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Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Deutsche Post AG Postvertriebstück D 6134 E Gebühr bezahlt Nr. 9/2008, 46. Jahrgang express/AFP e.V. www.labournet.de/express (069) 67 99 84 ISSN 0343-5121 Preis: 3,50 Euro GEWERKSCHAFTEN INLAND Kirsten Huckenbeck: »Mehr Not, mehr Notstand«, Deutschland im Herbst – ein Kommentar zur Neuauflage S. 1 ver.di LBZ Baden-Württemberg: »Chance 2011 statt Agenda 2010?«, Mitgliederorientierung als Maßstab des Organisationshandelns? Anmerkungen zum Diskussionspapier des ver.di-Bundesvorstands S. 2 Thomas Kunkel: »Notstand – zum Alltag geworden« S. 5 BETRIEBSSPIEGEL Wolfgang Schaumberg: »GM zieht die Zeitschraube an«, über einen neuen Ansatz zur Leistungsbemessung in der Autoindustrie S. 4 Dieter Wegner: »Gewonnen – aber der Kampf geht weiter«, zum Streik bei der Vacuumschmelze Hanau S. 8 Gregor Zattler: »Verdachtskündigung«, über ein juristisches Skandalon S. 9 »IKEA – und kein Ende«, Proteste gegen Kündigung der BR-Vorsitzenden fortsetzen S. 10 INTERNATIONALES Mike Parker: »Keine Zauberei«, Einheitsge- werkschaften sind Spartengewerkschaften nicht immer vorzuziehen S. 7 Chris Chan & Pun Ngai: »The Making of...«, über Kollektivaktionen von WanderarbeiterInnen in Südchina, Teil II S. 14 Willi Hajek/Peter Bach: »Ohne Papiere, aber voller Hoffnung«, zu den Streiks der »Sans Papiers« in Frankreich S. 16 REZENSION: Slave Cubela: »Geprellte Generationen«, Thesen zur kritischen Sozialforschung am Beispiel des Prokla-Heftes »Umkämpfte Arbeit« S. 11 Bildnachweise: Die Photos dieser Ausgabe hat uns freundli- cherweise Wilfried Schwetz zur Verfügung gestellt. Sie dokumentieren Bauten von Oscar Niemeyer in Brasilien. Niemeyer wurde am 15. Dezember 1908 in Rio de Janeiro geboren, ist jetzt also 100 Jahre alt. Er ist einer der bedeu- tendsten Vertreter der architektonischen Moder- ne. Zusammen mit Lucio Costa entwarf und verwirklichte er 1957-1964 die brasilianische Hauptstadt Brasilia, deren Grundstruktur die eines Flugzeuges ist. Brasilia ist seit 1987 UNESCO Weltkulturerbe. 1945 hatte sich Nie- meyer der brasilianischen KP angeschlossen. Nach dem Militärputsch 1964 ging er ins Exil nach Frankreich, wo er u.a. die Parteizentrale der Kommunistischen Partei Frankreichs baute. Erst nach der Generalamnestie von 1979 ging Niemeyer nach Brasilien zurück. »Wir wissen nicht genau, wer uns bedroht, und deshalb sind auch alle diese Maßnahmen getroffen worden. Weil wir den Verdächtigen nicht kennen, sind wir plötzlich alle verdäch- tig« (Gerhart Baum) 1 Spekulationsgeschäfte sind derzeit zwar etwas in Verruf geraten, doch Wetten nehmen wir gerne an, denn in diesem Fall ist nichts zu verlieren. Das können wir versprechen, weil die Sisyphosarbeit der Aufklärung unabhän- gig vom Ausgang der folgenden Spekulation zum täglichen Geschäft gehörte und, so viel ist sicher, gehören wird. Also: Wird das, was bis zu den Stützungs- käufen für plötzlich und partiell versagende Marktmechanismen als bedeutendstes gesell- schaftliches Ereignis dieser Tage galt, dem bis dahin weithin für krisenfrei gehaltenen und eher für die Erinnerung an kulturpolitisch für die BRD bedeutsame Innovationen reser- vierten Jubiläumsjahr 2008 lediglich eine weitere, aber kommerziell erfolgreiche Episo- de hinzufügen? Oder wird es gar den Auf- stieg in die Top Ten der Staatsbürgerkunde- Charts schaffen? Die Rede ist vom »Baader- Meinhof-Komplex«, der, passend zum Gedenkjahr, geschäftssicher vom Edel/ Eichinger-Komplex in Szene gesetzt wurde. Das Zeug zum künftigen Lehr-/Lernmate- rial hätte dieses Produkt der Aufbereitung der jüngeren Vergangenheit allemal, insofern 1977 auch noch die Reste des Erinnerns an die Gründe für 1968 tilgt, die nicht ander- weitig im Rahmen der Jubiläumsveranstal- tungen oder publizistisch, etwa durch die Großauftritte von Wolfgang Kraushaar, Götz Aly etc., bereits erledigt worden sind. Dabei ließe sich viel lernen, etwa über die Schizo- phrenie staatlichen Verhaltens, die gewisse Parallelen im Bereich der