

erfährt.

Opposition Aw, die sich gegen diese Reduzierung schulischen Lernens auf wenige

existentielle Fächer wehrt und auf die Bedeutung anderer Lernbereiche und Lernfelder

aufmerksam macht.

Dm validiert die Proposition durch die ergänzende Aufzählung von Nebenfächern,

dessen Sinn sie in Frage stellt.

Validierung Ew: Sie schließt sich dieser Proposition durch die Aufzählung weiterer in

der Perspektive der Jugendlichen unnützer Fächer an und führt aus, dass diese Fächer

für sie lediglich die Funktion der Entspannung und Muße im schulischen Alltag

übernehmen.

Opposition von Aw: Sie stimmt dieser Auffassung nicht zu und baut wiederum einen

Gegenhorizont auf, den sie selbst ab 476 exemplifiziert. Die Bedeutung des

Musizierens liege demnach nicht im Erlernen eines Musikinstrumentes oder eines

Liedes, sondern dadurch würden im Gehirn Prozesse ausgelöst werden, die

horizonterweiternd wirken könnten. Aw dokumentiert in dieser Äußerung eine

implizite Ahnung davon, dass Lernen über die reine Aneignung von Wissen

hinausgehen kann. Wesentlich erscheint für sie der eigene Antrieb für den Vollzug der

Handlung (das Musizieren) zu sein – es liegt eine intrinsische Lern-, bzw.

Handlungsmotivation vor, die – von Aw sehr metaphorisch ausgedrückt – neue

Bereiche, weiterführende Welten ansprechen kann und zu mehr „Freiheit im Denken“

führen kann (Hinweis auf „Bildung“?).

205

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Dw formuliert in Form einer Antithese, dass eine solche Form des Umgangs mit

Musik nur selten im schulischen Musikunterricht vermittelt werde, sondern dort

vielmehr das Faktenwissen, z.B. „über Bach und so“ im Vordergrund stehe.

Validierung durch Aw, die jedoch überleitet in eine Antithese, da auch das

Faktenwissen in der Musik zum Allgemeinwissen gehöre, das unter dem

Verwertungsaspekt nicht beurteilt werden könne.

An dieser Antithese wird deutlich, dass die Teilnehmer nicht nur in ihren

Wortbeiträgen auf unterschiedliche Referenzsysteme (z.B. Verwertung der Inhalte im

späteren Leben vs. Zugewinn an Anerkennung und Selbstbewusstsein durch Wissen)

rekurrieren, sondern sich darüber hinaus auf unterschiedlichen Reflexionsniveaus

bewegen.

Dw versteht z.B. nicht, was der in den Ausführungen von Aw enthaltene Sinn sein

könnte, sondern sieht die Qualität von Wissen und Lernen in einem extrinsischen, von

außen motivierten Verwertungsgedanken.

Versuch einer Konklusion durch Gw, die allerdings wiederum den Charakter einer

rituellen Konklusion aufweist, da die Gesprächssituation zwischen Aw und den

anderen Beteiligten sich zuzuspitzen scheint. Wie auch Dw in 420 versucht sie, den

Diskurs zusammen zu fassen und zu beenden durch die Worte „irgendwann kann

mans immer gebrauchen“. Alles ist verwertbar – irgendwo, irgendwann.

200

Aw übergeht diese Konklusion und leitet über in eine Opposition zum Gedanken der

Job-Verwertbarkeit von Wissen. Damit manifestiert sie ihr Orientierungsmuster:

Insbesondere im schulischen Lernen geht es nicht ausschließlich um die Frage einer

linearen Verwendbarkeit des angeeigneten Wissens, sondern darüber hinaus auch um

die Entwicklung von Haltungen, Fertigkeiten und Kompetenzen. Sie bringt so zum

Ausdruck, dass „Lernen“ nicht nur auf die Funktion von Wissens-, bzw.

Informationsaufnahme, die zu einem späteren Zeitpunkt nutzbringend wieder

abgerufen werden kann, reduziert werden darf.

201

Bm drückt – ähnlich wie Dw – sein Unverständnis für den Gedankengang in Form

einer oppositionellen Frage aus.

202-206

Antithese von Ew zur Proposition von Aw – sie unterstützt die Proposition,

differenziert sie jedoch nach der Bedeutung einer breiten Grundqualifikation in bezug

206

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

auf die eigene Berufswahlentscheidung, die erst am Ende der Schulkarriere stehe und

somit vielseitiges Wissen voraussetze. Wiederum werden die unterschiedlichen Foki

zur Beurteilung der Situation deutlich.

212-217

Proposition Ew: Eine große Offenheit bezüglich der unterschiedlichen

unterrichtlichen Inhalte ist nötig, da alle Inhalte miteinander verbunden sind und

aufeinander aufbauen.

Validierung Dw: Sie wiederholt einfach einen Satz von Ew.

Exemplifizierung Ew: Am Beispiel der Mathematik versucht sie, das „aufeinander

Aufbauen“ näher auszuführen. Darauf hin folgt in der Diskussion eine längere Pause,

deren Funktion im Diskursverlauf nicht eindeutig zu sein scheint. Einerseits wird die

Pause eingeleitet mit einem kurzen Auflachen von Ew, die sich in dieser Sequenz

deutlich an der Diskussion beteiligt und einen Gegenpart von Bm einnimmt, so dass

die Pause in Kombination mit dem Lachen als eine Art Verbindungsaufbau zwischen

Ew und Bm im Sinne einer Konklusion interpretiert werden könnte, andererseits ist

die Pause doch so lang, dass sie das Ende einer Diskussionssequenz markiert. Bm

scheint an dieser Stelle keine weiteren Äußerungen zu diesem Thema vornehmen zu

wollen – das zeigt sich vor allem in der flankierten Auswertung des visuellen

Datenmaterials in dieser Sequenz. Es wirkt, als habe Bm der Argumentation von Ew

zunächst nichts adäquates entgegenzusetzen und – wahrscheinlich weil er noch nicht

zustimmen kann oder möchte – wählt er als eine Reaktionsmöglichkeit das

Schweigen.

218

Mm formuliert mit dieser immanenten Nachfrage – das Leben als Thema wurde

bereits im Grundreiz eingeführt und von den TN aufgegriffen als zeitlich auf die

Schulzeit und das Aufwachsen folgende Lebensphase – eine Anknüpfung an den

Grundreiz, um nach der langen Pause die Gruppe wieder zurück in eine Diskussion zu

führen, die sich an dieser Stelle dramaturgisch zum Erliegen gekommen ist.

219-223

Fm und Gw formulieren menschliche Grundbedürfnisse, die zum Leben unabdingbar

benötigt werden.

225-237

Arbeitsteilig fassen die Teilnehmer Fm, Gw, Ew noch einmal die Diskussion in

anderen Worten zusammen: Zum Leben benötigt werden die Grundkenntnisse, die im

207

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

schulischen Alltag vermittelt werden – Sprachkompetenz und mathematische

Kompetenz, die in ihrer Vermittlung hierarchisch organisiert sind. Dadurch wird die

inhaltliche Uneindeutigkeit der Teilnehmer noch einmal evident: Während sie sich

nicht eindeutig der Aussage von Bm, nur die Hauptfächer seien wichtig,

anzuschließen vermögen, gelingt ihnen noch keine schlüssige Argumentation, warum

auch noch andere Bereiche des Lernens wichtig für das eigene Leben sein können. Es

scheint also, als haben sie eine diffuse Vorstellung davon, was die pädagogische

Umkehrung des Grundreizes auszusagen vermag, sind jedoch (noch) nicht in der

Lage, dies auch verbal zu explizieren.

238

Proposition durch Fm: Der Satz verweist auf die Frage nach der Existenz

lebenslangen Lernens in der Lebensgeschichte des Einzelnen und seiner Bedeutung

für die individuelle Entwicklung. Völlig aus dem Zusammenhang gerissen wirkt diese

Äußerung wie eine Art Gedankenblitz von Fm, der nicht weiter von den anderen

aufgegriffen wird. In eine Frage gekleidet steckt darin die Vermutung, dass man im

ganzen Leben lernen könne und womit er somit auch auf die Möglichkeit nicht-

schulischen Lernens und auch nicht-institutionellen Lernens verweist und

Anschlussmöglichkeiten für weitere Diskussionen über Lernorte eröffnet.

239-241

Die langen Pausen und das explizierte „Tja“ von Gw drücken die Ratlosigkeit der TN

aus. Auf die Proposition von Fm erfolgt zunächst keine weitere Reaktion zunächst der

anderen Diskussionsteilnehmer.

242-257

Proposition Aw: Die Bedeutung schulischen Lernens lässt sich nur in der

Retrospektive und nicht in der Prognose des Lebens klären. Damit wird der

Perspektivwechsel deutlich: Während es bisher darum ging, zu klären, wozu etwas gut

sein sollte und die Prognose einer zukünftigen Lebenssituation und die Verwertbarkeit

schulisch erworbenen Wissens thematisiert wurde, wird nun eine reflexive Sichtweise

eingenommen und das Erlernte vor dieser Frage überprüft. Dabei wird allerdings auch

in dieser Sichtweite die Zukunft als aktueller Status für die Reflexion angeführt, die

zunächst auch sehr hypothetischen Charakter hat. Es deutet sich an dieser Stelle ein

Wechsel von Um-Zu Motiven zu Weil-Motiven an (vgl. Bohnsack 2003, 145, weitere

Ausführungen dazu in der Interpretation der Gruppendiskussion Feld, Textsequenz 1 –

Grundreiz, Kap. 6.3.1, S. 263, Kap. 7.6, S. 400), der allerdings aufgrund der

Prognostizität der Diskussion nicht expliziert werden kann. Es scheint, als befänden

sich die Teilnehmer in einem schweren Dilemma: Sie wollen die Nützlichkeit und

208

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Verwertbarkeit von Wissen prüfen, ohne die Situation kennen oder vorwegnehmen zu

können, aufgrund derer Wissen benötigt wird.

In diesem Zusammenhang – auch auf den Einwurf von Bm hin – entwickelt sich eine

thematische Nebendiskussion zwischen Bm, Ew, Aw und Cm: Es geht darum zu

erörtern, ob und wenn ja wie lange schulische Lerninhalte erinnert werden können,

bzw. ob sich durch exzessiven Alkoholgenuss, wie ihn Bm für sich reklamiert und

damit erstmalig in der Diskussion andeutet, dass er intensiveren Kontakt zum Thema

Sucht hat, das Gehirn dergestalt deformiert, dass sie nicht mehr erinnert werden

können.

Validierung zur Proposition von Fm durch Ew: Angeregt durch die Äußerungen von

Bm bezieht sie „Lernen“ nicht mehr nur noch auf den schulischen Alltag, sondern

auch auf die Fähigkeiten, die in der frühen Kindheit erworben werden („Dann vergisst

du ja die ersten Jahre deines Lebens“) und validiert damit – möglicherweise sogar

unbewusst – die Proposition von Fm, in der er auf die Bedeutung lebenslangen

formellen und informellen Lernens für die individuelle Entwicklung Bezug

genommen hat.

Exemplifizierung von Ew: Sie differenziert ihre Überlegungen und reflektiert offen vor

der Gruppe, dass sie im Kontext Schule davon ausgeht, nur für die Schule zu lernen, in

der aktuellen Reflexion in der Gruppendiskussion allerdings sich ihr Blick verändert

und sie für das Leben zu lernen glaubt.

258

Konklusion durch Bm. Er fasst seine (!) Gedanken zum Thema, zu seinem

Orientierungsrahmen so zusammen, dass – wie Ew es ausdrückt – sich das Lernen für

die Schule in den entsprechenden Noten niederschlägt, die dann linear für eine

Integration in den Arbeitsmarkt stehen. Vorrangiger Effekt dieser Integration ist die

Erwirtschaftung von Geld, die als primäres Ziel angesehen werden kann. Wer Geld

hat, kann sich alles erlauben und alles kaufen. „Geld regiert die Welt“.

Dabei stellt die (gute) Arbeit die existentielle Überlebensgrundlage dar, ohne die ein

Leben nicht möglich erscheint. Problematisch wird es dann werden, wenn das

Orientierungsmuster von Bm in der Realität nicht aufgeht: So wird u.a. von Galuske

(2001) die These aufgestellt, dass schulische Leistungen mittlerweile nicht mehr über

eine Integration in den Arbeitsmarkt entscheiden, sondern nur noch über die

Ausgangsposition insgesamt für die Möglichkeit der Integration. Zur Integration selbst

sind andere Faktoren, wie Schulform und Bewerbermenge, ausschlaggebend (vgl.

Galuske 1998a, 540, Kap. 2.6.1, S. 46).

209

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

261-263

Durch das Lernen in der Schule für die Schule ergeben sich Noten, die dann wiederum

für das (Arbeits-)Leben Bedeutung erlangen und für die Integration in den ersten

Arbeitsmarkt wichtig sind.

264-275

(rituelle ?) Konklusion durch Dw, oder antithetische Differenzierung der Konklusion

durch Dw: Beide sind richtig – gehören in dieser Lesart zusammengelegt (vgl. 420).

In der Abschlusssequenz dieser Textstelle einigen sich die Diskussionsteilnehmer auf

eine Art Kompromiss. Man könne nicht sagen, welche Aussage des Grundreizes nun

eigentlich die richtige sei, da je nach Lesart und aktueller Situation, in der sich der

Lernende befinde, der Satz so oder so richtig sei. Interessant ist dabei, dass Gw

zunächst nicht davon spricht, dass beide „richtig“ seien, sondern beide „wichtig“ seien

und zusammen gehörten. Diese von Bm, Ew und Gw eingeleitete Konklusion

verdeutlicht die große Bereitschaft im Diskussionsprozess einen Konsens zwischen

den unterschiedlichen Auffassungen herzustellen. Insofern kohärent ist dann die

Konklusion von Ew, man könne das dann so auslegen, wie’s einem gerade so passe.

Diese ausgeprägte Bereitschaft zur Konsensfindung bei divergierenden Aussagen

könnte auf der Metaebene auch ein Indiz dafür sein, dass es den Teilnehmern um die

Synthese verschiedener, sich zunächst ausschließender Auffassungen oder Meinungen

geht. Auffällig ist die hohe Diskursbereitschaft, der intensive Bezug der Redebeiträge

aufeinander und die grundlegende Offenheit, sich die anderen Auffassungen

anzuhören. Folgt man den weiteren Interpretationen, so wird deutlich, das in diesem

Verhalten eine grundsätzliche Offenheit für unterschiedliche Orientierungen zu liegen

scheint, die diskutiert wird und dann einer Synthese zugeführt werden soll.

210

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

6.2.2 Textsequenz 2 : Beibringen oder Lernen (481-510)

Auszug aus dem Transkript 481 Mm: Und was macht ihr hier? [@-@] Also, was passiert

hier eigentlich? 482 Gw: Wir lernen-, 483 Mm: Ist das was zum Lernen hier oder ist das was zum

Dasein, Spaß haben irgendwas oder 484 Fm: Ja beides, lernen ruhiger zu werden. 485 Bm: Ja, irgendwie das man was anderes machen kann, als

nur Scheiße. Also die meisten, die hier sitzen, halt, die nicht hier freiwillig sind, hier, die weißt du wie ich jetzt zum Beispiel, pass auf, ich hab n Hobby oder so, oder ich mach das Seilspringen, oder diese Kacke da? Nein. Also wolln die uns beibringen, was anderes machen. Nicht da immer auf-, irgendwo sitzen dann, sich besaufen oder bekiffen. Und was anderes gemacht-

486 Ew: Man lernt auch hier bei dem Klettern hat man das auch sehr doll gemerkt oder bei der Seilbrücke, einfach mit Leuten zusammen zu arbeiten. Nich alles alleine zu machen

487 Fm: Auch Vertrauen. 488 Ew: Ja und zu vertrauen, ja. 489 Fm: Ganz wichtig. 490 Ew: Ja. 491 Dw: Das Klettern hätt ohne Vertrauen ja wohl nicht

gehen können. 492 Ew: Klar, nee, auf keinen Fall, 493 Dw: Wenn du Angst gehabt hättest, boah der lässt mich

los oder so, dann 494 Fm: Ja und auch- 495 Ew: Dann wär ich da ganz bestimmt

nicht hoch gegangen. 496 Fm: -zu helfen, anderen zu helfen. 497 Dw: Ja, da wir ja auch mithelfen mussten zu sichern und

sowas. 498 Fm: Und Kisten an zu geben. 499 Ew: Und Kisten an zu geben und solche Kleinigkeiten.

Das ist ja alles mit was verbunden, oh. 500 Fm: Was der alleine gar nicht schaffen könnte. 501 Ew: Ja. Das hat ja alles n Sinn, auch die Seilbrücke,

äh, dass für mich, also ich hab das so verstanden, dass das einfach sein sollte, dass alle zusammen arbeiten, dass wir uns vielleicht auch noch n bisschen näher kennen lernen und dass man halt nicht immer alles alleine machen kann.

502 Fm: Dass man nicht immer in einer kleinen Gruppe ist, sondern dass man mit allen hier mal was macht.

503 Dw: Jau. 504 Cm: Ja, und dass man als Team stärker ist. 505 Fm: Jey. 506 Ew: In solchen Situationen halt, dass (.) hat ja nicht

alles-, nur weil wir unsere Zeit vertreiben wollen hier, dass wir da so ne kleine Seilbrücke übern Fluss bauen, dass hat ja alles auch seinen Sinn, dass man solche Kleinigkeiten dann begreift und wieder mitnimmt. Weil an solche lustigen Sa-, das ist ja noch mit was Lustigem verbunden, das Klettern erinnert mich-, man sich ja auch noch,

211

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

weil das Spaß gemacht hat, aber dann denkt man im Nachhinein auch wieder daran, dass das einfach nicht ge-, gegangen wäre, wenn wir-, wenn ich da alleine alles machen hätte müssen.

507 Aw: Diese Erfahrungen kann man ja auf andere Lebenssituationen übertragen.

508 Ew: Ja. Und das macht man dann auch wenn man so was erlebt hat, denk ich auch irgendwie schon n bisschen automatisch. Das man denkt, aha, ich kann das jetzt nicht alleine, jetzt brauch ich andere Leute, und dass die das dann auch wieder begreifen und so ist das so ne kleine Kettenreaktion. Und das ist wichtig, was man hier lernt, find ich.@(.)@

509 Dw: Ich bin eigentlich auch eher so der Einzelgänger, der eigentlich gar keine Hilfe will, also der lieber so alleine irgendwas fertig bringen will, so, ah, ich schaff das schon oder so. Aber im Endeffekt geht dann das meiste schief. Also ich musste das hier auch erst mal so lernen, wirklich mit anderen zusammen zu arbeiten und nicht alles versuchen, alleine hin zu bekommen. Das war auch ein Grund, warum meine Eltern ganz speziell dafür warn.

510 Bm: Man braucht immer Hilfe. Wie Sie auch. Sie brauchen jetzt auch Hilfe. Für ihre Arbeit, brauchen sie auch Hilfe. Man braucht immer Hilfe.

Kontext und Auswahl der Textstelle

Diese Textsequenz knüpft an die Überlegungen der Teilnehmer an (423-481), welche

Themen und Inhalte für das eigene Leben eine Bedeutung erlangen und was im Leben

alles gelernt werden kann, bzw. welche Wissensvorräte sie sich aneignen und welche

Kompetenzen sie für ihren weiteren Lebensverlauf entwickeln müssen. Diese

Thematisierung unterschiedlicher Felder und ihre entsprechenden Argumentationen

scheint an dieser Stelle zum Erliegen zu kommen: Die Gesprächsatmosphäre wird

etwas schwerfällig, das Diskussionstempo verlangsamt sich merklich und Fm beendet

diese Phase mit den Worten „Jetzt ist die Frage aber beantwortet“

(476).

