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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Kapitel 6
6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
6.1 Diskursbeschreibungen
Während im vorhergehenden Kapitel die Anlage der Untersuchung, die Planung der
Gespräche, sowie der Verlauf der Erhebungen thematisiert wurden, folgt in diesem
Kapitel die Darstellung der Interpretationsergebnisse, die im Rahmen der Arbeit nach
der dokumentarischen Methode erarbeitet wurden.
Die Transkripte der einzelnen Gruppendiskussionen werden unter Zuhilfenahme der
Videoaufzeichnungen und des Tonmaterials daraufhin ausgewertet, an welchen
Stellen die Jugendlichen über die Projekte, in denen sie sich befinden, sprechen und
wie sie diese beurteilen. Dazu werden von den Jugendlichen z.T. längere Erzählungen
angeführt, die auf die Praxisweisen in den einzelnen Projekten verweisen.
Durch diese Schilderungen können kollektive Orientierungsmuster der Jugendlichen
insgesamt herausgearbeitet werden. Der konjunktive Erfahrungsraum, den die
Jugendlichen miteinander teilen bezieht sich dabei, so die erste Vermutung, auf die
Entwicklungstypik, d.h. es kann angenommen werden, dass alle beteiligten
Jugendlichen in den Projekten vor ähnlichen Herausforderungen bezüglich ihres
Lebensalters stehen. Darüber hinaus erscheint es wahrscheinlich zu sein, dass auch
über den Generationszusammenhang ein konjunktiver Erfahrungsraum gegeben ist.
Dadurch, dass die Jugendlichen allgemeine – gesellschaftliche Probleme, wie z.B. die
andauernde Massenarbeitslosigkeit – zu einer ähnlichen Zeit erleben, entsteht ein
gemeinsames Wissen über eben diese Zusammenhänge, das in den Schilderungen der
Jugendlichen über unterschiedliche Thematiken expliziert wird.
So richtet sich die Forschungsfrage auf die in dieser Form thematisierten
Zusammenhänge und auf die Frage, wie sie in den einzelnen Diskussionen über diese
Frage diskutieren. Darüber hinaus wird untersucht, wie die Jugendlichen über Lernen
in unterschiedlichen institutionellen Kontexten sprechen und welches Lernverständnis
sich in diesen Äußerungen dokumentiert. Durch die Interpretation soll
herausgearbeitet werden, welche Handlungstypologien bei den Jugendlichen
herausgearbeitet werden können und auf welchen (kollektiven) Orientierungsmustern
sie basieren. In einem letzten Schritt gilt es dann zu untersuchen, ob die Schilderungen
darauf schließen lassen, dass diese Orientierungsmuster durch die sozialpädagogische
Praxis irritiert werden. Sollten sich Anzeichen dafür ergeben, entstehen – so die These
– Möglichkeiten zur Explikation, Reflexion und damit auch zur Transformation
191
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
solchen impliziten Wissens. In Bezug auf den theoretischen Gesamtrahmen könnten
solche Praxisweisen dann als geeignet beschrieben werden, um Bildungsprozesse im
Sinne der Transformation von inkorporierten Handlungsroutinen, die zumindest zum
Teil auf ein kollektiv geteiltes, implizites Wissen zurückgehen, bei den Jugendlichen
zu ermöglichen.
Die Sequenzen wurden aufgrund ihrer dramaturgischen Bedeutung im Diskurskontext
ausgewählt. Ausgehend von den in Kapitel 4 ausgeführten Überlegungen zu
Fokussierungsmetaphern wurden gezielt solche Textstellen einer intensiven
Interpretation unterzogen, die einen interessanten thematischen Bezug zur
Forschungsfrage aufwiesen, die durch eine hohe narrative Dichte gekennzeichnet
waren oder solche, in denen die Interaktion der Jugendlichen untereinander besonders
intensiv waren. Zu Beginn der Beschreibung einzelner Diskussionssequenzen werden
die Relevanz der Textstelle und ihr Kontext in der Diskussion jeweils ausgeführt, um
die zum Teil exponierte Stellung dieser Textpassagen zu verdeutlichen.
In den beiden Gruppendiskussionen mit den Codenamen Boden und Meer wurden für
die Interpretation in erster Linie solche Passagen berücksichtigt, die im Anschluss an
die Eröffnung der Diskussionen durch den Grundreiz erfolgten. Bei der Diskussion der
Gruppe Feld wurde darüber hinaus auch die Vorbesprechung einer intensiveren
Auswertung unterzogen, um zum einen zu verdeutlichen, dass die Erhebungssituation
mit dem Moment beginnt, in dem die Gespräche der Jugendlichen beginnen und nicht
erst durch die formale Eröffnung der Diskussion durch den Grundreiz, zum anderen
wird bereits in der Vorbesprechung ein thematischer Fokus der Jugendlichen deutlich,
der sich durch die gesamte Gruppendiskussion hindurch zieht.
Aufgrund der hohen Vergleichbarkeit ist die Diskussionssequenz jeweils nach der
Präsentation des Grundreizes durch den Moderator für die komparative Analyse der
Gruppendiskussionen besonders wichtig. An der Sequenz der Diskussion des
Grundreizes in der Gruppe Boden werden die verschiedenen Arbeitsschritte
exemplarisch vorgestellt.
Die Darstellung erfolgt in der Reihenfolge der Interpretation des Datenmaterials, da
mit zunehmender Übersicht über die verschiedenen Fälle und ihre exponierten
Textstellen eine gruppenübergreifende komparative Fallanalyse der
Gruppendiskussionen mehr und mehr in die Interpretation eingeflossen ist und die
Darstellungen dadurch von Sequenz zu Sequenz dichter werden.
Im Anschluss an die Diskursbeschreibungen werden zunächst auf der thematischen
Ebene Vergleiche der einzelnen Thematiken der Jugendlichen in den
unterschiedlichen Gruppendiskussionen herausgearbeitet, die sich auf
192
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Gemeinsamkeiten und Unterschiede beziehen. Dazu werden zunächst die von allen
Jugendlichen thematisierten Aspekte der Schule, der Familie, Drogen und Arbeit und
Beruf miteinander verglichen und auf Kontraste und Gemeinsamkeiten hinsichtlicher
Art und Weise der Thematisierungsformen und der sich darin dokumentierenden
Orientierungsmuster untersucht.
193
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
6.2 Diskursbeschreibung Gruppe Boden
6.2.1 Textsequenz 1: Diskussion Grundreiz – formulierende und reflektierende
Interpretation
Auszug aus dem Transkript 129 Mm: Dann könnt ihr das nämlich besser lesen (.)
möglicherweise [klebt Plakat auf] Ihr kennt bestimmt alle diesen Satz „Du lernst nicht für die Schule, sondern"
130 Gw: Für dich. 131 Mm: Für dich. Genau. Oder für das Leben. Oder so. 132 Gw: Ja. 133 Mm: Ich hab das mal versucht umzudrehen und dann kommt
dabei raus, „Nicht für das Leben sondern für die Schule lernen wir" [Husten]
134 (7) 135 Und das wäre quasi jetzt der Einstieg. 136 (4) 137 Stimmt das oder stimmt das eigentlich, was man
immer zu hören kriegt? 138 Bm: Das andere. 139 Aw: Das andere. Also wenn ich jetzt gerade in ner
Schulsituation bin, denke ich äh ich nicht, das ich grad alles nur für die Schule mache, dass ich da durchkomme. Aber für die Zukunft mach ich, also hab ich mir jetzt vor einem Jahr noch nicht, wirklich noch nicht Gedanken drüber gemacht. Jetzt wo's zum Ende zu geht, dann denk ich schon, dass ich für mich lerne. Und nicht für die Schule. Aber da, vor einem Jahr hätt ich noch anders glaub ich darüber gedacht. (.)
140 Fm: Das denk ich stimmt jetzt, der Satz, weil (.) äh immer wenn ich ne Arbeit schreibe wenn ich se fertig hab ist das wieder weg. Denn brauch ich wieder n leeren Kopf für die nächste Arbeit. Dann lern ich nicht wirklich fürs Leben sondern eher für die Arbeit oder für die Schule halt.
141 Gw: Ich glaube irgendwie manche Sachen, für manchmal stimmt das, weil wenn ich jetzt irgendwie über irgendwelche Formeln schreibe, die ich später niemals wieder in meinem Leben gebrauchen werde, lern ich für die Schule fürs, praktisch gesehen auch fürs Leben, weil durch die Noten werd ich halt für das Leben, für meine Arbeit, was ich später machen werde und das ist ja auch mein Leben.
142 Aw: Aber ich glaub du fühlst dich besser, wenn du schon was gelernt hast und du weißt so von dir aus, ähm, ich weiß n Stück, also jetz sagnmal eine Formel mehr, obwohl ich die vielleicht mh gar nicht mehr brauche aber du hast, du weißt für dich, du hast was, |noch mehr im Kopf|
143 Gw: |Ja aber das ist ja| klar, aber das ist doch mehr für die Schule.
144 Dw: Mh. Der Meinung kann ich mich nur anschließen. Also es gibt halt Sachen, die man nie wieder braucht und das sind jetz nicht nur Formeln, das ist in GSW, in Deutsch und eigentlich in allen andern Fächern auch so und da lernt man eigentlich mehr für die Schule,
194
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
aber es gibt halt auch Sachen, ähm, die man für später wissen muss und, ähm die Sachen gehen ja auch in die Noten mit ein und die Noten sind wiederum wichtig für das spätere Leben. [Husten]
145 (4) 146 Also kann man eigentlich gar nicht sagen, dass der
oder der andere Satz richtig ist. [Husten] 147 Bm: Die sind beide richtig. 148 (3) 149 Man lernt für das Leben und für die Schule. Also
jetz-, wenn du ne Arbeit haben willst, dann brauchst du die und die Fächer, also lern ich diese Fächer und nicht die andern. So.
150 Ew: Hab ich jetz nicht verstanden, wenn ich ehrlich bin.
151 Bm: Also wenn jetz- Was willst du für ne Arbeit machen? 152 Ew: Was? 153 Bm: Was möchtest Du später werden? 154 Ew: Was will ich, ich versteh nur- 155 Gw: Was du arbeiten willst. 156 Ew: Ich will Altenpflegerin werden. 157 Bm: Ja und was brauchst du für Fächer dafür? 158 Ew: @das ist doof, wenn man sowas fragt@ 159 Bm: Ja siehst du und diese Fächer lernst du dann. 160 Ew: Ja aber |du brauchst| ja 161 Gw: |Ja aber| 162 Bm: |Und die anderen Fächer|, wozu brauchst
du die anderen Fächer dann? 163 Ew: Wenn du ganz schlechte Noten hast, dann ist es auch
schwer, irgendwo n Platz zum Beispiel zu finden, irgendwie n Ausbildungsplatz oder später dann Arbeit. Also brauchst Du |alles in allem|
164 Bm: |Ja du musst ja| nicht unbedingt schlechte Noten haben, aber ich merk das mir nie.
165 Aw: Ja das glaub ich auch nicht unbedingt alles, |aber| trotzdem-
166 Bm: |Ja is so| 167 Aw: Ist doch auch für dich cooler, wenn du weißt, das
kann ich und(.) weiß ich nich. Vielleicht brauchst d's ja irgendwann mal, vielleicht für einen Satz zu bilden, was weiß ich @(.)@ ja.
168 [räuspern] 169 Gw: Gut, fürs Allgemeinwissen iss natürlich auch nicht
schlecht, aber (.) manche Sachen denk ich echt, da bin ich mir sicher, dass ich die später nicht brauche.
170 Aw: Ja. [räuspern] 171 (7) 172 Mm: Was brauchst du denn, für später? 173 Gw: Für später? |Weiß ich auch nicht| 174 Mm: |Ja, wenn du |sagst, du weißt
manche Sachen, die du nicht wei-, also die du nich mehr brauchst
175 Bm: Man braucht nur die Hauptfächer, Deutsch, Englisch, Mathe
176 Aw: Nee. 177 Bm: Also für meinen Begriff ja. 178 Dw: Aber zum Beispiel: Wozu braucht man jetzt Musik? 179 Bm: Ja oder wozu braucht man Kunst? 180 Dw: Oder Technik? 181 Bm: Oder |Textil Gestalten und Werken brauch man doch
gar nicht|
195
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
182 Ew: |Und auch Kunst und Musik die Fächer das ist gar nicht|
183 Bm: |oder Sport wozu braucht man das überhaupt, Alter?|
184 Ew: |so schlecht, das ist jetzt| 185 Wenn du nur immer Mathe hast oder Deutsch, das ist
ja eigentlich schon n bisschen anspruchsvoller als Kunst und so |und da ist Kunst eigentlich| n bisschen Entspannung.
186 Bm: |mh, drei Stunden weniger| 187 Aw: Ich hab früher Musiins-, n Musikinstrument gespielt
und mein Musiklehrer hat immer gesagt: Solang man Musik macht (.) also von selbst, äh dann öffnen sich viel mehr Schubladen im Kopf. Also du lerns-, der kanns, das macht dich, dein Kopf n bisschen mehr freier. Da kannst du immer mehr dazu lernen, also nicht nur dass du jetz da Lieder singst, oder so, das ist ja auch was für dich.
188 Dw: Na, in Musik ähm macht man jetzt aber nicht unbedingt um was mit irgendwelchen Instrumenten
189 Aw: Nee, nicht unbedingt 190 Dw: Ja, man lernt über Bach und-und das 191 Aw: Das gehört doch alles zum Allgemeinwissen. 192 Dw: Ja gut, aber trotzdem, wozu brauchen wir das bitte?
Das interessiert eigentlich niemanden. 193 Aw: Ja mich interessiert Mathe auch alle nich- 194 Gw: und dann
sitzte bei „Wer wird Millionär" und dann wars das. 195 Ew: @He ja@ 196 (3) 197 Gw: Ja ist doch so. 198 Aw: Hatt ich eigentlich nicht vor hin zu gehen. 199 Gw: Irgendwann kann mans immer gebrauchen. Das meiste.
Nicht alles, aber 200 Aw: Brauch nich alles für meinen Job, den ich später
noch mal machen werde. 201 Bm: Ja, wozu lernst Du das denn? 202 Ew: Aber du weißt doch auch nicht von Anfang an, du
weißt ja nicht in der vierten oder fünften Klasse was du werden willst, das weißt du ja-, das entscheidet sich ja nicht immer so schnell und du kannst ja nicht nur dann n paar-, zum Beispiel dich total auf Mathe und Deutsch spezialisieren und dann kannst du nachher was weiß ich kein
203 (2) 204 äh Beruf dafür finden, den du ma-, wenn du dann n
Beruf findest, den du gerne machen willst und das sind grad nicht deine Fächer da, die dazu passen, dann hast du irgendwie verschissen. Also du brauchst ja alles, damit du dich später entscheiden kannst, das ist ja d-, auch so ne kleine Hilfe dann. Denn ich weiß ganz genau, dass ich nicht Mathelehrerin werden will, zum Beispiel, oder irgendwas mit Mathe zu tun haben will, und das hätt ich ja sonst nicht gewusst, also von daher, also ist jetzt n bisschen leicht ausgedrückt, |so aber|
205 Bm: |Aber ich| mein nicht von der fünften Klasse aus, ich meine jetzt. Du weißt, was du jetzt werden willst also-
206 Ew: Ja, aber du musstest vorher das ganze Wissen haben, um alle Seiten auszuprobieren, um alles mal gesehen zu haben.
207 Bm: Glaubst Du ich weiß noch was von der fünften
196
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Klasse? 208 Ew: Ja -türlich. 209 Bm: Ich weiß |nur noch von letzten Tagen.| 210 Ew: |sonst könntest du jetzt nicht|
Bruchrechnen und nichts. Also wenn du's jetzt kannst.
211 Bm: Ja das, diese kacke- 212 Ew: Das brauchst du alles, um weiterz-, um andere
schwerere Sachen 213 |damit machen zu können,| so 214 Dw: |Das baut alles aufeinander auf| 215 Ew: mit Formeln oder
so, kommt ja auch mal n Bruchstrich mal drin vor und wenn du das nicht könntest, dann hättst du Pech gehabt.
216 (6) @(.)@ 217 (8) 218 Mm: Aber viel schlauer bin ich jetzt immer noch nicht.
Was braucht man denn, um zu leben? 219 Fm: Essen. 220 Gw: Schule. 221 Mm: Also was 222 Gw: Essen. Schlafen. 223 Ew: @(.)@ 224 Mm: ne, wenn wir jetzt bei diesem Lernen bleiben. Also
essen, hast du vorhin gesagt, das sind so die Grundbedürfnisse, aber was sagt der Satz denn eigentlich? Also wenn man den jetzt wieder umdreht: Du lernst für das Leben, das klingt ja unheimlich toll. Aber was lernt man denn eigentlich für's Leben?
225 Fm: Die Grundbausteine. 226 Mm: Was sind denn Grundbausteine? 227 Fm: Ja, also, äh, wie ä-wie rechnet man nen Bruch aus?
Wie rechnet man geteilt? Wie rechnet man minus, und so? Das man auf diesen einfachen Sachen äh |schwierigere|
228 Gw: |Sachen aufeinander aufbaut| 229 Fm: ja- Formeln und so
aufbauen kann. Zum Beispiel die Zahl Pi ausrechnen oder so.
230 Gw: Mh. 231 Fm: Ja das ist zwar sehr hoch gegriffen, aber 232 Ew: @(.)@ 233 Fm: äh, ja, hätten die früher das-, die einfachen
Sachen nicht gelernt, könnten se jetz ja sauschwere Sachen nicht.
234 (6) 235 Gw: [räuspern] Lesen. 236 (4) 237 Aw: Ja. 238 Fm Oder der Satz soll heißen, man lernt das ganze
Leben dazu? Man lernt im ganzen Leben. 239 (7) 240 Gw: Tja. 241 (6) 242 Aw: Ich denk auch, wenn man jetzt inner Schule
irgendwas lernt, vielleicht in 20 Jahren, vielleicht erinnerst du dich dann wieder dran und das hilft dir dann in ner bestimmten Situation. Was du da vielleicht mal gelernt hast.
243 Cm: Wer weiß'n noch was man vor 20 Jahren gelernt hat? 244 [@-@]
197
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
245 Cm: Wer weiß- |wer weiß was no-,| 246 Aw: |Ja wenn das dir so| im Gedächtnis
geblieben ist? 247 Bm: |So leicht ist das nicht.| 248 Cm: vor zwei Jahren gelernt hat? 249 Aw: So wichtig ist? 250 Bm: Du trinkst wohl Alkohol und Alkohol zerstört deine
Gehirnzellen, also- 251 Aw: Ja. 252 Bm: dann weißt du nicht, vor 20 Jahren, oh, das hab ich
ja noch gelernt. 253 Ew: @Ich glaub nicht, dass man soviel@ trinkt, dass man
sowas nicht mehr weiß. Dann vergisst du ja die ersten Jahre deines |Lebens, also -|
254 Bm: |Dann komm mal zu mir, wirste sehen, wie viel ich trinke|
255 Ew: -das wär n bisschen hoch gegriffen würd ich sagen.
256 Bm: Na (.) klar. 257 Ew: Den Satz kann man immer so n bisschen-, wenn ich
in-ner Schule sitze, würd ich eher sagen, ja, nicht für das Leben, sondern für die Schule lern ich und wenn ich dann jetzt hier so sitze und darüber diskutiere, dann denk ich eher, dass es-, dass ich für das Leben lerne und |nicht für die Schule.|
258 Bm: |Ich lern das für das| Leben weil ich brauch gute Noten, ich brauch gute Arbeit und ich brauch Geld. Und das heißt-, Geld regiert die Welt und das wars. Fertig. Wenn du in der Schule lernst, hast gute Noten, hast gute Arbeit, hast Geld. Fertig. |Das ist doch gut zu wissen|
259 Ew: |Ja deswegen| sind das so Grundbausteine, die man haben muss, und man lernt ja-
260 Bm: Ohne gute Arbeit und nix kannste nich überleben. 261 Ew: Man lernt zwar für die Schule aber somit auch fürs
Leben. 262 Bm: Also ist der Satz (.) auch so richtig. 263 Ew: Ja. 264 Dw: Also eigentlich find das-das, wenn der alleine so
stehen würde, das der eher unvollständig ist. 265 (3) 266 Also von dem, was wir gerade so diskutiert haben
und 267 Gw: Beide zusammen 268 Dw: Ja. 269 Gw: Beide sind |wichtig.| 270 Dw: |Du musst| die irgendwie beide ((...)). 271 Gw: Beide gehören zusammen. 272 Fm: Oder beide sind falsch. Richtig und falsch
eigentlich. [Husten] 273 Aw: In manchen Situationen ist der eine richtig und mal
ist der andere richtig. 274 Gw: Ja. 275 Ew: Das kann man sich dann so zurecht legen, wie's
einem grade geht. 276 (7)
198
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Formulierende Interpretation35
129-275 OT: Lernen für die Schule und/oder für das Leben
129-137 Präsentation Grundreiz
138 Bm stimmt der geläufigen Version des Satzes zu.
139 UT: Lernen und Zukunft
Erst gegen Ende der Schullaufbahn denkt Aw, dass sie nicht nur
punktuell für das Weiterkommen lernt, wie das in akuten schulischen
Situationen der Fall ist, sondern für sich selbst und ihre Zukunft.
140 UT: Lernen für aktuelle Anforderungen
Fm lernt lediglich den Unterrichtsstoff für die nächste Klassenarbeit,
und „löscht“ dann alle Daten, um „Platz“ für Neues zu schaffen.
141 UT: Bedeutung von Noten für die Karriere
Die faktische Niederschlagung des Lernfortschritts in Form skalierter
Noten ist wichtig für das berufliche Fortkommen, was ja auch das
Leben ist.
142-147 UT: Lernen als Selbstzweck/ „Selbstbefriedigung“
142 Mehr Wissen führt zu dem guten Gefühl, ich kann was.
143 Letztlich sei dies jedoch mehr für die Schule.
144 Es gibt Sachen, die lernt man nur für die Schule, manches muss man
für später wissen, schlägt es sich in Noten nieder, ist es wichtig für das
spätere (!) Leben.
147 Bm stimmt den beiden Sätzen zu.
149-164 UT: Lernen für den Beruf
149-159 Unterrichtsfächer sollten speziell auf den späteren Beruf hin
ausgewählt werden. Frage nach dem Sinn anderer Fächer.
163-164 Gute Noten sind insgesamt wichtig für den Beruf.
167-171 UT: Selbstzweck des Lernens
Zweckfreies Lernen ist gut für das eigene Gefühl, oder – wie Gw sagt
- trägt zum Allgemeinwissen bei, und ist wahrscheinlich zukünftig
irrelevant.
35 Die Abkürzungen OT und UT stehen für Oberthema und Unterthema.
199
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
172-206 UT: Relevanz von Inhalten in der persönlichen Zukunft
172 immanente Nachfrage von Mm: Was brauchst Du für später?
173-199 Hauptfächer vs. musisch orientierte Nebenfächer und Sport oder
Technik.
200 Nicht alle Inhalte sind arbeitsmarktrelevant.
201 ...und dementsprechend sinnlos.
202-206 Breite Grundqualifikation ist nötig, damit eine zeitlich spätere
Berufsentscheidung möglich wird.
212-237 UT: Das Wissensgebäude
212-217 Einzelne Wissensbestände bauen aufeinander auf.
218 imm. Nachfrage – Was braucht man, um zu leben?
219-223 Menschliche Grundbedürfnisse müssen befriedigt werden.
225-237 Grundbausteine des Wissens
238-257 UT: Lebenslanger Lernprozess
238 lebenslanges Dazu-Lernen als Lebenslanges Lernen
239-241 Bestätigung von Gw
242-257 Bedeutung des schulischen Lernens kann sich nur in der Retrospektive
erklären lassen (Perspektivenwechsel).
258-275 UT: Das Leben ist die berufliche Existenz
258 Für das Leben, das sich über die Arbeit definiert, braucht man gute
Noten.
261-263 Somit erwirbt man durch das „Lernen für die Schule“ einen
dauerhaften Effekt für das Leben (Die Noten wirken sich auf die
Arbeitssuche aus).
264-275 Beide Sätze des Grundreizes gehören zusammen, ein richtig oder
falsch zu bestimmen ist in der Eindeutigkeit nicht möglich
Reflektierende Interpretation
In Bezug auf die Diskursorganisation insgesamt fällt auf, dass die Selbstläufigkeit der
Diskussion in dieser Gruppe über viele und lange Passagen weitestgehend gegeben ist.