inneren Sicherheit wie im Umgang mit ›versagenden‹ Marktme- chanismen zeigt. So wie der Kampf gegen den Terrorismus sei- ne legitimatorische Weihe generell – und aktuell – durch die Imagination eines kohärenten gesellschaftlichen Zusammen- hangs erhält, der gegen eine zum Außen erklärte Bedrohung verteidigt werden muss, so speist sich der »Mythos RAF« aus der strikten Trennung von Gewaltfrage und demokratischer Verfassung. So, als ob nicht erklärungsbedürftig oder zumindest als Widerspruch festzuhalten wäre, dass ein demokratischer Rechtsstaat sich zur Verteidi- gung seines Inhalts Mittel schafft – »bis an die Grenzen des Rechtsstaats« (Helmut Schmidt) oder auch darüber hinaus (»Wir haben auch Geiseln«, Franz-Josef Strauß) –, die die Substanz dessen vernichten, was doch verteidigt werden soll. Und so, als ob nicht der Nachforschung wert wäre, welche Gewalt in den Verhältnissen liegt, die als freie und gleiche und brüderliche Ziel und zugleich Mittel der Geschichte zu sein behaupten. Der weitgehende Verzicht auf die Darstel- lung zeitgenössischer gesellschaftlicher Hin- tergründe und der vollkommene Verzicht auf die Klärung der Frage, unter welchen Bedin- gungen die Form des demokratischen Rechtsstaats sich ihres Inhalts entledigt und welche Zusammenhänge dabei zu den sozia- len Spannungen und Verwerfungen im zu schützenden Gemeinwesen bestehen, trägt dazu bei, den Mythos als solchen am Leben zu erhalten, statt ihn »endlich zu brechen« (Edel/Eichinger). Der Mythos verliert seine besondere Qualität des Eigenlebens jedoch nur, wenn seine sozialen Ursprünge rekon- struiert werden, das gilt für antike wie moderne Gesellschaften. Es ist das Missver- ständnis von Produzenten wie Rezensenten dieses illustrierten Dokudramas, zu meinen, Personifikation und Ereignisgeschichte trage irgendetwas zum Verständnis von Zusam- menhängen bei. Das allerdings macht den zum »intelligen- ten« Action-Blockbuster hochgedienten »Baader-Meinhof-Komplex«, der, für genau diese Verbindung von Thrill und »wissens- wertem Inhalt« von der Bundesfilmbewer- tungsstelle mit dem Prädikat »besonders wertvoll« versehen, nun von der Exportfirma German Films zum deutschen Repräsentan- ten ins Rennen um den Oscar geschickt wur- de, staatsbürgerkundetauglich, auch und gerade im internationalen Standortwettbe- werb. Das Motto scheint, verfolgt man die bis zu der Sache mit Hypo Real Estate eigen- artig selbstimmunisierend wirkende Schelte auf die US-Kreditinstitute in den deutschen Wirtschaftsfeuilletons, auf den staatlichen Umgang mit »schwarzen Schafen« unter den »Finanzdienstleistern« wie unter den Staats- bürgern zu passen: Seht her, wie erfolgreich das Modell Deutschland selbst im Umgang mit den Gegnern der besten aller Verfassun- gen dasteht... In Deutschland hatte und hat man die Krise im Griff, Helmut Schmidt, Angela Merkel, der Bafin und Basel II sei Dank. 2 Teil dieses Erfolgsmodells und zugleich dessen Clou ist: Kommt es trotz massiver staatlicher Sicherheitsvorkehrungen zu Störungen des Marktgeschehens, werden deren Ursachen kurzerhand externalisiert: kein systematisches Problem, sondern ein exogen verursachtes. Trifft insofern die Aussage Heribert Prantls, die Kraft des Rechtsstaats zeige sich darin, dass er sich auch im Umgang mit seinen Gegnern den allgemein geltenden Grundsät- zen unterwerfen müsse, für die bundesrepu- blikanischen Verhältnisse (noch) zu? Hatte dieser rechtspolitische Maßstab 1977, rund ein Jahrzehnt nach den Notstandsgesetzen, fünf Jahre nach Erfindung der GSG 9 und Verabschiedung des Extremistenbeschlusses, ein Jahr nach Schaffung des §129a und der Anti-Terror-Gesetze durch SPD/FDP, und angesichts weiterer Sondergesetze im Straf- vollzug noch Kontakt zur Rechtspraxis – oder galt nicht auch hier schon Kontaktsper- re? Statt über das Fortdauern der Gründe für die Entstehung der so genannten 68er-Bewe- gung und die Frage, warum die politischen Fortsetzung auf Seite 2 unten Mehr Not, mehr Notstand Deutschland im Herbst – ein Kommentar zur Neuauflage Memorial Juscelino Kubitschek