Diese Aussage, die deutlich als Konklusion interpretiert werden kann, wird von Gw

mit einem kurzen Auflachen kommentiert. Sie schließt lediglich noch die knappe

Frage an, ob er tatsächlich glaube, dass das Thema mit dieser Äußerung bereits

erschöpft sei (479). Aus dem Kontext wird deutlich, dass, da Fm bereits mehrfach

einen Versuch machte, die Diskussion als erschöpft zu erklären und ein neues Thema

zu beginnen, es sich bei der Nachfrage um eine rhetorische Frage im Sinne eines

ironischen Kommentierens von Gw handelt. Der Moderator reagiert auf diese

Situation mit einer vertiefenden, exmanenten Nachfrage und lenkt die

Aufmerksamkeit dadurch auf die Praxisweisen im Projekt selbst, um die Diskussion

wieder zu beleben (481).

212

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Die Textstelle wurde aufgrund der Auseinandersetzung der Teilnehmer mit den

Praxisweisen im Projekt ausgewählt, da vermutet wurde, dass sie eine hohe inhaltliche

Relevanz in Bezug auf die allgemeine Forschungsfrage der Arbeit aufweisen könnte.

Praxisweisen in dem Projekt

Die Frage danach, was die Jugendlichen eigentlich konkret in diesem Projekt machen

und wie sie diese Aktivitäten beurteilen, knüpft an die Andeutungen in der Textstelle

„Freiwillig hier her kommen?“ (347-384) an, in der von einigen Teilnehmern bereits

erste Hinweise über ihre Einschätzungen bzgl. der Praxisformen der Maßnahme

gegeben haben. In dieser Textsequenz konnte bereits herausgearbeitet werden, dass

einige der Jugendlichen die Phase der Jugendzeit als eine Art Moratorium ansehen, in

der sie über den vielfältigen Kontakt zu anderen Menschen Meinungen und

Weltinterpretationen ausbilden können. Demgegenüber thematisierte vor allem Bm,

dass Menschen in ihrer Disposition festgelegt seien und eine Veränderung wohl kaum

mehr möglich sei.

Dadurch stellt Bm eine Gegenthese zu dem bildungstheoretischen Grundgedanken auf,

dass Menschen grundsätzlich in der Lage sind, die Schemata der Welt- und

Selbstaufordnung zu transformieren. Ein Grund für die Opposition von Bm könnte

darin liegen, dass eine solche Transformation Auseinandersetzung voraussetzt, der er

aufgrund seiner eigenen problematischen Karriere sehr ambivalent gegenübersteht

(vgl. Textsequenz 3: Versager (531-575) , S. 223, und Textsequenz 4 – Drogen (651 –

893), S. 232). Dabei ist umso erstaunlicher, dass gerade Bm die Diskussions- und

Auseinandersetzungsmöglichkeiten im Rahmen der Gruppendiskussion nutzt, um

seine Orientierungsmuster zu explizieren und in diesen Sequenzen verdeutlicht, wie

stark er sich von den Orientierungen der äußeren Welten irritieren und beeinflussen

lässt.

Während es ein zentrales Zugangsmotiv der freiwilligen Teilnehmer (z.B. von Ew) ist,

eine eigene Meinung auszubilden und dazu möglichst viele Erfahrungen mit

Menschen aus unterschiedlichen Milieus zu sammeln und sie die Maßnahme als eine

Chance sehen, ihre Interpretationen von Welt zu modifizieren(vgl. 348; 386 – 399,

Interpretation der Textsequenz 5 – Freiwillige Teilnahme (348 – 386) (vgl. S. 251), ist

es für Bm als nicht-freiwilligen Teilnehmer, der die Maßnahme auf Anordnung eines

Jugendrichters besucht, kaum vorstellbar, dass jemand sich freiwillig dieser Prozesse

unterzieht.

Bm: Ja und warum seid ihr hierhin gekommen? Ich wär hier nie im Leben freiwillig hingekommen. (377)

213

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Als gemeinsame Orientierung sind beide Personengruppen jedoch davon überzeugt,

dass in diesem Projekt solche Auseinandersetzungsprozesse stattfinden können.

So bezieht sich die Nachfrage des Moderators insgesamt auch deutlich auf die

Forschungsfrage des gesamten Untersuchungsprojektes und knüpft an die

Orientierungsmuster der Jugendlichen an, indem sie auf die Thematisierung

unterschiedlicher Praktiken in verschiedenen Institutionen der Jugendsozialarbeit und

die Interpretation dieser Praktiken seitens der Jugendlichen fokussiert ist.

In Form einer offenen Frage formuliert, bietet sie zum einen Anschlussmöglichkeiten

für Erzählungen und Berichte aus der alltäglichen sozialpädagogischen Praxis des

Projektes, zum anderen gewährleistet sie die nötige Offenheit für Antworten

unterschiedlichster Art. Die spontan von Gw (482) geäußerte Proposition, in der sie

die Aktionen des Projektes direkt mit der vorherigen Sequenz über „Lernen“ in einen

Zusammenhang bringt und formuliert „wir lernen...“. Diese Formulierung

verdeutlicht, dass sie die Praxisformen des Projektes direkt in Verbindung mit Lernen

sieht. Es könnte sein, dass die Diskussion des Grundreizes über Schule und Leben so

dominant geworden ist, dass die Assoziation nahe liegend ist, dennoch wäre es eben

auch möglich gewesen, an dieser Stelle anders zu antworten – z.B. in der

Beschreibung des Projektes als Gegenhorizont zu Schule oder Lernen. So

dokumentiert sich in dieser knappen Äußerung von Gw, dass sie das Projekt als

Lernfeld wahrnimmt. Der Moderator erweitert in der folgenden Nachfrage diese These

zu einem Gegensatzpaar, das durch seine provokative Form zur Äußerung anregen

soll, da die Diskussionsteilnehmer implizit zu einer Bewertung der

sozialpädagogischen Praxis geführt werden.

Dabei muss als kritische Reflexion der Moderation herausgestellt werden, dass das

vom Moderator formulierte Gegensatzpaar unglücklich formuliert ist, da es künstlich

und polarisierend ist, bzw. eine starke Suggestion in sich trägt: „Lernen“ versus

„Dasein, Spaß haben“ unterstellt implizit, dass Lernen nicht mit Spaß in Verbindung

gebracht werden kann, bzw. Lernen immer einen aktiven Prozess voraussetzt, also

beim reinen „Dasein“ kein Lernen erfolgen kann. Dies hätte zwar eine kontroverse

Diskussion auslösen können, die Teilnehmer sind dieser Provokation jedoch nicht

gefolgt, so dass auch keine Auseinandersetzung in der Gruppe zu diesem Zeitpunkt

stattfand. Damit scheint zumindest andeutungsweise eine Auffassung über Lernen von

den Teilnehmern deutlich zu werden: Das vermeintlich als Provokation eingeführte

Gegensatzpaar „Lernen vs. Dasein, Spaß haben“ scheint in der gemeinsamen

Erfahrung der Jugendlichen möglicherweise überhaupt nicht provokativ zu sein. Dies

214

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

lässt die Vermutung zu, dass sich in den Auffassungen der Teilnehmer Lernen und

Spaß haben, Dasein tatsächlich auszuschließen scheinen.

Auffällig ist die Diskursorganisation, die einer Aufzählung gleicht, in der immer mehr

einzelne Bausteine, Inhalte oder Lerneffekte scheinbar willkürlich aneinandergereiht

werden. Ebenso ist auch die augenscheinlich geringe Beteiligung von Bm

außergewöhnlich, der nach einer längeren, kritischen Eingangsbemerkung (485) mit

einer Konklusion über Hilfe und Hilfebedürfnisse die Sequenz beendet (510) –

demgegenüber dominiert er in der Diskussion über den Grundreiz (129-276) mit

vielen Redeanteilen.

Orientierung an verschiedenen Welten

Mit dieser Eingangsbemerkung dokumentiert Bm (485) erstmalig die in den folgenden

Interpretationen weiter ausgearbeitete Figur der „Orientierung an Welten“ (vgl.

Gruppendiskussion Meer 345-358; 796-802; Gruppendiskussion Feld 278-283; 1068-

1075;1124-1125; Gruppendiskussion Boden 703-708; 744-748; 379-384) und im

spezifischen Fall von Bm die bei ihm wahrgenommene Inkongruenz zwischen einer

inneren und äußeren Welt.

In Anlehnung an die Untersuchungen über türkische Jugendliche von Bohnsack/Nohl

(vgl. Bohnsack 2002, 131, sh. auch: Bohnsack/Nohl 1998, Nohl 2000), die von

„Sphärenorientierung“ sprechen und damit die Suche nach der Zugehörigkeit zu einem

bestimmten Milieu und habitueller Sicherheit zum Ausdruck bringen, verwende ich in

dieser Arbeit die Begriffe „innere und äußere Welt“ in diesem Kontext analog.

Dabei bezeichnet die „innere Welt“ die familiären und verwandtschaftlichen

Beziehungen der Jugendlichen und ebenso auch die Beziehungen der Jugendlichen in

ihrem primären sozialen Kontext der Clique oder der Peer-Group, die jedoch

außerhalb des Projektes anzusiedeln sind, in dem sie sich aktuell befinden und in

dessen Kontext die Gruppendiskussion stattfand. Die „innere Welt“ bezeichnet damit

die Handlungsroutinen und Interpretationen, die von dem Individuum durch den

Kontakt mit seinem primären sozialen Umfeld inkorporiert wurden und dadurch zu

inneren Überzeugungen geronnen sind, an denen sich das Handeln und die

Interpretation von eigenen und fremden Handlungen orientiert.

Ausgehend von der These der frühen Objektbeziehungen (vgl. Mahler u.a. 1980, Kap.

3.5.4, S. 90) werden die frühen äußeren Einflüsse auf den Menschen in die eigene

Persönlichkeit integriert und erhalten dadurch eine sehr dauerhafte und wirkmächtige

Form. Da die Jugendlichen in der Regel nur eine relativ kurze Zeit in den von mir

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

untersuchten Maßnahmen (1 Woche bis 1 Jahr) erschien es nahe liegend, die

inkorporierten Handlungsmuster der Jugendlichen als innere Welt und die

Handlungsroutinen und transportierten Orientierungsmuster im Projektalltag als

äußere Welt, die auf die Jugendlichen einströmt, zu bezeichnen, auch wenn das

Projekt den Charakter einer „Innenwelt“ aufweist. So bezieht sich die Bezeichnung

innere und äußere Welt immer auf die Ebene der Orientierungsmuster der

Jugendlichen und zielt auf die Frage der Auseinandersetzung mit diesen.

Als „äußere Welt“ werden demnach die an die Jugendlichen durch die Maßnahmen

und Projekte im Feld der Jugendsozialarbeit herangetragenen Orientierungen und

Beziehungen zu den Professionellen im Feld bezeichnet, die sich von den

inkorporierten Handlungsroutinen und Interpretationen, also der inneren Welt,

unterscheiden können, aber nicht zwangsläufig müssen. Insofern kann durch eine

solche „Konfrontation“ mit der „äußeren Welt“ im Interpretationsgerüst einer Person

eine Irritation oder eine Bestätigung der Handlungsmuster erfolgen. Durch die

Engführung auf die Praxisweisen in der Jugendsozialarbeit werden in dieser

Untersuchung die gesellschaftlichen Institutionen stärker eingegrenzt, als dies in der

Untersuchung von Bohnsack/Nohl der Fall war. Da es sich bei dieser Untersuchung

um eine Analyse einer gemeinsamen Handlungspraxis von Jugendlichen in einem

speziellen sozialen Feld handelt, das von sozialpädagogischen Praxisweisen

gekennzeichnet ist, wird die Orientierung an verschiedenen Welten auf den Bereich

der jeweiligen Projekte eingegrenzt und weniger auf kulturelle Orientierungen, die

von gesellschaftlichen Institutionen wie Kirche, Schule oder Politik vermittelt werden,

bezogen.

Mit dem Terminus „Welt“ wird zum Ausdruck gebracht, dass „Welten“ oder

„Bereiche“ zum einen nicht als „objektive“ Tatsachen bereits vorhanden sind, sondern

immer noch einer Konstruktionsleistung der Individuen unterliegen. Zum anderen

repräsentiert der Begriff „Welt“ eine Brücke zwischen der Theorie eines

Bildungsbegriffs, der von „Weltaufordnung“ und „Irritation“ spricht und der Empirie,

die dieses Phänomen als einen Teil der pädagogischen Praxis in den Projekten

aufzeigt. Insofern zielt der Bildungsbegriff immer auch auf die Haltung der

Auseinandersetzung mit Welt und der (möglichen) Transformation der

Interpunktionsweisen von Weltaufordnung (vgl. Kap. 3.6, S. 65ff).

Diese Textsequenz entfaltet aufgrund anderer Aspekte eine besondere Relevanz für

die dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussion. Aufgrund der

Schwierigkeit, ein klar erkenntliches gemeinsames Thema der beteiligten

Jugendlichen auszumachen, scheint ein erster Hinweis darauf gegeben zu sein, dass es

sich bei der Diskursorganisation in dieser Gruppendiskussion insgesamt eher um eine

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

parallelisierende Diskursorganisation (vgl. Loos/Schäffer 2001, 69) handeln könnte.

Dabei besteht eine parallelisierenden Diskursorganisation „in gewissem Sinne in der

Vermeidung eines offen propositional geleiteten Diskurses, bei dem jemand seine

‚Meinung’ kund tut und sich dann mit den anderen über das für einen Beobachter klar

erkennbare Thema unterhält. Eine parallelisierende Diskursorganisation besteht

dagegen aus der aneinanderreihenden Schilderung von Beispielen.“ (ebd.).

Wie in den folgenden Abschnitten deutlich wird, reihen sich an einigen Stellen der

Diskussion, insbesondere in den Äußerungen von Bm, Beispiele und Stellungnahmen

aneinander, ohne dass er oder auch andere offen ihre Meinung klar explizieren und in

einen offenen Diskurs eintreten. Sollte sich diese Vermutung als zutreffend erweisen,

so wäre die Aufgabe der folgenden Interpretation nach Loos/Schäffer deutlich

erschwert, wobei im Zentrum der Interpretationen dann die „Herausarbeitung eines

thematischen Schlüssels, also einer Thematik, die alle Beispiele miteinander

verbindet“ (ebd. 70, Hervorhebung im Original) steht. Als die Thematik, die die

unterschiedlichen Diskussionsstränge miteinander verbindet, könnte die an dieser

Stelle erstmalig herausgearbeitete Orientierungsfigur der „Orientierung an

verschiedenen Welten“ sein. Der gemeinsame thematische Schlüssel liegt

dementsprechend nicht auf der wörtlichen Ebene, die von den Jugendlichen in der

Diskussion verbal expliziert wird, sondern auf der Ebene des Dokumentsinnes und

lässt sich durch die Fokussierung der Frage nach dem „Wie“ der Explikation

unterschiedlicher Thematiken herausarbeiten. Diese Orientierungsfigur verweist

darauf, dass es sich in der sozialpädagogischen Praxis in dem Projekt nur sekundär für

die Jugendlichen um die Vermittlung von Wissen und Informationen handelt (von

denen ohnehin den beteiligten Jugendlichen nicht wirklich klar zu sein scheint,

welchen Informationsgehalt Tätigkeiten wie das Bauen einer Seilbrücke haben

könnten) und es eher um die Frage nach Anerkennung im Kontext der

Gruppenmitglieder untereinander und im Kontakt zu den Mitarbeiter im Projekt geht,

die als Motor einer angestrebten Synthese zwischen einer Innenwelt und einer

Außenwelt gelten kann (vgl. Gruppendiskussion Boden 537-538; 562-565; 703-708;

890). Diesbezüglich werden dann die Orientierungen der inneren Welt als einer

individuell inkorporierten Struktur, die nach Bourdieu mit dem Begriff des Habitus

gekennzeichnet werden könnte (vgl. Bremer 2004, Krais/Gebauer 2002) und der

äußeren Welt des aktuellen Projektkontextes in eine Passung, eine Art Synthese, zu

bringen versucht.

Im Kontext erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung setzt sich Marotzki

(1999) mit der Frage der Bildung als einem Konstrukt des reflexiven In-der-Welt-

Seins auseinander und beschreibt mit dem synchronen und diachronen

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Reflexionsformat zwei Ausprägungen einer solchen Reflexion, die für die weitere

Betrachtung der Praxis von Projekten der Jugendsozialarbeit weiterführend sein

könnten. Hergeleitet aus der Auflösung von traditionellen Sinnkonstruktionen in der

Moderne, müsse auch die Frage der Intersubjektivität in gemeinschaftlichen

Zusammenleben immer wieder neu thematisiert werden. Marotzki bezeichnet den

Kern des synchronen Reflexionsformates in der Versicherung der Anerkennung der

eigenen Person durch die Anderen. „Bildung, in diesem Sinne verstanden, wäre dann

das Antworten auf die Infragestellung meiner Selbst durch den Anderen“ (ebd., 64).

Während sich das Synchrone Reflexionsformat also auf die Vergewisserung der

Anerkennungsbeziehungen im Hier und Jetzt beziehen, ist das diachrone

Reflexionsformat auf die eigene Lebensgeschichte insgesamt gerichtet, wobei auch die

Geschichte von Gruppen, Gemeinschaften und Kollektiven, zu denen der Mensch

gehöre, damit eingebunden seien. Mit dem synchronen Reflexionsformat als eine

Ausprägung des von Marotzki als Bildung beschriebenen reflexiven In-der-Welt-Seins

wird die Verbindung zwischen Anerkennung und Bildung deutlich aufgezeigt. Für die

Analyse der Gruppendiskussionen heißt das, ein besonderes Augenmerk auf die

Beziehungen der Teilnehmer in den Projekten untereinander, vor allem aber zu den

Mitarbeitern in dem Projekt zu legen. Darin scheint ein Schlüssel für eine mögliche

Ausweisung von Bildungsmöglichkeiten in der Jugendsozialarbeit zu liegen.

Projektalltag als Lernfeld

Im weiteren Verlauf der Diskussion reagiert Fm (483) auf die Proposition von Gw in

Form einer antithetischen Differenzierung und bezieht die Handlungspraktiken

innerhalb der Maßnahme auf beide Aktionsbereiche – sowohl auf Lernen als auch auf

„Spaß haben und Dasein“. Er konkretisiert die Frage nach dem Lernen durch eine

Synthese beider Bereiche, die er unter dem Stichwort „Ruhiger werden“

zusammenfasst. Damit wird noch einmal deutlich, dass keine konkreten Lerninhalte,

wie sie in der Schule vermittelt werden und wie sie in der Diskussion über den

Grundreiz deutlich geworden und von den TN ausgeführt worden sind, im Zentrum

der Betrachtung stehen, sondern so genannte „Soft-Skills“, die auch Inhalt von

Lernprozessen sein können. Damit dokumentiert Fm, dass er zum einen die

Maßnahme als Lernort charakterisieren würde, zum anderen, dass er dieses Lernfeld

deutlich von einem schulischen Lernfeld absetzt und der Maßnahme andere

Lerninhalte beimisst, als der Schule. Über die Bedeutung, die er dem Erlernen

„ruhiger zu werden“ zumisst, können nur Hypothesen angestellt werden – die alleinige

Thematisierung dieses Lernfeldes ist jedoch bemerkenswert.

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Bm (484) stimmt der antithetischen Differenzierung der Proposition von Fm zunächst

zu, in der er zum Ausdruck bringt, dass die Maßnahme ein Lernfeld ist. In Form einer

weiteren antithetischen Differenzierung verfeinert er die Äußerung jedoch und

reflektiert vor dem Hintergrund der Freiwilligkeit und Nicht-Freiwilligkeit der

Teilnahme (vgl. Sequenz „Freiwillig hierher kommen?“ (347-384)), dass die

Freizeitgestaltung der nicht-freiwilligen Teilnehmer, zu dessen Teilnehmerkreis er

zählt, sich deutlich unterscheidet von den Aktionsformen, die in der Maßnahme

durchgeführt werden. Diese Auffassung expliziert er am Beispiel seiner Person selbst

und bewertet die Aktionsformen der Maßnahmen negativ. Dadurch grenzt er sich an

dieser Stelle wiederum ab von den anderen Teilnehmer, die die Aktionsformen

tendenziell als eher positiv einschätzen und nicht so kritisch beurteilen. Damit

dokumentiert sich erneut die Figur der „Orientierung an verschiedenen Welten“ als

Thema bei Bm – die eindeutige Trennung zwischen der privaten Welt (innere Welt)

innerhalb des Lebenszusammenhangs „zu Hause“ und der öffentlichen Welt (äußere

Welt) in der Maßnahme.