In der Diskussion über den Grundreiz werden unterschiedliche Themenfelder sehr
200
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
präsent, die auch im späteren Diskursverlauf immer wieder aufgegriffen werden. So
führt beispielsweise die Diskussion über die Notwendigkeit des schulischen Lernens
dahin, sich über die Entwicklung einer Perspektive im späteren Leben in beruflicher
und privater Hinsicht auszutauschen. Einige dieser Themen werden auch von den
anderen Gruppen in ähnlicher Weise expliziert, so z.B. die Frage nach der Bedeutung
von Schulabschlüssen und formalen Zeugnissen (vgl. Gruppendiskussion Meer,
Textsequenz 2: Eintrittskarte für’s Leben, Kap. 6.4.2, S. 322).
129-275
Lernen erscheint hier insgesamt eher in der Interpretation der Aneignung von
Informationen (schulisch geprägter Lernbegriff), die zu Wissen verdichtet werden
können. Insgesamt überwiegt jedoch der Eindruck, dass genau dies allerdings
zumindest in der Schule oder durch den schulischen Unterricht nicht erfolgt. Mehrfach
wird die Frage nach der Verwertbarkeit von Informationen für den späteren
(beruflichen) Lebensalltag gestellt und damit implizit konkrete, handlungsrelevante
Informationen im Lehr-Vermittlungssystem eingefordert.
129-137
Spontan wird die Negation des Grundreizes durch Gw vervollständigt (Proposition).
Dabei führt sie eine neue, alltagssprachlich wahrscheinlich bekanntere Version des
Grundreizes ein: Man lerne nicht für die Schule, auch nicht für das Leben, sondern für
sich selbst. Diese Lesart des Grundreizes findet sich auch in der Gruppendiskussion
Feld und wird dort intensiv interpretiert (vgl. Transkript Gruppendiskussion Feld, Qm
504).
138
Validierung des Gegenhorizontes durch Bm.
139
Elaboration der Negation des Grundreizes (Gegenhorizont) durch eine
Differenzierung auf der Zeitachse. Während Aw früher und in aktuellen
Schulsituationen punktuell für den Leistungserfolg gelernt hat, denkt sie am Ende
ihrer schulischen Laufbahn, dass sie eher für sich selbst lernt. Dabei wird das „Selbst“
zunächst nicht weiter expliziert und damit nicht deutlich, was sie darunter versteht.
140
Elaboration des Grundreizes in Form einer Exemplifizierung durch Fm. Lernen ist
für ihn das Anhäufen von Informationen, die nach Gebrauch wieder gelöscht werden
müssen, wie auf einer Festplatte, um Platz für Neues zu schaffen. Implizit äußert Fm
201
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
damit, dass seiner Meinung nach das Gehirn nur eine begrenzte Aufnahmekapazität
für Informationen hat.
141
Elaboration durch antithetische Differenzierung bei Gw, da nicht das Lernen wichtig
ist für das Leben, sondern die Noten, die quasi als Resultat des Lernens für die Schule
einen Gebrauchswert für späteres berufliches Weiterkommen darstellen.
Dementsprechend ist nicht das durch das Lernen erworbene Wissen relevant, sondern
lediglich die Skalierung der Wissensvorräte in ein Notensystem. Erstmals erscheint
eine Annäherung an die Figur Arbeit = Leben, an dieser Stelle zwar noch moderat, da
die Arbeit als auch zum Leben gehörend kategorisiert wird. Dementsprechend ist da
auch noch etwas anderes.
142
Opposition von Aw, die die Bedeutung des Lernens für die eigene Gefühlslage
thematisiert. Mehr zu wissen bedeutet demnach für Aw eine Steigerung des
Selbstwertgefühls, Selbstbestätigung und eigene Anerkennung: Ich kann etwas. Ihre
Anerkennung resultiert aus der Gewissheit über die eigene Leistung. In der Äußerung:
„Du weißt, du hast was, noch mehr im Kopf“ wird deutlich, dass ihr Referenzsystem
für Anerkennung das eigene Selbst ist und dies einem hypothetischen Gegenüber
entgegengestellt werden kann. Interessant ist vor allem die Konsistenz dieses
Orientierungsrahmes „Selbstbewusstsein und Selbstverantwortung“ auch an anderen
Stellen der Gruppendiskussion (vgl. Transkript Gruppendiskussion Boden 1052-1082)
für Aw.
143
Antithese durch Gw, die augenscheinlich die Äußerungen von Aw nicht
nachvollziehen kann und daran anknüpft, dass man mehr im Kopf habe, aber dies nur
im Kontext für Schule interessant ist. Sie kommt nicht auf die Idee, dass in der Schule
erworbenes Wissens eine Relevanz für ihren Alltag haben kann.
144
Validierung Dw: Viele schulische Inhalte haben keinen konkreten
Verwertungszusammenhang und damit keine Relevanz für aktuelle Lebensvollzüge.
Das Problem der unterschiedlichen Diskursebenen, bzw. Referenzsysteme wird
deutlich, indem sie sich wiederum auf die Leistungsskalierung bezieht und die
Anerkennungsthematik von Aw nicht weiter aufgreift. Während Aw aus dem
Lernerfolg Anerkennung und Wertschätzung ihrer Person bezieht – die unabhängig
202
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
vom thematischen Inhalt des Lernens sein kann – erhalten bei Dw die Inhalte nur auf
einer formalen Ebene eine Bedeutung, nämlich über die Notenvergabe.
Die unterschiedlichen Referenzsysteme sind darüber hinaus auch durch eine
unterschiedliche temporäre Perspektive gekennzeichnet (Hier und Jetzt in
Selbstreferentialität, d.h. in der aktuellen Frage nach Anerkennung und die Prognose
der Zukunft in Fremdreferentialität, die Anerkennung durch die Integration in den
ersten Arbeitsmarkt sucht).
Versuch einer ersten Konklusion (= rituelle Konklusion, das wird noch genauer
herauszuarbeiten sein, bzw. sich erst in der Gesamtperspektive eröffnen): Kein Satz ist
richtig.
147
Bestätigung der Konklusion durch Bm in Form einer Negation: Beide Sätze sind
richtig. Auf der performativen Gesprächsebene (Beziehungsebene) geht es auch bei
Bm um die Anerkennungsthematik, allerdings in einer anderen Aktualität: Es scheint –
an mehreren Stellen in der Diskussion so – als ob Bm in der konkreten Gruppe nach
Anerkennung sucht. Auffällig in diese Richtung weist der Umstand, dass er sich
oftmals widersprüchlich verhält und sich augenscheinlich der Gruppenmeinung
anpasst. Wenn er an einer Stelle noch eine ganz klare Meinung vertreten hat, so fällt
das argumentative Gerüst in sich zusammen, wenn er Gegenargumente zu hören
bekommt und er endet dann zumeist in einer „rituellen“ Konklusion der harmonischen
Beendigung des Diskurses.
149-159
Anschlussproposition von Bm in Form einer das Orientierungsmuster Arbeits- und
Berufswelt elaborierenden Darstellung. Am konkreten Beispiel von Ew versucht er zu
verdeutlichen, dass man den Fächerkanon auf seine Verwertbarkeit für den
ausgesuchten, späteren Beruf hin überprüfen müsse.
Antithetische Differenzierung, wobei der Inhalt nur implizit aus dem Kontext heraus
klar wird. Ew will darauf verweisen, dass man noch mehr brauche, als nur unmittelbar
relevante Schulfächer zur Ausübung einer bestimmten Tätigkeit.
Rückfrage Bm, Irritation bezüglich der anderen Unterrichtsfächer.
163-164
Exemplifizierung Ew: Auflösung der antithetischen Differenzierung und Subsumption
der „nicht konkret verwertbaren“ Unterrichtsfächer unter die Notenlogik des
203
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Gesamtbildes: Das Gesamt der Noten ist ausschlaggebend für berufliches
Weiterkommen.
Antithese Bm: Er drückt aus, dass nicht unbedingt die Leistung in den anderen
Fächern ausschlaggebend für seine Argumentation ist, sondern das Problem, dass er
sich nicht alles merken kann. Hier wird seine Argumentation wiederum diffus:
Einerseits plädiert er zunächst für die Abschaffung derjenigen Fächer, die keinen
konkreten Verwertungszusammenhang für den später angestrebten Beruf aufweisen,
andererseits fällt diese Argumentation bei Gegenrede zusammen und er reagiert auf
einen völlig anderen Aspekt und „glättet die Wogen der Auseinandersetzung“ durch
eine Art Kompromiss auf der Beziehungsebene.
167-171
Antithetische Differenzierung von Aw, die sich sowohl zur Verwertbarkeitsthematik
von Bm als auch zur Thematik des Relevanzsystems „Noten“ von Ew durch
Insistierung auf dem Relevanzsystem „Selbst“ bzw. eigene Anerkennung durch
Vergewisserung der eigenen Leistungsfähigkeit bezieht und die Proposition von Bm
weiter ausführt.
Antithese Gw: Bezug auf das Allgemeinwissen, doch auch das (auch bezeichnet als
Allgemeinbildung) wird jedoch der Verwertbarkeitsthematik untergeordnet
(wohingegen gerade beim Allgemeinwissen die Bewertungsgröße Verwertbarkeit
nicht angemessen erscheint).
Validierung von Aw – längere Pause, die auf die Schwierigkeit der Gruppendiskussion
verweist, da sich die TN auf unterschiedlichen Ebenen bewegen und scheinbar „im
Kreis drehen“
172
Immanente Nachfrage von Mm durch Aufgreifen des Themas, was „für später“
gebraucht wird. Die Gleichsetzung des „Lebens“ mit „späteres Leben“ erfolgte durch
die Teilnehmer und dokumentiert das Verständnis schulischen Lernens. Schulisches
Lernen wird im Kontext von Verwertbarkeit in der Zukunft im Beruf- und
Arbeitsleben thematisiert, d.h. es wird davon ausgegangen, dass in der Schule
grundsätzlich Dinge gelernt werden, die von zukünftiger Bedeutung sein können.
M.a.W. werde in der Schule eine unbestimmte Menge an Wissen erzeugt, die in einer
zeitlich zukünftigen Perspektive verwertbar erscheint.
Interessant ist diese Auffassung vor allem vor dem Hintergrund der Diskussionen über
das theoretische Konstrukt einer Informations- bzw. Wissensgesellschaft (vgl. Scherr
2002, Stehr 1999, 2000, 2001, Arens 2002), in der das Wissen, bzw. die Information
204
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
von einem hohen „Obsoleszenztempo“ – Verfallsgeschwindigkeit (vgl. Mertens 1974)
- gekennzeichnet ist.
Interessant ist, dass Gw spontan keine Antwort geben kann und ihre Ratlosigkeit auch
so exploriert.
173-199
Spontane Proposition von Bm: Wesentlich sind nur die Hauptfächer Deutsch,
Englisch, Mathe: Nur so genannte Hauptfächer entfalten Relevanz für beruflichen
Alltag, worin sich z.B. auch niederschlägt, dass die willkürliche Aufteilung in Haupt-
und Nebenfächer von Bm unhinterfragt bleibt und übernommen wird. Diese
Proposition hatte sich implizit schon als Anschlussproposition angedeutet (423-435),
m.a.W. ist es für die eigene Orientierung unhintergehbar nötig, mit abstakten
mathematischen Größen umgehen zu können und die Sprache zu beherrschen, wobei
nicht nur die Bedeutung der deutschen, sondern auch der englischen Sprache
thematisiert wird, da weil Englisch als internationale Sprache zunehmende Bedeutung
erfährt.
Opposition Aw, die sich gegen diese Reduzierung schulischen Lernens auf wenige
existentielle Fächer wehrt und auf die Bedeutung anderer Lernbereiche und Lernfelder
aufmerksam macht.
Dm validiert die Proposition durch die ergänzende Aufzählung von Nebenfächern,
dessen Sinn sie in Frage stellt.
Validierung Ew: Sie schließt sich dieser Proposition durch die Aufzählung weiterer in
der Perspektive der Jugendlichen unnützer Fächer an und führt aus, dass diese Fächer
für sie lediglich die Funktion der Entspannung und Muße im schulischen Alltag
übernehmen.
Opposition von Aw: Sie stimmt dieser Auffassung nicht zu und baut wiederum einen
Gegenhorizont auf, den sie selbst ab 476 exemplifiziert. Die Bedeutung des
Musizierens liege demnach nicht im Erlernen eines Musikinstrumentes oder eines
Liedes, sondern dadurch würden im Gehirn Prozesse ausgelöst werden, die
horizonterweiternd wirken könnten. Aw dokumentiert in dieser Äußerung eine
implizite Ahnung davon, dass Lernen über die reine Aneignung von Wissen
hinausgehen kann. Wesentlich erscheint für sie der eigene Antrieb für den Vollzug der
Handlung (das Musizieren) zu sein – es liegt eine intrinsische Lern-, bzw.
Handlungsmotivation vor, die – von Aw sehr metaphorisch ausgedrückt – neue
Bereiche, weiterführende Welten ansprechen kann und zu mehr „Freiheit im Denken“
führen kann (Hinweis auf „Bildung“?).
205
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Dw formuliert in Form einer Antithese, dass eine solche Form des Umgangs mit
Musik nur selten im schulischen Musikunterricht vermittelt werde, sondern dort
vielmehr das Faktenwissen, z.B. „über Bach und so“ im Vordergrund stehe.
Validierung durch Aw, die jedoch überleitet in eine Antithese, da auch das
Faktenwissen in der Musik zum Allgemeinwissen gehöre, das unter dem
Verwertungsaspekt nicht beurteilt werden könne.
An dieser Antithese wird deutlich, dass die Teilnehmer nicht nur in ihren
Wortbeiträgen auf unterschiedliche Referenzsysteme (z.B. Verwertung der Inhalte im
späteren Leben vs. Zugewinn an Anerkennung und Selbstbewusstsein durch Wissen)
rekurrieren, sondern sich darüber hinaus auf unterschiedlichen Reflexionsniveaus
bewegen.
Dw versteht z.B. nicht, was der in den Ausführungen von Aw enthaltene Sinn sein
könnte, sondern sieht die Qualität von Wissen und Lernen in einem extrinsischen, von
außen motivierten Verwertungsgedanken.
Versuch einer Konklusion durch Gw, die allerdings wiederum den Charakter einer
rituellen Konklusion aufweist, da die Gesprächssituation zwischen Aw und den
anderen Beteiligten sich zuzuspitzen scheint. Wie auch Dw in 420 versucht sie, den
Diskurs zusammen zu fassen und zu beenden durch die Worte „irgendwann kann
mans immer gebrauchen“. Alles ist verwertbar – irgendwo, irgendwann.
200
Aw übergeht diese Konklusion und leitet über in eine Opposition zum Gedanken der
Job-Verwertbarkeit von Wissen. Damit manifestiert sie ihr Orientierungsmuster:
Insbesondere im schulischen Lernen geht es nicht ausschließlich um die Frage einer
linearen Verwendbarkeit des angeeigneten Wissens, sondern darüber hinaus auch um
die Entwicklung von Haltungen, Fertigkeiten und Kompetenzen. Sie bringt so zum
Ausdruck, dass „Lernen“ nicht nur auf die Funktion von Wissens-, bzw.
Informationsaufnahme, die zu einem späteren Zeitpunkt nutzbringend wieder
abgerufen werden kann, reduziert werden darf.
201
Bm drückt – ähnlich wie Dw – sein Unverständnis für den Gedankengang in Form
einer oppositionellen Frage aus.
202-206
Antithese von Ew zur Proposition von Aw – sie unterstützt die Proposition,
differenziert sie jedoch nach der Bedeutung einer breiten Grundqualifikation in bezug
206
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
auf die eigene Berufswahlentscheidung, die erst am Ende der Schulkarriere stehe und
somit vielseitiges Wissen voraussetze. Wiederum werden die unterschiedlichen Foki
zur Beurteilung der Situation deutlich.
212-217
Proposition Ew: Eine große Offenheit bezüglich der unterschiedlichen
unterrichtlichen Inhalte ist nötig, da alle Inhalte miteinander verbunden sind und
aufeinander aufbauen.
Validierung Dw: Sie wiederholt einfach einen Satz von Ew.
Exemplifizierung Ew: Am Beispiel der Mathematik versucht sie, das „aufeinander
Aufbauen“ näher auszuführen. Darauf hin folgt in der Diskussion eine längere Pause,
deren Funktion im Diskursverlauf nicht eindeutig zu sein scheint. Einerseits wird die
Pause eingeleitet mit einem kurzen Auflachen von Ew, die sich in dieser Sequenz
deutlich an der Diskussion beteiligt und einen Gegenpart von Bm einnimmt, so dass
die Pause in Kombination mit dem Lachen als eine Art Verbindungsaufbau zwischen
Ew und Bm im Sinne einer Konklusion interpretiert werden könnte, andererseits ist
die Pause doch so lang, dass sie das Ende einer Diskussionssequenz markiert. Bm
scheint an dieser Stelle keine weiteren Äußerungen zu diesem Thema vornehmen zu
wollen – das zeigt sich vor allem in der flankierten Auswertung des visuellen
Datenmaterials in dieser Sequenz. Es wirkt, als habe Bm der Argumentation von Ew
zunächst nichts adäquates entgegenzusetzen und – wahrscheinlich weil er noch nicht
zustimmen kann oder möchte – wählt er als eine Reaktionsmöglichkeit das
Schweigen.
218
Mm formuliert mit dieser immanenten Nachfrage – das Leben als Thema wurde
bereits im Grundreiz eingeführt und von den TN aufgegriffen als zeitlich auf die
Schulzeit und das Aufwachsen folgende Lebensphase – eine Anknüpfung an den
Grundreiz, um nach der langen Pause die Gruppe wieder zurück in eine Diskussion zu
führen, die sich an dieser Stelle dramaturgisch zum Erliegen gekommen ist.
219-223
Fm und Gw formulieren menschliche Grundbedürfnisse, die zum Leben unabdingbar
benötigt werden.
225-237
Arbeitsteilig fassen die Teilnehmer Fm, Gw, Ew noch einmal die Diskussion in
anderen Worten zusammen: Zum Leben benötigt werden die Grundkenntnisse, die im
207
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
schulischen Alltag vermittelt werden – Sprachkompetenz und mathematische
Kompetenz, die in ihrer Vermittlung hierarchisch organisiert sind. Dadurch wird die
inhaltliche Uneindeutigkeit der Teilnehmer noch einmal evident: Während sie sich
nicht eindeutig der Aussage von Bm, nur die Hauptfächer seien wichtig,
anzuschließen vermögen, gelingt ihnen noch keine schlüssige Argumentation, warum
auch noch andere Bereiche des Lernens wichtig für das eigene Leben sein können. Es
scheint also, als haben sie eine diffuse Vorstellung davon, was die pädagogische
Umkehrung des Grundreizes auszusagen vermag, sind jedoch (noch) nicht in der
Lage, dies auch verbal zu explizieren.
238
Proposition durch Fm: Der Satz verweist auf die Frage nach der Existenz
lebenslangen Lernens in der Lebensgeschichte des Einzelnen und seiner Bedeutung
für die individuelle Entwicklung. Völlig aus dem Zusammenhang gerissen wirkt diese
Äußerung wie eine Art Gedankenblitz von Fm, der nicht weiter von den anderen
aufgegriffen wird. In eine Frage gekleidet steckt darin die Vermutung, dass man im
ganzen Leben lernen könne und womit er somit auch auf die Möglichkeit nicht-
schulischen Lernens und auch nicht-institutionellen Lernens verweist und
Anschlussmöglichkeiten für weitere Diskussionen über Lernorte eröffnet.
239-241
Die langen Pausen und das explizierte „Tja“ von Gw drücken die Ratlosigkeit der TN
aus. Auf die Proposition von Fm erfolgt zunächst keine weitere Reaktion zunächst der
anderen Diskussionsteilnehmer.
242-257
Proposition Aw: Die Bedeutung schulischen Lernens lässt sich nur in der
Retrospektive und nicht in der Prognose des Lebens klären. Damit wird der
Perspektivwechsel deutlich: Während es bisher darum ging, zu klären, wozu etwas gut
sein sollte und die Prognose einer zukünftigen Lebenssituation und die Verwertbarkeit
schulisch erworbenen Wissens thematisiert wurde, wird nun eine reflexive Sichtweise
eingenommen und das Erlernte vor dieser Frage überprüft. Dabei wird allerdings auch
in dieser Sichtweite die Zukunft als aktueller Status für die Reflexion angeführt, die
zunächst auch sehr hypothetischen Charakter hat. Es deutet sich an dieser Stelle ein
Wechsel von Um-Zu Motiven zu Weil-Motiven an (vgl. Bohnsack 2003, 145, weitere
Ausführungen dazu in der Interpretation der Gruppendiskussion Feld, Textsequenz 1 –
Grundreiz, Kap. 6.3.1, S. 263, Kap. 7.6, S. 400), der allerdings aufgrund der
Prognostizität der Diskussion nicht expliziert werden kann. Es scheint, als befänden
sich die Teilnehmer in einem schweren Dilemma: Sie wollen die Nützlichkeit und
208
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Verwertbarkeit von Wissen prüfen, ohne die Situation kennen oder vorwegnehmen zu
können, aufgrund derer Wissen benötigt wird.
In diesem Zusammenhang – auch auf den Einwurf von Bm hin – entwickelt sich eine
thematische Nebendiskussion zwischen Bm, Ew, Aw und Cm: Es geht darum zu
erörtern, ob und wenn ja wie lange schulische Lerninhalte erinnert werden können,
bzw. ob sich durch exzessiven Alkoholgenuss, wie ihn Bm für sich reklamiert und
damit erstmalig in der Diskussion andeutet, dass er intensiveren Kontakt zum Thema
Sucht hat, das Gehirn dergestalt deformiert, dass sie nicht mehr erinnert werden
können.
Validierung zur Proposition von Fm durch Ew: Angeregt durch die Äußerungen von
Bm bezieht sie „Lernen“ nicht mehr nur noch auf den schulischen Alltag, sondern
auch auf die Fähigkeiten, die in der frühen Kindheit erworben werden („Dann vergisst
du ja die ersten Jahre deines Lebens“) und validiert damit – möglicherweise sogar
unbewusst – die Proposition von Fm, in der er auf die Bedeutung lebenslangen
formellen und informellen Lernens für die individuelle Entwicklung Bezug
genommen hat.
Exemplifizierung von Ew: Sie differenziert ihre Überlegungen und reflektiert offen vor
der Gruppe, dass sie im Kontext Schule davon ausgeht, nur für die Schule zu lernen, in
der aktuellen Reflexion in der Gruppendiskussion allerdings sich ihr Blick verändert
und sie für das Leben zu lernen glaubt.
258
Konklusion durch Bm. Er fasst seine (!) Gedanken zum Thema, zu seinem
Orientierungsrahmen so zusammen, dass – wie Ew es ausdrückt – sich das Lernen für
die Schule in den entsprechenden Noten niederschlägt, die dann linear für eine
Integration in den Arbeitsmarkt stehen. Vorrangiger Effekt dieser Integration ist die
Erwirtschaftung von Geld, die als primäres Ziel angesehen werden kann. Wer Geld
hat, kann sich alles erlauben und alles kaufen. „Geld regiert die Welt“.
Dabei stellt die (gute) Arbeit die existentielle Überlebensgrundlage dar, ohne die ein
Leben nicht möglich erscheint. Problematisch wird es dann werden, wenn das
Orientierungsmuster von Bm in der Realität nicht aufgeht: So wird u.a. von Galuske
(2001) die These aufgestellt, dass schulische Leistungen mittlerweile nicht mehr über
eine Integration in den Arbeitsmarkt entscheiden, sondern nur noch über die
Ausgangsposition insgesamt für die Möglichkeit der Integration. Zur Integration selbst
sind andere Faktoren, wie Schulform und Bewerbermenge, ausschlaggebend (vgl.
Galuske 1998a, 540, Kap. 2.6.1, S. 46).
209
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
261-263
Durch das Lernen in der Schule für die Schule ergeben sich Noten, die dann wiederum
für das (Arbeits-)Leben Bedeutung erlangen und für die Integration in den ersten
Arbeitsmarkt wichtig sind.
264-275
(rituelle ?) Konklusion durch Dw, oder antithetische Differenzierung der Konklusion
durch Dw: Beide sind richtig – gehören in dieser Lesart zusammengelegt (vgl. 420).