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Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit

Deutsche Post A

GPostvertriebstückD

6134 EG

ebühr bezahlt

Nr. 9/2008, 46. Jahrgang ■ express/AFP e.V. ■ www.labournet.de/express ■ ☎ (069) 67 99 84 ■ ISSN 0343-5121 ■ Preis: 3,50 Euro

G E W E R K S C H A F T E N I N L A N D

Kirsten Huckenbeck: »Mehr Not, mehr Notstand«, Deutschland im Herbst – ein Kommentar zur Neuauflage S. 1

ver.di LBZ Baden-Württemberg: »Chance 2011statt Agenda 2010?«, Mitgliederorientierungals Maßstab des Organisationshandelns?Anmerkungen zum Diskussionspapier des ver.di-Bundesvorstands S. 2

Thomas Kunkel: »Notstand – zum Alltag geworden« S. 5

B E T R I E B S S P I E G E L

Wolfgang Schaumberg: »GM zieht die Zeitschraube an«, über einen neuen Ansatz zur Leistungsbemessung in der Autoindustrie S. 4

Dieter Wegner: »Gewonnen – aber der Kampf geht weiter«, zum Streik bei der Vacuumschmelze Hanau S. 8

Gregor Zattler: »Verdachtskündigung«, über ein juristisches Skandalon S. 9

»IKEA – und kein Ende«, Proteste gegen Kündigung der BR-Vorsitzenden fortsetzen S. 10

I N T E R N A T I O N A L E S

Mike Parker: »Keine Zauberei«, Einheitsge-werkschaften sind Spartengewerkschaftennicht immer vorzuziehen S. 7

Chris Chan & Pun Ngai: »The Making of...«,über Kollektivaktionen von WanderarbeiterInnen in Südchina, Teil II S. 14

Willi Hajek/Peter Bach: »Ohne Papiere, aber voller Hoffnung«, zu den Streiks der »Sans Papiers« in Frankreich S. 16

R E Z E N S I O N :

Slave Cubela: »Geprellte Generationen«, Thesen zur kritischen Sozialforschung am Beispiel des Prokla-Heftes »Umkämpfte Arbeit« S. 11

Bildnachweise:

Die Photos dieser Ausgabe hat uns freundli-cherweise Wilfried Schwetz zur Verfügunggestellt. Sie dokumentieren Bauten von OscarNiemeyer in Brasilien. Niemeyer wurde am 15.Dezember 1908 in Rio de Janeiro geboren, istjetzt also 100 Jahre alt. Er ist einer der bedeu-tendsten Vertreter der architektonischen Moder-ne. Zusammen mit Lucio Costa entwarf undverwirklichte er 1957-1964 die brasilianischeHauptstadt Brasilia, deren Grundstruktur dieeines Flugzeuges ist. Brasilia ist seit 1987 UNESCO Weltkulturerbe. 1945 hatte sich Nie-meyer der brasilianischen KP angeschlossen.Nach dem Militärputsch 1964 ging er ins Exilnach Frankreich, wo er u.a. die Parteizentraleder Kommunistischen Partei Frankreichs baute.Erst nach der Generalamnestie von 1979 gingNiemeyer nach Brasilien zurück.