Während Fm das Lernfeld von der Person des Lernenden her denkt, wird bei Bm

deutlich, dass er durch die Formulierung „wolln die uns beibringen, was anderes

machen“ den Lernbegriff als von der lehrenden Person auf den Lerner hin organisiert

interpretiert. Es handelt sich also in seiner Interpretation nicht um einen selbst

gesteuerten Prozess des Lernens von Verhaltensweisen, sondern um eine von einer

Autoritätsperson vorgegebenen Alternative zu bisherigem Verhalten, die adaptiert

werden soll. Damit dokumentiert er auch, dass er in der (Selbst-) Reflexion keinen

Unterschied macht zu Formen „herkömmlichen“ Lernens, die er in der Schule kennen

gelernt hat und die ihm dadurch vertraut sind, und dem Lernen in anderen

Institutionen, wie zum Beispiel dieser Maßnahme. Möglicherweise liegt das auch

daran, dass die Irritation der eigenen Interpretationen von Lernen bei Bm so groß ist,

dass die Bemühungen, an dieser Stelle bereits eine Synthese der Aktionsformen im

Kontext von Lernen vorzunehmen – wie dies durch die Anlage der Diskussion

provoziert wird – für Bm zeitlich noch zu früh ist. Das an dieser Stelle von Bm

thematisierte Lernverständnis weist deutliche Anknüpfungsmöglichkeiten zum

lerntheoretischen Konstrukt von Bateson (1964, 372ff.) auf (vgl. Kap. 3.6.2, S. 107),

der in den unterschiedlichen Abstraktionsgraden lediglich verschiedene Formen, bzw.

Stufen des Lernens wahrnimmt. Während es auf der untersten Stufe zu reinen Reiz-

Reaktions-Schemata kommt, erfährt auf der folgenden Stufe der Einbezug des

Kontextes eine besondere Bedeutung. Die nächste Ebene, die in der Theorierezeption

durch Marotzki dann als Bildung begriffen wird, bezeichnet die bewusst gesteuerte

Transformation der Reaktionen in unterschiedlichen Kontexten. Es scheint so, als

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

thematisierten an dieser Stelle Fm und Bm unterschiedliche Verständnisse von

„Lernen“, die in der Theorierezeption von Bateson als Beschreibung unterschiedlicher

Ebenen von Lernen beschrieben werden können.

Anhand eines konkreten Beispiels aus dem Maßnahmenzusammenhang exemplifiziert

Ew (485) die vorgetragene Proposition und thematisiert den von ihr wahrgenommenen

Lerninhalt „Zusammenarbeit in einer Gruppe“. Sie bestätigt damit die Auffassung,

dass die Maßnahme grundsätzlich als Lernfeld charakterisiert werden kann und die

Inhalte personengebunden sind, wenngleich die Formulierung eher unpersönlich

konstruiert wurde („Man lernt...“). In ähnlicher Weiser konkretisieren Fm, Ew und Dw

die Lerninhalte innerhalb der Maßnahme und extrahieren die Lernfelder

„Vertrauen“ und „Abbau von Ängsten“ (486-492) durch die Praxisformen

der Maßnahme. Sie alle drücken damit aus, dass sie die Maßnahme als Lernfeld

konstruieren, in dem andere Inhalte als in Institutionen des formalisierten Lernens

bearbeitet werden können.

Die Synthese der äußeren und der inneren Welt als Ziel pädagogischer Praxis

Durch die durchweg positive Bewertung dieser Lerninhalte grenzen Ew, Fm und Dw

sich wiederum von Bm ab, der in einem ersten Statement die Inhalte eher kritisch

gesehen und sie im Verständnis eines „Beibringens“ im Sinne eines „Umerziehens“

ohne großen Eigenanteil der Teilnehmer thematisiert hat, wovon er sich in kritischer

Auseinandersetzung abgrenzt. Während Bm die starke Differenz zwischen den Welten

betont und die Schwierigkeit thematisiert, die wahrgenommenen Differenzen einer

privaten und einer öffentlichen Welt zu synthetisieren, scheint dies für die anderen

Teilnehmer kein allzu großes Problem darzustellen. Zumindest Ew steht nicht vor der

Herausforderung, eine Synthese zwischen einer inneren und einer äußeren Welt

herstellen zu müssen: Diese scheint sich von selbst zu ergeben, da die an sie

herangetragenen Handlungsroutinen und Interpretationen der äußeren Welt mit denen

der inneren Welt bereits in einer Passung zu liegen scheinen.

Möglicherweise geht die Passung der inneren und äußeren Welt bei ihr so weit, dass

die Welten kaum noch als unterschiedlich wahrgenommen werden und somit nicht

synthetisiert werden müssen. Sie scheint sich als freie Teilnehmerin in einer

Projektwelt und äußeren Welt zu bewegen, die ihr aus den üblichen Kontexten und

ihrer inneren Welt heraus vertraut ist. In dieser Lesart wird konkreter, was Bm in einer

Unterscheidungsthematik (Sequenz „Freiwillige Teilnahme?“ (346-384)) ausführt: Er

scheint die Maßnahme im Sinne einer möglichen Auseinandersetzung mit seinen

Überzeugungen und inkorporierten Handlungsroutinen wahrzunehmen, grenzt sich

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

aber gleichzeitig davon ab, da er dies zunächst (noch) nicht zulassen will. Dieser

Wahrnehmung entspricht auch das allgemeine konzeptionelle Ziel sozialer

Trainingskurse:

„Die Jugendlichen sollen im Rahmen einer sozialen Gruppenarbeit dahingehend sensibilisiert und beeinflusst werden, dass ein weiteres Begehen einer Straftat zukünftig nicht mehr in Frage kommt und sie in der Lage sind, ihre alltäglichen Probleme und Defizite mit Hilfe von alternativen Verhaltensweisen zu bewältigen. Um diesem Richtungspunkt näher zu kommen, ist die Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des Jugendlichen unumgänglich. Der Jugendgerichtshelfer hat die Aufgabe, sich mit den individuellen Gesichtspunkten des jungen Menschen zu beschäftigen und diese in Bezug auf das abweichende Verhalten im Strafverfahren transparent zu machen“ (Plien 2003, 62).

Diese Sequenzen und die Dominanz der Orientierungsfigur „Orientierung an

verschiedenen Welten“ deutet darauf hin, dass sich die beschriebene

sozialpädagogischen Praxisform möglicherweise in der Form artikuliert, dass eine

Synthese unterschiedlicher Welten integraler Bestandteil des Projektes ist.

Verschiedene Welten, in denen sich die Jugendlichen bewegen, sollen miteinander

verbunden werden: privat – öffentlich; freiwillig – nicht-freiwillig; straffällig – nicht-

straffällig. Dies erfolgt sowohl in konkretem Kontakt der Teilnehmer untereinander,

als auch im Gedankenexperiment der Teilnehmer (privat– öffentlich). Genau in

diesem Punkt scheinen sich jedoch die Teilnehmer des Projektes zu unterscheiden, da

ihre individuellen konkreten Erfahrungsräume unterschiedlich sind und es somit vor

allem für die straffällig gewordenen Teilnehmer die Aufgabe der Synthese der

verschiedenen Welten gibt.

Als weiteres Lernfeld extrahieren Fm, Dw und Ew die Bedeutung gegenseitiger Hilfe

(495), die durch gezielte Methoden innerhalb der Maßnahme initiiert wurde und

exemplifizieren die Proposition dadurch weiter. Es scheint als „zelebrierten“ sie hier

ihre Einigkeit und ihre Übereinstimmung in der Diskussion, die sie ausweiten.

Kommentierungen, Antithesen oder gar Opposition kommen an dieser Stelle nicht

weiter vor, so dass ein weiterer Hinweis auf eine parallelisierende Diskursorganisation

gegeben wird.

Durch die Äußerung das „alles miteinander verbunden“ sei, exemplifiziert Ew (498)

die Proposition und verdeutlicht, dass die in der Maßnahme durchgeführten Aktionen

in ihrer Auffassung einen gemeinsamen methodisch-didaktischen Aufbau aufweisen.

Sie expliziert die von ihr angenommen Intentionen der pädagogischen Mitarbeiter, die

sie durch den Einsatz unterschiedlicher Aktionen verwirklichen wollen. Diese lägen

darin, sich näher kennen zu lernen und gemeinsam zu arbeiten. Sie deutet die

Maßnahme als ein vollständig durchgeplantes Ensemble von Methoden und Aktionen,

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

die einer übergeordneten Thematik zugeordnet sind und die einen konsistenten Sinn

ergeben. Den Sinn der Aktionen erkennt sie darin, dass die Teilnehmer sich

untereinander besser kennen lernen, lernen zusammen zu arbeiten und nicht immer

alles alleine zu machen.

Ew scheint damit zu explizieren, was sie von der pädagogischen Praxis bisher

verstanden hat. Insofern handelt es sich bei der Exemplifizierung um eine affirmative

Äußerung, die keine Position bezieht. Diese Sequenz verdeutlicht die Bewegung der

Gruppe in diesem Bereich zwischen Affirmation, also der unkritischen Übernahme

von Auffassungen und Intentionen, und Opposition, der zugegebenermaßen

unreflektierten, bzw. nicht weiter ausgeführten Gegenwehr gegen die Intentionen der

Veranstalter.

Ew knüpft in Form einer Exemplifizierung an das Orientierungsmuster, dass die

Aktionen in der Maßnahme eine gemeinsame Zielorientierung haben, an und legt dar,

dass sie dieses Ziel erfasst zu haben glaubt. Dieser Sinn ist für sie leicht auf die

Lebensbereiche außerhalb der Veranstaltung zu übertragen: Da die verschiedenen

Aktionen der Maßnahme ihr auch immer sehr viel Spaß bereitet haben, nimmt sie an,

dass sie sich daran lange Zeit wird erinnern können und dann auch in

Alltagssituationen diese Erfahrungen aus der Maßnahme abrufen kann.

Der erste Wortbeitrag von Aw (506) in dieser Sequenz validiert die Äußerung der

Transferannahme von Ew und knüpft an dem Erfahrungscharakter der Aktionen an,

die auf andere Lebenssituationen übertragen werden könnten. Das Problem der

Inkongruenz innerer und äußerer Welten, das von Bm thematisiert wurde, wird in

dieser Äußerung von Aw nicht weiter thematisiert, sondern in den folgenden

Äußerungen durch die Transferannahme und die Annahme der Allgemeingültig sogar

negiert: Eine Synthese sei grundsätzlich für alle Menschen nötig.

Aw und Ew dokumentieren damit, dass für sie die Synthese einer inneren und äußeren

Welt grundsätzlich kein Problem darstellt. Sie gehen sogar noch einen Schritt weiter

und verallgemeinern diese Annahme, indem sie das Indefinitpronomens „man“ für

diese Äußerung verwenden, durch das eine nicht näher bekannte oder nicht genauer

bezeichnete Person bezeichnet wird. Sie treffen damit eine Verallgemeinerung für eine

nicht näher bestimmte Person und äußern darin die Auffassung, dass es potentiell für

jeden möglich sei, die Handlungsroutinen und Interpunktionsweisen innerer und

äußerer Welten miteinander zu verbinden.

In einer weiteren Validierung wird diese Allgemeingültigkeit von Ew verbal noch

verstärkt: Es gehöre zu der Transferleistung in ihrer Wahrnehmung nicht einmal eine

Reflexion oder Interpretation zwingend dazu, sondern diese automatisiere sich, d.h.

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

bestimmte Erlebnisse werden automatisch von der öffentlichen auf die private Welt

übertragen. Eine Synthese finde dementsprechend automatisch statt. Das deutet darauf

hin, dass sie ihre innere Welt ad absolutum setzen: Da es für sie nicht nötig ist, eine

Synthese herzustellen, da die neuen Erfahrungen sich sehr gut in ihre inkorporierten

Handlungsmuster integrieren lassen, scheint es unvorstellbar zu sein, dass dies bei

anderen Menschen nicht der Fall sein könnte. Dieser von einem Teil der Gruppe

angenommene Automatismus wird durch die Metapher der „kleinen Kettenreaktion“

noch weiter verstärkt.

6.2.3 Textsequenz 3: Versager (531-575)

Kontext und Auswahl der Textstelle

Im Anschluss an eine längere monologische Erörterung der Bedeutung schulischen

Lernens und der daraus resultierenden Noten für die berufliche Karriere durch Ew, die

für die primäre Integration in den ersten Arbeitsmarkt wesentlich sind, und erst im

weiteren Karriereverlauf durch Weiterbildungsmöglichkeiten relativiert werden

können, fokussiert Bm (530) die von Ew unter dem Stichwort „Glück und

Zufriedenheit“ eingebrachte Thematisierung von Schicksalsschlägen in der Familie

wiederum auf die schulischen Leistungen.

Schicksalhafte Ereignisse, die von Bm zunächst nicht weiter expliziert werden, wirken

sich in seiner Deutungsweise grundsätzlich auf den schulischen Leistungserfolg aus.

Dies hat wiederum Auswirkungen auf die Frage nach Anerkennung, Wertschätzung

und Wertschöpfung: Woher bezieht Bm seine Anerkennung und damit die positive

Bestätigung des Selbst, wenn zentrale gesellschaftliche Anerkennungsfiguren wie gute

Noten, hoher Schulerfolg und Leistungsfähigkeit ausfallen?

Die hohe narrative und metaphorische Dichte dieser Textsequenz haben zur Auswahl

dieser Textstelle für die Interpretation geführt. Darüber hinaus wurde in den ersten

Interpretationsschritten die Figur der Anerkennung herausgearbeitet, die über das

theoretische Konstrukt von Marotzki (1999) einen Anschluss dieser Textstelle an

bildungstheoretische Überlegungen ermöglicht.

Anerkennung durch extrinsische Faktoren

Der Prozess des Lernens und des Schulerfolgs kann durch plötzliche, von Bm nicht

näher beschriebene Ereignisse, ins Stocken geraten und schlechte Schulleistungen

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

nach sich ziehen. Die Personifizierung dieser Aussage („Du lernst...“) im

Gegensatz zu einer möglichen unpersönlichen Formulierung („Man lernt...“) lässt

vermuten, dass diese Äußerung von Bm (531-538), die sich als Proposition des

Orientierungsmusters der großen Bedeutung des persönlichen Umfelds und der

persönlichen Lebensumstände für die eigene Leistungsfähigkeit verstehen lässt,

biographische Anteile hat und er von sich erzählt. Erheblich später berichtet er in der

Gruppendiskussion von seinen Erfahrungen mit dem Drogenmilieu des Dorfes, zu

dem er nur durch einen Umzug der Eltern Zugang bekommen hat (vgl. 890). So legt

der Kontext nahe, dass er sich auch in dieser Sequenz auf diese biographische

Erlebnisebene bezieht. Auch aus dem Kontext der vorherigen Sequenz von Ew

(528;530) lässt sich eine Thematisierung von äußeren Umständen interpretieren, an

die Bm dann anschließt. In der Erlebniswelt von Bm wird Schulversagen, da die

Leistung in der öffentlichen Wahrnehmung personifiziert ist und untrennbar mit der

Person des Schülers und nicht mit der Person des Lehrers verknüpft ist, durch die

soziale Umwelt nicht nur als Defizit in der Leistungserbringung gewertet, sondern

darüber hinaus auch auf die gesamte Persönlichkeit übertragen, die dadurch eine

Abwertung erfährt (negative Anerkennung).

531 Bm: |Du lern-| Du lernst dein ganzes Leben in der Schule und auf einmal

532 (2) 533 weiß nicht- 534 Ew: Dass du dann richtig, 535 Bm: Ja 536 Ew: irgendwie

absackst. 537 Bm: Wirst richtig so als Looser bezeichnet. Manche,

so'ne Streber so, die richtig viel was bringen, die man als Streber bezeichnet, die lachen sie immer aus und son Scheiß.

Damit dokumentiert sich in dieser Äußerung auf unterschiedlichen Ebenen das

Handlungs- und Interpretationsmuster von Bm: Zum einen wird auch in der folgenden

Sequenz immer wieder deutlich, dass Bm insbesondere die äußeren Einflussfaktoren

auf sein Verhalten – in diesem Beispiel für seine schulische Leistungsfähigkeit, an

anderen Stellen für seinen Drogenkonsum – herausstellt (558) und sich selbst in der

Tendenz einer Opferrolle sieht, in die er durch die ihn umgebenden Umstände geraten

ist. Gleichzeitig dokumentiert sich darin die große Bedeutung der Orientierungsfigur

„Anerkennung“, die Bm in erster Linie von außen, also von den Anderen, erwartet,

bzw. seine persönliche Stabilität aus der Anerkennung durch Menschen von außen

bezieht.

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Orientierung an verschiedenen Welten

Insofern ist auch das Orientierungsmuster der „Orientierung an verschiedenen

Welten“, das bereits in der Textstelle „Beibringen oder Lernen“ (481-510) (vgl. S.

211)näher eingeführt wurde, an dieser Stelle schlüssig: Bm orientiert sich stark an der

äußeren Welt und inkorporiert, bzw. transformiert die an ihn herangetragenen äußeren

(oder besser: öffentlichen) Handlungsroutinen in eigene. So erklärt sich auch die

diffizile Diskursorganisation, in der Bm versucht, mit den inkorporierten

Handlungsroutinen zu agieren, die allerdings einem anderen sozialen Milieu

entstammen und somit nicht kompatibel zu den Handlungsroutinen der Gruppe sind.

Relativ schnell gibt er es dann auf und orientiert sich an den Handlungsmustern der

aktuellen Gruppe, wobei er sich zunächst immer häufiger widerspricht. An anderer

Stelle kann nachgezeichnet werden, dass in der Gruppendiskussion selber die

Anerkennungsthematik einen besonderen Stellenwert bekommt, die Richtung des

Anerkennungsprozesses aber sowohl fremdreferentiell, also auf die Anerkennung von

außen als synchrones Reflexionsformat, als auch selbstreferentiell als diachrones

Reflexionsformat sein kann (835-838; 890; 143-144)36.

Bemerkenswert ist dabei, dass diese als Proposition eingeführte These, dass die

äußeren Faktoren eine hohe Relevanz für schulisches Lernen haben, arbeitsteilig von

Bm und Ew vorgetragen wird. Im Rahmen der Thematisierung eines negativen

Gegenhorizontes exemplifiziert Bm die Proposition durch die Metapher des Strebers

(537): Etwas unglücklich formuliert, lässt sich dennoch rekonstruieren, dass nach Bm

die Streber als Leistungsträger ausgelacht werden (auch aus dem Kontext heraus) und

verdeutlicht somit, dass es – je nach Referenzsystem keinen positiven Gegenhorizont

gibt: Der Leistungsschwache erfährt Abwertung durch die Formulierung „Looser“,

der Leistungsträger durch das Etikett „Streber“. Beide Abwertungen erfolgen

wiederum durch die Referenz des sozial nahen Umfelds. Diese Sequenz wird spontan

durch die zustimmende Äußerung durch Ew validiert. Fm exemplifiziert die

Proposition (539-544), nimmt die Unbestimmtheit des Abwärtstrends auf und

illustriert sie durch die Formulierung einer „Kettenreaktion“. Dieser Begriff

impliziert die Auffassung, dass dieser Vorgang nur schwerlich und durch größere

Anstrengungen aufgehalten werden kann, bzw. der Leistungsabfall unaufhaltsam ist,

wenn das soziale Milieu nicht zu einer Leistungsfähigkeit des Einzelnen beiträgt.

36 Das Orientierungsmuster „Orientierung an verschiedenen Welten“ ist also auf mehreren Ebenen wirkmächtig – zum einen als generelles „Thema“ der Jugendlichen: Wie gelingt es, mit irritierenden Informationen und Theorien um zu gehen, die nicht zu der bisherigen Auffassung passen, die durch die innere Welt repräsentiert ist? Im Konkreten macht Bm diesen Prozess auch in der Gruppendiskussion aktuell durch: Während die anderen Gesprächsteilnehmer auf der Ebene des Dokumentsinnes quasi „über“ dies Orientierungsmuster diskutieren, befindet er sich in der Gruppendiskussion aktuell in der Dynamik des „Verbinders“....