In der Abschlusssequenz dieser Textstelle einigen sich die Diskussionsteilnehmer auf
eine Art Kompromiss. Man könne nicht sagen, welche Aussage des Grundreizes nun
eigentlich die richtige sei, da je nach Lesart und aktueller Situation, in der sich der
Lernende befinde, der Satz so oder so richtig sei. Interessant ist dabei, dass Gw
zunächst nicht davon spricht, dass beide „richtig“ seien, sondern beide „wichtig“ seien
und zusammen gehörten. Diese von Bm, Ew und Gw eingeleitete Konklusion
verdeutlicht die große Bereitschaft im Diskussionsprozess einen Konsens zwischen
den unterschiedlichen Auffassungen herzustellen. Insofern kohärent ist dann die
Konklusion von Ew, man könne das dann so auslegen, wie’s einem gerade so passe.
Diese ausgeprägte Bereitschaft zur Konsensfindung bei divergierenden Aussagen
könnte auf der Metaebene auch ein Indiz dafür sein, dass es den Teilnehmern um die
Synthese verschiedener, sich zunächst ausschließender Auffassungen oder Meinungen
geht. Auffällig ist die hohe Diskursbereitschaft, der intensive Bezug der Redebeiträge
aufeinander und die grundlegende Offenheit, sich die anderen Auffassungen
anzuhören. Folgt man den weiteren Interpretationen, so wird deutlich, das in diesem
Verhalten eine grundsätzliche Offenheit für unterschiedliche Orientierungen zu liegen
scheint, die diskutiert wird und dann einer Synthese zugeführt werden soll.
210
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
6.2.2 Textsequenz 2 : Beibringen oder Lernen (481-510)
Auszug aus dem Transkript 481 Mm: Und was macht ihr hier? [@-@] Also, was passiert
hier eigentlich? 482 Gw: Wir lernen-, 483 Mm: Ist das was zum Lernen hier oder ist das was zum
Dasein, Spaß haben irgendwas oder 484 Fm: Ja beides, lernen ruhiger zu werden. 485 Bm: Ja, irgendwie das man was anderes machen kann, als
nur Scheiße. Also die meisten, die hier sitzen, halt, die nicht hier freiwillig sind, hier, die weißt du wie ich jetzt zum Beispiel, pass auf, ich hab n Hobby oder so, oder ich mach das Seilspringen, oder diese Kacke da? Nein. Also wolln die uns beibringen, was anderes machen. Nicht da immer auf-, irgendwo sitzen dann, sich besaufen oder bekiffen. Und was anderes gemacht-
486 Ew: Man lernt auch hier bei dem Klettern hat man das auch sehr doll gemerkt oder bei der Seilbrücke, einfach mit Leuten zusammen zu arbeiten. Nich alles alleine zu machen
487 Fm: Auch Vertrauen. 488 Ew: Ja und zu vertrauen, ja. 489 Fm: Ganz wichtig. 490 Ew: Ja. 491 Dw: Das Klettern hätt ohne Vertrauen ja wohl nicht
gehen können. 492 Ew: Klar, nee, auf keinen Fall, 493 Dw: Wenn du Angst gehabt hättest, boah der lässt mich
los oder so, dann 494 Fm: Ja und auch- 495 Ew: Dann wär ich da ganz bestimmt
nicht hoch gegangen. 496 Fm: -zu helfen, anderen zu helfen. 497 Dw: Ja, da wir ja auch mithelfen mussten zu sichern und
sowas. 498 Fm: Und Kisten an zu geben. 499 Ew: Und Kisten an zu geben und solche Kleinigkeiten.
Das ist ja alles mit was verbunden, oh. 500 Fm: Was der alleine gar nicht schaffen könnte. 501 Ew: Ja. Das hat ja alles n Sinn, auch die Seilbrücke,
äh, dass für mich, also ich hab das so verstanden, dass das einfach sein sollte, dass alle zusammen arbeiten, dass wir uns vielleicht auch noch n bisschen näher kennen lernen und dass man halt nicht immer alles alleine machen kann.
502 Fm: Dass man nicht immer in einer kleinen Gruppe ist, sondern dass man mit allen hier mal was macht.
503 Dw: Jau. 504 Cm: Ja, und dass man als Team stärker ist. 505 Fm: Jey. 506 Ew: In solchen Situationen halt, dass (.) hat ja nicht
alles-, nur weil wir unsere Zeit vertreiben wollen hier, dass wir da so ne kleine Seilbrücke übern Fluss bauen, dass hat ja alles auch seinen Sinn, dass man solche Kleinigkeiten dann begreift und wieder mitnimmt. Weil an solche lustigen Sa-, das ist ja noch mit was Lustigem verbunden, das Klettern erinnert mich-, man sich ja auch noch,
211
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
weil das Spaß gemacht hat, aber dann denkt man im Nachhinein auch wieder daran, dass das einfach nicht ge-, gegangen wäre, wenn wir-, wenn ich da alleine alles machen hätte müssen.
507 Aw: Diese Erfahrungen kann man ja auf andere Lebenssituationen übertragen.
508 Ew: Ja. Und das macht man dann auch wenn man so was erlebt hat, denk ich auch irgendwie schon n bisschen automatisch. Das man denkt, aha, ich kann das jetzt nicht alleine, jetzt brauch ich andere Leute, und dass die das dann auch wieder begreifen und so ist das so ne kleine Kettenreaktion. Und das ist wichtig, was man hier lernt, find ich.@(.)@
509 Dw: Ich bin eigentlich auch eher so der Einzelgänger, der eigentlich gar keine Hilfe will, also der lieber so alleine irgendwas fertig bringen will, so, ah, ich schaff das schon oder so. Aber im Endeffekt geht dann das meiste schief. Also ich musste das hier auch erst mal so lernen, wirklich mit anderen zusammen zu arbeiten und nicht alles versuchen, alleine hin zu bekommen. Das war auch ein Grund, warum meine Eltern ganz speziell dafür warn.
510 Bm: Man braucht immer Hilfe. Wie Sie auch. Sie brauchen jetzt auch Hilfe. Für ihre Arbeit, brauchen sie auch Hilfe. Man braucht immer Hilfe.
Kontext und Auswahl der Textstelle
Diese Textsequenz knüpft an die Überlegungen der Teilnehmer an (423-481), welche
Themen und Inhalte für das eigene Leben eine Bedeutung erlangen und was im Leben
alles gelernt werden kann, bzw. welche Wissensvorräte sie sich aneignen und welche
Kompetenzen sie für ihren weiteren Lebensverlauf entwickeln müssen. Diese
Thematisierung unterschiedlicher Felder und ihre entsprechenden Argumentationen
scheint an dieser Stelle zum Erliegen zu kommen: Die Gesprächsatmosphäre wird
etwas schwerfällig, das Diskussionstempo verlangsamt sich merklich und Fm beendet
diese Phase mit den Worten „Jetzt ist die Frage aber beantwortet“
(476).
Diese Aussage, die deutlich als Konklusion interpretiert werden kann, wird von Gw
mit einem kurzen Auflachen kommentiert. Sie schließt lediglich noch die knappe
Frage an, ob er tatsächlich glaube, dass das Thema mit dieser Äußerung bereits
erschöpft sei (479). Aus dem Kontext wird deutlich, dass, da Fm bereits mehrfach
einen Versuch machte, die Diskussion als erschöpft zu erklären und ein neues Thema
zu beginnen, es sich bei der Nachfrage um eine rhetorische Frage im Sinne eines
ironischen Kommentierens von Gw handelt. Der Moderator reagiert auf diese
Situation mit einer vertiefenden, exmanenten Nachfrage und lenkt die
Aufmerksamkeit dadurch auf die Praxisweisen im Projekt selbst, um die Diskussion
wieder zu beleben (481).
212
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Die Textstelle wurde aufgrund der Auseinandersetzung der Teilnehmer mit den
Praxisweisen im Projekt ausgewählt, da vermutet wurde, dass sie eine hohe inhaltliche
Relevanz in Bezug auf die allgemeine Forschungsfrage der Arbeit aufweisen könnte.
Praxisweisen in dem Projekt
Die Frage danach, was die Jugendlichen eigentlich konkret in diesem Projekt machen
und wie sie diese Aktivitäten beurteilen, knüpft an die Andeutungen in der Textstelle
„Freiwillig hier her kommen?“ (347-384) an, in der von einigen Teilnehmern bereits
erste Hinweise über ihre Einschätzungen bzgl. der Praxisformen der Maßnahme
gegeben haben. In dieser Textsequenz konnte bereits herausgearbeitet werden, dass
einige der Jugendlichen die Phase der Jugendzeit als eine Art Moratorium ansehen, in
der sie über den vielfältigen Kontakt zu anderen Menschen Meinungen und
Weltinterpretationen ausbilden können. Demgegenüber thematisierte vor allem Bm,
dass Menschen in ihrer Disposition festgelegt seien und eine Veränderung wohl kaum
mehr möglich sei.
Dadurch stellt Bm eine Gegenthese zu dem bildungstheoretischen Grundgedanken auf,
dass Menschen grundsätzlich in der Lage sind, die Schemata der Welt- und
Selbstaufordnung zu transformieren. Ein Grund für die Opposition von Bm könnte
darin liegen, dass eine solche Transformation Auseinandersetzung voraussetzt, der er
aufgrund seiner eigenen problematischen Karriere sehr ambivalent gegenübersteht
(vgl. Textsequenz 3: Versager (531-575) , S. 223, und Textsequenz 4 – Drogen (651 –
893), S. 232). Dabei ist umso erstaunlicher, dass gerade Bm die Diskussions- und
Auseinandersetzungsmöglichkeiten im Rahmen der Gruppendiskussion nutzt, um
seine Orientierungsmuster zu explizieren und in diesen Sequenzen verdeutlicht, wie
stark er sich von den Orientierungen der äußeren Welten irritieren und beeinflussen
lässt.
Während es ein zentrales Zugangsmotiv der freiwilligen Teilnehmer (z.B. von Ew) ist,
eine eigene Meinung auszubilden und dazu möglichst viele Erfahrungen mit
Menschen aus unterschiedlichen Milieus zu sammeln und sie die Maßnahme als eine
Chance sehen, ihre Interpretationen von Welt zu modifizieren(vgl. 348; 386 – 399,
Interpretation der Textsequenz 5 – Freiwillige Teilnahme (348 – 386) (vgl. S. 251), ist
es für Bm als nicht-freiwilligen Teilnehmer, der die Maßnahme auf Anordnung eines
Jugendrichters besucht, kaum vorstellbar, dass jemand sich freiwillig dieser Prozesse
unterzieht.
Bm: Ja und warum seid ihr hierhin gekommen? Ich wär hier nie im Leben freiwillig hingekommen. (377)
213
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Als gemeinsame Orientierung sind beide Personengruppen jedoch davon überzeugt,
dass in diesem Projekt solche Auseinandersetzungsprozesse stattfinden können.
So bezieht sich die Nachfrage des Moderators insgesamt auch deutlich auf die
Forschungsfrage des gesamten Untersuchungsprojektes und knüpft an die
Orientierungsmuster der Jugendlichen an, indem sie auf die Thematisierung
unterschiedlicher Praktiken in verschiedenen Institutionen der Jugendsozialarbeit und
die Interpretation dieser Praktiken seitens der Jugendlichen fokussiert ist.
In Form einer offenen Frage formuliert, bietet sie zum einen Anschlussmöglichkeiten
für Erzählungen und Berichte aus der alltäglichen sozialpädagogischen Praxis des
Projektes, zum anderen gewährleistet sie die nötige Offenheit für Antworten
unterschiedlichster Art. Die spontan von Gw (482) geäußerte Proposition, in der sie
die Aktionen des Projektes direkt mit der vorherigen Sequenz über „Lernen“ in einen
Zusammenhang bringt und formuliert „wir lernen...“. Diese Formulierung
verdeutlicht, dass sie die Praxisformen des Projektes direkt in Verbindung mit Lernen
sieht. Es könnte sein, dass die Diskussion des Grundreizes über Schule und Leben so
dominant geworden ist, dass die Assoziation nahe liegend ist, dennoch wäre es eben
auch möglich gewesen, an dieser Stelle anders zu antworten – z.B. in der
Beschreibung des Projektes als Gegenhorizont zu Schule oder Lernen. So
dokumentiert sich in dieser knappen Äußerung von Gw, dass sie das Projekt als
Lernfeld wahrnimmt. Der Moderator erweitert in der folgenden Nachfrage diese These
zu einem Gegensatzpaar, das durch seine provokative Form zur Äußerung anregen
soll, da die Diskussionsteilnehmer implizit zu einer Bewertung der
sozialpädagogischen Praxis geführt werden.
Dabei muss als kritische Reflexion der Moderation herausgestellt werden, dass das
vom Moderator formulierte Gegensatzpaar unglücklich formuliert ist, da es künstlich
und polarisierend ist, bzw. eine starke Suggestion in sich trägt: „Lernen“ versus
„Dasein, Spaß haben“ unterstellt implizit, dass Lernen nicht mit Spaß in Verbindung
gebracht werden kann, bzw. Lernen immer einen aktiven Prozess voraussetzt, also
beim reinen „Dasein“ kein Lernen erfolgen kann. Dies hätte zwar eine kontroverse
Diskussion auslösen können, die Teilnehmer sind dieser Provokation jedoch nicht
gefolgt, so dass auch keine Auseinandersetzung in der Gruppe zu diesem Zeitpunkt
stattfand. Damit scheint zumindest andeutungsweise eine Auffassung über Lernen von
den Teilnehmern deutlich zu werden: Das vermeintlich als Provokation eingeführte
Gegensatzpaar „Lernen vs. Dasein, Spaß haben“ scheint in der gemeinsamen
Erfahrung der Jugendlichen möglicherweise überhaupt nicht provokativ zu sein. Dies
214
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
lässt die Vermutung zu, dass sich in den Auffassungen der Teilnehmer Lernen und
Spaß haben, Dasein tatsächlich auszuschließen scheinen.
Auffällig ist die Diskursorganisation, die einer Aufzählung gleicht, in der immer mehr
einzelne Bausteine, Inhalte oder Lerneffekte scheinbar willkürlich aneinandergereiht
werden. Ebenso ist auch die augenscheinlich geringe Beteiligung von Bm
außergewöhnlich, der nach einer längeren, kritischen Eingangsbemerkung (485) mit
einer Konklusion über Hilfe und Hilfebedürfnisse die Sequenz beendet (510) –
demgegenüber dominiert er in der Diskussion über den Grundreiz (129-276) mit
vielen Redeanteilen.
Orientierung an verschiedenen Welten
Mit dieser Eingangsbemerkung dokumentiert Bm (485) erstmalig die in den folgenden
Interpretationen weiter ausgearbeitete Figur der „Orientierung an Welten“ (vgl.
Gruppendiskussion Meer 345-358; 796-802; Gruppendiskussion Feld 278-283; 1068-
1075;1124-1125; Gruppendiskussion Boden 703-708; 744-748; 379-384) und im
spezifischen Fall von Bm die bei ihm wahrgenommene Inkongruenz zwischen einer
inneren und äußeren Welt.
In Anlehnung an die Untersuchungen über türkische Jugendliche von Bohnsack/Nohl
(vgl. Bohnsack 2002, 131, sh. auch: Bohnsack/Nohl 1998, Nohl 2000), die von
„Sphärenorientierung“ sprechen und damit die Suche nach der Zugehörigkeit zu einem
bestimmten Milieu und habitueller Sicherheit zum Ausdruck bringen, verwende ich in
dieser Arbeit die Begriffe „innere und äußere Welt“ in diesem Kontext analog.
Dabei bezeichnet die „innere Welt“ die familiären und verwandtschaftlichen
Beziehungen der Jugendlichen und ebenso auch die Beziehungen der Jugendlichen in
ihrem primären sozialen Kontext der Clique oder der Peer-Group, die jedoch
außerhalb des Projektes anzusiedeln sind, in dem sie sich aktuell befinden und in
dessen Kontext die Gruppendiskussion stattfand. Die „innere Welt“ bezeichnet damit
die Handlungsroutinen und Interpretationen, die von dem Individuum durch den
Kontakt mit seinem primären sozialen Umfeld inkorporiert wurden und dadurch zu
inneren Überzeugungen geronnen sind, an denen sich das Handeln und die
Interpretation von eigenen und fremden Handlungen orientiert.
Ausgehend von der These der frühen Objektbeziehungen (vgl. Mahler u.a. 1980, Kap.
3.5.4, S. 90) werden die frühen äußeren Einflüsse auf den Menschen in die eigene
Persönlichkeit integriert und erhalten dadurch eine sehr dauerhafte und wirkmächtige
Form. Da die Jugendlichen in der Regel nur eine relativ kurze Zeit in den von mir
215
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
untersuchten Maßnahmen (1 Woche bis 1 Jahr) erschien es nahe liegend, die
inkorporierten Handlungsmuster der Jugendlichen als innere Welt und die
Handlungsroutinen und transportierten Orientierungsmuster im Projektalltag als
äußere Welt, die auf die Jugendlichen einströmt, zu bezeichnen, auch wenn das
Projekt den Charakter einer „Innenwelt“ aufweist. So bezieht sich die Bezeichnung
innere und äußere Welt immer auf die Ebene der Orientierungsmuster der
Jugendlichen und zielt auf die Frage der Auseinandersetzung mit diesen.
Als „äußere Welt“ werden demnach die an die Jugendlichen durch die Maßnahmen
und Projekte im Feld der Jugendsozialarbeit herangetragenen Orientierungen und
Beziehungen zu den Professionellen im Feld bezeichnet, die sich von den
inkorporierten Handlungsroutinen und Interpretationen, also der inneren Welt,
unterscheiden können, aber nicht zwangsläufig müssen. Insofern kann durch eine
solche „Konfrontation“ mit der „äußeren Welt“ im Interpretationsgerüst einer Person
eine Irritation oder eine Bestätigung der Handlungsmuster erfolgen. Durch die
Engführung auf die Praxisweisen in der Jugendsozialarbeit werden in dieser
Untersuchung die gesellschaftlichen Institutionen stärker eingegrenzt, als dies in der
Untersuchung von Bohnsack/Nohl der Fall war. Da es sich bei dieser Untersuchung
um eine Analyse einer gemeinsamen Handlungspraxis von Jugendlichen in einem
speziellen sozialen Feld handelt, das von sozialpädagogischen Praxisweisen
gekennzeichnet ist, wird die Orientierung an verschiedenen Welten auf den Bereich
der jeweiligen Projekte eingegrenzt und weniger auf kulturelle Orientierungen, die
von gesellschaftlichen Institutionen wie Kirche, Schule oder Politik vermittelt werden,
bezogen.
Mit dem Terminus „Welt“ wird zum Ausdruck gebracht, dass „Welten“ oder
„Bereiche“ zum einen nicht als „objektive“ Tatsachen bereits vorhanden sind, sondern
immer noch einer Konstruktionsleistung der Individuen unterliegen. Zum anderen
repräsentiert der Begriff „Welt“ eine Brücke zwischen der Theorie eines
Bildungsbegriffs, der von „Weltaufordnung“ und „Irritation“ spricht und der Empirie,
die dieses Phänomen als einen Teil der pädagogischen Praxis in den Projekten
aufzeigt. Insofern zielt der Bildungsbegriff immer auch auf die Haltung der
Auseinandersetzung mit Welt und der (möglichen) Transformation der
Interpunktionsweisen von Weltaufordnung (vgl. Kap. 3.6, S. 65ff).
Diese Textsequenz entfaltet aufgrund anderer Aspekte eine besondere Relevanz für
die dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussion. Aufgrund der
Schwierigkeit, ein klar erkenntliches gemeinsames Thema der beteiligten
Jugendlichen auszumachen, scheint ein erster Hinweis darauf gegeben zu sein, dass es
sich bei der Diskursorganisation in dieser Gruppendiskussion insgesamt eher um eine
216
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
parallelisierende Diskursorganisation (vgl. Loos/Schäffer 2001, 69) handeln könnte.
Dabei besteht eine parallelisierenden Diskursorganisation „in gewissem Sinne in der
Vermeidung eines offen propositional geleiteten Diskurses, bei dem jemand seine
‚Meinung’ kund tut und sich dann mit den anderen über das für einen Beobachter klar
erkennbare Thema unterhält. Eine parallelisierende Diskursorganisation besteht
dagegen aus der aneinanderreihenden Schilderung von Beispielen.“ (ebd.).
Wie in den folgenden Abschnitten deutlich wird, reihen sich an einigen Stellen der
Diskussion, insbesondere in den Äußerungen von Bm, Beispiele und Stellungnahmen
aneinander, ohne dass er oder auch andere offen ihre Meinung klar explizieren und in
einen offenen Diskurs eintreten. Sollte sich diese Vermutung als zutreffend erweisen,
so wäre die Aufgabe der folgenden Interpretation nach Loos/Schäffer deutlich
erschwert, wobei im Zentrum der Interpretationen dann die „Herausarbeitung eines
thematischen Schlüssels, also einer Thematik, die alle Beispiele miteinander
verbindet“ (ebd. 70, Hervorhebung im Original) steht. Als die Thematik, die die
unterschiedlichen Diskussionsstränge miteinander verbindet, könnte die an dieser
Stelle erstmalig herausgearbeitete Orientierungsfigur der „Orientierung an
verschiedenen Welten“ sein. Der gemeinsame thematische Schlüssel liegt
dementsprechend nicht auf der wörtlichen Ebene, die von den Jugendlichen in der
Diskussion verbal expliziert wird, sondern auf der Ebene des Dokumentsinnes und
lässt sich durch die Fokussierung der Frage nach dem „Wie“ der Explikation
unterschiedlicher Thematiken herausarbeiten. Diese Orientierungsfigur verweist
darauf, dass es sich in der sozialpädagogischen Praxis in dem Projekt nur sekundär für
die Jugendlichen um die Vermittlung von Wissen und Informationen handelt (von
denen ohnehin den beteiligten Jugendlichen nicht wirklich klar zu sein scheint,
welchen Informationsgehalt Tätigkeiten wie das Bauen einer Seilbrücke haben
könnten) und es eher um die Frage nach Anerkennung im Kontext der
Gruppenmitglieder untereinander und im Kontakt zu den Mitarbeiter im Projekt geht,
die als Motor einer angestrebten Synthese zwischen einer Innenwelt und einer
Außenwelt gelten kann (vgl. Gruppendiskussion Boden 537-538; 562-565; 703-708;
890). Diesbezüglich werden dann die Orientierungen der inneren Welt als einer
individuell inkorporierten Struktur, die nach Bourdieu mit dem Begriff des Habitus
gekennzeichnet werden könnte (vgl. Bremer 2004, Krais/Gebauer 2002) und der
äußeren Welt des aktuellen Projektkontextes in eine Passung, eine Art Synthese, zu
bringen versucht.
Im Kontext erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung setzt sich Marotzki
(1999) mit der Frage der Bildung als einem Konstrukt des reflexiven In-der-Welt-
Seins auseinander und beschreibt mit dem synchronen und diachronen
217
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Reflexionsformat zwei Ausprägungen einer solchen Reflexion, die für die weitere
Betrachtung der Praxis von Projekten der Jugendsozialarbeit weiterführend sein
könnten. Hergeleitet aus der Auflösung von traditionellen Sinnkonstruktionen in der
Moderne, müsse auch die Frage der Intersubjektivität in gemeinschaftlichen
Zusammenleben immer wieder neu thematisiert werden. Marotzki bezeichnet den
Kern des synchronen Reflexionsformates in der Versicherung der Anerkennung der
eigenen Person durch die Anderen. „Bildung, in diesem Sinne verstanden, wäre dann
das Antworten auf die Infragestellung meiner Selbst durch den Anderen“ (ebd., 64).
Während sich das Synchrone Reflexionsformat also auf die Vergewisserung der
Anerkennungsbeziehungen im Hier und Jetzt beziehen, ist das diachrone
Reflexionsformat auf die eigene Lebensgeschichte insgesamt gerichtet, wobei auch die
Geschichte von Gruppen, Gemeinschaften und Kollektiven, zu denen der Mensch
gehöre, damit eingebunden seien. Mit dem synchronen Reflexionsformat als eine
Ausprägung des von Marotzki als Bildung beschriebenen reflexiven In-der-Welt-Seins
wird die Verbindung zwischen Anerkennung und Bildung deutlich aufgezeigt. Für die
Analyse der Gruppendiskussionen heißt das, ein besonderes Augenmerk auf die
Beziehungen der Teilnehmer in den Projekten untereinander, vor allem aber zu den
Mitarbeitern in dem Projekt zu legen. Darin scheint ein Schlüssel für eine mögliche
Ausweisung von Bildungsmöglichkeiten in der Jugendsozialarbeit zu liegen.
