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© eckermann&müller Prologe „Wir vom Neptunplatz“ Seite 42 WALLAS WALLFAHRT Walla war eine Naturgewalt. Ein Tsunami der Verzweiflung. Eine Massenkarambolage am Kamener Kreuz: Mark litt mit ihm. Doch er konnte einfach nicht wegsehen. Walla war nicht zum Trinken gekommen. Er war nicht zum Reden gekommen. Er riss sich gleich das Herz aus der Brust und legte es puckernd auf den Tresen, direkt vor Katze, die seinem bewegenden Schauspiel nicht eine sichtbare Gefühlsregung spendierte. Walla sprach zu Mark oder Kowalski, ließ Katze dabei aber keine Sekunde aus den Augen. Er begann seinen flehenden Vortrag mit einem Exkurs in die wilden 80er. „Eine Zeit, in der das Blue Shell die rechte und linke Herzkammer des Kwartier Latäng war. Schwarzweiß-karierte Fliesen, Froschfotzenbleche, dazu der kühle Mix von Cowboystiefeln und Rangerboots, Karottenjeans und Bomberjacken, wasserstoffblonden Flats, Elvistollen und polierten Glatzen. Die Wahl zwischen Speed und schlechtem Speed. Und auf der Bühne die Shades, die Local Heros Kölns.

Eckermann / Müller - Wir vom Neptunplatz

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7. Teil des Prologs

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© eckermann&müller Prologe „Wir vom Neptunplatz“ Seite 42

WALLAS WALLFAHRT

Walla war eine Naturgewalt. Ein Tsunami der Verzweiflung. Eine

Massenkarambolage am Kamener Kreuz: Mark litt mit ihm. Doch er

konnte einfach nicht wegsehen.

Walla war nicht zum Trinken gekommen. Er war nicht zum Reden

gekommen. Er riss sich gleich das Herz aus der Brust und legte es

puckernd auf den Tresen, direkt vor Katze, die seinem bewegenden

Schauspiel nicht eine sichtbare Gefühlsregung spendierte.

Walla sprach zu Mark oder Kowalski, ließ Katze dabei aber keine Sekunde

aus den Augen. Er begann seinen flehenden Vortrag mit einem Exkurs in

die wilden 80er.

„Eine Zeit, in der das Blue Shell die rechte und linke Herzkammer des

Kwartier Latäng war. Schwarzweiß-karierte Fliesen, Froschfotzenbleche,

dazu der kühle Mix von Cowboystiefeln und Rangerboots, Karottenjeans

und Bomberjacken, wasserstoffblonden Flats, Elvistollen und polierten

Glatzen. Die Wahl zwischen Speed und schlechtem Speed. Und auf der

Bühne die Shades, die Local Heros Kölns.

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Ein schwuler Bassist und drei Riotgirls. Und am Mikro eine

kampferprobte Amazone, deren Puls auch im krassesten Pogo-Pit nie über

60 ging. Eine Frau wie zwei Kerle. Eine Göttin. Katze.“

Walla war so in seinem Element, dass sich kleine Spuckeflöckchen von

seinen Lippen lösten und im Kamikazeeinsatz Richtung Bar flogen. Er

lebte gerade die 80er nach, war auf dem Zenit seines Lebens – und liebte.

Voller Inbrunst. Kompromisslos. Eine Unerreichbare. Aus Millionen

Legionen hatte sie ihn auserkoren. Wallas Blick schien sich in der Zeit

wieder zurückzuschrauben. „Nur für eine Nacht.“

Mark zeigte nach außen natürlich nicht mehr als das diskrete Nicken, das

die Barmänner weltweit eint, wenn jemand an ihrem Tresen sein Herz

ausschüttet. Innerlich war er jedoch zum Zerreißen gespannt. Katze redete

nicht gern über ihre wilden Zeiten. Und so, wie sie gerade aussah, hasste

sie es auch, dass Walla darüber sprach. Der holte gerade zum großen

Finale aus.

„Sie war heiß wie ein Harleyauspuff, verstehst du? Zerstörerisch. Aber

keine schwarze Witwe. Sie ließ mir das Leben. Leider.“

Wallas letzte Worte versandeten in Selbstmitleid. Er trank sein Bier in

einem Stoß aus.