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Bm ergänzt die Proposition im Sinne einer antithetischen Differenzierung (540) durch

eine selbstreflexive Darstellung seiner eigenen Situation, in der er sich als

„Versager“ bezeichnet und damit validiert, dass er in der Proposition sich selbst

meinte. Vor allem durch den Ausblick in der Auseinandersetzung mit einem positiven

Gegenhorizont dokumentiert er seine Unzufriedenheit mit der Situation. Er grenzt sich

von dem Auslachen seiner „Genossen“ ab und beurteilt es eindeutig negativ. Er würde

lieber das Lager wechseln, wobei der Konjunktiv andeutet, dass er das

Enaktierungspotential (vgl. Bohnsack 2003, 136) seiner Handlung als relativ gering

einschätzt. Daran wird die Schwierigkeit eines Milieuwechsels und die damit

verbundenen Wechsel der sozialen Beziehungen deutlich. Bm dokumentiert damit die

Suche nach Zugehörigkeit zu einem sozialen Milieu, was sich im Orientierungsmuster

„Orientierung an verschiedenen Welten“ fassen lässt.

Konkreter reflektiert Ew in Form einer Anschlussproposition die Chancen, die

insbesondere für die „straffällig gewordenen Teilnehmer“ in dieser Maßnahme liegen

(540): Sie können etwas „dazu“ lernen – auch wenn die Teilnahme unter Zwang

geschieht. Mögliche Inhalte der von Ew prognostizierten Lernprozesse innerhalb des

Maßnahmekontextes werden von Ew zunächst nicht weiter expliziert – entscheidend

scheint an dieser Stelle vorläufig zu sein, dass sie diese Maßnahme mit dem Begriff

Lernen überhaupt in Verbindung bringt.

Cm (550;552) validiert die Proposition von Bm, in dem er die Teilnahme und die

vorausgegangenen Ereignisse als „Schicksal“ bezeichnet und diesen Begriff relativ

unvermittelt in die Diskussion einbringt. Er bezieht sich damit zum einen auf die

Äußerung von Bm, dass die äußeren Umstände starken Einfluss auf die eigene

Handlung haben (auch Fm: Kettenreaktion, 539ff) und es in doppelter Hinsicht auch

„Schicksal“ sei, dass Bm jetzt Teilnehmer dieser Maßnahme sei.

In Form einer Exemplifizierung elaboriert Fm das Thema weiter (553) und erläutert

das Bild einer Kettenreaktion, die es nicht mehr erlaube, einen Neuanfang zu machen,

sondern nur die Möglichkeit biete, andere Wege zu gehen. Er thematisiert damit seine

Auffassung von der Unumkehrbarkeit von Ereignissen und der Unmöglichkeit, einen

Umschwung zu erzielen. Grundsätzlich sei es zwar nicht möglich, noch mal neu zu

beginnen, aber man könne andere Wege suchen.

Die Ausführungen von Bm über den entscheidenden Einfluss des sozialen Umfelds für

die individuelle Entwicklung erhalten den Charakter einer Validierung seiner eigenen

Proposition, bzw. einer weiteren Rechtfertigung oder Verstärkung der Proposition.

Ausschlaggebend für die Entwicklung des Menschen ist demnach, welche Leute man

kennen lernt, denn diese haben eine große Bedeutung für das Individuum.

226

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Die folgende Passage (555; 557) ist durch eine Opposition von Aw gekennzeichnet, in

der sie die Metapher der Kettenreaktion aufnimmt und Bm eine eindeutige

Handlungsempfehlung gibt. Was auch immer geschehe, er solle dennoch immer

wieder von vorne anfangen und somit dem unausweichlich scheinenden Scheitern

etwas entgegen setzen. Sie scheint sich mit der Metapher der Kettenreaktion nicht

anfreunden zu können. In diesem Bild liegt die These, dass der Mensch kaum zu einer

reflexiven Vergewisserung über die externen Lebensumstände in der Lage sei und sie

ohne eine Bewertung vorzunehmen, in eigene Handlungs- und Denkweisen integriert.

Eine solche Sichtweise wird deutlich in der Formulierung von Bm (558):

Bm: Wenn du die falschen Leuten kennenlernst, wirst auch n falscher Leut, wirst du auch nur Scheiße bauen.

Diese Metapher erinnert an das Verständnis von Sozialisation bei Bernhard (1997),

der Sozialisation als Prozess der Einführung Kinder und Jugendlicher in der die

Gesellschaft und ihre Rahmenbedingungen versteht. „Im Sozialisationsprozeß dringt

Gesellschaft in die Individuen ein und pflanzt in ihnen die für das Zusammenleben

notewendigen Werte und Normen ein. Die äußeren Zwänge werden zu inneren

Zwängen umgewandelt“ (ebd., 70). Es scheint, als habe das Individuum im

Verständnis der Jugendlichen zunächst keine Möglichkeiten, sich vor dieser

Internalisierung zu schützen.

Das zustimmende „Ja“ von Bm (Validierung) verdeutlicht, dass ihm diese Auffassung

zwar einleuchtend erscheint, sein inkorporiertes Orientierungsmuster aber

wirkmächtiger ist. Die scheinbar widersprüchliche Art der Argumentationsführung

deutet auf der Ebene der Beziehungsstrukturen (performative Ebene) innerhalb der

Gruppe darauf hin, dass Bm um die Anerkennung durch die anderen

Gruppenmitglieder bemüht ist und sich an deren Meinung anpasst. An dieser Stelle

wird deutlich, dass das Verhalten von Bm deckungsgleich ist mit dem Dokumentsinn

seiner Äußerungen: Es ist sehr stark abhängig von der Meinung anderer und sucht

stark nach Anerkennung aus der Gruppe, d.h. sein Referenzsystem für Anerkennung

liegt eindeutig außerhalb seiner eigenen Persönlichkeit37.

37 An dieser Sequenz ergibt sich eine interessante Verbindung zur strukturalen Bildungstheorie von Marotzki, die unter anderen Bezüge zur Gesellschaftskritik von Mitscherlich ausweist. Kernpunkt der Mitscherlich’schen Gesellschaftskritik ist nach Marotzki die These, dass die Gesellschaft gezielt Ausbildung von schwachen Ich-Strukturen fördere und somit Abhängigkeiten erzeuge und die Bildung zu einem autonomen, aus sich selbst heraus handlungsfähigen Subjekt verhindere. Durchaus kann in der Dominanz der „Orientierung an verschiedenen Welten“ von Bm an dieser Stelle eine solche Figur erkannt werden (vgl. Kap.3.6, S. 95f), da er nicht in der Lage zu sein scheint, äußere Welten allein aufgrund eines stabilen inneren Wertgerüstes zu bewerten.

227

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

In ihrer Opposition zielt Aw (555f), die sich damit den Äußerungen von Ew

anschließt, auf die Verdeutlichung der Bedeutung der Aktivität des Einzelnen und

seine individuelle Verantwortung bei der Suche nach Zugehörigkeit zu einem Milieu,

bzw. beim Aufbau entsprechender Beziehungen. Von Bm erhält sie zunächst

zumindest kognitive Zustimmung zu dieser Aussage. Gleich darauf formuliert Bm

jedoch in Form einer antithetischen Differenzierung zu der Opposition eine

Validierung der ursprünglichen Proposition (ja aber....), in der er die Problematik um

das Thema „Außenseiter“ anreichert und somit implizit wiederum auf die Frage nach

Anerkennung durch andere, durch die äußere Welt rekurriert. Dieser Umstand erfährt

wiederum die Zustimmung von Ew (563), die sich von Bm zunächst überzeugen lässt:

„ Ja, das ist schwer, klar.“ In einer Erweiterung, bzw. Exemplifizierung der

Proposition betont Bm (568), dass im Falle einer Beendung der Beziehung durch die

„falschen“ Leute, das allgemeine Vertrauen in Beziehungen grundlegend erschüttert

wird.

In der nun folgenden Sequenz (568-575) wird der Wechsel von einer

parallelisierenden zu einer antithetischen Diskursorganisation deutlich: Während Aw

(569) in einem Beziehungsbruch immer auch die Chance zu einem Neuanfang sieht

und damit die positiven Aspekte einer solchen Krise betont, stellt Bm (570) heraus,

dass der Vertrauensbruch endgültig ist und auf andere potentielle Beziehungen

übertragen wird. Daran anschließend formulieren Ew und Aw, dass Vertrauen neu

erlernt werden kann durch sog. vertrauensbildende Maßnahmen, die unter dem

Stichwort „Spiele“ thematisiert werden. Das gemeinsame Thema bleibt auch hier die

Anerkennung, wobei die Äußerungen von Aw und Ew verdeutlichen, dass sie in

Bezug auf die Anerkennung von außen nicht so störanfällig sind, wie Bm und somit

dokumentieren, dass diese Form der Anerkennung grundsätzlich vorhanden ist und

nicht kontinuierlich produziert werden muss, wohingegen Bm dauerhafter Signale von

seinem sozialen Umfeld in Richtung Anerkennung seiner Person bedarf und nicht

davon ausgeht, dass sie grundsätzlich vorhanden ist.

Auf der Ebene des Dokumentsinnes schlüssig beendet Bm (573) diesen Disput mit

einer rituellen Konklusion, in dem er aussagt, dass in dieser aktuellen Maßnahme

Vertrauen gelernt werden kann. Diese Aussage klingt zunächst widersprüchlich zu den

vorherigen Äußerungen von Bm, erklärt sich aber zum einen in der Lesart der

Sehnsucht nach Anerkennung durch die Anderen in der Gruppe, zum anderen

dadurch, dass er durch die Beurteilung der Maßnahme, bzw. deren reflexiver

Einschätzung noch keine Aussage darüber macht, ob er denn im Rahmen dieser

„Spiele“ wieder Vertrauen gelernt habe, oder ob er nur wahrgenommen habe, dass

grundsätzlich die Möglichkeit gegeben sei, in den pädagogischen Aktionen Vertrauen

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

zu lernen. Es handelt sich also um die Unterscheidung zwischen den von Bm

wahrgenommenen Lernpotentialen und den tatsächlichen Lernprozessen von Bm.38 In

diesem Sinne kann man hier also auch von einer rituellen Konklusion sprechen, die

dokumentiert, dass die vorhandenen Rahmeninkongruenzen (Wirkmächtigkeit des

Milieus und Suche nach Zugehörigkeit zu einem Milieu als aktiver Prozess) zwar

wahrgenommen, aber vermieden werden und sich die Gruppe anderen Themen

zuwendet.

Ew (575) nimmt die rituelle Konklusion nicht als solche auf der Ebene des

Dokumentsinns wahr, sondern versteht sie als Einsicht und Einlenken in ihre

Sichtweise auf der wörtlichen Ebene. Sie bezeichnet im Folgenden die Maßnahme

wiederum als ein Lernfeld und spezifiziert die Lerninhalte bereits etwas genauer,

indem sie die Veranstaltung als „Weiterbildung in so persönlichen Dingen“ (574)

bezeichnet, und damit die Ziele in der Vermittlung von Soft Skills vermutet.

Auffällig ist auch, dass sich nach dieser rituellen Konklusion erst einmal eine längere

Pause einstellt – wobei sich mehrere TN bereits vor der Konklusion mit Wortbeiträgen

zurück gehalten haben (Dw, Gw, Cm).

Bedeutung und Einfluss des sozialen Umfelds auf die Entwicklung der

Persönlichkeit des Einzelnen39

Inhaltlich fokussiert diese Sequenz, in der es thematisch zunächst um die Frage geht,

ob Bm sich selbst als Versager wahrnimmt und bezeichnet, auf den Einfluss von

Menschen auf den Einzelnen. Während Bm sagt, dass es kaum möglich ist, dem

Einfluss anderer Leute zu entkommen und sich individuelles Verhalten an das

Verhalten der Gruppe anpasst, versuchen Aw und Ew zu verdeutlichen, dass

potenziell die Chance zu individuell anderem Verhalten erhalten bleibt. Am Ende der

Sequenz schlägt Ew den Bogen zu der Veranstaltung, in der Aufbau von Vertrauen

gelernt werden könne.

Es scheint als dokumentierten sich in dieser kurzen Sequenz bereits zwei

unterschiedliche Ausprägungen des Orientierungsmusters „Orientierung an

verschiedenen Welten“: Während Bm die Verantwortung für individuelles Handeln

auf Strukturen oder andere Personen(gruppierungen) verlagert und die Unmöglichkeit

38 An dieser Sequenz wird besonders deutlich, dass die vorliegende Studie immer das Potenzial von Bildung über die Explikation der Teilnehmer der Diskussion herausgearbeitet werden kann und das Untersuchungsdesign nicht geeignet ist, um Bildungsprozesse des Einzelnen zu rekonstruieren (vgl. dazu auch: Müller 2005, 45). 39 vgl. auch Jm in Gruppendiskussion Feld, Textsequenz 8: Devianzerfahrungen von Jm (599-691)

229

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

thematisiert, sich der Umwelt dauerhaft resistent gegenüber zu verhalten, wird in

bezug auf die Äußerungen von Aw und Ew die individuelle Verantwortung für das

eigene Handeln deutlich, da es ja prinzipiell auch möglich sei, sich gegen die von

außen an den Einzelnen gestellten Erwartungen zu stellen. Ebenso könnte das

teilweise als kokettierend wirkende Verhalten von Bm auch darauf hindeuten, dass er

durch die verinnerlichte Wirkung solcher Erzählungen Aufmerksamkeit erntet und

dementsprechend diese Äußerungen bewusst einsetzt, um die soziale Ader der

Gegenüber anzusprechen. Andererseits könnte diese Textstelle auch auf ein

inkorporiertes Muster der Selbsteinschätzung hindeuten: Vielleicht ist ihm von

unterschiedlichen gesellschaftlichen Institutionen lange genug vermittelt worden, dass

er ein Versager sei – angefangen bei der Schule, dem Elternhaus und letztlich dem

Jugendgericht. Möglicherweise ist ihm in seiner Biographie bereits häufiger suggeriert

worden, dass die Verantwortung für sein eigenes Handeln, bzw. eine Begründung für

sein abweichendes Verhalten in seinem sozialen Umfeld zu finden ist – eine

Auffassung, die auch von einigen Praktikern in der sozialen Arbeit vertreten wird.

Vor dem Hintergrund, dass diese Gruppendiskussion in einer Maßnahme mit

straffälligen und nicht-straffälligen Jugendlichen stattfindet und dass Bm dem

Teilnehmerkreis der straffälligen, Aw und Ew dem Kreis der nicht-straffälligen

Jugendlichen zugehören, wird in den folgenden Interpretationen herausgearbeitet, ob

sich bezogen auf den Teilnehmerkreis solche Unterschiede in den

Orientierungsmustern mehrfach rekonstruieren lassen und ob Veränderungen dieser

Rahmungen thematisiert werden. Die zwei herausgearbeiteten Orientierungsmuster

deuten wiederum auf die Spannung hin, in der sich diese Orientierungsfigur befindet:

Während Bm seiner inkorporierten Handlungspraxis folgt und die Verantwortung für

individuelles Handeln vor allem im sozialen Umfeld sieht, wird er im Projektkontext

mit einer äußeren Welt konfrontiert, die seiner Handlungspraxis oppositional

entgegensteht. Zunächst erscheint es unmöglich, diese beiden Orientierungsmuster zu

synthetisieren – obgleich dies das erklärte konzeptionelle Ziel der Maßnahme ist:

„Durch die Stärkung des Selbstvertrauens und des Selbstwertgefühls sollen die

Jugendlichen in einem kommunikativen Prozeß lernen, an ihrer individuellen und

gesellschaftlichen Situation verändernd tätig zu werden“ (Plien 2003, 81).

In diesem Zusammenhang scheint ein Problem in der Gruppenkonstellation auf:

Unmittelbares Verstehen als Modell einer konjunktiven Verständigung im Sinne

Mannheims (vgl. Kap. 4.2.5, 130f) scheint hier gestört zu sein, da die gemeinsame

Erlebnisschichtung sich zunächst auf den Kontext der Maßnahme bezieht. Eine

weitergehende Verständigung bedarf Gemeinsamkeiten in der

Sozialisationsgeschichte, die hier nur im Ansatz gefunden werden (355ff, „Wir haben

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

auch schon geklaut“), bzw. die von den nicht-straffällig gewordenen Teilnehmern im

kommunikativen Prozess erst mühsam hergestellt werden müssen (vgl. Textsequenz 5:

Freiwillige Teilnahme (348-386), S. 251). So stehen die Gesprächspartner vor der

Herausforderung, sich auf anderem Wege Zugang zu der Sozialisationsgeschichte und

zur Handlungspraxis ihres Gegenübers zu verschaffen. „Unmittelbares Verstehen ist,

wie gesagt, in jenen Bereichen möglich, in denen ich mit dem jeweiligen anderen

durch Gemeinsamkeiten der Erlebnisschichtung, durch gemeinsame Erfahrungsräume

- generations- und/oder milieu- und/oder geschlechtsspezifischer Art – verbunden

bin“ (Bohnsack 1997b, 58). Der Versuch, über Ähnlichkeiten in der

Sozialisationsgeschichte durch Ew und Aw ein unmittelbares Verständnis zu

konstruieren ist nur dadurch möglich, dass die Gruppe grundsätzlich

generationsspezifisch miteinander verbunden ist. Der Effekt der dokumentarischen

Methode liegt ja gerade darin, dass die konjunktiven Erfahrungsräume (Milieus) vom

konkreten Situationszusammenhang abstrahieren und sich auf z.B. den

Generationszusammenhang beziehen. Die Teilnehmer befinden sich in der gleichen

Alters- und Entwicklungsphase der Adoleszenz und sie haben darüber hinaus über den

Generationszusammenhang bestimmte historische Ereignisse zur gleichen Zeit erlebt

und stehen entwicklungspsychologisch vor vergleichbaren Aufgaben, die sich unter

Bezug auf handlungstheoretische Modelle der Entwicklung u.a. durch den Umbau der

sozialen Beziehungen, der Entwicklung von Individualität und Persönlichkeit, Wahl

einer beruflichen Tätigkeit charakterisieren lassen (vgl. Fend 2003).

„Milieus sind als »konjunktive Erfahrungsräume« dadurch charakterisiert, dass ihre

Angehörigen, ihre Träger durch Gemeinsamkeiten des Schicksals, des biographischen

Erlebens, Gemeinsamkeiten der Sozialisationsgeschichte miteinander verbunden sind.

Dabei ist die Konstitution konjunktiver Erfahrung nicht an das gruppenhafte

Zusammenleben derjenigen gebunden, die an ihr teilhaben. Dies lässt sich am Fall des

»Generationszusammenhangs« als eines konjunktiven Erfahrungsraums beispielhaft

zeigen: [...] Aufgrund gemeinsamen Erlebens bestimmter historischer Ereignisse und

Entwicklungen konstituiert sich eine gemeinsame »Erlebnisschichtung«“ (Bohnsack

2003, 111). Interessant sind in diesem Zusammenhang mit Blick auf die dieser Arbeit

zugrunde liegende allgemeine Forschungsfrage die weitergehenden Überlegungen,

wie die Jugendlichen mit den gemeinsamen Erlebnisschichtungen in Bezug auf

unterschiedliche Erfahrungsräume umgehen.