Projektalltag als Lernfeld
Im weiteren Verlauf der Diskussion reagiert Fm (483) auf die Proposition von Gw in
Form einer antithetischen Differenzierung und bezieht die Handlungspraktiken
innerhalb der Maßnahme auf beide Aktionsbereiche – sowohl auf Lernen als auch auf
„Spaß haben und Dasein“. Er konkretisiert die Frage nach dem Lernen durch eine
Synthese beider Bereiche, die er unter dem Stichwort „Ruhiger werden“
zusammenfasst. Damit wird noch einmal deutlich, dass keine konkreten Lerninhalte,
wie sie in der Schule vermittelt werden und wie sie in der Diskussion über den
Grundreiz deutlich geworden und von den TN ausgeführt worden sind, im Zentrum
der Betrachtung stehen, sondern so genannte „Soft-Skills“, die auch Inhalt von
Lernprozessen sein können. Damit dokumentiert Fm, dass er zum einen die
Maßnahme als Lernort charakterisieren würde, zum anderen, dass er dieses Lernfeld
deutlich von einem schulischen Lernfeld absetzt und der Maßnahme andere
Lerninhalte beimisst, als der Schule. Über die Bedeutung, die er dem Erlernen
„ruhiger zu werden“ zumisst, können nur Hypothesen angestellt werden – die alleinige
Thematisierung dieses Lernfeldes ist jedoch bemerkenswert.
218
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Bm (484) stimmt der antithetischen Differenzierung der Proposition von Fm zunächst
zu, in der er zum Ausdruck bringt, dass die Maßnahme ein Lernfeld ist. In Form einer
weiteren antithetischen Differenzierung verfeinert er die Äußerung jedoch und
reflektiert vor dem Hintergrund der Freiwilligkeit und Nicht-Freiwilligkeit der
Teilnahme (vgl. Sequenz „Freiwillig hierher kommen?“ (347-384)), dass die
Freizeitgestaltung der nicht-freiwilligen Teilnehmer, zu dessen Teilnehmerkreis er
zählt, sich deutlich unterscheidet von den Aktionsformen, die in der Maßnahme
durchgeführt werden. Diese Auffassung expliziert er am Beispiel seiner Person selbst
und bewertet die Aktionsformen der Maßnahmen negativ. Dadurch grenzt er sich an
dieser Stelle wiederum ab von den anderen Teilnehmer, die die Aktionsformen
tendenziell als eher positiv einschätzen und nicht so kritisch beurteilen. Damit
dokumentiert sich erneut die Figur der „Orientierung an verschiedenen Welten“ als
Thema bei Bm – die eindeutige Trennung zwischen der privaten Welt (innere Welt)
innerhalb des Lebenszusammenhangs „zu Hause“ und der öffentlichen Welt (äußere
Welt) in der Maßnahme.
Während Fm das Lernfeld von der Person des Lernenden her denkt, wird bei Bm
deutlich, dass er durch die Formulierung „wolln die uns beibringen, was anderes
machen“ den Lernbegriff als von der lehrenden Person auf den Lerner hin organisiert
interpretiert. Es handelt sich also in seiner Interpretation nicht um einen selbst
gesteuerten Prozess des Lernens von Verhaltensweisen, sondern um eine von einer
Autoritätsperson vorgegebenen Alternative zu bisherigem Verhalten, die adaptiert
werden soll. Damit dokumentiert er auch, dass er in der (Selbst-) Reflexion keinen
Unterschied macht zu Formen „herkömmlichen“ Lernens, die er in der Schule kennen
gelernt hat und die ihm dadurch vertraut sind, und dem Lernen in anderen
Institutionen, wie zum Beispiel dieser Maßnahme. Möglicherweise liegt das auch
daran, dass die Irritation der eigenen Interpretationen von Lernen bei Bm so groß ist,
dass die Bemühungen, an dieser Stelle bereits eine Synthese der Aktionsformen im
Kontext von Lernen vorzunehmen – wie dies durch die Anlage der Diskussion
provoziert wird – für Bm zeitlich noch zu früh ist. Das an dieser Stelle von Bm
thematisierte Lernverständnis weist deutliche Anknüpfungsmöglichkeiten zum
lerntheoretischen Konstrukt von Bateson (1964, 372ff.) auf (vgl. Kap. 3.6.2, S. 107),
der in den unterschiedlichen Abstraktionsgraden lediglich verschiedene Formen, bzw.
Stufen des Lernens wahrnimmt. Während es auf der untersten Stufe zu reinen Reiz-
Reaktions-Schemata kommt, erfährt auf der folgenden Stufe der Einbezug des
Kontextes eine besondere Bedeutung. Die nächste Ebene, die in der Theorierezeption
durch Marotzki dann als Bildung begriffen wird, bezeichnet die bewusst gesteuerte
Transformation der Reaktionen in unterschiedlichen Kontexten. Es scheint so, als
219
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
thematisierten an dieser Stelle Fm und Bm unterschiedliche Verständnisse von
„Lernen“, die in der Theorierezeption von Bateson als Beschreibung unterschiedlicher
Ebenen von Lernen beschrieben werden können.
Anhand eines konkreten Beispiels aus dem Maßnahmenzusammenhang exemplifiziert
Ew (485) die vorgetragene Proposition und thematisiert den von ihr wahrgenommenen
Lerninhalt „Zusammenarbeit in einer Gruppe“. Sie bestätigt damit die Auffassung,
dass die Maßnahme grundsätzlich als Lernfeld charakterisiert werden kann und die
Inhalte personengebunden sind, wenngleich die Formulierung eher unpersönlich
konstruiert wurde („Man lernt...“). In ähnlicher Weiser konkretisieren Fm, Ew und Dw
die Lerninhalte innerhalb der Maßnahme und extrahieren die Lernfelder
„Vertrauen“ und „Abbau von Ängsten“ (486-492) durch die Praxisformen
der Maßnahme. Sie alle drücken damit aus, dass sie die Maßnahme als Lernfeld
konstruieren, in dem andere Inhalte als in Institutionen des formalisierten Lernens
bearbeitet werden können.
Die Synthese der äußeren und der inneren Welt als Ziel pädagogischer Praxis
Durch die durchweg positive Bewertung dieser Lerninhalte grenzen Ew, Fm und Dw
sich wiederum von Bm ab, der in einem ersten Statement die Inhalte eher kritisch
gesehen und sie im Verständnis eines „Beibringens“ im Sinne eines „Umerziehens“
ohne großen Eigenanteil der Teilnehmer thematisiert hat, wovon er sich in kritischer
Auseinandersetzung abgrenzt. Während Bm die starke Differenz zwischen den Welten
betont und die Schwierigkeit thematisiert, die wahrgenommenen Differenzen einer
privaten und einer öffentlichen Welt zu synthetisieren, scheint dies für die anderen
Teilnehmer kein allzu großes Problem darzustellen. Zumindest Ew steht nicht vor der
Herausforderung, eine Synthese zwischen einer inneren und einer äußeren Welt
herstellen zu müssen: Diese scheint sich von selbst zu ergeben, da die an sie
herangetragenen Handlungsroutinen und Interpretationen der äußeren Welt mit denen
der inneren Welt bereits in einer Passung zu liegen scheinen.
Möglicherweise geht die Passung der inneren und äußeren Welt bei ihr so weit, dass
die Welten kaum noch als unterschiedlich wahrgenommen werden und somit nicht
synthetisiert werden müssen. Sie scheint sich als freie Teilnehmerin in einer
Projektwelt und äußeren Welt zu bewegen, die ihr aus den üblichen Kontexten und
ihrer inneren Welt heraus vertraut ist. In dieser Lesart wird konkreter, was Bm in einer
Unterscheidungsthematik (Sequenz „Freiwillige Teilnahme?“ (346-384)) ausführt: Er
scheint die Maßnahme im Sinne einer möglichen Auseinandersetzung mit seinen
Überzeugungen und inkorporierten Handlungsroutinen wahrzunehmen, grenzt sich
220
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
aber gleichzeitig davon ab, da er dies zunächst (noch) nicht zulassen will. Dieser
Wahrnehmung entspricht auch das allgemeine konzeptionelle Ziel sozialer
Trainingskurse:
„Die Jugendlichen sollen im Rahmen einer sozialen Gruppenarbeit dahingehend sensibilisiert und beeinflusst werden, dass ein weiteres Begehen einer Straftat zukünftig nicht mehr in Frage kommt und sie in der Lage sind, ihre alltäglichen Probleme und Defizite mit Hilfe von alternativen Verhaltensweisen zu bewältigen. Um diesem Richtungspunkt näher zu kommen, ist die Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des Jugendlichen unumgänglich. Der Jugendgerichtshelfer hat die Aufgabe, sich mit den individuellen Gesichtspunkten des jungen Menschen zu beschäftigen und diese in Bezug auf das abweichende Verhalten im Strafverfahren transparent zu machen“ (Plien 2003, 62).
Diese Sequenzen und die Dominanz der Orientierungsfigur „Orientierung an
verschiedenen Welten“ deutet darauf hin, dass sich die beschriebene
sozialpädagogischen Praxisform möglicherweise in der Form artikuliert, dass eine
Synthese unterschiedlicher Welten integraler Bestandteil des Projektes ist.
Verschiedene Welten, in denen sich die Jugendlichen bewegen, sollen miteinander
verbunden werden: privat – öffentlich; freiwillig – nicht-freiwillig; straffällig – nicht-
straffällig. Dies erfolgt sowohl in konkretem Kontakt der Teilnehmer untereinander,
als auch im Gedankenexperiment der Teilnehmer (privat– öffentlich). Genau in
diesem Punkt scheinen sich jedoch die Teilnehmer des Projektes zu unterscheiden, da
ihre individuellen konkreten Erfahrungsräume unterschiedlich sind und es somit vor
allem für die straffällig gewordenen Teilnehmer die Aufgabe der Synthese der
verschiedenen Welten gibt.
Als weiteres Lernfeld extrahieren Fm, Dw und Ew die Bedeutung gegenseitiger Hilfe
(495), die durch gezielte Methoden innerhalb der Maßnahme initiiert wurde und
exemplifizieren die Proposition dadurch weiter. Es scheint als „zelebrierten“ sie hier
ihre Einigkeit und ihre Übereinstimmung in der Diskussion, die sie ausweiten.
Kommentierungen, Antithesen oder gar Opposition kommen an dieser Stelle nicht
weiter vor, so dass ein weiterer Hinweis auf eine parallelisierende Diskursorganisation
gegeben wird.
Durch die Äußerung das „alles miteinander verbunden“ sei, exemplifiziert Ew (498)
die Proposition und verdeutlicht, dass die in der Maßnahme durchgeführten Aktionen
in ihrer Auffassung einen gemeinsamen methodisch-didaktischen Aufbau aufweisen.
Sie expliziert die von ihr angenommen Intentionen der pädagogischen Mitarbeiter, die
sie durch den Einsatz unterschiedlicher Aktionen verwirklichen wollen. Diese lägen
darin, sich näher kennen zu lernen und gemeinsam zu arbeiten. Sie deutet die
Maßnahme als ein vollständig durchgeplantes Ensemble von Methoden und Aktionen,
221
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
die einer übergeordneten Thematik zugeordnet sind und die einen konsistenten Sinn
ergeben. Den Sinn der Aktionen erkennt sie darin, dass die Teilnehmer sich
untereinander besser kennen lernen, lernen zusammen zu arbeiten und nicht immer
alles alleine zu machen.
Ew scheint damit zu explizieren, was sie von der pädagogischen Praxis bisher
verstanden hat. Insofern handelt es sich bei der Exemplifizierung um eine affirmative
Äußerung, die keine Position bezieht. Diese Sequenz verdeutlicht die Bewegung der
Gruppe in diesem Bereich zwischen Affirmation, also der unkritischen Übernahme
von Auffassungen und Intentionen, und Opposition, der zugegebenermaßen
unreflektierten, bzw. nicht weiter ausgeführten Gegenwehr gegen die Intentionen der
Veranstalter.
Ew knüpft in Form einer Exemplifizierung an das Orientierungsmuster, dass die
Aktionen in der Maßnahme eine gemeinsame Zielorientierung haben, an und legt dar,
dass sie dieses Ziel erfasst zu haben glaubt. Dieser Sinn ist für sie leicht auf die
Lebensbereiche außerhalb der Veranstaltung zu übertragen: Da die verschiedenen
Aktionen der Maßnahme ihr auch immer sehr viel Spaß bereitet haben, nimmt sie an,
dass sie sich daran lange Zeit wird erinnern können und dann auch in
Alltagssituationen diese Erfahrungen aus der Maßnahme abrufen kann.
Der erste Wortbeitrag von Aw (506) in dieser Sequenz validiert die Äußerung der
Transferannahme von Ew und knüpft an dem Erfahrungscharakter der Aktionen an,
die auf andere Lebenssituationen übertragen werden könnten. Das Problem der
Inkongruenz innerer und äußerer Welten, das von Bm thematisiert wurde, wird in
dieser Äußerung von Aw nicht weiter thematisiert, sondern in den folgenden
Äußerungen durch die Transferannahme und die Annahme der Allgemeingültig sogar
negiert: Eine Synthese sei grundsätzlich für alle Menschen nötig.
Aw und Ew dokumentieren damit, dass für sie die Synthese einer inneren und äußeren
Welt grundsätzlich kein Problem darstellt. Sie gehen sogar noch einen Schritt weiter
und verallgemeinern diese Annahme, indem sie das Indefinitpronomens „man“ für
diese Äußerung verwenden, durch das eine nicht näher bekannte oder nicht genauer
bezeichnete Person bezeichnet wird. Sie treffen damit eine Verallgemeinerung für eine
nicht näher bestimmte Person und äußern darin die Auffassung, dass es potentiell für
jeden möglich sei, die Handlungsroutinen und Interpunktionsweisen innerer und
äußerer Welten miteinander zu verbinden.
In einer weiteren Validierung wird diese Allgemeingültigkeit von Ew verbal noch
verstärkt: Es gehöre zu der Transferleistung in ihrer Wahrnehmung nicht einmal eine
Reflexion oder Interpretation zwingend dazu, sondern diese automatisiere sich, d.h.
222
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
bestimmte Erlebnisse werden automatisch von der öffentlichen auf die private Welt
übertragen. Eine Synthese finde dementsprechend automatisch statt. Das deutet darauf
hin, dass sie ihre innere Welt ad absolutum setzen: Da es für sie nicht nötig ist, eine
Synthese herzustellen, da die neuen Erfahrungen sich sehr gut in ihre inkorporierten
Handlungsmuster integrieren lassen, scheint es unvorstellbar zu sein, dass dies bei
anderen Menschen nicht der Fall sein könnte. Dieser von einem Teil der Gruppe
angenommene Automatismus wird durch die Metapher der „kleinen Kettenreaktion“
noch weiter verstärkt.
6.2.3 Textsequenz 3: Versager (531-575)
Kontext und Auswahl der Textstelle
Im Anschluss an eine längere monologische Erörterung der Bedeutung schulischen
Lernens und der daraus resultierenden Noten für die berufliche Karriere durch Ew, die
für die primäre Integration in den ersten Arbeitsmarkt wesentlich sind, und erst im
weiteren Karriereverlauf durch Weiterbildungsmöglichkeiten relativiert werden
können, fokussiert Bm (530) die von Ew unter dem Stichwort „Glück und
Zufriedenheit“ eingebrachte Thematisierung von Schicksalsschlägen in der Familie
wiederum auf die schulischen Leistungen.
Schicksalhafte Ereignisse, die von Bm zunächst nicht weiter expliziert werden, wirken
sich in seiner Deutungsweise grundsätzlich auf den schulischen Leistungserfolg aus.
Dies hat wiederum Auswirkungen auf die Frage nach Anerkennung, Wertschätzung
und Wertschöpfung: Woher bezieht Bm seine Anerkennung und damit die positive
Bestätigung des Selbst, wenn zentrale gesellschaftliche Anerkennungsfiguren wie gute
Noten, hoher Schulerfolg und Leistungsfähigkeit ausfallen?
Die hohe narrative und metaphorische Dichte dieser Textsequenz haben zur Auswahl
dieser Textstelle für die Interpretation geführt. Darüber hinaus wurde in den ersten
Interpretationsschritten die Figur der Anerkennung herausgearbeitet, die über das
theoretische Konstrukt von Marotzki (1999) einen Anschluss dieser Textstelle an
bildungstheoretische Überlegungen ermöglicht.
Anerkennung durch extrinsische Faktoren
Der Prozess des Lernens und des Schulerfolgs kann durch plötzliche, von Bm nicht
näher beschriebene Ereignisse, ins Stocken geraten und schlechte Schulleistungen
223
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
nach sich ziehen. Die Personifizierung dieser Aussage („Du lernst...“) im
Gegensatz zu einer möglichen unpersönlichen Formulierung („Man lernt...“) lässt
vermuten, dass diese Äußerung von Bm (531-538), die sich als Proposition des
Orientierungsmusters der großen Bedeutung des persönlichen Umfelds und der
persönlichen Lebensumstände für die eigene Leistungsfähigkeit verstehen lässt,
biographische Anteile hat und er von sich erzählt. Erheblich später berichtet er in der
Gruppendiskussion von seinen Erfahrungen mit dem Drogenmilieu des Dorfes, zu
dem er nur durch einen Umzug der Eltern Zugang bekommen hat (vgl. 890). So legt
der Kontext nahe, dass er sich auch in dieser Sequenz auf diese biographische
Erlebnisebene bezieht. Auch aus dem Kontext der vorherigen Sequenz von Ew
(528;530) lässt sich eine Thematisierung von äußeren Umständen interpretieren, an
die Bm dann anschließt. In der Erlebniswelt von Bm wird Schulversagen, da die
Leistung in der öffentlichen Wahrnehmung personifiziert ist und untrennbar mit der
Person des Schülers und nicht mit der Person des Lehrers verknüpft ist, durch die
soziale Umwelt nicht nur als Defizit in der Leistungserbringung gewertet, sondern
darüber hinaus auch auf die gesamte Persönlichkeit übertragen, die dadurch eine
Abwertung erfährt (negative Anerkennung).
531 Bm: |Du lern-| Du lernst dein ganzes Leben in der Schule und auf einmal
532 (2) 533 weiß nicht- 534 Ew: Dass du dann richtig, 535 Bm: Ja 536 Ew: irgendwie
absackst. 537 Bm: Wirst richtig so als Looser bezeichnet. Manche,
so'ne Streber so, die richtig viel was bringen, die man als Streber bezeichnet, die lachen sie immer aus und son Scheiß.
Damit dokumentiert sich in dieser Äußerung auf unterschiedlichen Ebenen das
Handlungs- und Interpretationsmuster von Bm: Zum einen wird auch in der folgenden
Sequenz immer wieder deutlich, dass Bm insbesondere die äußeren Einflussfaktoren
auf sein Verhalten – in diesem Beispiel für seine schulische Leistungsfähigkeit, an
anderen Stellen für seinen Drogenkonsum – herausstellt (558) und sich selbst in der
Tendenz einer Opferrolle sieht, in die er durch die ihn umgebenden Umstände geraten
ist. Gleichzeitig dokumentiert sich darin die große Bedeutung der Orientierungsfigur
„Anerkennung“, die Bm in erster Linie von außen, also von den Anderen, erwartet,
bzw. seine persönliche Stabilität aus der Anerkennung durch Menschen von außen
bezieht.
224
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Orientierung an verschiedenen Welten
Insofern ist auch das Orientierungsmuster der „Orientierung an verschiedenen
Welten“, das bereits in der Textstelle „Beibringen oder Lernen“ (481-510) (vgl. S.
211)näher eingeführt wurde, an dieser Stelle schlüssig: Bm orientiert sich stark an der
äußeren Welt und inkorporiert, bzw. transformiert die an ihn herangetragenen äußeren
(oder besser: öffentlichen) Handlungsroutinen in eigene. So erklärt sich auch die
diffizile Diskursorganisation, in der Bm versucht, mit den inkorporierten
Handlungsroutinen zu agieren, die allerdings einem anderen sozialen Milieu
entstammen und somit nicht kompatibel zu den Handlungsroutinen der Gruppe sind.
Relativ schnell gibt er es dann auf und orientiert sich an den Handlungsmustern der
aktuellen Gruppe, wobei er sich zunächst immer häufiger widerspricht. An anderer
Stelle kann nachgezeichnet werden, dass in der Gruppendiskussion selber die
Anerkennungsthematik einen besonderen Stellenwert bekommt, die Richtung des
Anerkennungsprozesses aber sowohl fremdreferentiell, also auf die Anerkennung von
außen als synchrones Reflexionsformat, als auch selbstreferentiell als diachrones
Reflexionsformat sein kann (835-838; 890; 143-144)36.
Bemerkenswert ist dabei, dass diese als Proposition eingeführte These, dass die
äußeren Faktoren eine hohe Relevanz für schulisches Lernen haben, arbeitsteilig von
Bm und Ew vorgetragen wird. Im Rahmen der Thematisierung eines negativen
Gegenhorizontes exemplifiziert Bm die Proposition durch die Metapher des Strebers
(537): Etwas unglücklich formuliert, lässt sich dennoch rekonstruieren, dass nach Bm
die Streber als Leistungsträger ausgelacht werden (auch aus dem Kontext heraus) und
verdeutlicht somit, dass es – je nach Referenzsystem keinen positiven Gegenhorizont
gibt: Der Leistungsschwache erfährt Abwertung durch die Formulierung „Looser“,
der Leistungsträger durch das Etikett „Streber“. Beide Abwertungen erfolgen
wiederum durch die Referenz des sozial nahen Umfelds. Diese Sequenz wird spontan
durch die zustimmende Äußerung durch Ew validiert. Fm exemplifiziert die
Proposition (539-544), nimmt die Unbestimmtheit des Abwärtstrends auf und
illustriert sie durch die Formulierung einer „Kettenreaktion“. Dieser Begriff
impliziert die Auffassung, dass dieser Vorgang nur schwerlich und durch größere
Anstrengungen aufgehalten werden kann, bzw. der Leistungsabfall unaufhaltsam ist,
wenn das soziale Milieu nicht zu einer Leistungsfähigkeit des Einzelnen beiträgt.
36 Das Orientierungsmuster „Orientierung an verschiedenen Welten“ ist also auf mehreren Ebenen wirkmächtig – zum einen als generelles „Thema“ der Jugendlichen: Wie gelingt es, mit irritierenden Informationen und Theorien um zu gehen, die nicht zu der bisherigen Auffassung passen, die durch die innere Welt repräsentiert ist? Im Konkreten macht Bm diesen Prozess auch in der Gruppendiskussion aktuell durch: Während die anderen Gesprächsteilnehmer auf der Ebene des Dokumentsinnes quasi „über“ dies Orientierungsmuster diskutieren, befindet er sich in der Gruppendiskussion aktuell in der Dynamik des „Verbinders“....
225
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Bm ergänzt die Proposition im Sinne einer antithetischen Differenzierung (540) durch
eine selbstreflexive Darstellung seiner eigenen Situation, in der er sich als
„Versager“ bezeichnet und damit validiert, dass er in der Proposition sich selbst
meinte. Vor allem durch den Ausblick in der Auseinandersetzung mit einem positiven
Gegenhorizont dokumentiert er seine Unzufriedenheit mit der Situation. Er grenzt sich
von dem Auslachen seiner „Genossen“ ab und beurteilt es eindeutig negativ. Er würde
lieber das Lager wechseln, wobei der Konjunktiv andeutet, dass er das
Enaktierungspotential (vgl. Bohnsack 2003, 136) seiner Handlung als relativ gering
einschätzt. Daran wird die Schwierigkeit eines Milieuwechsels und die damit
verbundenen Wechsel der sozialen Beziehungen deutlich. Bm dokumentiert damit die
Suche nach Zugehörigkeit zu einem sozialen Milieu, was sich im Orientierungsmuster
„Orientierung an verschiedenen Welten“ fassen lässt.
Konkreter reflektiert Ew in Form einer Anschlussproposition die Chancen, die
insbesondere für die „straffällig gewordenen Teilnehmer“ in dieser Maßnahme liegen
(540): Sie können etwas „dazu“ lernen – auch wenn die Teilnahme unter Zwang
geschieht. Mögliche Inhalte der von Ew prognostizierten Lernprozesse innerhalb des
Maßnahmekontextes werden von Ew zunächst nicht weiter expliziert – entscheidend
scheint an dieser Stelle vorläufig zu sein, dass sie diese Maßnahme mit dem Begriff
Lernen überhaupt in Verbindung bringt.