»Wir wissen nicht genau, wer uns bedroht,und deshalb sind auch alle diese Maßnahmengetroffen worden. Weil wir den Verdächtigennicht kennen, sind wir plötzlich alle verdäch-tig« (Gerhart Baum)1

Spekulationsgeschäfte sind derzeit zwar etwasin Verruf geraten, doch Wetten nehmen wirgerne an, denn in diesem Fall ist nichts zuverlieren. Das können wir versprechen, weildie Sisyphosarbeit der Aufklärung unabhän-gig vom Ausgang der folgenden Spekulationzum täglichen Geschäft gehörte und, so vielist sicher, gehören wird.

Also: Wird das, was bis zu den Stützungs-käufen für plötzlich und partiell versagendeMarktmechanismen als bedeutendstes gesell-schaftliches Ereignis dieser Tage galt, dem bisdahin weithin für krisenfrei gehaltenen undeher für die Erinnerung an kulturpolitischfür die BRD bedeutsame Innovationen reser-vierten Jubiläumsjahr 2008 lediglich eineweitere, aber kommerziell erfolgreiche Episo-de hinzufügen? Oder wird es gar den Auf-stieg in die Top Ten der Staatsbürgerkunde-Charts schaffen? Die Rede ist vom »Baader-Meinhof-Komplex«, der, passend zumGedenkjahr, geschäftssicher vom Edel/Eichinger-Komplex in Szene gesetzt wurde.

Das Zeug zum künftigen Lehr-/Lernmate-rial hätte dieses Produkt der Aufbereitung derjüngeren Vergangenheit allemal, insofern1977 auch noch die Reste des Erinnerns andie Gründe für 1968 tilgt, die nicht ander-weitig im Rahmen der Jubiläumsveranstal-tungen oder publizistisch, etwa durch dieGroßauftritte von Wolfgang Kraushaar, GötzAly etc., bereits erledigt worden sind. Dabeiließe sich viel lernen, etwa über die Schizo-phrenie staatlichen Verhaltens, die gewisseParallelen im Bereich der inneren Sicherheitwie im Umgang mit ›versagenden‹ Marktme-chanismen zeigt.

So wie der Kampf gegen den Terrorismus sei-ne legitimatorische Weihe generell – und

aktuell – durch die Imagination eineskohärenten gesellschaftlichen Zusammen-hangs erhält, der gegen eine zum Außenerklärte Bedrohung verteidigt werden muss,so speist sich der »Mythos RAF« aus derstrikten Trennung von Gewaltfrage unddemokratischer Verfassung. So, als ob nichterklärungsbedürftig oder zumindest alsWiderspruch festzuhalten wäre, dass eindemokratischer Rechtsstaat sich zur Verteidi-gung seines Inhalts Mittel schafft – »bis andie Grenzen des Rechtsstaats« (HelmutSchmidt) oder auch darüber hinaus (»Wirhaben auch Geiseln«, Franz-Josef Strauß) –,die die Substanz dessen vernichten, was dochverteidigt werden soll. Und so, als ob nichtder Nachforschung wert wäre, welche Gewaltin den Verhältnissen liegt, die als freie undgleiche und brüderliche Ziel und zugleichMittel der Geschichte zu sein behaupten.