231

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

6.2.4 Textsequenz 4 : Drogen (651-893)

Kontext und Auswahl der Textstelle

Das Thema „Drogen“ und Umgang mit Sucht hat die Teilnehmer dieser

Gruppendiskussion insgesamt nachhaltig beschäftigt. Ein wesentlicher Ausgangspunkt

dieser thematischen Fokussierung liegt zum einen in der für die Jugendlichen

beeindruckenden Darstellung des persönlichen Lebenslaufes eines ehemals

drogenabhängigen Mitarbeiters einer Suchtberatungs- und Therapiestätte, der von der

Leitung des Projektes in die Maßnahme eingeladen wurde, um von den eigenen

Drogenerfahrungen zu berichten. Besonders brisant wird diese Thematik allerdings

durch die vorhandenen eigenen Drogenerfahrungen der beteiligten Jugendlichen, die

auch in dieser Diskussionssequenz thematisiert werden. Insbesondere Bm nutzt die

Gelegenheit, auf eine Nachfrage von Aw, später auch von Ew, eine längere narrative

Passage zum eigenen Kontakt zu Drogen in die Diskussion einzubringen (874-892).

Auf diese Textstelle wird im Verlauf der Interpretation noch ausführlicher

eingegangen.

Im Gesamtgrundmuster geht es zunächst um die Frage nach dem Eindruck, den diese

Sequenz im Seminar bei den Teilnehmer der Gruppendiskussion hinterlassen hat.

Dabei bewegt sich die Gruppe in der Orientierung in der Ambivalenz zwischen den

Polen einer positiv konnotierten Beeindruckung durch die Persönlichkeit des

Referenten und seinem Weg aus der Drogenkarriere heraus, und der negativ

konnotierten Abschreckung über einzelne Details aus dem Zusammenhang mit dem

Konsum von Drogen, die sich durch die einzelnen Sequenzen dieser Textstelle

hindurch zieht. Wie im Folgenden herausgearbeitet wird, scheint auch hier das

gemeinsame Thema die Frage nach der Orientierung an verschiedenen Welten zu sein:

Projiziert auf die „Karriere“ des Referenten geht es um die Frage der

Verantwortlichkeit für das eigene Leben (d.h. wie er es geschafft hat, aus diesem

Teufelskreis wieder auszubrechen) und die eigene Handlungsfähigkeit.

Aufgrund der hohen Selbstläufigkeit und der Intensität der narrativen Passagen – vor

allem bei Bm – weist diese Textsequenz den Charakter einer Fokussierungsmetapher

auf und wurde demzufolge intensiv bearbeitet.

Anknüpfung an die Drogenthematik im Seminarkontext

Auf der thematischen Ebene steht in Bezug auf die Konfrontation mit einer für die

meisten Teilnehmer der Gruppendiskussion bisher fremden, äußeren Welt des

232

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

intensiven Drogenkonsums die Entwicklung eines gemeinsamen Standpunktes zum

Thema Drogen und Drogenkonsum im Zentrum dieser Sequenz der

Gruppendiskussion.

Der Moderator greift die mehrfachen Andeutungen der Teilnehmer in Bezug auf die

Ausführungen eines Gastreferenten in dem Seminar auf, der – von den Veranstaltern

eingeladen – aus der eigenen Perspektive eines ehemaligen Drogenkonsumenten die

Drogenthematik mit den Teilnehmern bearbeiten sollte. So wird bereits in der

Vorstellungsrunde zu Beginn des Gespräches von einigen Teilnehmern darauf

verwiesen, dass dieser Referent einen sehr tiefen Eindruck hinterlassen habe (z.B. Ew:

54 – „der Kriminelle“; Aw: 58 „das fand ich sehr beeindruckend“; Gw:

119: „Ja, das war ziemlich cool, also was man da so gehört hat.

Das war ziemlich heftig“). Im Verlauf der Diskussion wird immer wieder an

diese Seminareinheit angeknüpft (Fm: 433 – „Man lernt auch was von

anderen Menschen!“; 616: Über den Vortrag wurde im informellen Rahmen weiter

diskutiert), so dass mit dieser stimulierenden Frage Selbstläufigkeit über ein die

Teilnehmer interessierendes Thema über eine lange Zeit aufrecht erhalten, bzw.

ermöglicht werden konnte.

Drogenkonsum und Geld

Bm stellt in Form einer Proposition (654) fest, dass es für ihn unvorstellbar ist,

finanzielle Summen in der von dem Referenten geschilderten Höhe für den

Drogenkonsum auszugeben. Damit bringt er zum Ausdruck, dass ihn die Geschichten

des Referenten eher negativ angesprochen haben, er aber dennoch über soviel

Vorstellungsvermögen verfügt, um die Erfahrungen des Referenten auf seine eigene

Situation zu übertragen. An dieser Stelle zeigt sich, dass er nicht von den

Schilderungen bzgl. der sozialen oder persönlichen Konsequenzen positiv oder negativ

beeindruckt ist. Das könnte darauf hindeuten, dass die finanzielle Seiten in diesen

Dimensionen für ihn neu sind, während ihm die anderen Folgen aus der

Drogenabhängigkeit vertraut sein könnten. Woher er diese Kenntnisse hat, kann an

dieser Stelle nur vermutet werden, die folgenden Äußerungen von Bm, insbesondere

in 874-892 lassen jedoch darauf schließen, dass sie seinem persönlichen

Erfahrungshorizont entstammen.

Durch die spontane Bezugnahme auf die Geldsummen, die im Rahmen des

Drogenkonsums geflossen sind, thematisiert Bm zunächst einen völlig anderen

Aspekt, als die anderen Teilnehmer und verdeutlicht also, dass ihn die Äußerungen

insgesamt nicht besonders zu irritieren scheinen. Was ihn beeindruckt sind die hohen

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Geldbeträge, wodurch auch seine Haltung zu Geld, bzw. die Bedeutung von Geld für

ihn zum Ausdruck kommt: »So viel Geld – was könnte man da alles mit machen«. Die

vorgetragenen Summen imponieren Bm scheinbar so, dass seine ersten Gedanken auf

den finanziellen Aspekt des Drogenkonsums gerichtet sind. Neben der Annahme

seiner eigenen Affinität zur Drogenszene verdeutlicht diese Reaktion vor allem unter

Berücksichtigung weiterer Passagen von Bm die Dominanz des Faktors Geld für das

Leben in der Auffassung von Bm (259;517; 520; 701; 736; 759-761).

Die Ausführungen des Referenten werden von Dw eher als abschreckend als

beeindruckend empfunden (656). Damit führt sie aus, dass für sie der Terminus

„beeindruckend“ eher positiv konnotiert ist und der Eindruck, den der Referent

hinterlassen hat, eher negativ als positiv ist. Gw stimmt dieser Auffassung zu (657).

Drogen und persönliche Veränderungen von Menschen

Bm exemplifiziert die anfängliche Proposition und erklärt, dass nicht nur die

Geschichte mit den hohen Geldbeträgen abschreckend wirke, sondern vor allem der

Verlauf des Drogenkonsums, die Bm als „kaputt gehen“ beschreibt. Bm fokussiert

damit zunächst die Abwärtsspirale, die ihn abgeschreckt hat und liefert damit eine

Aussage im Stil einer Anschlussproposition (658). Er rückt damit von seiner ersten

Aussage ab und verfeinert sie, nachdem er den Widerspruch aus der Gruppe

wahrgenommen hat, so dass seine Äußerung kompatibel zu den Äußerungen von Dw

und Gw erscheint. Seine Bemühungen, Kohärenz herzustellen in der Gruppenmeinung

werden allerdings durch eine Antithese und die Eröffnung eines Gegenhorizontes von

Ew (659) zunächst erschwert, die sich vor allem nicht nur durch den Abstieg, sondern

durch die Kraft zum Wiederaufstieg zu einem Menschen, „der sein Leben im Griff

hat“ hat beeindrucken lassen.

Bm validiert diesen Gegenhorizont (660; 664) und nimmt damit einen

Perspektivenwechsel auf das Thema „Drogenkonsum“ vor – war er bisher von der

Abwärtsspirale, den hohen Geldsummen und den persönlichen Konsequenzen negativ

beeindruckt (=abgeschreckt), so schließt er sich in seiner Betrachtungsweise eher dem

positiven Eindruck von Ew an, die seine Kraft, aus dieser Situation wieder heraus zu

brechen betont. Dabei übernimmt er an dieser Stelle die Perspektive von Ew, was an

unterschiedlichen Stellen nachgezeichnet werden kann40, und verdeutlicht die

Bedeutung der Beziehungsdynamik innerhalb der Gruppe für Bm und seine eher

40 Für eine weitere Auswertung des Verhaltens von Bm wäre es interessant, die Reaktionen von Bm auf die Äußerungen von Ew oder Aw detailliert zu betrachten. Mit Blick auf die Interpretation der Behandlung der weiteren Themen der Gruppendiskussion wurde darauf an dieser Stelle jedoch verzichtet.

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

rudimentär ausgeprägte Fähigkeit zu kontroversen, antithetischen Dialogen und

Streitgesprächen. Auf der thematischen Ebene wird diese Aussage von Ew, Fm und

Bm validiert (666-669).

In der folgenden Sequenz differenziert Bm diese Aussage jedoch und erweitert sie um

die Frage der psychischen und physischen Disposition von Menschen, um den von

dem Referenten geschilderten Weg zu gehen (669). Die Kraft zum Neuanfang besitzen

nicht alle Menschen und deshalb sei es umso beeindruckender, dass der Referent das

geschafft habe. Diese Aussage wird von Fm gestützt.

Irritation bezüglich des Aussehens: „Der sieht gar nicht wie ein Ex-Junkie aus...“

Die folgende Sequenz stellt den Prozess des Abgleiches zwischen erwarteter

physischer Disposition und Auffälligkeiten von Menschen, die Drogen konsumieren

oder konsumiert haben, mit dem realen Erscheinungsbild des Referenten dar. Der

bereits näher ausgeführten Figur „Orientierung an verschiedenen Welten“ (vgl.

Textsequenz 2: Beibringen oder lernen, Kap. 6.2.2, S. 211) zufolge geht es in dieser

Sequenz um die kollektive Auseinandersetzung mit inneren, inkorporierten

Vorstellungen oder Bildern (Drogensucht kann man jemanden ansehen) und der

äußeren Welt – repräsentiert durch den Referenten - , die genau dieses Phänomen in

Frage stellt. In der Auffassung von Dw (671) könne man es im Normalfall den

Menschen (ein bisschen) ansehen, dass sie Drogen konsumieren oder konsumiert

haben – sie drückt ihre Irritation darüber aus, dass dies in diesem Fall optisch nicht

möglich sei und sie somit ihre Einschätzung bzgl. des Aussehens von

Drogenkonsumenten revidieren musste.

Fm formuliert antithetisch, dass er glaube, in der augenscheinlichen

Unkonzentriertheit und Sprunghaftigkeit in den Erzählungen einen Hinweis auf die

überwundene Drogensucht (quasi als Spätfolge) erkannt zu haben (673;674). Dabei

bezieht sich die Einschätzung von Dw eher auf das optische Erscheinungsbild. Diese

Aussagen werden von Fm und Ew validiert.

Ew differenziert ihre Aussage, da sie der Auffassung ist, dass man den Referenten

wahrscheinlich doch hätte entlarven können durch sein Aussehen, aber dazu habe sie

zu weit weg gesessen und ihm nicht richtig auf die Haut blicken können. Das „Nicht

erkennen können, dass es sich um einen Drogenkonsumenten handelt“ beziehe sich

somit nur auf den ersten Eindruck.

Durch diese Einschränkung wird deutlich, dass sich an dem grundlegenden

Orientierungsmuster, man könne an äußeren Kennzeichen Konsumenten von Drogen

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

erkennen, nur partiell etwas verändert hat. Grundsätzlich gingen alle Beteiligten dieser

Sequenz bisher davon aus, dass Drogenkonsumenten ein derart markantes Aussehen

haben, dass sie auf den ersten Blick als abhängig identifizierbar und dadurch der

spezifischen Gruppe der Drogenkonsumenten zuzuordnen sind. Dabei scheinen sie

noch geprägt zu sein von den Vorstellungen aus dem Drogenmilieu der 70er und 80er

Jahre, durch das Bilder wie von Christiane F. produziert wurden – neueren

Untersuchungen zufolge scheinen diese Vorstellungen jedoch nicht mehr zeitgemäß

zu sein (vgl. Leurs; Meyer; Neumann u.a 2004, 70-82).

Die leichte Irritation des zugrunde liegenden gemeinsamen Orientierungsmusters

durch das Erscheinungsbild des Referenten bezieht sich nur auf die flüchtige,

alltägliche Wahrnehmung von Menschen (und wer schaut dabei schon jemanden

gezielt auf die Armbeugen, unter die Füße oder andere Muskelpartien). Ob das

Orientierungsmuster sich dadurch grundlegend verändert hat, kann aufgrund der

Sequenz 679-682 bezweifelt werden – es ist allenfalls in Form einer weiteren

Differenzierung zwischen „Alltagswahrnehmung“ und „intensiver

Auseinandersetzung“ modifiziert worden.

Insofern lässt sich bereits in dieser kurzen Sequenz ein Phänomen nachzeichnen, das

im bildungstheoretischen Diskurs als Transformation des Verhältnisses des Einzelnen

zu seiner sozialen Umwelt ausformuliert wurde. In dieser Textstelle wird expliziert,

dass dieses Verhältnis durch den Referenten zumindest irritiert wurde. Ob es sich

tatsächlich weiterentwickelt hat durch die Begegnung mit dem Referenten kann dabei

jedoch nicht beurteilt werden. Wie an anderer Stelle bereits ausgeführt wurde (vgl.

Kap. 5.1, S. 151 erscheint es kaum möglich, durch ein solches Untersuchungsdesign

individuelle Bildungsprozesse zu rekonstruieren. So ist diese Textstelle ein guter

Beleg dafür, dass über die Bildungswirklichkeiten keine Aussagen getroffen werden

können. Wohl aber lässt sich an dieser Sequenz aufzeigen, dass die pädagogische

Praxis an dieser Stelle geeignet erscheint, um Bildungsprozesse zu ermöglichen (vgl.

Müller u.a. 2005, 45).

Irritation bezüglich der Offenheit: „Darüber redet man sonst nicht...“

In Form einer Anschlussproposition hebt Aw (687) besonders hervor, dass der

Referent keine Einzelheiten seiner Drogenkarriere ausgelassen oder bewusst nicht

erwähnt habe, oder sich darum bemüht hätte, Einzelheiten zu verschleiern, sondern

offen über viele Details gesprochen habe. Im Gegenzug belegt sie damit auch, dass sie

das so nicht erwartet hätte – möglicherweise ist es für sie ungewohnt, dass jemand so

offen, direkt und ohne Umschweife über einen so problematischen Lebensabschnitt

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

erzählt und sich – ohne sich für einzelne Ereignisse zu schämen – den Fragen der

Gruppe stellt. Interessant ist auch, dass sie diese Äußerung im Kontext der

Überlegungen expliziert, dass der Referent eigentlich trotzdem ein „ganz normaler

Mensch“ (Fm 686) sei. Die Normalität wäre dementsprechend, dass jemand eher die

problematischen Seiten eines solchen Lebensverlaufes zu „vertuschen“ versuche.

Diese Auffassung von Aw wird auch von Dw bestätigt (688). Einerseits ist für Fm

(689) diese Offenheit beeindruckend und ungewöhnlich, im Effekt ist sie allerdings

erstaunlich abschreckend und entfaltet ihre Wirkung, was wiederum die Zustimmung

von Dw bekommt und sie zu einer weiteren Proposition in dieser Sequenz veranlasst

(690-694): Moralisierung und Verteufelung des Drogenkonsums verstärken die

individuelle Neugierde und die Frage danach, warum Menschen überhaupt Drogen

und bewusstseinsverändernde Substanzen zu sich nehmen, wenn der Effekt

ausschließlich schlecht ist. Demgegenüber scheint ihr diese Form der Thematisierung

des Problemfeldes „Drogenkonsum“ allerdings geläufiger zu sein, da sie den Referent

hier explizit abgrenzt von „moralisierender Zeigefinger-Pseudo-Prävention“. 690 Dw: Und das es auch lustig ist, andere sagen immer nur,

ja das ist voll Scheiße und ihr fühlt euch danach voll Scheiße und so aber, er hat halt auch gesagt, okay, man fühlt sich für die Viertelstunde richtig cool. Ja und danach wird's aber eigentlich alles schlimmer und gerade wenn alle sagen, ja ist nur scheiße und so dann weckt das eigentlich Neugierde,-

691 Ew: Ja, stimmt, 692 Dw: - weil, weil, warum nehmen die Drogen,

wenn's nur Scheiße ist, das kann ja eigentlich |nicht angehen.|

693 Ew: |So hat's, ja so| hab ich das erst richtig verstanden, |wie der-|

Zugänge zu Drogen: Neugierde und Langeweile

Bm nutzt das Stichwort „Neugierde“ um die Proposition zu exemplifizieren (694) und

seine Auffassung über die Zugangswege zum Konsum bewusstseinsverändernder

Substanzen zu explizieren. Zunächst gekleidet in die (rhetorische) Eingangsfrage, ob

schon mal jemand von den Teilnehmer gekifft habe, referiert er die positiven Gefühle

und angenehmen Effekte des Kiffens.

694 Bm: |Das ist| die Neugier. Wenn du einmal das probierst, denkst du, boah, das ist gut, knallt voll heftig, bei dir - hat jemals von euch jemand hier gekifft? Du bestimmt-

695 Ew: Ja. 696 Fm: Ja. 697 Bm: Ist doch voll geil, von sich alles dreht, und

du lachst dich kaputt über jeden.

237

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

698 Ew: @(.)@ 699 Bm: Hat schon mal jemand Teile gespackt? 701 Ew: Nee. 702 Bm: Ich, das ist auch so. Da hast du die

Neugierde ((...)), denkst boah, das ist geil noch mehr eins probieren und dann, dann langweilt dich das irgendwann mal, diese, rauchen und diese teile spacken und dann willst du Neues ausprobieren, dann kommt irgendeiner zu dir, sagt, hier probier mal das, von dem sagt jeder, ja das ist viel anders, ganz anders, aber das kost teurer, gibts das Geld, spritzt dir rein und dann bist du dran. Ich brauch das nicht mehr.

In der anschließenden, weiteren Erzählung, die er wiederum mit einer Frage einleitet

und die er dann selbst beantwortet, formuliert er den Zugang zu weiteren Drogen, der

über Langeweile und Neugierde, die Grenzen neu zu stecken, charakterisiert sei.

Dabei verwendet er eine Szenesprache, die nicht ohne weiteres von jedem verstanden

werden kann, da sie sehr spezifisch kodiert ist.

Dadurch signalisiert er, dass er sich intensiv mit der Szene auseinandergesetzt hat –

entweder durch eigene oder durch Sekundärerfahrungen, die ihm berichtet wurden.

Während beim Kiffen und „Teile spacken“ der Antrieb noch als intrinsisch motiviert

formuliert wird, gehören zum „Spritzen“ auch noch andere dazu. Zum einen wolle der

Konsument was Neues ausprobieren, d.h. er signalisiere grundsätzliche Bereitschaft

auch zu anderen Substanzen zu greifen. Entscheidend sei aber zum anderen, dass

„dann einer zu dir kommt und dir was empfiehlt“. Er charakterisiert damit eine

Abwärtsspirale und rekurriert dabei auch auf die Bedeutung anderer Leute.

Auffällig ist die Form, mit der Bm seine Narration an dieser Stelle beginnt: Er wird

weder verbal noch non-verbal aufgefordert von der Gruppe, seine persönlichen

Erfahrungen in die Gruppendiskussion einzubringen, noch wird er von jemanden

augenscheinlich provoziert. Vielmehr unterbricht er die Äußerungen von Ew, die sich

insgesamt noch auf die Ausführungen des Referenten beziehen. Es scheint ihm also

ein Anliegen zu sein, der Gruppe Auskunft über seine Auffassungen zu geben und

seine Erfahrungen und Erlebnisse mit Drogen mitzuteilen. So kann auch diese Stelle

deutlich als ein Signal von Bm gelesen werden, aufgrund seines Strebens nach

Aufmerksamkeit und Anerkennung von der Gruppe Beiträge zur Diskussion zu

liefern, ganz ähnlich, wie der Referent in den vorherigen Sequenzen der

Gruppendiskussion ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und persönlicher Anerkennung

erhalten hat – möglicherweise hat Bm sich davon „anstecken“, bzw. inspirieren lassen.