Cm (550;552) validiert die Proposition von Bm, in dem er die Teilnahme und die
vorausgegangenen Ereignisse als „Schicksal“ bezeichnet und diesen Begriff relativ
unvermittelt in die Diskussion einbringt. Er bezieht sich damit zum einen auf die
Äußerung von Bm, dass die äußeren Umstände starken Einfluss auf die eigene
Handlung haben (auch Fm: Kettenreaktion, 539ff) und es in doppelter Hinsicht auch
„Schicksal“ sei, dass Bm jetzt Teilnehmer dieser Maßnahme sei.
In Form einer Exemplifizierung elaboriert Fm das Thema weiter (553) und erläutert
das Bild einer Kettenreaktion, die es nicht mehr erlaube, einen Neuanfang zu machen,
sondern nur die Möglichkeit biete, andere Wege zu gehen. Er thematisiert damit seine
Auffassung von der Unumkehrbarkeit von Ereignissen und der Unmöglichkeit, einen
Umschwung zu erzielen. Grundsätzlich sei es zwar nicht möglich, noch mal neu zu
beginnen, aber man könne andere Wege suchen.
Die Ausführungen von Bm über den entscheidenden Einfluss des sozialen Umfelds für
die individuelle Entwicklung erhalten den Charakter einer Validierung seiner eigenen
Proposition, bzw. einer weiteren Rechtfertigung oder Verstärkung der Proposition.
Ausschlaggebend für die Entwicklung des Menschen ist demnach, welche Leute man
kennen lernt, denn diese haben eine große Bedeutung für das Individuum.
226
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Die folgende Passage (555; 557) ist durch eine Opposition von Aw gekennzeichnet, in
der sie die Metapher der Kettenreaktion aufnimmt und Bm eine eindeutige
Handlungsempfehlung gibt. Was auch immer geschehe, er solle dennoch immer
wieder von vorne anfangen und somit dem unausweichlich scheinenden Scheitern
etwas entgegen setzen. Sie scheint sich mit der Metapher der Kettenreaktion nicht
anfreunden zu können. In diesem Bild liegt die These, dass der Mensch kaum zu einer
reflexiven Vergewisserung über die externen Lebensumstände in der Lage sei und sie
ohne eine Bewertung vorzunehmen, in eigene Handlungs- und Denkweisen integriert.
Eine solche Sichtweise wird deutlich in der Formulierung von Bm (558):
Bm: Wenn du die falschen Leuten kennenlernst, wirst auch n falscher Leut, wirst du auch nur Scheiße bauen.
Diese Metapher erinnert an das Verständnis von Sozialisation bei Bernhard (1997),
der Sozialisation als Prozess der Einführung Kinder und Jugendlicher in der die
Gesellschaft und ihre Rahmenbedingungen versteht. „Im Sozialisationsprozeß dringt
Gesellschaft in die Individuen ein und pflanzt in ihnen die für das Zusammenleben
notewendigen Werte und Normen ein. Die äußeren Zwänge werden zu inneren
Zwängen umgewandelt“ (ebd., 70). Es scheint, als habe das Individuum im
Verständnis der Jugendlichen zunächst keine Möglichkeiten, sich vor dieser
Internalisierung zu schützen.
Das zustimmende „Ja“ von Bm (Validierung) verdeutlicht, dass ihm diese Auffassung
zwar einleuchtend erscheint, sein inkorporiertes Orientierungsmuster aber
wirkmächtiger ist. Die scheinbar widersprüchliche Art der Argumentationsführung
deutet auf der Ebene der Beziehungsstrukturen (performative Ebene) innerhalb der
Gruppe darauf hin, dass Bm um die Anerkennung durch die anderen
Gruppenmitglieder bemüht ist und sich an deren Meinung anpasst. An dieser Stelle
wird deutlich, dass das Verhalten von Bm deckungsgleich ist mit dem Dokumentsinn
seiner Äußerungen: Es ist sehr stark abhängig von der Meinung anderer und sucht
stark nach Anerkennung aus der Gruppe, d.h. sein Referenzsystem für Anerkennung
liegt eindeutig außerhalb seiner eigenen Persönlichkeit37.
37 An dieser Sequenz ergibt sich eine interessante Verbindung zur strukturalen Bildungstheorie von Marotzki, die unter anderen Bezüge zur Gesellschaftskritik von Mitscherlich ausweist. Kernpunkt der Mitscherlich’schen Gesellschaftskritik ist nach Marotzki die These, dass die Gesellschaft gezielt Ausbildung von schwachen Ich-Strukturen fördere und somit Abhängigkeiten erzeuge und die Bildung zu einem autonomen, aus sich selbst heraus handlungsfähigen Subjekt verhindere. Durchaus kann in der Dominanz der „Orientierung an verschiedenen Welten“ von Bm an dieser Stelle eine solche Figur erkannt werden (vgl. Kap.3.6, S. 95f), da er nicht in der Lage zu sein scheint, äußere Welten allein aufgrund eines stabilen inneren Wertgerüstes zu bewerten.
227
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
In ihrer Opposition zielt Aw (555f), die sich damit den Äußerungen von Ew
anschließt, auf die Verdeutlichung der Bedeutung der Aktivität des Einzelnen und
seine individuelle Verantwortung bei der Suche nach Zugehörigkeit zu einem Milieu,
bzw. beim Aufbau entsprechender Beziehungen. Von Bm erhält sie zunächst
zumindest kognitive Zustimmung zu dieser Aussage. Gleich darauf formuliert Bm
jedoch in Form einer antithetischen Differenzierung zu der Opposition eine
Validierung der ursprünglichen Proposition (ja aber....), in der er die Problematik um
das Thema „Außenseiter“ anreichert und somit implizit wiederum auf die Frage nach
Anerkennung durch andere, durch die äußere Welt rekurriert. Dieser Umstand erfährt
wiederum die Zustimmung von Ew (563), die sich von Bm zunächst überzeugen lässt:
„ Ja, das ist schwer, klar.“ In einer Erweiterung, bzw. Exemplifizierung der
Proposition betont Bm (568), dass im Falle einer Beendung der Beziehung durch die
„falschen“ Leute, das allgemeine Vertrauen in Beziehungen grundlegend erschüttert
wird.
In der nun folgenden Sequenz (568-575) wird der Wechsel von einer
parallelisierenden zu einer antithetischen Diskursorganisation deutlich: Während Aw
(569) in einem Beziehungsbruch immer auch die Chance zu einem Neuanfang sieht
und damit die positiven Aspekte einer solchen Krise betont, stellt Bm (570) heraus,
dass der Vertrauensbruch endgültig ist und auf andere potentielle Beziehungen
übertragen wird. Daran anschließend formulieren Ew und Aw, dass Vertrauen neu
erlernt werden kann durch sog. vertrauensbildende Maßnahmen, die unter dem
Stichwort „Spiele“ thematisiert werden. Das gemeinsame Thema bleibt auch hier die
Anerkennung, wobei die Äußerungen von Aw und Ew verdeutlichen, dass sie in
Bezug auf die Anerkennung von außen nicht so störanfällig sind, wie Bm und somit
dokumentieren, dass diese Form der Anerkennung grundsätzlich vorhanden ist und
nicht kontinuierlich produziert werden muss, wohingegen Bm dauerhafter Signale von
seinem sozialen Umfeld in Richtung Anerkennung seiner Person bedarf und nicht
davon ausgeht, dass sie grundsätzlich vorhanden ist.
Auf der Ebene des Dokumentsinnes schlüssig beendet Bm (573) diesen Disput mit
einer rituellen Konklusion, in dem er aussagt, dass in dieser aktuellen Maßnahme
Vertrauen gelernt werden kann. Diese Aussage klingt zunächst widersprüchlich zu den
vorherigen Äußerungen von Bm, erklärt sich aber zum einen in der Lesart der
Sehnsucht nach Anerkennung durch die Anderen in der Gruppe, zum anderen
dadurch, dass er durch die Beurteilung der Maßnahme, bzw. deren reflexiver
Einschätzung noch keine Aussage darüber macht, ob er denn im Rahmen dieser
„Spiele“ wieder Vertrauen gelernt habe, oder ob er nur wahrgenommen habe, dass
grundsätzlich die Möglichkeit gegeben sei, in den pädagogischen Aktionen Vertrauen
228
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
zu lernen. Es handelt sich also um die Unterscheidung zwischen den von Bm
wahrgenommenen Lernpotentialen und den tatsächlichen Lernprozessen von Bm.38 In
diesem Sinne kann man hier also auch von einer rituellen Konklusion sprechen, die
dokumentiert, dass die vorhandenen Rahmeninkongruenzen (Wirkmächtigkeit des
Milieus und Suche nach Zugehörigkeit zu einem Milieu als aktiver Prozess) zwar
wahrgenommen, aber vermieden werden und sich die Gruppe anderen Themen
zuwendet.
Ew (575) nimmt die rituelle Konklusion nicht als solche auf der Ebene des
Dokumentsinns wahr, sondern versteht sie als Einsicht und Einlenken in ihre
Sichtweise auf der wörtlichen Ebene. Sie bezeichnet im Folgenden die Maßnahme
wiederum als ein Lernfeld und spezifiziert die Lerninhalte bereits etwas genauer,
indem sie die Veranstaltung als „Weiterbildung in so persönlichen Dingen“ (574)
bezeichnet, und damit die Ziele in der Vermittlung von Soft Skills vermutet.
Auffällig ist auch, dass sich nach dieser rituellen Konklusion erst einmal eine längere
Pause einstellt – wobei sich mehrere TN bereits vor der Konklusion mit Wortbeiträgen
zurück gehalten haben (Dw, Gw, Cm).
Bedeutung und Einfluss des sozialen Umfelds auf die Entwicklung der
Persönlichkeit des Einzelnen39
Inhaltlich fokussiert diese Sequenz, in der es thematisch zunächst um die Frage geht,
ob Bm sich selbst als Versager wahrnimmt und bezeichnet, auf den Einfluss von
Menschen auf den Einzelnen. Während Bm sagt, dass es kaum möglich ist, dem
Einfluss anderer Leute zu entkommen und sich individuelles Verhalten an das
Verhalten der Gruppe anpasst, versuchen Aw und Ew zu verdeutlichen, dass
potenziell die Chance zu individuell anderem Verhalten erhalten bleibt. Am Ende der
Sequenz schlägt Ew den Bogen zu der Veranstaltung, in der Aufbau von Vertrauen
gelernt werden könne.
Es scheint als dokumentierten sich in dieser kurzen Sequenz bereits zwei
unterschiedliche Ausprägungen des Orientierungsmusters „Orientierung an
verschiedenen Welten“: Während Bm die Verantwortung für individuelles Handeln
auf Strukturen oder andere Personen(gruppierungen) verlagert und die Unmöglichkeit
38 An dieser Sequenz wird besonders deutlich, dass die vorliegende Studie immer das Potenzial von Bildung über die Explikation der Teilnehmer der Diskussion herausgearbeitet werden kann und das Untersuchungsdesign nicht geeignet ist, um Bildungsprozesse des Einzelnen zu rekonstruieren (vgl. dazu auch: Müller 2005, 45). 39 vgl. auch Jm in Gruppendiskussion Feld, Textsequenz 8: Devianzerfahrungen von Jm (599-691)
229
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
thematisiert, sich der Umwelt dauerhaft resistent gegenüber zu verhalten, wird in
bezug auf die Äußerungen von Aw und Ew die individuelle Verantwortung für das
eigene Handeln deutlich, da es ja prinzipiell auch möglich sei, sich gegen die von
außen an den Einzelnen gestellten Erwartungen zu stellen. Ebenso könnte das
teilweise als kokettierend wirkende Verhalten von Bm auch darauf hindeuten, dass er
durch die verinnerlichte Wirkung solcher Erzählungen Aufmerksamkeit erntet und
dementsprechend diese Äußerungen bewusst einsetzt, um die soziale Ader der
Gegenüber anzusprechen. Andererseits könnte diese Textstelle auch auf ein
inkorporiertes Muster der Selbsteinschätzung hindeuten: Vielleicht ist ihm von
unterschiedlichen gesellschaftlichen Institutionen lange genug vermittelt worden, dass
er ein Versager sei – angefangen bei der Schule, dem Elternhaus und letztlich dem
Jugendgericht. Möglicherweise ist ihm in seiner Biographie bereits häufiger suggeriert
worden, dass die Verantwortung für sein eigenes Handeln, bzw. eine Begründung für
sein abweichendes Verhalten in seinem sozialen Umfeld zu finden ist – eine
Auffassung, die auch von einigen Praktikern in der sozialen Arbeit vertreten wird.
Vor dem Hintergrund, dass diese Gruppendiskussion in einer Maßnahme mit
straffälligen und nicht-straffälligen Jugendlichen stattfindet und dass Bm dem
Teilnehmerkreis der straffälligen, Aw und Ew dem Kreis der nicht-straffälligen
Jugendlichen zugehören, wird in den folgenden Interpretationen herausgearbeitet, ob
sich bezogen auf den Teilnehmerkreis solche Unterschiede in den
Orientierungsmustern mehrfach rekonstruieren lassen und ob Veränderungen dieser
Rahmungen thematisiert werden. Die zwei herausgearbeiteten Orientierungsmuster
deuten wiederum auf die Spannung hin, in der sich diese Orientierungsfigur befindet:
Während Bm seiner inkorporierten Handlungspraxis folgt und die Verantwortung für
individuelles Handeln vor allem im sozialen Umfeld sieht, wird er im Projektkontext
mit einer äußeren Welt konfrontiert, die seiner Handlungspraxis oppositional
entgegensteht. Zunächst erscheint es unmöglich, diese beiden Orientierungsmuster zu
synthetisieren – obgleich dies das erklärte konzeptionelle Ziel der Maßnahme ist:
„Durch die Stärkung des Selbstvertrauens und des Selbstwertgefühls sollen die
Jugendlichen in einem kommunikativen Prozeß lernen, an ihrer individuellen und
gesellschaftlichen Situation verändernd tätig zu werden“ (Plien 2003, 81).
In diesem Zusammenhang scheint ein Problem in der Gruppenkonstellation auf:
Unmittelbares Verstehen als Modell einer konjunktiven Verständigung im Sinne
Mannheims (vgl. Kap. 4.2.5, 130f) scheint hier gestört zu sein, da die gemeinsame
Erlebnisschichtung sich zunächst auf den Kontext der Maßnahme bezieht. Eine
weitergehende Verständigung bedarf Gemeinsamkeiten in der
Sozialisationsgeschichte, die hier nur im Ansatz gefunden werden (355ff, „Wir haben
230
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
auch schon geklaut“), bzw. die von den nicht-straffällig gewordenen Teilnehmern im
kommunikativen Prozess erst mühsam hergestellt werden müssen (vgl. Textsequenz 5:
Freiwillige Teilnahme (348-386), S. 251). So stehen die Gesprächspartner vor der
Herausforderung, sich auf anderem Wege Zugang zu der Sozialisationsgeschichte und
zur Handlungspraxis ihres Gegenübers zu verschaffen. „Unmittelbares Verstehen ist,
wie gesagt, in jenen Bereichen möglich, in denen ich mit dem jeweiligen anderen
durch Gemeinsamkeiten der Erlebnisschichtung, durch gemeinsame Erfahrungsräume
- generations- und/oder milieu- und/oder geschlechtsspezifischer Art – verbunden
bin“ (Bohnsack 1997b, 58). Der Versuch, über Ähnlichkeiten in der
Sozialisationsgeschichte durch Ew und Aw ein unmittelbares Verständnis zu
konstruieren ist nur dadurch möglich, dass die Gruppe grundsätzlich
generationsspezifisch miteinander verbunden ist. Der Effekt der dokumentarischen
Methode liegt ja gerade darin, dass die konjunktiven Erfahrungsräume (Milieus) vom
konkreten Situationszusammenhang abstrahieren und sich auf z.B. den
Generationszusammenhang beziehen. Die Teilnehmer befinden sich in der gleichen
Alters- und Entwicklungsphase der Adoleszenz und sie haben darüber hinaus über den
Generationszusammenhang bestimmte historische Ereignisse zur gleichen Zeit erlebt
und stehen entwicklungspsychologisch vor vergleichbaren Aufgaben, die sich unter
Bezug auf handlungstheoretische Modelle der Entwicklung u.a. durch den Umbau der
sozialen Beziehungen, der Entwicklung von Individualität und Persönlichkeit, Wahl
einer beruflichen Tätigkeit charakterisieren lassen (vgl. Fend 2003).
„Milieus sind als »konjunktive Erfahrungsräume« dadurch charakterisiert, dass ihre
Angehörigen, ihre Träger durch Gemeinsamkeiten des Schicksals, des biographischen
Erlebens, Gemeinsamkeiten der Sozialisationsgeschichte miteinander verbunden sind.
Dabei ist die Konstitution konjunktiver Erfahrung nicht an das gruppenhafte
Zusammenleben derjenigen gebunden, die an ihr teilhaben. Dies lässt sich am Fall des
»Generationszusammenhangs« als eines konjunktiven Erfahrungsraums beispielhaft
zeigen: [...] Aufgrund gemeinsamen Erlebens bestimmter historischer Ereignisse und
Entwicklungen konstituiert sich eine gemeinsame »Erlebnisschichtung«“ (Bohnsack
2003, 111). Interessant sind in diesem Zusammenhang mit Blick auf die dieser Arbeit
zugrunde liegende allgemeine Forschungsfrage die weitergehenden Überlegungen,
wie die Jugendlichen mit den gemeinsamen Erlebnisschichtungen in Bezug auf
unterschiedliche Erfahrungsräume umgehen.
231
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
6.2.4 Textsequenz 4 : Drogen (651-893)
Kontext und Auswahl der Textstelle
Das Thema „Drogen“ und Umgang mit Sucht hat die Teilnehmer dieser
Gruppendiskussion insgesamt nachhaltig beschäftigt. Ein wesentlicher Ausgangspunkt
dieser thematischen Fokussierung liegt zum einen in der für die Jugendlichen
beeindruckenden Darstellung des persönlichen Lebenslaufes eines ehemals
drogenabhängigen Mitarbeiters einer Suchtberatungs- und Therapiestätte, der von der
Leitung des Projektes in die Maßnahme eingeladen wurde, um von den eigenen
Drogenerfahrungen zu berichten. Besonders brisant wird diese Thematik allerdings
durch die vorhandenen eigenen Drogenerfahrungen der beteiligten Jugendlichen, die
auch in dieser Diskussionssequenz thematisiert werden. Insbesondere Bm nutzt die
Gelegenheit, auf eine Nachfrage von Aw, später auch von Ew, eine längere narrative
Passage zum eigenen Kontakt zu Drogen in die Diskussion einzubringen (874-892).
Auf diese Textstelle wird im Verlauf der Interpretation noch ausführlicher
eingegangen.
Im Gesamtgrundmuster geht es zunächst um die Frage nach dem Eindruck, den diese
Sequenz im Seminar bei den Teilnehmer der Gruppendiskussion hinterlassen hat.
Dabei bewegt sich die Gruppe in der Orientierung in der Ambivalenz zwischen den
Polen einer positiv konnotierten Beeindruckung durch die Persönlichkeit des
Referenten und seinem Weg aus der Drogenkarriere heraus, und der negativ
konnotierten Abschreckung über einzelne Details aus dem Zusammenhang mit dem
Konsum von Drogen, die sich durch die einzelnen Sequenzen dieser Textstelle
hindurch zieht. Wie im Folgenden herausgearbeitet wird, scheint auch hier das
gemeinsame Thema die Frage nach der Orientierung an verschiedenen Welten zu sein:
Projiziert auf die „Karriere“ des Referenten geht es um die Frage der
Verantwortlichkeit für das eigene Leben (d.h. wie er es geschafft hat, aus diesem
Teufelskreis wieder auszubrechen) und die eigene Handlungsfähigkeit.
Aufgrund der hohen Selbstläufigkeit und der Intensität der narrativen Passagen – vor
allem bei Bm – weist diese Textsequenz den Charakter einer Fokussierungsmetapher
auf und wurde demzufolge intensiv bearbeitet.
Anknüpfung an die Drogenthematik im Seminarkontext
Auf der thematischen Ebene steht in Bezug auf die Konfrontation mit einer für die
meisten Teilnehmer der Gruppendiskussion bisher fremden, äußeren Welt des
232
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
intensiven Drogenkonsums die Entwicklung eines gemeinsamen Standpunktes zum
Thema Drogen und Drogenkonsum im Zentrum dieser Sequenz der
Gruppendiskussion.
Der Moderator greift die mehrfachen Andeutungen der Teilnehmer in Bezug auf die
Ausführungen eines Gastreferenten in dem Seminar auf, der – von den Veranstaltern
eingeladen – aus der eigenen Perspektive eines ehemaligen Drogenkonsumenten die
Drogenthematik mit den Teilnehmern bearbeiten sollte. So wird bereits in der
Vorstellungsrunde zu Beginn des Gespräches von einigen Teilnehmern darauf
verwiesen, dass dieser Referent einen sehr tiefen Eindruck hinterlassen habe (z.B. Ew:
54 – „der Kriminelle“; Aw: 58 „das fand ich sehr beeindruckend“; Gw:
119: „Ja, das war ziemlich cool, also was man da so gehört hat.
Das war ziemlich heftig“). Im Verlauf der Diskussion wird immer wieder an
diese Seminareinheit angeknüpft (Fm: 433 – „Man lernt auch was von
anderen Menschen!“; 616: Über den Vortrag wurde im informellen Rahmen weiter
diskutiert), so dass mit dieser stimulierenden Frage Selbstläufigkeit über ein die
Teilnehmer interessierendes Thema über eine lange Zeit aufrecht erhalten, bzw.
ermöglicht werden konnte.
Drogenkonsum und Geld
Bm stellt in Form einer Proposition (654) fest, dass es für ihn unvorstellbar ist,
finanzielle Summen in der von dem Referenten geschilderten Höhe für den
Drogenkonsum auszugeben. Damit bringt er zum Ausdruck, dass ihn die Geschichten
des Referenten eher negativ angesprochen haben, er aber dennoch über soviel
Vorstellungsvermögen verfügt, um die Erfahrungen des Referenten auf seine eigene
Situation zu übertragen. An dieser Stelle zeigt sich, dass er nicht von den
Schilderungen bzgl. der sozialen oder persönlichen Konsequenzen positiv oder negativ
beeindruckt ist. Das könnte darauf hindeuten, dass die finanzielle Seiten in diesen
Dimensionen für ihn neu sind, während ihm die anderen Folgen aus der
Drogenabhängigkeit vertraut sein könnten. Woher er diese Kenntnisse hat, kann an
dieser Stelle nur vermutet werden, die folgenden Äußerungen von Bm, insbesondere
in 874-892 lassen jedoch darauf schließen, dass sie seinem persönlichen
Erfahrungshorizont entstammen.
Durch die spontane Bezugnahme auf die Geldsummen, die im Rahmen des
Drogenkonsums geflossen sind, thematisiert Bm zunächst einen völlig anderen
Aspekt, als die anderen Teilnehmer und verdeutlicht also, dass ihn die Äußerungen
insgesamt nicht besonders zu irritieren scheinen. Was ihn beeindruckt sind die hohen
233
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Geldbeträge, wodurch auch seine Haltung zu Geld, bzw. die Bedeutung von Geld für
ihn zum Ausdruck kommt: »So viel Geld – was könnte man da alles mit machen«. Die
vorgetragenen Summen imponieren Bm scheinbar so, dass seine ersten Gedanken auf
den finanziellen Aspekt des Drogenkonsums gerichtet sind. Neben der Annahme
seiner eigenen Affinität zur Drogenszene verdeutlicht diese Reaktion vor allem unter
Berücksichtigung weiterer Passagen von Bm die Dominanz des Faktors Geld für das
Leben in der Auffassung von Bm (259;517; 520; 701; 736; 759-761).
Die Ausführungen des Referenten werden von Dw eher als abschreckend als
beeindruckend empfunden (656). Damit führt sie aus, dass für sie der Terminus
„beeindruckend“ eher positiv konnotiert ist und der Eindruck, den der Referent
hinterlassen hat, eher negativ als positiv ist. Gw stimmt dieser Auffassung zu (657).