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„Deine Chefin ist Heroin, mein Junge. Damals wie heute. Und ab und zu

brauch ich einen Schuss.“

Plötzlich, ohne ein Wort, verschwand Katze im Büro. Walla, völlig in sich

zusammengesunken, räumte seinen Hocker und wankte in Richtung Tür

wie ein entseelter Golem. Kaum fiel die Tür zu, stand Katze wieder hinter

Mark.

„Genau das mein ich, Mark. Diese Alkoholaufrisse sind gefährlich. Dabei

fängst du dir leicht einen Stalker ein.“

„Hat er oder hat er nicht?“, grinste Mark.

„Was?!“

„Na vom Heroin gekostet. Hat er die Göttin ins Bett gekriegt?“

Katze sah fast verlegen aus.

„Ehrlich? Keine Ahnung. Er behauptet es. Und ich hab‘n Filmriss.“

Für einen Moment sah Katze so alt aus, wie sie wirklich war.

„War ´ne abgefahrene Zeit damals.“

Sie flippte sich eine Kippe zwischen die Lippen, zündete sie an und ließ

sie aufglühen. Zwei dicke Kondensstreifen schossen aus ihren

Nasenlöchern. Marks Augenbraue erinnerte an den staatlich verordneten

Gesundheitszwang. Katze nahm einen Extrazug und zerdrückte die

Zigarette in dem Aschenbecher, den er ihr hinhielt.

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„Manchmal vergess ich sogar das Gesetz, das mir den Umsatz ruiniert.

Pass auf, Mark. Wenn Wallas Besuch überhaupt irgendeinen Sinn hatte,

dann den: Fang dir keinen Stalker ein. Mir ist egal, was du in deiner

Freizeit machst. Wo du nach Dienstschluss deinen Absacker trinkst. Wen

du da triffst. Warum du ihn knatterst.“

„Sie!“

„Oder sie, mir völlig egal. Aber das Glamrock ist kein Kontakthof,

verstanden? Ein Walla alle paar Monate reicht. Ich hab keinen Bock auf

noch mehr Stress.“

Dieser Walla schien ihr wirklich zuzusetzen. Und das seit Jahren.

Jahrzehnten. Ausgerechnet ein Barstalker bescherte Katze immer wieder

Höllenmomente. Und nun wollte sie Mark davor bewahren, denselben

Fehler zu machen. Sich eine weibliche Version von Walla ins Leben zu

holen. Und in die Bar.

Mark nickte. Er hatte die Botschaft verstanden. Doch dann meldete sich

das Schicksal mit zwei in ihrer Parallelität eher unschönen Ereignissen

zurück: Marks Handy empfing eine weitere SMS von Kussi-Eva. Und die

Tür des Glamrock schwang auf und ließ einen neuen Gast herein:

Carmen.

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DATE MIT JOAQUIN

Rudi griff in die riesige Tüte, die zwischen ihren Knien klemmte, und warf

sich eine Handvoll salziges Popcorn in den Mund. Weiter links von ihr

knutschte ein älteres Paar, und zwei Reihen vor ihr versuchte eine Horde

balzender Teenie-Jungs, eine Gruppe Mädels zu beeindrucken. So, wie es

aussah, mit Erfolg. Rudi kuschelte sich tiefer in den lädierten Kinosessel

und grinste innerlich. Ihr stand ein Film mit Joaquin Phoenix bevor und

danach ein Wiedersehen mit ihrem großen Bruder, den sie seit fast einem

Jahr nicht mehr gesehen hatte. Abgesehen von den paar Skype-Dates, aber

die zählten nicht. Dabei hatte sie Hannes zwar sehen können, aber

gefühlsmäßig waren sie Galaxien voneinander entfernt geblieben. Der Saal

wurde dunkel, und der rote, mottenzerfressene Vorhang öffnete sich

quietschend. Hier gab es keine Werbung, der Film würde sofort beginnen

– dem 1-Euro-Kino sei Dank!