Bei anderen Gesprächsteilnehmern, z.B. Gw, scheint dies Bedürfnis erheblich

schwächer ausgeprägt zu sein. Damit wird Bm auch zu einem eindeutigen

Protagonisten der Gruppendiskussion. Bm dokumentiert in seinen Äußerungen, dass

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

er nach Anerkennung in der Gruppe strebt und ihm die Anderen eine ganze Menge

bedeuten. Diese „Anerkennungssuche durch Bezug auf die äußere Welt“ hat für den

Einzelnen in der Darstellung von Bm entscheidenden Einfluss. Dies spiegelt sich auch

auf der Ebene des Dokumentsinns wider (vgl. auch die Ausführungen zum synchronen

Reflexionsformat, Textstelle 2: Beibringen oder Lernen, Kap. 6.2.2, S. 211)

Auf die thematische Nachfrage von Aw (702), ob er auch härtere Drogen konsumiere,

reagiert Bm einigermaßen entrüstet und grenzt sich stark von der Drogenszene ab –

vor allem, da er unlängst wieder zu weiterem Drogenkonsum überredet werden sollte.

Unklar bleibt jedoch, ob Bm tatsächlich keine anderen Substanzen zu sich nimmt, oder

ob er an dieser Stelle eine deutliche Grenze zieht, worüber er bereit ist, in dieser

Gruppe zu sprechen.

An dieser zunächst einleuchtenden Äußerung – die Teilnehmer sind ja erst seit 5

Tagen als Gruppe zusammen - wird deutlich, dass zumindest Ew und Aw es nicht für

abwegig halten, dass Bm auch solche Drogen konsumiert, die injiziert werden müssen.

Zum einen trauen sie ihm dieses zu, zum anderen scheint auf der Beziehungsebene

zumindest durch die vielen Narrationen implizit geklärt worden zu sein, dass auch

solche Rückfragen hier möglich und erlaubt sind. Gewissermaßen als Nebenprodukt

der Interpretation dokumentiert sich hier das hohe Maß an Sozialkompetenz von Ew

und Aw, die zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Lebenswelt von Bm

bereit sind (vgl. dazu auch Textsequenz 5: Freiwillige Teilnahme (348-386), S. 251).

Dieses Interesse bleibt bestehen, auch wenn Bm an dieser Stelle zunächst noch eine

Grenze zieht und die Diskussion auf der thematischen Ebene vorläufig zu einem

Abschluss bringt (Konklusion). Damit scheint die Frage für die Teilnehmer geklärt zu

sein – er distanziert sich von härteren Drogen und damit ist für ihn das Kapitel

Neugier und Grenzerweiterung abgeschlossen. Die Formulierung am Schluss mutet

etwas überheblich an, denn sie wirkt etwas zu stark abgrenzend für jemanden, der sich

bei anderen Substanzen sehr leicht hat überreden lassen. Einerseits kann damit zum

Ausdruck gebracht werden, dass an dieser Stelle wirklich eine starke Grenze verläuft –

Substanzen, die man oral oder durch Rauchen zu sich nimmt sind in Ordnung und

wohl nicht so schlimm, Substanzen, die direkt in den Körper injiziert werden, sind

schlimm und folglich rigoros abzulehnen. Dennoch erweckt der Kontext den

Eindruck, dass diese Grenze insgesamt nicht so stabil ist, wie es scheint, oder scheinen

soll, und dass auch hier grundsätzlich eine Grenzüberschreitung für Bm möglich ist.

Dagegen scheint es eher so zu sein, dass dies eine absolute Grenze der Gruppe ist –

das wird aus der Thematisierung der Drogenerfahrung an anderen Stellen deutlich.

Und wenn Bm sich mit seinen Erfahrungen mit „weicheren“ Drogen auf der einen

Seite noch die Aufmerksamkeit der Gruppe sichern kann und sich damit in den

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Mittelpunkt der Gruppendynamik setzen kann, so schlägt die Aufmerksamkeit in eine

Ablehnung und später dann in ein konkretes Hilfsangebot um, sobald die Drogen

härter werden, bzw. er sich nicht davon distanziert (703-708). Dies wiederum stößt auf

Ablehnung bei Bm und wird nicht akzeptiert.

Dieser Effekt könnte wiederum ein Anzeichen dafür sein, dass es ihm nicht um darum

geht, aus der eigenen Biographie zu erzählen, um ein sog. verstecktes

Hilfsbedürfigkeitssignal zu senden, sondern vielmehr, um Anerkennung und Ansehen

in der Gruppe zu bekommen.

Drogenthematik im Seminarkontext – Fortsetzung der Diskussion

Ew wechselt den Rahmen von der persönlichen, narrativen Thematisierung der

Drogenproblematik durch Bm und greift in Form einer Proposition wieder die

Perspektive auf die Erzählungen des Referenten auf und betont dabei den Widerspruch

zwischen dem guten Gefühl und den Schilderungen zur äußeren Umfeld, zur

Wohnung und zu seiner Hygiene (708-722). Damit bringt sie einerseits erneut ihre

Anerkennung über die Offenheit des Referenten zum Ausdruck und andererseits ihre

Auffassung, dass die Folgen des Drogenkonsums abschreckend auf sie wirken. Im

Themenwechsel dokumentiert sie, dass sie auf Erfahrungen der Art, wie Bm sie

gemacht hat, wohl nicht zurückgreifen kann, sie also in dieser Hinsicht über keinen

gemeinsamen Erfahrungsraum verfügen und sie dementsprechend nicht „mitreden“

kann. Durch das Aufgreifen der Sekundärerfahrungen über die Erzählungen des

Referenten gelingt es ihr, eine kommunikative Ebene wieder herzustellen und einen

erneuten Einstieg in das gemeinsame Gespräch zu finden (vgl. Bohnsack 1997b, 58

und Textsequenz 2: Beibringen oder lernen, Kap. 6.2.2, S. 211).

Im Folgenden wird von allen Teilnehmern (außer Dw) die Sequenz in dem Seminar

arbeitsteilig expliziert und die Proposition elaboriert. Während sich Ew, Cm und Fm

der Proposition von Ew im positiven Sinne anschließen, sie arbeitsteilig und teilweise

überschneidend validieren und differenzieren (722-727) und sich daraufhin erneut Em

und Fm mit einer Validierung zu Wort melden (728-733), formuliert Bm eine

Antithese dazu (734-736): Die Abschreckungswirkung, die die Erzählung bei den

Gruppenmitgliedern entfalte, könne seines Erachtens nicht generalisierend sein, da

Konsumenten von Drogen diesen reflexiven Blick nicht entwickelten. Er bringt damit

zum Ausdruck, dass seiner Erfahrung nach „Junkees“ diese metareflexive, kognitive

Ebene, auf der die aktuelle Diskussion stattfindet, gar nicht erreichen und sie lediglich

in sehr kleinen Zeitabschnitten ihr Handeln kontrollieren und den größeren zeitlichen

Kontext nicht wahrnehmen können. Dies wird wiederum von Ew bestätigt und im

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Anschluss daran von Bm durch eine weitere narrative Erzählung weiter exemplifiziert.

Wiederum stimmt Ew den Ausführungen von Bm zu (737-739) und differenziert die

These weiterhin aufgrund der Sekundärerfahrungen aus dem Referat durch den Bezug

auf die Schilderungen des Referenten.

Andeutung einer Synthese unterschiedlicher Welten

Die starke Affinität der Teilnehmer der Gruppendiskussion zu dem Referenten deutet

darauf hin, dass eine Verständigung der beiden „Seiten“ wahrscheinlich nicht nur auf

einer rein kommunikativen Ebene vollzogen wurde, sondern eine Synthese der

Orientierungsmuster des Referenten mit den Interpretationsmustern der

Gruppenteilnehmer zumindest in Ansätzen erreicht werden konnte. Dadurch, dass der

Referent zu einer Identifikationsfigur für die Gruppenmitglieder werden konnte, stellt

sich die Frage, ob er mit ihnen einen gemeinsamen konjunktiven Erfahrungsraum teilt.

Die Gruppe – expliziert durch Ew - jedenfalls bringt es verbal auf den Punkt:

737 Ew: Und er hat genau so gedacht wie wir, am Anfang, als das so anfing, der hat auch, also uns hat er erzählt, dass er immer gedacht hat, auch so spritzen, das machst du nie und so weit kommt das nicht und so.

739 Ew: Und das dann so ein normaler Mensch wie wir alle, das der so werden kann, das war irgendwie beeindruckend, aber auch sehr, sehr erschreckend. Aber-

Bm bestätigt diese Auffassung. Ew führt in einer weiteren Validierung aus, dass die

Identifikation mit dem Referenten auf der persönlichen Ebene die Drogenkarriere

ebenfalls auf eine sehr persönliche Ebene an die Teilnehmer heran trage und dadurch

abschreckend und beeindruckend zugleich wirke.

Aw ergänzt die Erzählungen durch die Rekapitulation der Ausführungen des

Referenten, wie eine Drogenabhängigkeit vermieden werden könnte (740-742).

Überraschend wirkt der Kommentar von Bm, dass diese alternativen

Beschäftigungsformen ein Lernziel des aktuellen Projektes sein könnten.

Einfluss der äußeren (Um-)Welt auf den Einzelnen und Verantwortung für

eigenes Handeln

Aw führt aus, dass die soziale Umgebung eines Menschen Einfluss auf sein

individuelles Verhalten haben kann (742) und empfiehlt – was aus dem Kontext

heraus wie ein Ratschlag in Richtung Bw wirkt - umgehend die sozialen Beziehungen

abzubrechen, wenn sich der Einfluss der Umgebung negativ auswirke.

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Gruppendynamisch wirkt diese Aufforderung wie ein Affront gegen die Anderen in

der Gruppe, da sie sie mit dem eigenen Orientierungsmuster konfrontiert: Wenn es so

ist, dass die Anderen einen so starken Einfluss ausüben, dann muss man das ernst

nehmen und entsprechend handeln. Das genau dies aber aufgrund der starken

Abhängigkeit nicht so einfach möglich ist, da es dazu auch einer inneren Instanz

bedarf, die es ermöglicht, negative von positiven Einflüssen zu unterscheiden,

übersieht sie dabei.

Damit manifestiert sich die Interpretation ihrer Einstellungen weiter: Sie präsentiert

sich als eine sehr stringente Persönlichkeit, die klar aus sich selbst heraus, aus ihrem

eigenen Bezugssystem heraus lebt und ihre Lebensenergie und Anerkennung aus ihrer

inneren Welt schöpft. Sie stellt sich so dar, als ob sie die äußeren Bezugssysteme

entsprechend manipulieren könne, wenn Sie Anerkennung und Wertschätzung von der

äußeren Welt sucht und handelt nach dem Motto: Wenn ich nicht das bekomme, was

mir gut tut, dann gehe ich eben und such mir andere Bezüge. Mit dieser starken

egozentrischen Haltung steht sie scheinbar relativ isoliert in der Gruppe (ist so ein

Verhalten eigentlich altersgemäß?), scheint jedoch die gesellschaftliche Anforderung

an das Subjekt zunächst völlig verinnerlicht zu haben: Sie gibt sich völlig emanzipiert

und folgt ihrem eigenen Willen und Wohlergehen.

Auf diese Äußerung folgt bezeichnenderweise die erste Gesprächspause in der

Sequenz über Drogen und die Erfahrungen in diesem Projekt. Während sich alle

Teilnehmer in ihrer Unterschiedlichkeit sehr engagiert in diesen Diskurs eingebracht

haben, provoziert die Proposition von Aw an dieser Stelle eine Pause von ca. 4

Sekunden, in der die Teilnehmer nachdenklich und betroffen wirken. Verstärkt wird

dieser Effekt durch die Einleitung der Proposition mit den Worten „So einfach

mal...“. Dadurch erweckt Aw den Eindruck, als sei es unproblematisch für die

meisten Menschen, ihr soziales Bezugssystem gegen ein anderes auszutauschen.

Durch die folgenden Äußerungen lässt sich aus dem Kontext erschließen, dass diese

Pause eher den Charakter einer antithetischen Differenzierung hat: Die TN

vergegenwärtigen sich die Proposition von Aw – es erfolgt kein spontaner

Widerspruch, da die Proposition im Kontext des Gesprächsverlaufes der Gruppe

logisch und schlüssig ist und Zustimmung findet. Dennoch erfolgt anschließend eine

antithetische Differenzierung, so dass angenommen werden kann, dass die Pause auch

dazu dient, Klarheit herzustellen und eine Argumentation vorzubereiten.

Auch wenn Bm der grundsätzlichen Annahme von Aw, dass die äußere (Um-)Welt

einen großen Einfluss auf die Individuen ausübt, zustimmt, wie dies in der

Herausarbeitung des Orientierungsmusters bei Bm nachgezeichnet werden konnte, so

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

kann er sich dem Ratschlag nicht anschließen (744). Interessant ist, dass er – als

vermeintlich angesprochener Teilnehmer der Diskussion – auch tatsächlich als erster

auf die Proposition von Aw reagiert. Er thematisiert, dass für manche der Wechsel der

sozialen Beziehungen ein angstbesetzter Prozess sei: Eben dann, wenn der Einzelne es

sehr stark verinnerlicht hat, von der Anerkennung der äußeren Welt abhängig zu sein

(so wie das bei ihm der Fall zu sein scheint). Auf Bm bezogen verhindert also seine

starke Verbundenheit mit diesem Orientierungsmuster „Orientierung an der äußeren

Welt“, die er in diesem Satz zum Ausdruck bringt, Ein solcher Wechsel würde zu

einem Verlust eines Großteils seiner personalen Anerkennung führen, wobei im

Vorhinein nicht antizipierbar ist, ob dieser Verlust durch andere Um-Welten oder

innere Welten kompensiert werden kann. Entsprechend führt Bm weiter aus, dass ein

Wechsel des sozialen Bezugssystems auch bedeuten würde, negative Rückmeldungen

zu bekommen. Diese Einschätzung wird von Ew bestätigt, wobei sie unter Rückbezug

auf die Erzählungen des Referenten zynisch ausführt, dass sich das Problem des

sozialen Einflusses im Zeitverlauf von selbst löse, da in seinem Fall nach und nach

ohnehin alle gestorben seien (749). Bezieht man die Aussage von Bm auf ihn selbst,

so ist sie umso erstaunlicher, da er in ihr das Phänomen der Angst thematisiert. Für

männliche Jugendliche in seinem Alter ist es sehr ungewöhnlich, in einer

geschlechtsgemischten Diskussionsgruppe über Ängste zu sprechen. Dieser Ansatz

würde für einen sehr hoch entwickelten Zusammenhalt in der Gruppe und große

Offenheit in den Diskursprozessen sprechen

Die folgenden Sequenzen in diesem größeren inhaltlichen Zusammenhang der

Thematik sind in erster Linie auf die Wirkung von Drogen auf die psychosozialen

Dispositionen des Konsumenten gerichtet – der Konsum führt nach Meinung der

Gruppe zu Vereinsamung des Einzelnen, der sich von seiner sozialen Umwelt

abschottet und sich nicht mehr für die Menschen in seiner Um-Welt interessiert. In

dieser Hinsicht dürften diese Substanzen eine Faszination auf Bm ausüben, der sich an

verschiedenen Stellen als von der Urteilen der Um-Welt abhängig darstellt, um sich

von den Zwängen der Abhängigkeit von anderen – und seien es nur die Äußerungen –

zu befreien. Sein offensichtlicher Zugang zu diesen Stoffen ermöglicht es ihm, auch

eigene Erfahrungen zu machen, über die er ausführlich Auskunft gibt. Da auf der

inhaltlich-thematischen Ebene dieser Forschungsarbeit aber nicht die

Zugangsmöglichkeiten oder die Hintergründe für den Konsum von Drogen, sondern

die Frage nach der Irritation von Handlungsmustern stehen, durch die Praxisweisen in

den jeweiligen Projekten untersucht werden sollen, liegt auch der Schwerpunkt der

Interpretation auf der Frage der Ermöglichung von Irritationen und von

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Auseinandersetzungsmöglichkeiten mit inkorporierten Mustern der Weltaufordnung

und des persönlichen Handelns. 41

Auf der Ebene der Reflexion der Erfahrungen in dem Projekt thematisieren die

Teilnehmer die abschreckende Wirkung der Schilderungen durch den Referenten. Bm

nutzt die Diskussionssequenz, um eine längere narrative Passage über seine

Erfahrungen im Kontext des Drogenkonsums einzuflechten und Informationen und

Auffassungen von ihm weiterzugeben. Dies führt zu einem Erlöschen des Diskurses

(806), das sich durch die anschließende zehnsekündige Pause ankündigt und die

zugleich auch das Ende dieses thematischen Blocks markiert. Diese Pause erhält den

Charakter einer rituellen Konklusion, da nicht explizit verbal ein Schlussstrich unter

die Diskussion gezogen wurde, sondern sowohl von Fm als auch von Bm die Frage

gestellt wird, ob es noch etwas zu erzählen gebe, was ein noch umfassenderes Bild

über die Thematik geben könnte. Diese Äußerung kann auch als „rhetorische“

Konklusion interpretiert werden.

Verpflichtung der äußeren Um-Welt zur Einflussnahme auf den Einzelnen

Nach einer kurzen Passage über die abschreckende Wirkung der biographischen

Erzählungen des Referenten, die von Bm noch weiter angereichert werden durch

eigene Erfahrungen, diskutieren die Teilnehmer über die (Selbst-)Verpflichtung der

äußeren (Um-)Welt, auf die Individuen einzuwirken. Implizit formuliert Ew die

Proposition in dieser Sequenz (815-819): Sie thematisiert eine Verschiebung des

Normalitätsverständnisses zum Konsum von Haschisch, indem sie feststellt, dass

Kiffen normal geworden sei und sie dies äußerst negativ bewertet und kategorisch

ablehnt. Ew ist nicht bereit, diese neue Norm zu akzeptieren und eröffnet damit eine

Diskussion darüber, ob es eine Pflicht zur Intervention gebe. Dies wird von Gw

unterstützt (822) und zunächst die Rolle der Eltern als kontrollierende und

sanktionierende Erziehungsinstanz herausgestellt, wenngleich diese Rolle oftmals

nicht angemessen ausgefüllt werde. Ew differenziert weiter und überträgt ihre

Auffassung am konkreten Beispiel einer Freundin, in deren Klasse ein Mitschüler

durch Cannabis-Konsum auffällig geworden sei, auf weitere Bereiche des

gesellschaftlichen Erziehungs- und Bildungssystem. Insbesondere die Lehrer seien in

der Pflicht, beim Verdacht auf Drogenkonsum zu intervenieren und mit den Eltern

zusammen zu arbeiten. Bm entgegnet, dass ein Grund für das Unterbleiben einer

41 In einer solchen Lesart könnte dann Bildung im Sinne eines Bildungsverständnisses zu einem mehr an Autonomie und Selbstbestimmung als Zielperspektive, wie dies in der kritischen Bildungstheorie postuliert ist, eine Alternative um Drogenkonsum darstellen.

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Intervention seitens der Erziehungsberechtigen kann auch eine diffuse Angst sein

könne, wohingegen Ew betont, dass gerade Lehrer, die für sie pädagogisch geschultes

Fachpersonal darstellen, den Konsum von Drogen erkennen und wahrnehmen müssten

und adäquat reagieren müssten (824-830). Bm komplettiert das Bild erneut durch die

Schilderung seiner eigenen Erfahrungen im Rahmen seines Drogenkonsums und

dokumentiert so seine Auffassung von Lehrern und Schule.