Drogen und persönliche Veränderungen von Menschen
Bm exemplifiziert die anfängliche Proposition und erklärt, dass nicht nur die
Geschichte mit den hohen Geldbeträgen abschreckend wirke, sondern vor allem der
Verlauf des Drogenkonsums, die Bm als „kaputt gehen“ beschreibt. Bm fokussiert
damit zunächst die Abwärtsspirale, die ihn abgeschreckt hat und liefert damit eine
Aussage im Stil einer Anschlussproposition (658). Er rückt damit von seiner ersten
Aussage ab und verfeinert sie, nachdem er den Widerspruch aus der Gruppe
wahrgenommen hat, so dass seine Äußerung kompatibel zu den Äußerungen von Dw
und Gw erscheint. Seine Bemühungen, Kohärenz herzustellen in der Gruppenmeinung
werden allerdings durch eine Antithese und die Eröffnung eines Gegenhorizontes von
Ew (659) zunächst erschwert, die sich vor allem nicht nur durch den Abstieg, sondern
durch die Kraft zum Wiederaufstieg zu einem Menschen, „der sein Leben im Griff
hat“ hat beeindrucken lassen.
Bm validiert diesen Gegenhorizont (660; 664) und nimmt damit einen
Perspektivenwechsel auf das Thema „Drogenkonsum“ vor – war er bisher von der
Abwärtsspirale, den hohen Geldsummen und den persönlichen Konsequenzen negativ
beeindruckt (=abgeschreckt), so schließt er sich in seiner Betrachtungsweise eher dem
positiven Eindruck von Ew an, die seine Kraft, aus dieser Situation wieder heraus zu
brechen betont. Dabei übernimmt er an dieser Stelle die Perspektive von Ew, was an
unterschiedlichen Stellen nachgezeichnet werden kann40, und verdeutlicht die
Bedeutung der Beziehungsdynamik innerhalb der Gruppe für Bm und seine eher
40 Für eine weitere Auswertung des Verhaltens von Bm wäre es interessant, die Reaktionen von Bm auf die Äußerungen von Ew oder Aw detailliert zu betrachten. Mit Blick auf die Interpretation der Behandlung der weiteren Themen der Gruppendiskussion wurde darauf an dieser Stelle jedoch verzichtet.
234
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
rudimentär ausgeprägte Fähigkeit zu kontroversen, antithetischen Dialogen und
Streitgesprächen. Auf der thematischen Ebene wird diese Aussage von Ew, Fm und
Bm validiert (666-669).
In der folgenden Sequenz differenziert Bm diese Aussage jedoch und erweitert sie um
die Frage der psychischen und physischen Disposition von Menschen, um den von
dem Referenten geschilderten Weg zu gehen (669). Die Kraft zum Neuanfang besitzen
nicht alle Menschen und deshalb sei es umso beeindruckender, dass der Referent das
geschafft habe. Diese Aussage wird von Fm gestützt.
Irritation bezüglich des Aussehens: „Der sieht gar nicht wie ein Ex-Junkie aus...“
Die folgende Sequenz stellt den Prozess des Abgleiches zwischen erwarteter
physischer Disposition und Auffälligkeiten von Menschen, die Drogen konsumieren
oder konsumiert haben, mit dem realen Erscheinungsbild des Referenten dar. Der
bereits näher ausgeführten Figur „Orientierung an verschiedenen Welten“ (vgl.
Textsequenz 2: Beibringen oder lernen, Kap. 6.2.2, S. 211) zufolge geht es in dieser
Sequenz um die kollektive Auseinandersetzung mit inneren, inkorporierten
Vorstellungen oder Bildern (Drogensucht kann man jemanden ansehen) und der
äußeren Welt – repräsentiert durch den Referenten - , die genau dieses Phänomen in
Frage stellt. In der Auffassung von Dw (671) könne man es im Normalfall den
Menschen (ein bisschen) ansehen, dass sie Drogen konsumieren oder konsumiert
haben – sie drückt ihre Irritation darüber aus, dass dies in diesem Fall optisch nicht
möglich sei und sie somit ihre Einschätzung bzgl. des Aussehens von
Drogenkonsumenten revidieren musste.
Fm formuliert antithetisch, dass er glaube, in der augenscheinlichen
Unkonzentriertheit und Sprunghaftigkeit in den Erzählungen einen Hinweis auf die
überwundene Drogensucht (quasi als Spätfolge) erkannt zu haben (673;674). Dabei
bezieht sich die Einschätzung von Dw eher auf das optische Erscheinungsbild. Diese
Aussagen werden von Fm und Ew validiert.
Ew differenziert ihre Aussage, da sie der Auffassung ist, dass man den Referenten
wahrscheinlich doch hätte entlarven können durch sein Aussehen, aber dazu habe sie
zu weit weg gesessen und ihm nicht richtig auf die Haut blicken können. Das „Nicht
erkennen können, dass es sich um einen Drogenkonsumenten handelt“ beziehe sich
somit nur auf den ersten Eindruck.
Durch diese Einschränkung wird deutlich, dass sich an dem grundlegenden
Orientierungsmuster, man könne an äußeren Kennzeichen Konsumenten von Drogen
235
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
erkennen, nur partiell etwas verändert hat. Grundsätzlich gingen alle Beteiligten dieser
Sequenz bisher davon aus, dass Drogenkonsumenten ein derart markantes Aussehen
haben, dass sie auf den ersten Blick als abhängig identifizierbar und dadurch der
spezifischen Gruppe der Drogenkonsumenten zuzuordnen sind. Dabei scheinen sie
noch geprägt zu sein von den Vorstellungen aus dem Drogenmilieu der 70er und 80er
Jahre, durch das Bilder wie von Christiane F. produziert wurden – neueren
Untersuchungen zufolge scheinen diese Vorstellungen jedoch nicht mehr zeitgemäß
zu sein (vgl. Leurs; Meyer; Neumann u.a 2004, 70-82).
Die leichte Irritation des zugrunde liegenden gemeinsamen Orientierungsmusters
durch das Erscheinungsbild des Referenten bezieht sich nur auf die flüchtige,
alltägliche Wahrnehmung von Menschen (und wer schaut dabei schon jemanden
gezielt auf die Armbeugen, unter die Füße oder andere Muskelpartien). Ob das
Orientierungsmuster sich dadurch grundlegend verändert hat, kann aufgrund der
Sequenz 679-682 bezweifelt werden – es ist allenfalls in Form einer weiteren
Differenzierung zwischen „Alltagswahrnehmung“ und „intensiver
Auseinandersetzung“ modifiziert worden.
Insofern lässt sich bereits in dieser kurzen Sequenz ein Phänomen nachzeichnen, das
im bildungstheoretischen Diskurs als Transformation des Verhältnisses des Einzelnen
zu seiner sozialen Umwelt ausformuliert wurde. In dieser Textstelle wird expliziert,
dass dieses Verhältnis durch den Referenten zumindest irritiert wurde. Ob es sich
tatsächlich weiterentwickelt hat durch die Begegnung mit dem Referenten kann dabei
jedoch nicht beurteilt werden. Wie an anderer Stelle bereits ausgeführt wurde (vgl.
Kap. 5.1, S. 151 erscheint es kaum möglich, durch ein solches Untersuchungsdesign
individuelle Bildungsprozesse zu rekonstruieren. So ist diese Textstelle ein guter
Beleg dafür, dass über die Bildungswirklichkeiten keine Aussagen getroffen werden
können. Wohl aber lässt sich an dieser Sequenz aufzeigen, dass die pädagogische
Praxis an dieser Stelle geeignet erscheint, um Bildungsprozesse zu ermöglichen (vgl.
Müller u.a. 2005, 45).
Irritation bezüglich der Offenheit: „Darüber redet man sonst nicht...“
In Form einer Anschlussproposition hebt Aw (687) besonders hervor, dass der
Referent keine Einzelheiten seiner Drogenkarriere ausgelassen oder bewusst nicht
erwähnt habe, oder sich darum bemüht hätte, Einzelheiten zu verschleiern, sondern
offen über viele Details gesprochen habe. Im Gegenzug belegt sie damit auch, dass sie
das so nicht erwartet hätte – möglicherweise ist es für sie ungewohnt, dass jemand so
offen, direkt und ohne Umschweife über einen so problematischen Lebensabschnitt
236
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
erzählt und sich – ohne sich für einzelne Ereignisse zu schämen – den Fragen der
Gruppe stellt. Interessant ist auch, dass sie diese Äußerung im Kontext der
Überlegungen expliziert, dass der Referent eigentlich trotzdem ein „ganz normaler
Mensch“ (Fm 686) sei. Die Normalität wäre dementsprechend, dass jemand eher die
problematischen Seiten eines solchen Lebensverlaufes zu „vertuschen“ versuche.
Diese Auffassung von Aw wird auch von Dw bestätigt (688). Einerseits ist für Fm
(689) diese Offenheit beeindruckend und ungewöhnlich, im Effekt ist sie allerdings
erstaunlich abschreckend und entfaltet ihre Wirkung, was wiederum die Zustimmung
von Dw bekommt und sie zu einer weiteren Proposition in dieser Sequenz veranlasst
(690-694): Moralisierung und Verteufelung des Drogenkonsums verstärken die
individuelle Neugierde und die Frage danach, warum Menschen überhaupt Drogen
und bewusstseinsverändernde Substanzen zu sich nehmen, wenn der Effekt
ausschließlich schlecht ist. Demgegenüber scheint ihr diese Form der Thematisierung
des Problemfeldes „Drogenkonsum“ allerdings geläufiger zu sein, da sie den Referent
hier explizit abgrenzt von „moralisierender Zeigefinger-Pseudo-Prävention“. 690 Dw: Und das es auch lustig ist, andere sagen immer nur,
ja das ist voll Scheiße und ihr fühlt euch danach voll Scheiße und so aber, er hat halt auch gesagt, okay, man fühlt sich für die Viertelstunde richtig cool. Ja und danach wird's aber eigentlich alles schlimmer und gerade wenn alle sagen, ja ist nur scheiße und so dann weckt das eigentlich Neugierde,-
691 Ew: Ja, stimmt, 692 Dw: - weil, weil, warum nehmen die Drogen,
wenn's nur Scheiße ist, das kann ja eigentlich |nicht angehen.|
693 Ew: |So hat's, ja so| hab ich das erst richtig verstanden, |wie der-|
Zugänge zu Drogen: Neugierde und Langeweile
Bm nutzt das Stichwort „Neugierde“ um die Proposition zu exemplifizieren (694) und
seine Auffassung über die Zugangswege zum Konsum bewusstseinsverändernder
Substanzen zu explizieren. Zunächst gekleidet in die (rhetorische) Eingangsfrage, ob
schon mal jemand von den Teilnehmer gekifft habe, referiert er die positiven Gefühle
und angenehmen Effekte des Kiffens.
694 Bm: |Das ist| die Neugier. Wenn du einmal das probierst, denkst du, boah, das ist gut, knallt voll heftig, bei dir - hat jemals von euch jemand hier gekifft? Du bestimmt-
695 Ew: Ja. 696 Fm: Ja. 697 Bm: Ist doch voll geil, von sich alles dreht, und
du lachst dich kaputt über jeden.
237
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
698 Ew: @(.)@ 699 Bm: Hat schon mal jemand Teile gespackt? 701 Ew: Nee. 702 Bm: Ich, das ist auch so. Da hast du die
Neugierde ((...)), denkst boah, das ist geil noch mehr eins probieren und dann, dann langweilt dich das irgendwann mal, diese, rauchen und diese teile spacken und dann willst du Neues ausprobieren, dann kommt irgendeiner zu dir, sagt, hier probier mal das, von dem sagt jeder, ja das ist viel anders, ganz anders, aber das kost teurer, gibts das Geld, spritzt dir rein und dann bist du dran. Ich brauch das nicht mehr.
In der anschließenden, weiteren Erzählung, die er wiederum mit einer Frage einleitet
und die er dann selbst beantwortet, formuliert er den Zugang zu weiteren Drogen, der
über Langeweile und Neugierde, die Grenzen neu zu stecken, charakterisiert sei.
Dabei verwendet er eine Szenesprache, die nicht ohne weiteres von jedem verstanden
werden kann, da sie sehr spezifisch kodiert ist.
Dadurch signalisiert er, dass er sich intensiv mit der Szene auseinandergesetzt hat –
entweder durch eigene oder durch Sekundärerfahrungen, die ihm berichtet wurden.
Während beim Kiffen und „Teile spacken“ der Antrieb noch als intrinsisch motiviert
formuliert wird, gehören zum „Spritzen“ auch noch andere dazu. Zum einen wolle der
Konsument was Neues ausprobieren, d.h. er signalisiere grundsätzliche Bereitschaft
auch zu anderen Substanzen zu greifen. Entscheidend sei aber zum anderen, dass
„dann einer zu dir kommt und dir was empfiehlt“. Er charakterisiert damit eine
Abwärtsspirale und rekurriert dabei auch auf die Bedeutung anderer Leute.
Auffällig ist die Form, mit der Bm seine Narration an dieser Stelle beginnt: Er wird
weder verbal noch non-verbal aufgefordert von der Gruppe, seine persönlichen
Erfahrungen in die Gruppendiskussion einzubringen, noch wird er von jemanden
augenscheinlich provoziert. Vielmehr unterbricht er die Äußerungen von Ew, die sich
insgesamt noch auf die Ausführungen des Referenten beziehen. Es scheint ihm also
ein Anliegen zu sein, der Gruppe Auskunft über seine Auffassungen zu geben und
seine Erfahrungen und Erlebnisse mit Drogen mitzuteilen. So kann auch diese Stelle
deutlich als ein Signal von Bm gelesen werden, aufgrund seines Strebens nach
Aufmerksamkeit und Anerkennung von der Gruppe Beiträge zur Diskussion zu
liefern, ganz ähnlich, wie der Referent in den vorherigen Sequenzen der
Gruppendiskussion ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und persönlicher Anerkennung
erhalten hat – möglicherweise hat Bm sich davon „anstecken“, bzw. inspirieren lassen.
Bei anderen Gesprächsteilnehmern, z.B. Gw, scheint dies Bedürfnis erheblich
schwächer ausgeprägt zu sein. Damit wird Bm auch zu einem eindeutigen
Protagonisten der Gruppendiskussion. Bm dokumentiert in seinen Äußerungen, dass
238
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
er nach Anerkennung in der Gruppe strebt und ihm die Anderen eine ganze Menge
bedeuten. Diese „Anerkennungssuche durch Bezug auf die äußere Welt“ hat für den
Einzelnen in der Darstellung von Bm entscheidenden Einfluss. Dies spiegelt sich auch
auf der Ebene des Dokumentsinns wider (vgl. auch die Ausführungen zum synchronen
Reflexionsformat, Textstelle 2: Beibringen oder Lernen, Kap. 6.2.2, S. 211)
Auf die thematische Nachfrage von Aw (702), ob er auch härtere Drogen konsumiere,
reagiert Bm einigermaßen entrüstet und grenzt sich stark von der Drogenszene ab –
vor allem, da er unlängst wieder zu weiterem Drogenkonsum überredet werden sollte.
Unklar bleibt jedoch, ob Bm tatsächlich keine anderen Substanzen zu sich nimmt, oder
ob er an dieser Stelle eine deutliche Grenze zieht, worüber er bereit ist, in dieser
Gruppe zu sprechen.
An dieser zunächst einleuchtenden Äußerung – die Teilnehmer sind ja erst seit 5
Tagen als Gruppe zusammen - wird deutlich, dass zumindest Ew und Aw es nicht für
abwegig halten, dass Bm auch solche Drogen konsumiert, die injiziert werden müssen.
Zum einen trauen sie ihm dieses zu, zum anderen scheint auf der Beziehungsebene
zumindest durch die vielen Narrationen implizit geklärt worden zu sein, dass auch
solche Rückfragen hier möglich und erlaubt sind. Gewissermaßen als Nebenprodukt
der Interpretation dokumentiert sich hier das hohe Maß an Sozialkompetenz von Ew
und Aw, die zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Lebenswelt von Bm
bereit sind (vgl. dazu auch Textsequenz 5: Freiwillige Teilnahme (348-386), S. 251).
Dieses Interesse bleibt bestehen, auch wenn Bm an dieser Stelle zunächst noch eine
Grenze zieht und die Diskussion auf der thematischen Ebene vorläufig zu einem
Abschluss bringt (Konklusion). Damit scheint die Frage für die Teilnehmer geklärt zu
sein – er distanziert sich von härteren Drogen und damit ist für ihn das Kapitel
Neugier und Grenzerweiterung abgeschlossen. Die Formulierung am Schluss mutet
etwas überheblich an, denn sie wirkt etwas zu stark abgrenzend für jemanden, der sich
bei anderen Substanzen sehr leicht hat überreden lassen. Einerseits kann damit zum
Ausdruck gebracht werden, dass an dieser Stelle wirklich eine starke Grenze verläuft –
Substanzen, die man oral oder durch Rauchen zu sich nimmt sind in Ordnung und
wohl nicht so schlimm, Substanzen, die direkt in den Körper injiziert werden, sind
schlimm und folglich rigoros abzulehnen. Dennoch erweckt der Kontext den
Eindruck, dass diese Grenze insgesamt nicht so stabil ist, wie es scheint, oder scheinen
soll, und dass auch hier grundsätzlich eine Grenzüberschreitung für Bm möglich ist.
Dagegen scheint es eher so zu sein, dass dies eine absolute Grenze der Gruppe ist –
das wird aus der Thematisierung der Drogenerfahrung an anderen Stellen deutlich.
Und wenn Bm sich mit seinen Erfahrungen mit „weicheren“ Drogen auf der einen
Seite noch die Aufmerksamkeit der Gruppe sichern kann und sich damit in den
239
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Mittelpunkt der Gruppendynamik setzen kann, so schlägt die Aufmerksamkeit in eine
Ablehnung und später dann in ein konkretes Hilfsangebot um, sobald die Drogen
härter werden, bzw. er sich nicht davon distanziert (703-708). Dies wiederum stößt auf
Ablehnung bei Bm und wird nicht akzeptiert.
Dieser Effekt könnte wiederum ein Anzeichen dafür sein, dass es ihm nicht um darum
geht, aus der eigenen Biographie zu erzählen, um ein sog. verstecktes
Hilfsbedürfigkeitssignal zu senden, sondern vielmehr, um Anerkennung und Ansehen
in der Gruppe zu bekommen.
Drogenthematik im Seminarkontext – Fortsetzung der Diskussion
Ew wechselt den Rahmen von der persönlichen, narrativen Thematisierung der
Drogenproblematik durch Bm und greift in Form einer Proposition wieder die
Perspektive auf die Erzählungen des Referenten auf und betont dabei den Widerspruch
zwischen dem guten Gefühl und den Schilderungen zur äußeren Umfeld, zur
Wohnung und zu seiner Hygiene (708-722). Damit bringt sie einerseits erneut ihre
Anerkennung über die Offenheit des Referenten zum Ausdruck und andererseits ihre
Auffassung, dass die Folgen des Drogenkonsums abschreckend auf sie wirken. Im
Themenwechsel dokumentiert sie, dass sie auf Erfahrungen der Art, wie Bm sie
gemacht hat, wohl nicht zurückgreifen kann, sie also in dieser Hinsicht über keinen
gemeinsamen Erfahrungsraum verfügen und sie dementsprechend nicht „mitreden“
kann. Durch das Aufgreifen der Sekundärerfahrungen über die Erzählungen des
Referenten gelingt es ihr, eine kommunikative Ebene wieder herzustellen und einen
erneuten Einstieg in das gemeinsame Gespräch zu finden (vgl. Bohnsack 1997b, 58
und Textsequenz 2: Beibringen oder lernen, Kap. 6.2.2, S. 211).
Im Folgenden wird von allen Teilnehmern (außer Dw) die Sequenz in dem Seminar
arbeitsteilig expliziert und die Proposition elaboriert. Während sich Ew, Cm und Fm
der Proposition von Ew im positiven Sinne anschließen, sie arbeitsteilig und teilweise
überschneidend validieren und differenzieren (722-727) und sich daraufhin erneut Em
und Fm mit einer Validierung zu Wort melden (728-733), formuliert Bm eine
Antithese dazu (734-736): Die Abschreckungswirkung, die die Erzählung bei den
Gruppenmitgliedern entfalte, könne seines Erachtens nicht generalisierend sein, da
Konsumenten von Drogen diesen reflexiven Blick nicht entwickelten. Er bringt damit
zum Ausdruck, dass seiner Erfahrung nach „Junkees“ diese metareflexive, kognitive
Ebene, auf der die aktuelle Diskussion stattfindet, gar nicht erreichen und sie lediglich
in sehr kleinen Zeitabschnitten ihr Handeln kontrollieren und den größeren zeitlichen
Kontext nicht wahrnehmen können. Dies wird wiederum von Ew bestätigt und im
240
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Anschluss daran von Bm durch eine weitere narrative Erzählung weiter exemplifiziert.
Wiederum stimmt Ew den Ausführungen von Bm zu (737-739) und differenziert die
These weiterhin aufgrund der Sekundärerfahrungen aus dem Referat durch den Bezug
auf die Schilderungen des Referenten.
Andeutung einer Synthese unterschiedlicher Welten
Die starke Affinität der Teilnehmer der Gruppendiskussion zu dem Referenten deutet
darauf hin, dass eine Verständigung der beiden „Seiten“ wahrscheinlich nicht nur auf
einer rein kommunikativen Ebene vollzogen wurde, sondern eine Synthese der
Orientierungsmuster des Referenten mit den Interpretationsmustern der
Gruppenteilnehmer zumindest in Ansätzen erreicht werden konnte. Dadurch, dass der
Referent zu einer Identifikationsfigur für die Gruppenmitglieder werden konnte, stellt
sich die Frage, ob er mit ihnen einen gemeinsamen konjunktiven Erfahrungsraum teilt.
Die Gruppe – expliziert durch Ew - jedenfalls bringt es verbal auf den Punkt:
737 Ew: Und er hat genau so gedacht wie wir, am Anfang, als das so anfing, der hat auch, also uns hat er erzählt, dass er immer gedacht hat, auch so spritzen, das machst du nie und so weit kommt das nicht und so.
739 Ew: Und das dann so ein normaler Mensch wie wir alle, das der so werden kann, das war irgendwie beeindruckend, aber auch sehr, sehr erschreckend. Aber-
Bm bestätigt diese Auffassung. Ew führt in einer weiteren Validierung aus, dass die
Identifikation mit dem Referenten auf der persönlichen Ebene die Drogenkarriere
ebenfalls auf eine sehr persönliche Ebene an die Teilnehmer heran trage und dadurch
abschreckend und beeindruckend zugleich wirke.
Aw ergänzt die Erzählungen durch die Rekapitulation der Ausführungen des
Referenten, wie eine Drogenabhängigkeit vermieden werden könnte (740-742).
Überraschend wirkt der Kommentar von Bm, dass diese alternativen
Beschäftigungsformen ein Lernziel des aktuellen Projektes sein könnten.
Einfluss der äußeren (Um-)Welt auf den Einzelnen und Verantwortung für
eigenes Handeln
Aw führt aus, dass die soziale Umgebung eines Menschen Einfluss auf sein
individuelles Verhalten haben kann (742) und empfiehlt – was aus dem Kontext
heraus wie ein Ratschlag in Richtung Bw wirkt - umgehend die sozialen Beziehungen
abzubrechen, wenn sich der Einfluss der Umgebung negativ auswirke.
241
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Gruppendynamisch wirkt diese Aufforderung wie ein Affront gegen die Anderen in
der Gruppe, da sie sie mit dem eigenen Orientierungsmuster konfrontiert: Wenn es so
ist, dass die Anderen einen so starken Einfluss ausüben, dann muss man das ernst
nehmen und entsprechend handeln. Das genau dies aber aufgrund der starken
Abhängigkeit nicht so einfach möglich ist, da es dazu auch einer inneren Instanz
bedarf, die es ermöglicht, negative von positiven Einflüssen zu unterscheiden,
übersieht sie dabei.
Damit manifestiert sich die Interpretation ihrer Einstellungen weiter: Sie präsentiert
sich als eine sehr stringente Persönlichkeit, die klar aus sich selbst heraus, aus ihrem
eigenen Bezugssystem heraus lebt und ihre Lebensenergie und Anerkennung aus ihrer
inneren Welt schöpft. Sie stellt sich so dar, als ob sie die äußeren Bezugssysteme
entsprechend manipulieren könne, wenn Sie Anerkennung und Wertschätzung von der
äußeren Welt sucht und handelt nach dem Motto: Wenn ich nicht das bekomme, was
mir gut tut, dann gehe ich eben und such mir andere Bezüge. Mit dieser starken
egozentrischen Haltung steht sie scheinbar relativ isoliert in der Gruppe (ist so ein
Verhalten eigentlich altersgemäß?), scheint jedoch die gesellschaftliche Anforderung
an das Subjekt zunächst völlig verinnerlicht zu haben: Sie gibt sich völlig emanzipiert
und folgt ihrem eigenen Willen und Wohlergehen.