„Hier ist doch bestimmt noch frei, oder??“

Rechts neben Rudi stand ein Typ und deutete auf den Platz neben ihr. Auf

den sie extra ihre Jacke gelegt hatte.

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Der Typ war allein, da stand keine Gruppe von Menschen hinter ihm, für

die Rudi hätte einen Platz weiter rücken können. Der wollte doch nicht

wirklich direkt neben ihr sitzen? Bei schätzungsweise zwanzig freien

Plätzen im Raum?

„Kommt noch jemand. Sorry“, log Rudi.

„Oh, okay. Nehm ich halt den daneben. Dann können wir deine Begleitung

von zwei Seiten wärmen.“

Der Typ ließ den Platz neben Rudi frei und setzte sich. Er trug Stetson-Hut

und Hornbrille und einen Gesichtsausdruck irgendwo zwischen FDP und

CDU. Rudi fischte nach der Flasche Kölsch, die sie unter ihrem Sitz

geparkt hatte. Na toll. Für ihren Geschmack hätte er sich ruhig ein paar

Reihen weiter weg setzen können.

„Salute“, prostete er und hielt ihr sein Tuborg entgegen. „Mal sehen, ob

Signs uns heute überzeugen kann!“

Rudi rang sich ein nicht zu freundliches Lächeln ab und prostete zurück.

Dänisches Bier. Wer trank denn sowas? Sie tippte auf Filmstudent. Einer

von der Sorte, die jeden Film hassten, der nicht von einem Regisseur

stammte, der entweder mit Minderjährigen schlief oder seine Frau für

seine Adoptivtochter verließ.

Plötzlich blinkte auf ihrer Jacke das lautlos gestellte Handy.

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Eine SMS von Hannes: „Hey Sis, 10 klappt auch nicht. Wird eher 12.

Freu mich auf später. Pommes & Döner? Oder Bier & Chips?“

Rudi starrte auf das Display. Das war jetzt schon die dritte SMS in Folge,

in der Hannes die Uhrzeit nach hinten schob. Was machte er bloß? Der

Bundeswehr-Dreh musste doch längst beendet sein. „Freu mich auch. Ruf

an, falls es früher klappt. Bin noch in der Stadt. Kölsch & Salzbretzeln!“,

tippte sie und drückte auf Senden. So langsam kamen ihr Zweifel, ob sie

Hannes tatsächlich zu Gesicht kriegen würde.

Sie warf sich eine neue Ladung Popcorn in den Mund und spülte mit

Kölsch nach. Endlich begann der Film.

„Du kennst den Streifen auch schon, oder?“, fragte der peinliche Stetson

von der Seite und stippte dabei seinen Hut aus der Stirn. Als hätte er

seinen Abschluss am Clint-Eastwood-Kolleg gemacht.

„Hmmm“, murmelte Rudi. Bloß nicht zu freundlich sein, sonst fühlte er

sich noch aufgefordert, weiter zu texten.

„Kein Hollywood-Highlight, oder?“, dozierte er. „Ziemlich vorhersehbare

Story. Und der Twist im dritten Akt – gute Güte! Viel zu platt.“ Er lachte

plötzlich. „Sorry, ich hab mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin der

Bernd.“

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Rudi hob wortlos die Flasche. „Der-Bernd“ war ja wohl völlig

schmerzfrei. Warum setzte ein Mann einen männlichen Artikel vor seinen

Namen? Aus Angst, dass man ihn sonst für ein Mädchen hielt?

„Und hast du auch einen Namen? Oder soll ich einfach Prinzessin sagen?“

„Sorry, der-Bernd“, flüsterte Rudi, drückte sich dabei tief in ihren Sessel

und nickte auch für Hörgeschädigte verständlich Richtung Leinwand, „ich

hab ein Date mit Joaquin Phoenix.“

Das schien gesessen zu haben. Er lehnte sich wortlos zurück und zog

seinen Hut tief über die Augen. Es sah nicht wirklich so aus, als ob er

überhaupt noch etwas von der Leinwand sehen konnte, aber darüber

konnte und wollte Rudi sich keine Gedanken machen. Jetzt war Joaquin-

Phoenix-Zeit, und dieses Date ließ sie sich von niemandem versauen.