Bm: Weißt, die Lehrer, bei mir is das immer so, die sind dankbar, wenn ich ruhig bin und sitze meistens. Die sind einfach nur dankbar, dass ich ruhig bin und sitze. Tja, wenn ich nich ruhig bin, dann sind die, haben die Schiss, einfach. Weil die können keinen vernünftigen Unterricht einfach machen. Weißt du, du scheißt auf die, du, verpiss dich, geh mir auf'n Sack und so nen Kack. Und wenn du ruhig bist, breit bist, sitzt einfach, dann sind die dir dankbar. (830)

In der Schule gehe es ausschließlich darum, Unterricht zu machen. Sobald dies Ziel

nicht mehr erreicht werden könne, weil Störungen auftreten, entstehe bei Lehrern eine

diffuse Angst vor dieser Situation und den an ihr beteiligten Akteuren, möglicherweise

auch die Sorge um Steuerungsverlust in der Situation. Führe demgegenüber der

Drogenkonsum zu einer Passivität der Schüler, interpretiert Bm das Verhalten der

Lehrer als Dankbarkeit, da der Unterricht nicht gestört werde. Implizit thematisiert er

damit das Problem der aktiven und passiven Schulverweigerung: Während mit aktiver

Schulverweigerung die Aggression gegenüber der Schule und dem Unterricht durch

Stören und längeres Wegbleiben vom Unterricht ausgedrückt wird, fasst man unter

dem Begriff der passiven Schulverweigerung die Passivität im Unterricht und die

„innere Immigration“ (vgl. Kap. 5.8.2, S. 171). Letztere werde von den Lehrern

geduldet, da sie keine Schwierigkeiten mache. Schule stellt nach Bm damit einen Ort

der Wissensvermittlung dar, in dem eine Intervention bei problematischen Verhaltens

der Schüler nicht vorgesehen sei.

Die Passivität der Lehrer dürfe nach Ew nicht verwechselt werden mit einer

Zustimmung zum Drogenkonsum. Während Bm es so darstellt, als freuten sich die

Lehrer über seine durch den Konsum von Drogen ausgelöste Passivität, verweist Ew

darauf, dass sie nur passiv seien und nichts unternähmen – ohne eine

Begründungsstruktur zu liefern (831). Bm reagiert entsprechend nicht auf die

explizite Äußerung von Ew, sondern auf den von ihm interpretierten Sinngehalt ihrer

Äußerung und entgegnet, dass die Lehrer sehr wohl wüssten, dass er Haschisch

konsumiere. Ew wiederholt daraufhin ihre negative Beurteilung der Nicht-Intervention

durch seine Umwelt und führt diese Auffassung auch direkt weiter aus: Sie empfindet

die Intervention seitens der Lehrer nicht als eine Pflicht, um den Gebrauch von

bewusstseinsverändernden Substanzen zu unterbinden, sondern um den Konsumenten

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

zu helfen. Sie argumentiert an dieser Stelle sehr personenbezogen (auf Bm) und

thematisiert so ihre Sorge um Bm. Damit bringt sie zum Ausdruck, dass es ihr nicht

egal ist, was mit Bm passiert, sondern dass sie ein Interesse an seiner Biographie hat.

Sie bringt ihm somit Anerkennung entgegen in Bezug auf seine Person. Die Betonung

der Sorge als eine Form von Anerkennung und Wertschätzung verläuft an dieser Stelle

jedoch bisher einseitig: Von der Diskussionsdramaturgie scheint Bm zwar interessiert

an einer Anerkennung in der Gruppe zu sein, jedoch nicht auf einer solchen Ebene der

Sorge, in der er als hilfsbedürftige Person dargestellt ist. Insofern lehnt er die Sorge

um ihn ab. Dabei wird er allerdings von Ew direkt wieder unterbrochen, die ihre

Äußerung noch daraufhin noch einmal verstärkt.

Im Hinblick auf die komparative Analyse der Gruppendiskussionen ist das Muster der

Sorge, bzw. der Fürsorge interessant: Während Bm eher zurückhaltend bis ablehnend

auf die Hilfsangebote seitens der Gruppe reagiert und sein Interesse darauf gerichtet

scheint, Anerkennung und Aufmerksamkeit zu erhalten, findet sich in der Textstelle 2

der Gruppendiskussion Meer der deutlich artikulierte Wunsch der Teilnehmer nach

Fürsorge und Hilfe. Unterschiedlich ist dabei der jeweilige Bezug: In der

Gruppendiskussion Meer formulieren die Teilnehmer ihren Fürsorgebedarf an die

Mitarbeiter und signalisieren damit ihre Hilfsbedürftigkeit, bzw. ihren Mangel an

Selbst-Verantwortungsbewusstsein, wogegen in der Gruppendiskussion Boden die

Hilfe, bzw. Fürsorge von Seiten der Gruppe an Bm offeriert, bzw. von anderen

eingefordert wird.

Cm (839) relativiert die Einschätzung des Drogenkonsums von Bm und Ew’s

energische Haltung ihm gegenüber und differenziert Drogen nach der Form der

Einnahme und der Intensivität des Konsums. Im Folgenden schließen die Teilnehmer

gemeinsam diesen Themenbereich ab und formulieren – ausgehend von der

Schilderung Ew’s, dass es grundsätzlich nicht möglich sei, allen Menschen zu helfen,

bei denen ein Hilfebedarf von außen festgestellt werde - dass zur erfolgreichen

Intervention und Hilfe eine stabile soziale Beziehung zwischen Helfer und

Hilfeempfänger gegeben sein müsse. Diese Konklusion der Diskussionssequenz wird

arbeitsteilig von Gw, Ew, Aw und Bm (839-845) entwickelt.

Daraufhin erfolgt eine Pause des Gespräches.

Die aktuelle Projektgruppe als Um-Welt und akzeptierter Interventionsraum

Auf eine weiterführende, provozierende Anmerkung durch den Moderator (848) wird

dieser Diskussionsstrang weiter aufgenommen. Bm interpretiert die Intervention nicht

als Sorge um seine Persönlichkeit, sondern eher als Sanktion und fürchtet das

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Gespräch mit seinen Eltern. Ew weitet die Thematik wieder aus und stellt die These

auf, dass Lehrer als tägliche und pädagogisch ausgebildete Professionelle für ihre

Schüler verantwortlich seien. Demgegenüber formuliert Bm (860-862), dass eine (gut

gemeinte) Intervention vom Hilfeempfänger nicht als Hilfe, sondern als negative

Einmischung verstanden werde, die auf starke Ablehnung stoße und Feindseligkeit

entstehen lasse. Damit drückt er aus, dass er in Ruhe gelassen werden will und eine

Einmischung in sein Leben, bzw. seine Angelegenheiten nicht dulden würde. In diese

Abgrenzung seiner Person bezieht er sowohl Lehrer und Eltern als auch – wenn auch

mit geringerer Ablehnung - für die beteiligten Teilnehmer in dem konkreten

Seminarzusammenhang mit ein. Möglicherweise drückt sich auf diese Weise ein für

sein Alter typisches Verhalten des Strebens nach Selbständigkeit und persönlicher

Autonomie aus. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Bm nicht von den anderen

Mitgliedern der Gruppe. Insbesondere bei Aw zeigt sich ein ganz ähnliches

Orientierungsmuster. Sie präsentiert sich als emanzipiert und für sich selbst

verantwortlich. Bm scheint diesen Prozess noch zu durchlaufen, denn einerseits duldet

er keine Einmischung von Autoritätspersonen, andererseits betont er mehrfach die

Bedeutung von anderen Menschen für die eigene Entwicklung. Insbesondere der

Gruppe misst er eine hohe Bedeutung für die Anerkennung bei.

Im Folgenden formuliert Ew antithetisch zu den Äußerungen von Bm, dass sie der

Auffassung ist, dass Bm in der Retrospektive dankbar für die Intervention von

Autoritätspersonen sein werde – auch wenn er sie aktuell nicht zulassen würde (866).

Damit vermittelt sie implizit, dass Menschen aus der äußeren (Um-)Welt aufgrund

ihrer Position oder Profession gegen den Willen der Hilfeempfänger intervenieren

dürfen, weil diese aktuell nicht in der Lage sind, ihre Situation zu beurteilen und das

zu tun, was gut für sie wäre. Sie ist so überzeugt von der Idee der Intervention, dass

sie Bm prognostiziert, dass er irgendwann „bestimmt“ auch einsehe, dass sie Recht

habe.

Die folgende Sequenz kann insgesamt als eine Proposition von Bm (867-874) im

Sinne einer Selbstreflexion seines eigenen Drogenkonsums verstanden werden

werden, in der er auf Nachfrage der anderen Gruppenmitglieder seinen Konsum

beurteilt.

867 Gw: So heftig is doch bei dir nicht, oder? 868 Bm: Ne-ein. 869 Ew: Nein, aber ich nehme das jetzt mal an. 870 Bm: Ich hab nicht gesagt, dass jeden Tag wie'n

Psychopath-, vielleicht einmal in ner Woche oder so wat. Ja manchmal is es auch -

871 Aw: - °Geht ja noch°. 872 Bm: - manchmal is es schon auch

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

heftig, nicht jedes Mal. 873 Ew: Ich find das ist viel. 874 Bm: (.) Bloss diese abgefuckten Dealer, die sind

bei uns zu viele halt, das kannst du gar nicht sehen.

Zunächst bestreitet er die Dramatik seines Konsums, um dann später jedoch

einzugestehen, dass er seinen Konsum zu mancher Zeit schon auch als problematisch

einschätzt. Die Bereitschaft zur Wiederaufnahme des persönlichen Bezugs zur

Thematik durch Bm kann als ein Gesprächsangebot von Bm an die Gruppe

interpretiert werden. Dadurch bringt er zum Ausdruck, dass er in der Gruppe bereit

wäre, über seine Problematik zu sprechen. Hier scheint ihm – nach langer Vorrede –

ein Raum gegeben zu sein, in dem er sich selbst und seinen Konsum von

bewusstseinsverändernden Substanzen thematisieren würde. Interessant ist auch, dass

es sich in dieser kurzen Sequenz nicht mehr um ein Zwiegespräch zwischen Ew und

Bm handelt, sondern dass sich zunächst auch Cm, später dann auch Gw und Aw

einschalten, wobei Gw den auslösenden Satz zur Selbstanalyse (867) einbringt und

Aw einen sehr leise gesprochenen Kommentar dazu abgibt.

Zu einer konkreten Analyse der eigenen Situation kommt es allerdings in dieser

Situation nicht, da keiner der Teilnehmer eine Anschlussfrage stellt. Deutlich wird

jedoch auch hier wieder die Orientierung, dass eine Intervention oder

Gesprächssituation eine gute soziale Beziehung voraussetzt, die in der Einschätzung

von Bm in dieser aktuellen Gruppe gegeben zu sein scheint.

Dominanz der sozialen Um-Welt auf Bm

Zum Ende dieser thematischen Sequenz wird die Orientierungsfigur von Bm noch

einmal besonders deutlich. Er thematisiert in einer narrativen Erzählung seinen

persönlichen Zugang zu Drogen und problematisiert dabei die Bedeutung seiner

sozialen Um-Welt in seinem Wohnort.

Das Problem – so Bm (875-892) liege nicht in der Häufigkeit seines problematischen

Konsums, sondern in der konkreten dörflichen Situation seines Wohnortes, die nach

seiner Schilderung geprägt ist von einer ausgeprägten Drogenszene.

875 Ew: Dann hör doch einfach auf. 876 Aw: Woher kommst du denn? 877 Bm: Aus [Ort]. Das ist ein kleines Dorf mit 2000

Leuten, aber so viel Junkees, Alter, über 40 Junkees Alter, sind da haufenweise. 40 Junkees, die spritzen, aber kiffen und Teile spacken, baoh, das kannst du gar nicht zählen Alter. Du kommst auf den Spielplatz, einfach zum Beispiel für zwölf Jahre alte Kinder, da kommt keiner hin von 12 Jahrenund

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

da sitzen nur Junkees, oh, da siehst du nur [zieht Luft ein,imitiert paffen].

878 Ew: Das machen die da auf dem Spielplatz? 879 Bm: Ja, ja, die scheiß ((...)). 880 Ew: Das ist aber echt heftig, wenn man's auch irgendwie

nich anders vorgelebt bekommt, also- 881 Bm: Die machen das sogar mitten auf'm Dorfplatz, weißt

du bei uns im Dorf, das is so Sparkasse, da is'n riesen Dorfplatz, so Parkplatz und so'ne Scheiße. Sieben Uhr abends, ach ziehe ich mir, merkt keiner. Die haben [Husten], die andern sagen das aber nich, die haben Angst vor denen. Aber solche Brocken da, Alter, sitzen da, die gehen einfach vorbei die Leute und gucken noch, ach die, ach egal.

882 Gw: Klar, ich würde auch dran vorbeigehen. Wenn da jetzt einer liegen würde

883 Bm: Dieses Dorfgerede, das is ein kleines Horrordorf. Da bauen so viele scheiße. Du kommst da nur an und riechst sofort Junkees. Ich kann jedem Junkee sagen, wer ein Junkee is. Du siehst an ihr'm Gesicht, dass der Junkee is. (.) Jeden Tag finds die da.

884 (2) 885 [Klopfen] Aber es gibt auch manche vernünftige,

aber nich alle, nich alle. 886 (2) 887 Wir haben so viele Laden schon dicht gemacht bei

uns. Weil, die wurden so viel ausgeraubt, die Laden, einfach ausgeraubt, also jeden Tag fast. Du hörst meistens nur, am Wochenende is am schlimmsten hörst nur die Bullen [macht Autogeräusch nach] vorbeifahren. Dann musst du schon Schiss haben, dass du nich erwischt wirst, meistens.

888 (3) 889 Aw: Meinst du wenn du, oder anders rum, würdest du dich

dann auch ändern? 890 Bm: Würde ich mich ändern, glaube ich. Ich hab doch,

ich hab erst mal 5, vor fünf Jahre in [anderer Ort] gewohnt, da gibt's nicht so was. [anderer Ort] is total ruhig. Ich hab keine Scheiße gebaut. Kaum, dass wir vor drei, nach zwei Monaten hab ich angefangen zu rauchen. Ich hab so gut Fußball gespielt, fünf Jahre lang Fußball gespielt. Komm an, angefangen zu rauchen, aufgegeben das Fußball und nach nen paar Jahren angefangen zu kiffen. Und zu saufen habe ich angefangen und scheiße zu bauen. Du hängst einfach mit diesen Leuten zusammen, zugehörn, weil da gibt's einfach sau wenig von, vernünftige Leute (.) in meinem Alter gibt's nicht vernünftige Leute, da gibt's nur solche, aber sonst nur so 14jährige, ich glaub, die werden auch solche, wenn ich die da schon seh, ja, das is voll dämlich. Und die Leute, die so das lass, ich kiff nie vor anderen, ich versteck mich hinten in Baum oder so, im Wald oder, kiff da. Aber die meistens in Spielplatz, da is sofort neben an nen Kindergarten, die Kinder laufen manchmal zum Spielplatz so zum Spielen so, sind die alle da am Kiffen Alter, lachen die Kinder aus oder so. Das is so erbärmlich. Ich mein-

891 Ew: - Ja, das is ja schon mal nich schlecht, dass du das alles so erkennst.

892 Bm: Das is schon totale scheiße.

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

In seiner Wahrnehmung werde die Szene dominiert von Junkees und Dealern, Kiffern

und Konsumenten anderer Substanzen. Durch seine große Affinität zu dieser Szene

dokumentiert sich in dieser Sequenz wieder das Thema, welche Bedeutung diese

Menschen in der Szene als äußere Um-Welt seiner dörflichen Wohnsituation für sein

Leben haben.

Einerseits thematisiert er dramatisch, wie sehr sich das öffentliche Leben durch die

Präsenz der Drogenszene verändert habe, andererseits stellt die entsprechende

Polizeipräsenz für ihn auch eine Bedrohung dar, da er Angst hat, erwischt zu werden.

Damit wird die Ambivalenz seiner Orientierungssuche ausgedrückt: Auf der einen

Seite das starke Streben nach Autonomie und Eigenverantwortlichkeit im Sinne der

Entwicklung einer eigenen, inneren Welt, die allerdings durch die Szene vor Ort

immer wieder eingeschränkt wird, da diese Einfluss auf ihn ausübt.

Aw greift die Problematik der Ambivalenz zwischen Autonomie und

Fremdbeeinflussung auf (890) und fragt in einer erzählgenerierenden, immanenten

Nachfrage nach der konkreten Umsetzungsperspektive, bzw. nach dem

Enanktierungspotential (vgl. Bohnsack 2003, 136) für die Verhaltensveränderung.

Zunächst antwortet Bm, dass er glauben würde, sich zu verändern, falls er erwischt

würde. Er schildert in Form einer kurzen biographischen Erzählung, wie sich sein

Drogenkonsum entwickelt, bzw. verändert habe in den letzten 5 Jahren und bringt dies

in einen konkreten Zusammenhang mit einem Umzug, der 3 Jahre zuvor stattgefunden

habe. Während er im Alter von 11 Jahren noch völlig normal Fußball gespielt habe in

seiner alten Umgebung, haben ihn die „neuen“ Leute nach dem Umzug so beeinflusst,

dass er angefangen habe zu rauchen, zu kiffen, zu trinken und durch deviantes

Verhalten auffalle. Durch die Äußerung „zugehörn“ (891) verdeutlicht er, dass es

ihm auch bei diesen Menschen im Grunde darum auch geht, Anerkennung durch die

Gruppe zu erhalten. Da in dieser Szene Anerkennung nur über die Synthetisierung von

Verhaltensweisen erfolgt – so die Erfahrung von Bm – passt er sich an. Interessant ist

auch, dass er in der aktuellen Diskussionssituation nach einem sehr ähnlichen

Handlungsschema agiert: Es wirkt so, als teste er aus, mit welchen Äußerungen und

mit welchen Praxisformen er in der Gruppe zu positiver Anerkennung gelangt.

Entsprechend bezeichnend ist somit die Schlusssequenz dieser thematischen Einheit,

in der er sich von der Szene im Dorf abwendet und sich den in der aktuellen Gruppe

akzeptierten Handlungsmustern anpasst.

Damit stellt sich an dieser Stelle erneut die Frage nach der Auffassung der

Jugendlichen zu der Verantwortlichkeit für eigenes Handeln (vgl. Textstelle 3:

Versager, S. 223, Textstelle 1: Grundreiz, S. 193) und nach der Bedeutung des

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

sozialen Einflusses. Thematisiert werden damit Fragen, woran sich die Menschen

orientieren können – an der sie umgebenden Um-Welt oder an sich selbst, wodurch

auch die Frage nach der Stabilität der inneren Muster angesprochen ist.

6.2.5 Textsequenz 5 : Freiwillige Teilnahme

Kontext und Auswahl der Textstelle

In dieser Sequenz (348-386) thematisieren die Teilnehmer der Gruppendiskussion die

unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zu dieser Veranstaltung. Das Konzept dieser

Maßnahme sieht vor, dass neben den straffällig gewordenen Teilnehmern, die auf

Anordnung eines Jugendgerichtes zur Teilnahme verpflichtet wurden, auch eine

Gruppe von bisher nicht-straffällig in Erscheinung getretenen Jugendlichen teilnimmt,

die sich dann freiwillig für diese Veranstaltung anmelden (vgl. Kap. 5.8.1, S. 164). Im

Zuge der Interpretation der Gruppendiskussion ist diese Sequenz besonders

interessant, da zu Beginn von Ew ausgeführt wird, wie ihrer Überzeugung nach

Meinungen, Einstellungen und Interpretationen gebildet werden und welche

Bedeutung die konkreten Erfahrungen mit Menschen unterschiedlicher Herkunft und

Erfahrungszusammenhänge für sie haben. Daraus lässt sich logisch ableiten, dass für

sie als freiwillige Teilnehmerin diese Maßnahme eine weitere Möglichkeit ist, ihren

persönlichen Horizont zu erweitern und zu neuen Erfahrungen und Erkenntnissen zu

gelangen. An der Frage der freiwilligen Teilnahme reflektieren die

Gesprächsteilnehmer die Intentionen der Einzelnen. Daran lässt sich herausarbeiten,

wie sie die pädagogische Praxis in der Maßnahme interpretieren und ob sie sie als

"geeignet" ansehen, um vorher gewonnene Auffassungen über soziale Beziehungen,

Zusammenhänge und Selbstinterpretationen zu verändern oder zu erweitern. In bezug

auf Bm drückt sich diese Auffassung eher in einer Art Befürchtung aus, die ihn zur

Abgrenzung von den Anderen bringt.