Auf diese Äußerung folgt bezeichnenderweise die erste Gesprächspause in der
Sequenz über Drogen und die Erfahrungen in diesem Projekt. Während sich alle
Teilnehmer in ihrer Unterschiedlichkeit sehr engagiert in diesen Diskurs eingebracht
haben, provoziert die Proposition von Aw an dieser Stelle eine Pause von ca. 4
Sekunden, in der die Teilnehmer nachdenklich und betroffen wirken. Verstärkt wird
dieser Effekt durch die Einleitung der Proposition mit den Worten „So einfach
mal...“. Dadurch erweckt Aw den Eindruck, als sei es unproblematisch für die
meisten Menschen, ihr soziales Bezugssystem gegen ein anderes auszutauschen.
Durch die folgenden Äußerungen lässt sich aus dem Kontext erschließen, dass diese
Pause eher den Charakter einer antithetischen Differenzierung hat: Die TN
vergegenwärtigen sich die Proposition von Aw – es erfolgt kein spontaner
Widerspruch, da die Proposition im Kontext des Gesprächsverlaufes der Gruppe
logisch und schlüssig ist und Zustimmung findet. Dennoch erfolgt anschließend eine
antithetische Differenzierung, so dass angenommen werden kann, dass die Pause auch
dazu dient, Klarheit herzustellen und eine Argumentation vorzubereiten.
Auch wenn Bm der grundsätzlichen Annahme von Aw, dass die äußere (Um-)Welt
einen großen Einfluss auf die Individuen ausübt, zustimmt, wie dies in der
Herausarbeitung des Orientierungsmusters bei Bm nachgezeichnet werden konnte, so
242
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
kann er sich dem Ratschlag nicht anschließen (744). Interessant ist, dass er – als
vermeintlich angesprochener Teilnehmer der Diskussion – auch tatsächlich als erster
auf die Proposition von Aw reagiert. Er thematisiert, dass für manche der Wechsel der
sozialen Beziehungen ein angstbesetzter Prozess sei: Eben dann, wenn der Einzelne es
sehr stark verinnerlicht hat, von der Anerkennung der äußeren Welt abhängig zu sein
(so wie das bei ihm der Fall zu sein scheint). Auf Bm bezogen verhindert also seine
starke Verbundenheit mit diesem Orientierungsmuster „Orientierung an der äußeren
Welt“, die er in diesem Satz zum Ausdruck bringt, Ein solcher Wechsel würde zu
einem Verlust eines Großteils seiner personalen Anerkennung führen, wobei im
Vorhinein nicht antizipierbar ist, ob dieser Verlust durch andere Um-Welten oder
innere Welten kompensiert werden kann. Entsprechend führt Bm weiter aus, dass ein
Wechsel des sozialen Bezugssystems auch bedeuten würde, negative Rückmeldungen
zu bekommen. Diese Einschätzung wird von Ew bestätigt, wobei sie unter Rückbezug
auf die Erzählungen des Referenten zynisch ausführt, dass sich das Problem des
sozialen Einflusses im Zeitverlauf von selbst löse, da in seinem Fall nach und nach
ohnehin alle gestorben seien (749). Bezieht man die Aussage von Bm auf ihn selbst,
so ist sie umso erstaunlicher, da er in ihr das Phänomen der Angst thematisiert. Für
männliche Jugendliche in seinem Alter ist es sehr ungewöhnlich, in einer
geschlechtsgemischten Diskussionsgruppe über Ängste zu sprechen. Dieser Ansatz
würde für einen sehr hoch entwickelten Zusammenhalt in der Gruppe und große
Offenheit in den Diskursprozessen sprechen
Die folgenden Sequenzen in diesem größeren inhaltlichen Zusammenhang der
Thematik sind in erster Linie auf die Wirkung von Drogen auf die psychosozialen
Dispositionen des Konsumenten gerichtet – der Konsum führt nach Meinung der
Gruppe zu Vereinsamung des Einzelnen, der sich von seiner sozialen Umwelt
abschottet und sich nicht mehr für die Menschen in seiner Um-Welt interessiert. In
dieser Hinsicht dürften diese Substanzen eine Faszination auf Bm ausüben, der sich an
verschiedenen Stellen als von der Urteilen der Um-Welt abhängig darstellt, um sich
von den Zwängen der Abhängigkeit von anderen – und seien es nur die Äußerungen –
zu befreien. Sein offensichtlicher Zugang zu diesen Stoffen ermöglicht es ihm, auch
eigene Erfahrungen zu machen, über die er ausführlich Auskunft gibt. Da auf der
inhaltlich-thematischen Ebene dieser Forschungsarbeit aber nicht die
Zugangsmöglichkeiten oder die Hintergründe für den Konsum von Drogen, sondern
die Frage nach der Irritation von Handlungsmustern stehen, durch die Praxisweisen in
den jeweiligen Projekten untersucht werden sollen, liegt auch der Schwerpunkt der
Interpretation auf der Frage der Ermöglichung von Irritationen und von
243
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Auseinandersetzungsmöglichkeiten mit inkorporierten Mustern der Weltaufordnung
und des persönlichen Handelns. 41
Auf der Ebene der Reflexion der Erfahrungen in dem Projekt thematisieren die
Teilnehmer die abschreckende Wirkung der Schilderungen durch den Referenten. Bm
nutzt die Diskussionssequenz, um eine längere narrative Passage über seine
Erfahrungen im Kontext des Drogenkonsums einzuflechten und Informationen und
Auffassungen von ihm weiterzugeben. Dies führt zu einem Erlöschen des Diskurses
(806), das sich durch die anschließende zehnsekündige Pause ankündigt und die
zugleich auch das Ende dieses thematischen Blocks markiert. Diese Pause erhält den
Charakter einer rituellen Konklusion, da nicht explizit verbal ein Schlussstrich unter
die Diskussion gezogen wurde, sondern sowohl von Fm als auch von Bm die Frage
gestellt wird, ob es noch etwas zu erzählen gebe, was ein noch umfassenderes Bild
über die Thematik geben könnte. Diese Äußerung kann auch als „rhetorische“
Konklusion interpretiert werden.
Verpflichtung der äußeren Um-Welt zur Einflussnahme auf den Einzelnen
Nach einer kurzen Passage über die abschreckende Wirkung der biographischen
Erzählungen des Referenten, die von Bm noch weiter angereichert werden durch
eigene Erfahrungen, diskutieren die Teilnehmer über die (Selbst-)Verpflichtung der
äußeren (Um-)Welt, auf die Individuen einzuwirken. Implizit formuliert Ew die
Proposition in dieser Sequenz (815-819): Sie thematisiert eine Verschiebung des
Normalitätsverständnisses zum Konsum von Haschisch, indem sie feststellt, dass
Kiffen normal geworden sei und sie dies äußerst negativ bewertet und kategorisch
ablehnt. Ew ist nicht bereit, diese neue Norm zu akzeptieren und eröffnet damit eine
Diskussion darüber, ob es eine Pflicht zur Intervention gebe. Dies wird von Gw
unterstützt (822) und zunächst die Rolle der Eltern als kontrollierende und
sanktionierende Erziehungsinstanz herausgestellt, wenngleich diese Rolle oftmals
nicht angemessen ausgefüllt werde. Ew differenziert weiter und überträgt ihre
Auffassung am konkreten Beispiel einer Freundin, in deren Klasse ein Mitschüler
durch Cannabis-Konsum auffällig geworden sei, auf weitere Bereiche des
gesellschaftlichen Erziehungs- und Bildungssystem. Insbesondere die Lehrer seien in
der Pflicht, beim Verdacht auf Drogenkonsum zu intervenieren und mit den Eltern
zusammen zu arbeiten. Bm entgegnet, dass ein Grund für das Unterbleiben einer
41 In einer solchen Lesart könnte dann Bildung im Sinne eines Bildungsverständnisses zu einem mehr an Autonomie und Selbstbestimmung als Zielperspektive, wie dies in der kritischen Bildungstheorie postuliert ist, eine Alternative um Drogenkonsum darstellen.
244
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Intervention seitens der Erziehungsberechtigen kann auch eine diffuse Angst sein
könne, wohingegen Ew betont, dass gerade Lehrer, die für sie pädagogisch geschultes
Fachpersonal darstellen, den Konsum von Drogen erkennen und wahrnehmen müssten
und adäquat reagieren müssten (824-830). Bm komplettiert das Bild erneut durch die
Schilderung seiner eigenen Erfahrungen im Rahmen seines Drogenkonsums und
dokumentiert so seine Auffassung von Lehrern und Schule.
Bm: Weißt, die Lehrer, bei mir is das immer so, die sind dankbar, wenn ich ruhig bin und sitze meistens. Die sind einfach nur dankbar, dass ich ruhig bin und sitze. Tja, wenn ich nich ruhig bin, dann sind die, haben die Schiss, einfach. Weil die können keinen vernünftigen Unterricht einfach machen. Weißt du, du scheißt auf die, du, verpiss dich, geh mir auf'n Sack und so nen Kack. Und wenn du ruhig bist, breit bist, sitzt einfach, dann sind die dir dankbar. (830)
In der Schule gehe es ausschließlich darum, Unterricht zu machen. Sobald dies Ziel
nicht mehr erreicht werden könne, weil Störungen auftreten, entstehe bei Lehrern eine
diffuse Angst vor dieser Situation und den an ihr beteiligten Akteuren, möglicherweise
auch die Sorge um Steuerungsverlust in der Situation. Führe demgegenüber der
Drogenkonsum zu einer Passivität der Schüler, interpretiert Bm das Verhalten der
Lehrer als Dankbarkeit, da der Unterricht nicht gestört werde. Implizit thematisiert er
damit das Problem der aktiven und passiven Schulverweigerung: Während mit aktiver
Schulverweigerung die Aggression gegenüber der Schule und dem Unterricht durch
Stören und längeres Wegbleiben vom Unterricht ausgedrückt wird, fasst man unter
dem Begriff der passiven Schulverweigerung die Passivität im Unterricht und die
„innere Immigration“ (vgl. Kap. 5.8.2, S. 171). Letztere werde von den Lehrern
geduldet, da sie keine Schwierigkeiten mache. Schule stellt nach Bm damit einen Ort
der Wissensvermittlung dar, in dem eine Intervention bei problematischen Verhaltens
der Schüler nicht vorgesehen sei.
Die Passivität der Lehrer dürfe nach Ew nicht verwechselt werden mit einer
Zustimmung zum Drogenkonsum. Während Bm es so darstellt, als freuten sich die
Lehrer über seine durch den Konsum von Drogen ausgelöste Passivität, verweist Ew
darauf, dass sie nur passiv seien und nichts unternähmen – ohne eine
Begründungsstruktur zu liefern (831). Bm reagiert entsprechend nicht auf die
explizite Äußerung von Ew, sondern auf den von ihm interpretierten Sinngehalt ihrer
Äußerung und entgegnet, dass die Lehrer sehr wohl wüssten, dass er Haschisch
konsumiere. Ew wiederholt daraufhin ihre negative Beurteilung der Nicht-Intervention
durch seine Umwelt und führt diese Auffassung auch direkt weiter aus: Sie empfindet
die Intervention seitens der Lehrer nicht als eine Pflicht, um den Gebrauch von
bewusstseinsverändernden Substanzen zu unterbinden, sondern um den Konsumenten
245
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
zu helfen. Sie argumentiert an dieser Stelle sehr personenbezogen (auf Bm) und
thematisiert so ihre Sorge um Bm. Damit bringt sie zum Ausdruck, dass es ihr nicht
egal ist, was mit Bm passiert, sondern dass sie ein Interesse an seiner Biographie hat.
Sie bringt ihm somit Anerkennung entgegen in Bezug auf seine Person. Die Betonung
der Sorge als eine Form von Anerkennung und Wertschätzung verläuft an dieser Stelle
jedoch bisher einseitig: Von der Diskussionsdramaturgie scheint Bm zwar interessiert
an einer Anerkennung in der Gruppe zu sein, jedoch nicht auf einer solchen Ebene der
Sorge, in der er als hilfsbedürftige Person dargestellt ist. Insofern lehnt er die Sorge
um ihn ab. Dabei wird er allerdings von Ew direkt wieder unterbrochen, die ihre
Äußerung noch daraufhin noch einmal verstärkt.
Im Hinblick auf die komparative Analyse der Gruppendiskussionen ist das Muster der
Sorge, bzw. der Fürsorge interessant: Während Bm eher zurückhaltend bis ablehnend
auf die Hilfsangebote seitens der Gruppe reagiert und sein Interesse darauf gerichtet
scheint, Anerkennung und Aufmerksamkeit zu erhalten, findet sich in der Textstelle 2
der Gruppendiskussion Meer der deutlich artikulierte Wunsch der Teilnehmer nach
Fürsorge und Hilfe. Unterschiedlich ist dabei der jeweilige Bezug: In der
Gruppendiskussion Meer formulieren die Teilnehmer ihren Fürsorgebedarf an die
Mitarbeiter und signalisieren damit ihre Hilfsbedürftigkeit, bzw. ihren Mangel an
Selbst-Verantwortungsbewusstsein, wogegen in der Gruppendiskussion Boden die
Hilfe, bzw. Fürsorge von Seiten der Gruppe an Bm offeriert, bzw. von anderen
eingefordert wird.
Cm (839) relativiert die Einschätzung des Drogenkonsums von Bm und Ew’s
energische Haltung ihm gegenüber und differenziert Drogen nach der Form der
Einnahme und der Intensivität des Konsums. Im Folgenden schließen die Teilnehmer
gemeinsam diesen Themenbereich ab und formulieren – ausgehend von der
Schilderung Ew’s, dass es grundsätzlich nicht möglich sei, allen Menschen zu helfen,
bei denen ein Hilfebedarf von außen festgestellt werde - dass zur erfolgreichen
Intervention und Hilfe eine stabile soziale Beziehung zwischen Helfer und
Hilfeempfänger gegeben sein müsse. Diese Konklusion der Diskussionssequenz wird
arbeitsteilig von Gw, Ew, Aw und Bm (839-845) entwickelt.
Daraufhin erfolgt eine Pause des Gespräches.
Die aktuelle Projektgruppe als Um-Welt und akzeptierter Interventionsraum
Auf eine weiterführende, provozierende Anmerkung durch den Moderator (848) wird
dieser Diskussionsstrang weiter aufgenommen. Bm interpretiert die Intervention nicht
als Sorge um seine Persönlichkeit, sondern eher als Sanktion und fürchtet das
246
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Gespräch mit seinen Eltern. Ew weitet die Thematik wieder aus und stellt die These
auf, dass Lehrer als tägliche und pädagogisch ausgebildete Professionelle für ihre
Schüler verantwortlich seien. Demgegenüber formuliert Bm (860-862), dass eine (gut
gemeinte) Intervention vom Hilfeempfänger nicht als Hilfe, sondern als negative
Einmischung verstanden werde, die auf starke Ablehnung stoße und Feindseligkeit
entstehen lasse. Damit drückt er aus, dass er in Ruhe gelassen werden will und eine
Einmischung in sein Leben, bzw. seine Angelegenheiten nicht dulden würde. In diese
Abgrenzung seiner Person bezieht er sowohl Lehrer und Eltern als auch – wenn auch
mit geringerer Ablehnung - für die beteiligten Teilnehmer in dem konkreten
Seminarzusammenhang mit ein. Möglicherweise drückt sich auf diese Weise ein für
sein Alter typisches Verhalten des Strebens nach Selbständigkeit und persönlicher
Autonomie aus. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Bm nicht von den anderen
Mitgliedern der Gruppe. Insbesondere bei Aw zeigt sich ein ganz ähnliches
Orientierungsmuster. Sie präsentiert sich als emanzipiert und für sich selbst
verantwortlich. Bm scheint diesen Prozess noch zu durchlaufen, denn einerseits duldet
er keine Einmischung von Autoritätspersonen, andererseits betont er mehrfach die
Bedeutung von anderen Menschen für die eigene Entwicklung. Insbesondere der
Gruppe misst er eine hohe Bedeutung für die Anerkennung bei.
Im Folgenden formuliert Ew antithetisch zu den Äußerungen von Bm, dass sie der
Auffassung ist, dass Bm in der Retrospektive dankbar für die Intervention von
Autoritätspersonen sein werde – auch wenn er sie aktuell nicht zulassen würde (866).
Damit vermittelt sie implizit, dass Menschen aus der äußeren (Um-)Welt aufgrund
ihrer Position oder Profession gegen den Willen der Hilfeempfänger intervenieren
dürfen, weil diese aktuell nicht in der Lage sind, ihre Situation zu beurteilen und das
zu tun, was gut für sie wäre. Sie ist so überzeugt von der Idee der Intervention, dass
sie Bm prognostiziert, dass er irgendwann „bestimmt“ auch einsehe, dass sie Recht
habe.
Die folgende Sequenz kann insgesamt als eine Proposition von Bm (867-874) im
Sinne einer Selbstreflexion seines eigenen Drogenkonsums verstanden werden
werden, in der er auf Nachfrage der anderen Gruppenmitglieder seinen Konsum
beurteilt.
867 Gw: So heftig is doch bei dir nicht, oder? 868 Bm: Ne-ein. 869 Ew: Nein, aber ich nehme das jetzt mal an. 870 Bm: Ich hab nicht gesagt, dass jeden Tag wie'n
Psychopath-, vielleicht einmal in ner Woche oder so wat. Ja manchmal is es auch -
871 Aw: - °Geht ja noch°. 872 Bm: - manchmal is es schon auch
247
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
heftig, nicht jedes Mal. 873 Ew: Ich find das ist viel. 874 Bm: (.) Bloss diese abgefuckten Dealer, die sind
bei uns zu viele halt, das kannst du gar nicht sehen.
Zunächst bestreitet er die Dramatik seines Konsums, um dann später jedoch
einzugestehen, dass er seinen Konsum zu mancher Zeit schon auch als problematisch
einschätzt. Die Bereitschaft zur Wiederaufnahme des persönlichen Bezugs zur
Thematik durch Bm kann als ein Gesprächsangebot von Bm an die Gruppe
interpretiert werden. Dadurch bringt er zum Ausdruck, dass er in der Gruppe bereit
wäre, über seine Problematik zu sprechen. Hier scheint ihm – nach langer Vorrede –
ein Raum gegeben zu sein, in dem er sich selbst und seinen Konsum von
bewusstseinsverändernden Substanzen thematisieren würde. Interessant ist auch, dass
es sich in dieser kurzen Sequenz nicht mehr um ein Zwiegespräch zwischen Ew und
Bm handelt, sondern dass sich zunächst auch Cm, später dann auch Gw und Aw
einschalten, wobei Gw den auslösenden Satz zur Selbstanalyse (867) einbringt und
Aw einen sehr leise gesprochenen Kommentar dazu abgibt.
Zu einer konkreten Analyse der eigenen Situation kommt es allerdings in dieser
Situation nicht, da keiner der Teilnehmer eine Anschlussfrage stellt. Deutlich wird
jedoch auch hier wieder die Orientierung, dass eine Intervention oder
Gesprächssituation eine gute soziale Beziehung voraussetzt, die in der Einschätzung
von Bm in dieser aktuellen Gruppe gegeben zu sein scheint.
Dominanz der sozialen Um-Welt auf Bm
Zum Ende dieser thematischen Sequenz wird die Orientierungsfigur von Bm noch
einmal besonders deutlich. Er thematisiert in einer narrativen Erzählung seinen
persönlichen Zugang zu Drogen und problematisiert dabei die Bedeutung seiner
sozialen Um-Welt in seinem Wohnort.
Das Problem – so Bm (875-892) liege nicht in der Häufigkeit seines problematischen
Konsums, sondern in der konkreten dörflichen Situation seines Wohnortes, die nach
seiner Schilderung geprägt ist von einer ausgeprägten Drogenszene.
875 Ew: Dann hör doch einfach auf. 876 Aw: Woher kommst du denn? 877 Bm: Aus [Ort]. Das ist ein kleines Dorf mit 2000
Leuten, aber so viel Junkees, Alter, über 40 Junkees Alter, sind da haufenweise. 40 Junkees, die spritzen, aber kiffen und Teile spacken, baoh, das kannst du gar nicht zählen Alter. Du kommst auf den Spielplatz, einfach zum Beispiel für zwölf Jahre alte Kinder, da kommt keiner hin von 12 Jahrenund
248
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
da sitzen nur Junkees, oh, da siehst du nur [zieht Luft ein,imitiert paffen].
878 Ew: Das machen die da auf dem Spielplatz? 879 Bm: Ja, ja, die scheiß ((...)). 880 Ew: Das ist aber echt heftig, wenn man's auch irgendwie
nich anders vorgelebt bekommt, also- 881 Bm: Die machen das sogar mitten auf'm Dorfplatz, weißt
du bei uns im Dorf, das is so Sparkasse, da is'n riesen Dorfplatz, so Parkplatz und so'ne Scheiße. Sieben Uhr abends, ach ziehe ich mir, merkt keiner. Die haben [Husten], die andern sagen das aber nich, die haben Angst vor denen. Aber solche Brocken da, Alter, sitzen da, die gehen einfach vorbei die Leute und gucken noch, ach die, ach egal.
882 Gw: Klar, ich würde auch dran vorbeigehen. Wenn da jetzt einer liegen würde
883 Bm: Dieses Dorfgerede, das is ein kleines Horrordorf. Da bauen so viele scheiße. Du kommst da nur an und riechst sofort Junkees. Ich kann jedem Junkee sagen, wer ein Junkee is. Du siehst an ihr'm Gesicht, dass der Junkee is. (.) Jeden Tag finds die da.
884 (2) 885 [Klopfen] Aber es gibt auch manche vernünftige,
aber nich alle, nich alle. 886 (2) 887 Wir haben so viele Laden schon dicht gemacht bei
uns. Weil, die wurden so viel ausgeraubt, die Laden, einfach ausgeraubt, also jeden Tag fast. Du hörst meistens nur, am Wochenende is am schlimmsten hörst nur die Bullen [macht Autogeräusch nach] vorbeifahren. Dann musst du schon Schiss haben, dass du nich erwischt wirst, meistens.
888 (3) 889 Aw: Meinst du wenn du, oder anders rum, würdest du dich
dann auch ändern? 890 Bm: Würde ich mich ändern, glaube ich. Ich hab doch,
ich hab erst mal 5, vor fünf Jahre in [anderer Ort] gewohnt, da gibt's nicht so was. [anderer Ort] is total ruhig. Ich hab keine Scheiße gebaut. Kaum, dass wir vor drei, nach zwei Monaten hab ich angefangen zu rauchen. Ich hab so gut Fußball gespielt, fünf Jahre lang Fußball gespielt. Komm an, angefangen zu rauchen, aufgegeben das Fußball und nach nen paar Jahren angefangen zu kiffen. Und zu saufen habe ich angefangen und scheiße zu bauen. Du hängst einfach mit diesen Leuten zusammen, zugehörn, weil da gibt's einfach sau wenig von, vernünftige Leute (.) in meinem Alter gibt's nicht vernünftige Leute, da gibt's nur solche, aber sonst nur so 14jährige, ich glaub, die werden auch solche, wenn ich die da schon seh, ja, das is voll dämlich. Und die Leute, die so das lass, ich kiff nie vor anderen, ich versteck mich hinten in Baum oder so, im Wald oder, kiff da. Aber die meistens in Spielplatz, da is sofort neben an nen Kindergarten, die Kinder laufen manchmal zum Spielplatz so zum Spielen so, sind die alle da am Kiffen Alter, lachen die Kinder aus oder so. Das is so erbärmlich. Ich mein-
891 Ew: - Ja, das is ja schon mal nich schlecht, dass du das alles so erkennst.
892 Bm: Das is schon totale scheiße.
249
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
In seiner Wahrnehmung werde die Szene dominiert von Junkees und Dealern, Kiffern
und Konsumenten anderer Substanzen. Durch seine große Affinität zu dieser Szene
dokumentiert sich in dieser Sequenz wieder das Thema, welche Bedeutung diese
Menschen in der Szene als äußere Um-Welt seiner dörflichen Wohnsituation für sein
Leben haben.
Einerseits thematisiert er dramatisch, wie sehr sich das öffentliche Leben durch die
Präsenz der Drogenszene verändert habe, andererseits stellt die entsprechende
Polizeipräsenz für ihn auch eine Bedrohung dar, da er Angst hat, erwischt zu werden.
Damit wird die Ambivalenz seiner Orientierungssuche ausgedrückt: Auf der einen
Seite das starke Streben nach Autonomie und Eigenverantwortlichkeit im Sinne der
Entwicklung einer eigenen, inneren Welt, die allerdings durch die Szene vor Ort
immer wieder eingeschränkt wird, da diese Einfluss auf ihn ausübt.
Aw greift die Problematik der Ambivalenz zwischen Autonomie und
Fremdbeeinflussung auf (890) und fragt in einer erzählgenerierenden, immanenten
Nachfrage nach der konkreten Umsetzungsperspektive, bzw. nach dem
Enanktierungspotential (vgl. Bohnsack 2003, 136) für die Verhaltensveränderung.
Zunächst antwortet Bm, dass er glauben würde, sich zu verändern, falls er erwischt
würde. Er schildert in Form einer kurzen biographischen Erzählung, wie sich sein
Drogenkonsum entwickelt, bzw. verändert habe in den letzten 5 Jahren und bringt dies
in einen konkreten Zusammenhang mit einem Umzug, der 3 Jahre zuvor stattgefunden
habe. Während er im Alter von 11 Jahren noch völlig normal Fußball gespielt habe in
seiner alten Umgebung, haben ihn die „neuen“ Leute nach dem Umzug so beeinflusst,
dass er angefangen habe zu rauchen, zu kiffen, zu trinken und durch deviantes
Verhalten auffalle. Durch die Äußerung „zugehörn“ (891) verdeutlicht er, dass es
ihm auch bei diesen Menschen im Grunde darum auch geht, Anerkennung durch die
Gruppe zu erhalten. Da in dieser Szene Anerkennung nur über die Synthetisierung von
Verhaltensweisen erfolgt – so die Erfahrung von Bm – passt er sich an. Interessant ist
auch, dass er in der aktuellen Diskussionssituation nach einem sehr ähnlichen
Handlungsschema agiert: Es wirkt so, als teste er aus, mit welchen Äußerungen und
mit welchen Praxisformen er in der Gruppe zu positiver Anerkennung gelangt.
Entsprechend bezeichnend ist somit die Schlusssequenz dieser thematischen Einheit,
in der er sich von der Szene im Dorf abwendet und sich den in der aktuellen Gruppe
akzeptierten Handlungsmustern anpasst.
Damit stellt sich an dieser Stelle erneut die Frage nach der Auffassung der
Jugendlichen zu der Verantwortlichkeit für eigenes Handeln (vgl. Textstelle 3:
Versager, S. 223, Textstelle 1: Grundreiz, S. 193) und nach der Bedeutung des
250
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
sozialen Einflusses. Thematisiert werden damit Fragen, woran sich die Menschen
orientieren können – an der sie umgebenden Um-Welt oder an sich selbst, wodurch
auch die Frage nach der Stabilität der inneren Muster angesprochen ist.
6.2.5 Textsequenz 5 : Freiwillige Teilnahme
Kontext und Auswahl der Textstelle
In dieser Sequenz (348-386) thematisieren die Teilnehmer der Gruppendiskussion die
unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zu dieser Veranstaltung. Das Konzept dieser
Maßnahme sieht vor, dass neben den straffällig gewordenen Teilnehmern, die auf
Anordnung eines Jugendgerichtes zur Teilnahme verpflichtet wurden, auch eine
Gruppe von bisher nicht-straffällig in Erscheinung getretenen Jugendlichen teilnimmt,
die sich dann freiwillig für diese Veranstaltung anmelden (vgl. Kap. 5.8.1, S. 164). Im
Zuge der Interpretation der Gruppendiskussion ist diese Sequenz besonders
interessant, da zu Beginn von Ew ausgeführt wird, wie ihrer Überzeugung nach
Meinungen, Einstellungen und Interpretationen gebildet werden und welche
Bedeutung die konkreten Erfahrungen mit Menschen unterschiedlicher Herkunft und
Erfahrungszusammenhänge für sie haben. Daraus lässt sich logisch ableiten, dass für
sie als freiwillige Teilnehmerin diese Maßnahme eine weitere Möglichkeit ist, ihren
persönlichen Horizont zu erweitern und zu neuen Erfahrungen und Erkenntnissen zu
gelangen. An der Frage der freiwilligen Teilnahme reflektieren die
Gesprächsteilnehmer die Intentionen der Einzelnen. Daran lässt sich herausarbeiten,
wie sie die pädagogische Praxis in der Maßnahme interpretieren und ob sie sie als
"geeignet" ansehen, um vorher gewonnene Auffassungen über soziale Beziehungen,
Zusammenhänge und Selbstinterpretationen zu verändern oder zu erweitern. In bezug
auf Bm drückt sich diese Auffassung eher in einer Art Befürchtung aus, die ihn zur
Abgrenzung von den Anderen bringt.
Sehr deutlich wird in dieser Sequenz auch die Unterschiedlichkeit der
Erfahrungshorizonte der Teilnehmer bedingt durch die verschiedenen Zugänge und
das Bemühen einzelner Jugendlicher, eine Kohärenz zwischen den einzelnen
Mitgliedern der Gruppe herzustellen. Letztlich lässt sich so auch an dieser Textstelle
das Orientierungsmuster der Orientierung an unterschiedlichen Welten nachzeichnen,
das in seiner Wirkmächtigkeit als Orientierung an einer inkorporierten Weltauffassung
Bm im Verlauf der Sequenz immer stärker in eine Abgrenzung von der Gruppe bringt,
um am Ende einen vorläufigen Endpunkt zu setzen: „Ich hab’e genug Freunde“
(382).
251
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Jugend als Phase der Bildung von Meinungen und Weltinterpretationen
Durch die Äußerung, dass sie in ihrem aktuellen Lebensabschnitt als Jugendliche eine
eigene Meinung aufbaue, dokumentiert Ew (348) die Auseinandersetzung mit Welt-
und Selbstauffassungen, die sie zu einer Annahme oder Übernahme von
Interpretationen von anderen Menschen und oder zur Ablösung, bzw. Modifikation
von solchen Deutungen führt. Entscheidend für diese Entwicklung sind die
Erfahrungen, die sie mit anderen Menschen macht. Es gehe dementsprechend nicht
um Vorurteile oder Erzählungen über andere Menschen oder Milieus, Kulturen oder
Ethnien, sondern um die konkreten Erfahrungen im sozialen Kontakt von Ew mit
Menschen verschiedener Herkunft. Das setzt die Offenheit voraus, zunächst Kontakt
mit Angehörigen unterschiedlicher sozialer Milieus zu suchen, sich für ihre
Lebenswelt und ihre Weltinterpretationen zu interessieren und sich damit auseinander
zu setzen, um dadurch eine eigene Meinung bilden zu wollen. Dies könnte auch eine
schlüssige Erklärung dafür sein, warum überhaupt sie bereit ist, sich auf eine solche
Veranstaltung freiwillig einzulassen. Das Interesse an der Begegnung und an der
Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Auffassungen. Dass diese Haltung in sich
konsistent ist, dokumentiert sich auch in der Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit
Bm (vgl. Textstelle 4: Drogen (651-893), S. 232). Damit eröffnet Ew eine Diskussion,
die sich anschließt an die vorherige Sequenz, in der die Bedeutung der Familie für die
individuelle Interpretationen von Welt und das entsprechende individuelle Verhalten
thematisiert wurde. Sie öffnet die Engführung der Diskussion auf die Bedeutung
Familie als primäre Sozialisationsinstanz und bezieht weitere Bereiche und
Personengruppen in ihre Überlegungen mit ein.
Ergebnis solcher Auseinandersetzungs- oder Meinungsbildungsprozesse sind nach Ew
dann differenzierte Verhaltensweisen gegenüber unterschiedlichen Menschen.
Auffällig ist, dass sie Schwierigkeiten hat, den Satz korrekt zu formulieren und
mehrfach ansetzt (348). Der erste Satz könnte insgesamt lauten: „Dann verhalten wir
uns alle gegenüber Leuten unterschiedlich“. Ihr zweiter Versuch bringt jedoch den
Fokus der Sequenz insbesondere durch die starke Betonung des Wortes „somit“
deutlicher auf den Punkt: Das Verhalten aller gegenüber allen wird von der individuell
gefassten Meinung beeinflusst - es geht also um das Verhalten des Einzelnen
gegenüber einer nicht näher bestimmten „Masse“. Im folgenden Satz dreht sie den
Fokus jedoch wieder um und tauscht die Bezüge aus: Plötzlich geht es nicht mehr um
das eigene Verhalten anderen Menschen gegenüber, sondern darum, dass man von
verschiedenen Menschen „unterschiedlich behandelt“ wird. Sie erweitert so die
Perspektive in beide Richtungen: Die Auffassungen und Meinungen von Menschen,
die nach Ew aufgrund von konkreten Erfahrungen generiert wurden, führen zum einen
252
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
zu einem differenzierten Verhalten gegenüber den Menschen, die ihr begegnen, zum
anderen sind sie auch die Erklärung dafür, dass sie als immer gleiche Person von
unterschiedlichen Menschen unterschiedlich „behandelt“ werde.
Unmodifizierbare Disposition oder veränderbares Verhalten von Menschen?
Bm knüpft an diese Erweiterung der Perspektive von Ew an (349) und stimmt ihr
zunächst eindeutig zu, differenziert jedoch weiter und betont die Unterschiedlichkeit
von Menschen. Damit legt er einen eindeutigen Akzent darauf und nicht - wie Ew
eingangs - auf das unterschiedliche Verhalten von Menschen.
Diese Äußerung könnte auch den Charakter einer Anschlussproposition bekommen,
da es Bm anscheinend darum geht, die Unterschiedlichkeit der Menschen zu betonen
und nicht die Unterschiedlichkeit menschlichen Verhaltens. Interessant ist dabei in
diesem Zusammenhang, welche Bedeutung diese Unterscheidung für das
Gesamtgespräch haben könnte: Die Äußerung von Bm, der unter Bezug auf
alltagstheoretisches Wissen uneingeschränkt zugestimmt werden kann, führt bei
weitergehenden Überlegungen in die unhintergehbaren Grundfragen einer
bildungstheoretischen Diskussion im Sinne einer strukturalen Bildungstheorie. Es
stellt sich die Frage, ob menschliches Verhalten grundsätzlich immer transformierbar
und offen ist, und auf die Interaktion mit der belebten oder unbelebten Umwelt
bezogen ist oder ob die Gesamtdisposition eines Menschen, mehr oder weniger
festgelegt ist und dadurch die Potenziale zur Transformation von Weltaufordnungen
und menschlichen Verhaltens nur sehr eingeschränkt bestehen. Diese Frage wird in
der strukturalen Bildungstheorie aufgrund des Ebenenmodells graduell gelöst, in dem
sich diese Prozesse auf unterschiedlichen Stufen der Abstraktion ereignen. Dadurch ist
die grundsätzliche Offenheit des Menschen für selbstbestimmte Veränderungsprozesse
gewahrt, selbst wenn nicht jeder sie wahrnimmt.
Dw scheint zunächst Bm zustimmen zu wollen, ihre weiteren Ausführungen, die erste
Merkmale einer antithetischen Differenzierung aufweisen, werden jedoch von Bm
unterbrochen, so dass diese Äußerung keinen thematischen Inhalt entwickeln kann
(350). Zumindest deutlich wird jedoch, dass sie dieser sehr globalen Aussage von Bm,
dass alle Menschen unterschiedlich sind, zunächst zustimmt, gleichfalls aber auch
Anfragen an diese Aussage hat.
Disparität der Erfahrungsräume der Teilnehmer und ihre kommunikative
Verstärkung
253
Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Bm unterbricht Dw und exemplifiziert seine Äußerung am Beispiel der
Teilnehmergruppe dieser Veranstaltung (351), wobei er die einzelnen
Gruppenmitglieder sehr vereinfacht – analog der Zugangsmöglichkeiten zu dieser
Veranstaltung - in zwei Gruppen aufteilt: Die Gruppe der freiwilligen Teilnehmer hat
noch kein deviantes Verhalten gezeigt und zähle somit zu den „anständigen“
Menschen, die restlichen Teilnehmer seien bereits strafrechtlich in Erscheinung
getreten und zählten zu der Zielgruppe, auf die in dieser Veranstaltung verändernd
eingewirkt werden solle. Zunächst versucht Bm also lediglich, an der aktuellen
Teilnehmergruppe seine Auffassung zu explizieren. Gleichzeitig dokumentiert er
jedoch auch mit dieser Aussage, dass zwischen den freiwilligen und den nicht-
freiwilligen Teilnehmern Unterschiede in den Erfahrungsräumen bestehen, die
zunächst unüberbrückbar zu sein scheinen (vgl. „unmittelbares Verstehen –
konjunktiver Erfahrungsraum“, Textstelle 3: Versager (531-575), S. 223).
Die freiwilligen Teilnehmerinnen Aw und Ew opponieren gegen diese Auffassung
(353-355) und versuchen Bm gegenüber zu verdeutlichen, dass der Unterschied
zwischen ihnen und ihm lediglich darin bestehe, dass sie eben noch nicht erwischt
worden seien und somit noch nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten seien. Diese
Argumentation erhält zunächst den Charakter einer einfachen Aufzählung – sie stellen
der Aussage von Bm ihre eigenen illegalen Verhaltensweisen gegenüber. Ew und Aw
scheinen mit dieser Argumentation zum Ausdruck bringen zu wollen, dass sie mit dem
an dieser Stelle wiederum beginnenden Prozess der eigenen Abgrenzung durch Bm
von der Gruppe nicht einverstanden sind und zunächst nicht recht wissen, was sie auf
die konkrete Nachfrage von Bm, welche Straftaten sie denn begangen hätten (358),
antworten sollen.
358 Ew: Ja was ham wir so-, wir ham genug scheiße gebaut. Wir ham-
359 Aw: Kiffen ist illegal. 360 Ew: Ja wir ham gekifft, das- 361 Aw: Ja es ist trotzdem strafbar
oder nicht? 362 Bm: Ja klar, aber das ist Kinderkram. 363 Ew: Ja `schuldigung, dass wir |kein Auto geklaut
haben.|
Sie wirken bemüht (vor allem Ew), ihren eigenen Erfahrungshorizont an den von Bm
anschlussfähig zu machen. Damit entspräche dies Verhalten zumindest auch dem
Orientierungsmuster von Ew, die durch die Erfahrungen mit anderen Menschen eigene
Meinung ausbilden will und somit Berührungspunkte mit anderen Menschen braucht,
um überhaupt in Kontakt zu kommen.
Ein weiterer Effekt der Argumentation von Aw und Ew ist, dass sie Bm die
Exklusivität seiner Straffälligkeit durch die Relativierung durch ihre eigenen
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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Aktivitäten absprechen und sich darauf beziehen, dass sie lediglich Glück gehabt
hätten, nicht erwischt worden zu sein. Dadurch nehmen sie ihm die Chance, sich
innerhalb der Diskussionsgruppe über seine Straftaten zu profilieren.
Die Frage von Bm (358) nach den konkreten Taten der freiwilligen Teilnehmer kann
als Versuch interpretiert werden, herauszuarbeiten, dass er sich - als verurteilter
Straftäter mit der gerichtlichen Auflage zur Teilnahme an dieser Veranstaltung - von
den freiwilligen Teilnehmer unterscheidet. Als Distinktionsmerkmal werden hier die
Straftaten und deren Schwere herangezogen.
Gleichzeitig - gewissermaßen als Validierung seiner eigenen Proposition - beurteilt er
die nicht rechtskonformen Praktiken der Anderen indem er sie als „Kinderkram“
(Bm 362) abqualifiziert, um sich so noch deutlicher von den anderen Teilnehmer
absetzen zu können. Es geht jetzt also nicht mehr um die generelle Unterschiedlichkeit
der Teilnehmergruppen, sondern darum, dass Bm sich ganz gezielt von den anderen in
der Gruppe durch seine Straftaten abgrenzen will.
Während Ew auf der Beziehungsebene reagiert (363) und ihren Ärger über die
Bewertung von Bm deutlich zum Ausdruck bringt, und damit gleichzeitig signalisiert,
dass sie anderer Meinung ist, unterstellt Aw, dass Bm aus seinen Straftaten direkt oder
aus der Abgrenzung von den anderen Teilnehmern Anerkennung und Stolz bezieht.
364 Aw: |Ja siehst du, darauf bist du| wieder stolz, dass du wieder-
Aw und Ew reagieren so, als seien sie gekränkt, weil Bm ihre „Gleichartigkeit“ mit
ihm nicht gelten lassen will.
Bm (365-368) führt weiter aus, dass sich die Straftaten der anwesenden nicht-
freiwilligen Teilnehmer grundlegend von der Lebenswelt der anderen Teilnehmer
unterscheiden und nicht anschlussfähig sind. Obwohl er keine weiteren Informationen
über seine eigenen Straftaten liefert (was interessant ist, da er genau dies von den
freiwilligen Teilnehmern gefordert hat), wirkt die Argumentation von Bm schlüssig
und die Abgrenzung zunächst nachvollziehbar.
Ew versucht wiederum, eine Synthese der von Bm als unterschiedlich
charakterisierten Erfahrungswelten herzustellen (369-373), indem sie von den eigenen,
nicht-rechtskonformen Praktiken berichtet und ausführt, dass es dem Zufall anheim
falle, dass sie nicht erwischt wurden. Dementsprechend ist die Freiwilligkeit der
Teilnahme in ihrer Interpretation als Distinktionskriterium untauglich für die von Bm
angeführte Dichotomie: „Anständig vs. Verhaltens-Veränderungsbedarf“. Damit zieht
sie den Disput über die unterschiedlichen Erfahrungswelten wieder zurück auf den
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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Anfang der Diskussion über die Freiwilligkeit vs. Nicht-Freiwilligkeit der Teilnahme
und Unterschiedlichkeit von Menschen.
Bm (375-376) versucht in einer weiteren Argumentationslinie seine Auffassung über
die Unterschiedlichkeit der Teilnehmergruppen in dieser Maßnahme nochmals zu
verdeutlichen. Für ihn ist es einfach Glück, wenn man bei Straftaten nicht erwischt
werde. Dieses Glück sollte man einfach hinnehmen und anerkennen. Jedenfalls ist für
ihn überhaupt nicht nachvollziehbar, wie Menschen freiwillig an einer Sache
teilnehmen können, die für andere eine Strafe bedeutet. Bm würde wahrscheinlich
niemals auf die Idee kommen, freiwillig an dieser Veranstaltung teil zu nehmen oder
freiwillig in eine Justizvollzugsanstalt zu gehen, um die Lebensbedingungen der
Menschen dort kennen zu lernen. Die freiwillige Teilnahme an dieser Veranstaltung
wirkt auf Bm so wie der freiwillige Antritt einer Strafe für eine Sache, bei der man
noch nicht einmal erwischt wurde. In dieser Interpretation ist es nachvollziehbar, dass
Bm Schwierigkeiten hat, die Teilnahme von Aw und Ew (als freiwillige
Teilnehmerinnen) zu begründen. Diese Anfrage, warum sich Jugendliche freiwillig zu
dieser Veranstaltung anmelden, kann durchaus auch kritisch auf die Konzeption dieser
Maßnahme bezogen werden: So stellt sich tatsächlich die Frage, wie die freiwilligen
Teilnehmer ihre Partizipation an der Maßnahme begründen, bzw. welche Begründung
von den Leitern der Maßnahme genannt wurde und welches Interesse Eltern haben
könnten, ihre Kinder freiwillig für so eine Maßnahme anzumelden? Eine mögliche
Begründung liegt in den Ausführungen von Ew, aus denen ein Orientierungsmuster
herausgearbeitet werden konnte. Sie betrachtet ihre Entwicklungsphase als eine Art
Moratorium, in der sie durch die Auseinandersetzung mit anderen Menschen eigene
Überzeugungen reflektieren, weiterentwickeln oder transformieren kann. In der
Konzeption der Maßnahme wird die Thematik des Zugangs der freiwilligen
Teilnehmer so nicht aufgegriffen und diskutiert. Die Gruppe berichtet dbzgl. von
vielfältigen interessanten und lustigen Gegebenheiten und interessanten Inhalten, die
als eine Begründung für die Teilnahme an dieser Veranstaltung dienen können.
Entsprechend der für Bm logischen Brüche drückt er (377-379) sein Unverständnis
über eine Möglichkeit der freiwilligen Teilnahme der Maßnahme aus und grenzt sich
und seine persönliche Welt damit von der Gruppe insgesamt ab.
Dw (380) distanziert sich als nicht-freiwillige Teilnehmerin von der Auffassung Bm’s
und schließt sich explizit der Meinung von Aw und Ew an. Damit bewertet sie die
Maßnahme ebenfalls insgesamt positiv und grenzt sie sich eindeutig von Bm ab, der
dadurch im sozialen Rollengefüge eine isolierte und gleichsam exponierte Stellung
einnimmt.
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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
Ew (381) verstärkt diese Abgrenzung weiter und expliziert, dass der Spaß an der
Maßnahme nicht in der Maßnahme selbst begründet liege, sondern -
gruppendynamisch interpretiert - in dem, was die einzelnen Teilnehmer in die Gruppe
einbringen. Nur ein aktives Einbringen in die Gruppe und offensive Kontaktaufnahme
ermöglichen, ganz im Sinne ihrer bereits angesprochenen Zugangsmotivation und
ihrem Verständnis der eigenen situativen Lebensphase, ein befriedigendes
Gruppenerleben.
Bm (382) reagiert abschließend in dieser Sequenz mit einer völligen Abgrenzung von
der Gruppe und ist nicht bereit, sich diesem von Ew geschilderten aktiven Prozess
zunächst zu stellen: „Ich hab’e genug Freunde“ . Seine sozialen Kontakte
außerhalb dieser konkreten Veranstaltung und damit die aus den äußeren sozialen
Einflüssen gewonnenen inkorporierten Handlungsschemata von Bm sind zumindest in
dieser Phase der Gruppendiskussion dem Anschein nach noch so dominant, dass eine
Auseinandersetzung mit konkurrierenden Interpretationsweisen der Weltaufordnung
nicht möglich wird.
Folgerichtig signalisiert er auch kein Interesse an der Auseinandersetzung mit den
anderen Menschen und ihren Auffassungen im Maßnahmekontext. Sollte er diese
Haltung durchhalten, so erfüllt er nicht die als Mindestvoraussetzung beschriebene
Bedingung für die grundsätzliche Teilnahme an der Maßnahme: „Die Bereitschaft zu
einer aktiven Beteiligung während der Schulungs- und Freizeitmaßnahme wird als
Minimalbedingung vorausgesetzt, egal, aus welcher potentiellen Adressatengruppe der
einzelne Jugendliche stammt“ (Plien 2003, 75). Die Interpretation der anderen
Sequenzen der Gruppendiskussion Boden verdeutlicht die klare und große Bedeutung
der inneren Sphäre von Bm.
Sozialpädagogische Praxisweisen mit dem Potential der Transformation von
individuellen Weltkonstruktionen
Die konsequente Abgrenzung von den anderen Teilnehmer und die Abqualifizierung
der Praxisweisen in der Maßnahme können so als mangelnde Bereitschaft gelesen
werden, sich mit seinem Weltbild auseinander zu setzen, indem er keine weiteren
sozialen Kontakte aufbauen will.
Andererseits könnte es sich hier auch lediglich um eine vorsichtige Zurückhaltung
bzgl. der Veränderungsprozesse handeln, da Bm in späteren Sequenzen der
gemeinsamen Gruppendiskussion deutlicher Position bezieht und sich von seinem
Milieu in der Alltagswelt abzugrenzen versucht (vgl. Textstelle 3: Versager (540-544),
S. 223). Er dokumentiert an dieser Stelle somit auch eine starke Zugehörigkeit zu
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Kapitel 6 Dokumentarische Interpretation der Gruppendiskussionen
einem Milieu, das er bezogen auf die devianten Verhaltensweisen der Einzelnen mit
den Worten „das ist was anderes als hier“ beschreibt. (368). Im Kontext
der Gruppendiskussion kann zumindest festgestellt werden, dass diese starke
Zugehörigkeit im Verlauf der Diskussion brüchiger wird und sich die Suche nach
Zugehörigkeit, Anerkennung und Wertschätzung dokumentiert. Bezogen auf die
sozialpädagogische Praxisform der Maßnahme wird sehr deutlich, dass alle
Teilnehmer dieser Sequenz der Veranstaltung das Potential zusprechen, verändernd
auf die Konstruktionen von Wirklichkeit der Einzelnen Einfluss zu nehmen. Während
vor allem Ew und Aw als freiwillige Teilnehmerinnen einer solchen Möglichkeit mit
großer Offenheit begegnen und Ew dies sogar als ein Kriterium für ihre Teilnahme
angibt, scheint Bm eher Sorge zu haben, dass diese Veränderungsprozesse bei ihnen
auch tatsächlich stattfinden könnten.
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