Sehr deutlich wird in dieser Sequenz auch die Unterschiedlichkeit der

Erfahrungshorizonte der Teilnehmer bedingt durch die verschiedenen Zugänge und

das Bemühen einzelner Jugendlicher, eine Kohärenz zwischen den einzelnen

Mitgliedern der Gruppe herzustellen. Letztlich lässt sich so auch an dieser Textstelle

das Orientierungsmuster der Orientierung an unterschiedlichen Welten nachzeichnen,

das in seiner Wirkmächtigkeit als Orientierung an einer inkorporierten Weltauffassung

Bm im Verlauf der Sequenz immer stärker in eine Abgrenzung von der Gruppe bringt,

um am Ende einen vorläufigen Endpunkt zu setzen: „Ich hab’e genug Freunde“

(382).

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Jugend als Phase der Bildung von Meinungen und Weltinterpretationen

Durch die Äußerung, dass sie in ihrem aktuellen Lebensabschnitt als Jugendliche eine

eigene Meinung aufbaue, dokumentiert Ew (348) die Auseinandersetzung mit Welt-

und Selbstauffassungen, die sie zu einer Annahme oder Übernahme von

Interpretationen von anderen Menschen und oder zur Ablösung, bzw. Modifikation

von solchen Deutungen führt. Entscheidend für diese Entwicklung sind die

Erfahrungen, die sie mit anderen Menschen macht. Es gehe dementsprechend nicht

um Vorurteile oder Erzählungen über andere Menschen oder Milieus, Kulturen oder

Ethnien, sondern um die konkreten Erfahrungen im sozialen Kontakt von Ew mit

Menschen verschiedener Herkunft. Das setzt die Offenheit voraus, zunächst Kontakt

mit Angehörigen unterschiedlicher sozialer Milieus zu suchen, sich für ihre

Lebenswelt und ihre Weltinterpretationen zu interessieren und sich damit auseinander

zu setzen, um dadurch eine eigene Meinung bilden zu wollen. Dies könnte auch eine

schlüssige Erklärung dafür sein, warum überhaupt sie bereit ist, sich auf eine solche

Veranstaltung freiwillig einzulassen. Das Interesse an der Begegnung und an der

Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Auffassungen. Dass diese Haltung in sich

konsistent ist, dokumentiert sich auch in der Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit

Bm (vgl. Textstelle 4: Drogen (651-893), S. 232). Damit eröffnet Ew eine Diskussion,

die sich anschließt an die vorherige Sequenz, in der die Bedeutung der Familie für die

individuelle Interpretationen von Welt und das entsprechende individuelle Verhalten

thematisiert wurde. Sie öffnet die Engführung der Diskussion auf die Bedeutung

Familie als primäre Sozialisationsinstanz und bezieht weitere Bereiche und

Personengruppen in ihre Überlegungen mit ein.

Ergebnis solcher Auseinandersetzungs- oder Meinungsbildungsprozesse sind nach Ew

dann differenzierte Verhaltensweisen gegenüber unterschiedlichen Menschen.

Auffällig ist, dass sie Schwierigkeiten hat, den Satz korrekt zu formulieren und

mehrfach ansetzt (348). Der erste Satz könnte insgesamt lauten: „Dann verhalten wir

uns alle gegenüber Leuten unterschiedlich“. Ihr zweiter Versuch bringt jedoch den

Fokus der Sequenz insbesondere durch die starke Betonung des Wortes „somit“

deutlicher auf den Punkt: Das Verhalten aller gegenüber allen wird von der individuell

gefassten Meinung beeinflusst - es geht also um das Verhalten des Einzelnen

gegenüber einer nicht näher bestimmten „Masse“. Im folgenden Satz dreht sie den

Fokus jedoch wieder um und tauscht die Bezüge aus: Plötzlich geht es nicht mehr um

das eigene Verhalten anderen Menschen gegenüber, sondern darum, dass man von

verschiedenen Menschen „unterschiedlich behandelt“ wird. Sie erweitert so die

Perspektive in beide Richtungen: Die Auffassungen und Meinungen von Menschen,

die nach Ew aufgrund von konkreten Erfahrungen generiert wurden, führen zum einen

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

zu einem differenzierten Verhalten gegenüber den Menschen, die ihr begegnen, zum

anderen sind sie auch die Erklärung dafür, dass sie als immer gleiche Person von

unterschiedlichen Menschen unterschiedlich „behandelt“ werde.

Unmodifizierbare Disposition oder veränderbares Verhalten von Menschen?

Bm knüpft an diese Erweiterung der Perspektive von Ew an (349) und stimmt ihr

zunächst eindeutig zu, differenziert jedoch weiter und betont die Unterschiedlichkeit

von Menschen. Damit legt er einen eindeutigen Akzent darauf und nicht - wie Ew

eingangs - auf das unterschiedliche Verhalten von Menschen.

Diese Äußerung könnte auch den Charakter einer Anschlussproposition bekommen,

da es Bm anscheinend darum geht, die Unterschiedlichkeit der Menschen zu betonen

und nicht die Unterschiedlichkeit menschlichen Verhaltens. Interessant ist dabei in

diesem Zusammenhang, welche Bedeutung diese Unterscheidung für das

Gesamtgespräch haben könnte: Die Äußerung von Bm, der unter Bezug auf

alltagstheoretisches Wissen uneingeschränkt zugestimmt werden kann, führt bei

weitergehenden Überlegungen in die unhintergehbaren Grundfragen einer

bildungstheoretischen Diskussion im Sinne einer strukturalen Bildungstheorie. Es

stellt sich die Frage, ob menschliches Verhalten grundsätzlich immer transformierbar

und offen ist, und auf die Interaktion mit der belebten oder unbelebten Umwelt

bezogen ist oder ob die Gesamtdisposition eines Menschen, mehr oder weniger

festgelegt ist und dadurch die Potenziale zur Transformation von Weltaufordnungen

und menschlichen Verhaltens nur sehr eingeschränkt bestehen. Diese Frage wird in

der strukturalen Bildungstheorie aufgrund des Ebenenmodells graduell gelöst, in dem

sich diese Prozesse auf unterschiedlichen Stufen der Abstraktion ereignen. Dadurch ist

die grundsätzliche Offenheit des Menschen für selbstbestimmte Veränderungsprozesse

gewahrt, selbst wenn nicht jeder sie wahrnimmt.

Dw scheint zunächst Bm zustimmen zu wollen, ihre weiteren Ausführungen, die erste

Merkmale einer antithetischen Differenzierung aufweisen, werden jedoch von Bm

unterbrochen, so dass diese Äußerung keinen thematischen Inhalt entwickeln kann

(350). Zumindest deutlich wird jedoch, dass sie dieser sehr globalen Aussage von Bm,

dass alle Menschen unterschiedlich sind, zunächst zustimmt, gleichfalls aber auch

Anfragen an diese Aussage hat.

Disparität der Erfahrungsräume der Teilnehmer und ihre kommunikative

Verstärkung

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Bm unterbricht Dw und exemplifiziert seine Äußerung am Beispiel der

Teilnehmergruppe dieser Veranstaltung (351), wobei er die einzelnen

Gruppenmitglieder sehr vereinfacht – analog der Zugangsmöglichkeiten zu dieser

Veranstaltung - in zwei Gruppen aufteilt: Die Gruppe der freiwilligen Teilnehmer hat

noch kein deviantes Verhalten gezeigt und zähle somit zu den „anständigen“

Menschen, die restlichen Teilnehmer seien bereits strafrechtlich in Erscheinung

getreten und zählten zu der Zielgruppe, auf die in dieser Veranstaltung verändernd

eingewirkt werden solle. Zunächst versucht Bm also lediglich, an der aktuellen

Teilnehmergruppe seine Auffassung zu explizieren. Gleichzeitig dokumentiert er

jedoch auch mit dieser Aussage, dass zwischen den freiwilligen und den nicht-

freiwilligen Teilnehmern Unterschiede in den Erfahrungsräumen bestehen, die

zunächst unüberbrückbar zu sein scheinen (vgl. „unmittelbares Verstehen –

konjunktiver Erfahrungsraum“, Textstelle 3: Versager (531-575), S. 223).

Die freiwilligen Teilnehmerinnen Aw und Ew opponieren gegen diese Auffassung

(353-355) und versuchen Bm gegenüber zu verdeutlichen, dass der Unterschied

zwischen ihnen und ihm lediglich darin bestehe, dass sie eben noch nicht erwischt

worden seien und somit noch nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten seien. Diese

Argumentation erhält zunächst den Charakter einer einfachen Aufzählung – sie stellen

der Aussage von Bm ihre eigenen illegalen Verhaltensweisen gegenüber. Ew und Aw

scheinen mit dieser Argumentation zum Ausdruck bringen zu wollen, dass sie mit dem

an dieser Stelle wiederum beginnenden Prozess der eigenen Abgrenzung durch Bm

von der Gruppe nicht einverstanden sind und zunächst nicht recht wissen, was sie auf

die konkrete Nachfrage von Bm, welche Straftaten sie denn begangen hätten (358),

antworten sollen.

358 Ew: Ja was ham wir so-, wir ham genug scheiße gebaut. Wir ham-

359 Aw: Kiffen ist illegal. 360 Ew: Ja wir ham gekifft, das- 361 Aw: Ja es ist trotzdem strafbar

oder nicht? 362 Bm: Ja klar, aber das ist Kinderkram. 363 Ew: Ja `schuldigung, dass wir |kein Auto geklaut

haben.|

Sie wirken bemüht (vor allem Ew), ihren eigenen Erfahrungshorizont an den von Bm

anschlussfähig zu machen. Damit entspräche dies Verhalten zumindest auch dem

Orientierungsmuster von Ew, die durch die Erfahrungen mit anderen Menschen eigene

Meinung ausbilden will und somit Berührungspunkte mit anderen Menschen braucht,

um überhaupt in Kontakt zu kommen.

Ein weiterer Effekt der Argumentation von Aw und Ew ist, dass sie Bm die

Exklusivität seiner Straffälligkeit durch die Relativierung durch ihre eigenen

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Aktivitäten absprechen und sich darauf beziehen, dass sie lediglich Glück gehabt

hätten, nicht erwischt worden zu sein. Dadurch nehmen sie ihm die Chance, sich

innerhalb der Diskussionsgruppe über seine Straftaten zu profilieren.

Die Frage von Bm (358) nach den konkreten Taten der freiwilligen Teilnehmer kann

als Versuch interpretiert werden, herauszuarbeiten, dass er sich - als verurteilter

Straftäter mit der gerichtlichen Auflage zur Teilnahme an dieser Veranstaltung - von

den freiwilligen Teilnehmer unterscheidet. Als Distinktionsmerkmal werden hier die

Straftaten und deren Schwere herangezogen.

Gleichzeitig - gewissermaßen als Validierung seiner eigenen Proposition - beurteilt er

die nicht rechtskonformen Praktiken der Anderen indem er sie als „Kinderkram“

(Bm 362) abqualifiziert, um sich so noch deutlicher von den anderen Teilnehmer

absetzen zu können. Es geht jetzt also nicht mehr um die generelle Unterschiedlichkeit

der Teilnehmergruppen, sondern darum, dass Bm sich ganz gezielt von den anderen in

der Gruppe durch seine Straftaten abgrenzen will.

Während Ew auf der Beziehungsebene reagiert (363) und ihren Ärger über die

Bewertung von Bm deutlich zum Ausdruck bringt, und damit gleichzeitig signalisiert,

dass sie anderer Meinung ist, unterstellt Aw, dass Bm aus seinen Straftaten direkt oder

aus der Abgrenzung von den anderen Teilnehmern Anerkennung und Stolz bezieht.

364 Aw: |Ja siehst du, darauf bist du| wieder stolz, dass du wieder-

Aw und Ew reagieren so, als seien sie gekränkt, weil Bm ihre „Gleichartigkeit“ mit

ihm nicht gelten lassen will.

Bm (365-368) führt weiter aus, dass sich die Straftaten der anwesenden nicht-

freiwilligen Teilnehmer grundlegend von der Lebenswelt der anderen Teilnehmer

unterscheiden und nicht anschlussfähig sind. Obwohl er keine weiteren Informationen

über seine eigenen Straftaten liefert (was interessant ist, da er genau dies von den

freiwilligen Teilnehmern gefordert hat), wirkt die Argumentation von Bm schlüssig

und die Abgrenzung zunächst nachvollziehbar.

Ew versucht wiederum, eine Synthese der von Bm als unterschiedlich

charakterisierten Erfahrungswelten herzustellen (369-373), indem sie von den eigenen,

nicht-rechtskonformen Praktiken berichtet und ausführt, dass es dem Zufall anheim

falle, dass sie nicht erwischt wurden. Dementsprechend ist die Freiwilligkeit der

Teilnahme in ihrer Interpretation als Distinktionskriterium untauglich für die von Bm

angeführte Dichotomie: „Anständig vs. Verhaltens-Veränderungsbedarf“. Damit zieht

sie den Disput über die unterschiedlichen Erfahrungswelten wieder zurück auf den

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Anfang der Diskussion über die Freiwilligkeit vs. Nicht-Freiwilligkeit der Teilnahme

und Unterschiedlichkeit von Menschen.

Bm (375-376) versucht in einer weiteren Argumentationslinie seine Auffassung über

die Unterschiedlichkeit der Teilnehmergruppen in dieser Maßnahme nochmals zu

verdeutlichen. Für ihn ist es einfach Glück, wenn man bei Straftaten nicht erwischt

werde. Dieses Glück sollte man einfach hinnehmen und anerkennen. Jedenfalls ist für

ihn überhaupt nicht nachvollziehbar, wie Menschen freiwillig an einer Sache

teilnehmen können, die für andere eine Strafe bedeutet. Bm würde wahrscheinlich

niemals auf die Idee kommen, freiwillig an dieser Veranstaltung teil zu nehmen oder

freiwillig in eine Justizvollzugsanstalt zu gehen, um die Lebensbedingungen der

Menschen dort kennen zu lernen. Die freiwillige Teilnahme an dieser Veranstaltung

wirkt auf Bm so wie der freiwillige Antritt einer Strafe für eine Sache, bei der man

noch nicht einmal erwischt wurde. In dieser Interpretation ist es nachvollziehbar, dass

Bm Schwierigkeiten hat, die Teilnahme von Aw und Ew (als freiwillige

Teilnehmerinnen) zu begründen. Diese Anfrage, warum sich Jugendliche freiwillig zu

dieser Veranstaltung anmelden, kann durchaus auch kritisch auf die Konzeption dieser

Maßnahme bezogen werden: So stellt sich tatsächlich die Frage, wie die freiwilligen

Teilnehmer ihre Partizipation an der Maßnahme begründen, bzw. welche Begründung

von den Leitern der Maßnahme genannt wurde und welches Interesse Eltern haben

könnten, ihre Kinder freiwillig für so eine Maßnahme anzumelden? Eine mögliche

Begründung liegt in den Ausführungen von Ew, aus denen ein Orientierungsmuster

herausgearbeitet werden konnte. Sie betrachtet ihre Entwicklungsphase als eine Art

Moratorium, in der sie durch die Auseinandersetzung mit anderen Menschen eigene

Überzeugungen reflektieren, weiterentwickeln oder transformieren kann. In der

Konzeption der Maßnahme wird die Thematik des Zugangs der freiwilligen

Teilnehmer so nicht aufgegriffen und diskutiert. Die Gruppe berichtet dbzgl. von

vielfältigen interessanten und lustigen Gegebenheiten und interessanten Inhalten, die

als eine Begründung für die Teilnahme an dieser Veranstaltung dienen können.

Entsprechend der für Bm logischen Brüche drückt er (377-379) sein Unverständnis

über eine Möglichkeit der freiwilligen Teilnahme der Maßnahme aus und grenzt sich

und seine persönliche Welt damit von der Gruppe insgesamt ab.

Dw (380) distanziert sich als nicht-freiwillige Teilnehmerin von der Auffassung Bm’s

und schließt sich explizit der Meinung von Aw und Ew an. Damit bewertet sie die

Maßnahme ebenfalls insgesamt positiv und grenzt sie sich eindeutig von Bm ab, der

dadurch im sozialen Rollengefüge eine isolierte und gleichsam exponierte Stellung

einnimmt.

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

Ew (381) verstärkt diese Abgrenzung weiter und expliziert, dass der Spaß an der

Maßnahme nicht in der Maßnahme selbst begründet liege, sondern -

gruppendynamisch interpretiert - in dem, was die einzelnen Teilnehmer in die Gruppe

einbringen. Nur ein aktives Einbringen in die Gruppe und offensive Kontaktaufnahme

ermöglichen, ganz im Sinne ihrer bereits angesprochenen Zugangsmotivation und

ihrem Verständnis der eigenen situativen Lebensphase, ein befriedigendes

Gruppenerleben.

Bm (382) reagiert abschließend in dieser Sequenz mit einer völligen Abgrenzung von

der Gruppe und ist nicht bereit, sich diesem von Ew geschilderten aktiven Prozess

zunächst zu stellen: „Ich hab’e genug Freunde“ . Seine sozialen Kontakte

außerhalb dieser konkreten Veranstaltung und damit die aus den äußeren sozialen

Einflüssen gewonnenen inkorporierten Handlungsschemata von Bm sind zumindest in

dieser Phase der Gruppendiskussion dem Anschein nach noch so dominant, dass eine

Auseinandersetzung mit konkurrierenden Interpretationsweisen der Weltaufordnung

nicht möglich wird.

Folgerichtig signalisiert er auch kein Interesse an der Auseinandersetzung mit den

anderen Menschen und ihren Auffassungen im Maßnahmekontext. Sollte er diese

Haltung durchhalten, so erfüllt er nicht die als Mindestvoraussetzung beschriebene

Bedingung für die grundsätzliche Teilnahme an der Maßnahme: „Die Bereitschaft zu

einer aktiven Beteiligung während der Schulungs- und Freizeitmaßnahme wird als

Minimalbedingung vorausgesetzt, egal, aus welcher potentiellen Adressatengruppe der

einzelne Jugendliche stammt“ (Plien 2003, 75). Die Interpretation der anderen

Sequenzen der Gruppendiskussion Boden verdeutlicht die klare und große Bedeutung

der inneren Sphäre von Bm.

Sozialpädagogische Praxisweisen mit dem Potential der Transformation von

individuellen Weltkonstruktionen

Die konsequente Abgrenzung von den anderen Teilnehmer und die Abqualifizierung

der Praxisweisen in der Maßnahme können so als mangelnde Bereitschaft gelesen

werden, sich mit seinem Weltbild auseinander zu setzen, indem er keine weiteren

sozialen Kontakte aufbauen will.

Andererseits könnte es sich hier auch lediglich um eine vorsichtige Zurückhaltung

bzgl. der Veränderungsprozesse handeln, da Bm in späteren Sequenzen der

gemeinsamen Gruppendiskussion deutlicher Position bezieht und sich von seinem

Milieu in der Alltagswelt abzugrenzen versucht (vgl. Textstelle 3: Versager (540-544),

S. 223). Er dokumentiert an dieser Stelle somit auch eine starke Zugehörigkeit zu

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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen

einem Milieu, das er bezogen auf die devianten Verhaltensweisen der Einzelnen mit

den Worten „das ist was anderes als hier“ beschreibt. (368). Im Kontext

der Gruppendiskussion kann zumindest festgestellt werden, dass diese starke

Zugehörigkeit im Verlauf der Diskussion brüchiger wird und sich die Suche nach

Zugehörigkeit, Anerkennung und Wertschätzung dokumentiert. Bezogen auf die

sozialpädagogische Praxisform der Maßnahme wird sehr deutlich, dass alle

Teilnehmer dieser Sequenz der Veranstaltung das Potential zusprechen, verändernd

auf die Konstruktionen von Wirklichkeit der Einzelnen Einfluss zu nehmen. Während

vor allem Ew und Aw als freiwillige Teilnehmerinnen einer solchen Möglichkeit mit

großer Offenheit begegnen und Ew dies sogar als ein Kriterium für ihre Teilnahme

angibt, scheint Bm eher Sorge zu haben, dass diese Veränderungsprozesse bei ihnen

auch tatsächlich stattfinden könnten.

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