Der weitgehende Verzicht auf die Darstel-lung zeitgenössischer gesellschaftlicher Hin-tergründe und der vollkommene Verzicht aufdie Klärung der Frage, unter welchen Bedin-gungen die Form des demokratischenRechtsstaats sich ihres Inhalts entledigt undwelche Zusammenhänge dabei zu den sozia-len Spannungen und Verwerfungen im zuschützenden Gemeinwesen bestehen, trägtdazu bei, den Mythos als solchen am Lebenzu erhalten, statt ihn »endlich zu brechen«(Edel/Eichinger). Der Mythos verliert seinebesondere Qualität des Eigenlebens jedochnur, wenn seine sozialen Ursprünge rekon-struiert werden, das gilt für antike wiemoderne Gesellschaften. Es ist das Missver-ständnis von Produzenten wie Rezensentendieses illustrierten Dokudramas, zu meinen,Personifikation und Ereignisgeschichte trageirgendetwas zum Verständnis von Zusam-menhängen bei.

Das allerdings macht den zum »intelligen-ten« Action-Blockbuster hochgedienten»Baader-Meinhof-Komplex«, der, für genaudiese Verbindung von Thrill und »wissens-wertem Inhalt« von der Bundesfilmbewer-

tungsstelle mit dem Prädikat »besonderswertvoll« versehen, nun von der ExportfirmaGerman Films zum deutschen Repräsentan-ten ins Rennen um den Oscar geschickt wur-de, staatsbürgerkundetauglich, auch undgerade im internationalen Standortwettbe-werb. Das Motto scheint, verfolgt man diebis zu der Sache mit Hypo Real Estate eigen-artig selbstimmunisierend wirkende Schelteauf die US-Kreditinstitute in den deutschenWirtschaftsfeuilletons, auf den staatlichenUmgang mit »schwarzen Schafen« unter den»Finanzdienstleistern« wie unter den Staats-bürgern zu passen: Seht her, wie erfolgreichdas Modell Deutschland selbst im Umgangmit den Gegnern der besten aller Verfassun-gen dasteht... In Deutschland hatte und hatman die Krise im Griff, Helmut Schmidt,Angela Merkel, der Bafin und Basel II seiDank.2 Teil dieses Erfolgsmodells undzugleich dessen Clou ist: Kommt es trotzmassiver staatlicher Sicherheitsvorkehrungenzu Störungen des Marktgeschehens, werdenderen Ursachen kurzerhand externalisiert:kein systematisches Problem, sondern einexogen verursachtes.

Trifft insofern die Aussage Heribert Prantls,die Kraft des Rechtsstaats zeige sich darin,dass er sich auch im Umgang mit seinenGegnern den allgemein geltenden Grundsät-zen unterwerfen müsse, für die bundesrepu-blikanischen Verhältnisse (noch) zu? Hattedieser rechtspolitische Maßstab 1977, rundein Jahrzehnt nach den Notstandsgesetzen,fünf Jahre nach Erfindung der GSG 9 undVerabschiedung des Extremistenbeschlusses,ein Jahr nach Schaffung des §129a und derAnti-Terror-Gesetze durch SPD/FDP, undangesichts weiterer Sondergesetze im Straf-vollzug noch Kontakt zur Rechtspraxis –oder galt nicht auch hier schon Kontaktsper-re? Statt über das Fortdauern der Gründe fürdie Entstehung der so genannten 68er-Bewe-gung und die Frage, warum die politischen

Fortsetzung auf Seite 2 unten

Mehr Not, mehr NotstandDeutschland im Herbst – ein Kommentar zur Neuauflage

Memorial Juscelino Kubitschek

2express 9/2008

Verhältnisse heute, trotz vielfältigerund breiterer Proteste, viel eher dasPrädikat der bleiernen Zeit verdienthätten, nun also ein Film über jenesDutzend »Terroristen«, von denenein Liberaler wie Gerhart Baumsagt, sie seien nur »ein Zerfallspro-dukt der linken Protestbewegung«gewesen.3

Während Presse, Talkshow-›Exper-ten‹ und andere Miet- und Schieß-mäuler noch darüber räsonieren, obsie sich eher von der popkulturellanschlussfähig und aufgemachtenBonny and Clyde-Ikonographie, dererotischen ›Strahlkraft‹ existentia-lisch viriler Jungrevolutionäre (dererman sich gereift und distanziert,aber mit einem Schuss lebensge-schichtlicher Empathie gerne ›inerster Person‹ wieder erinnert) oderdoch eher vom gelungenen »Realis-

mus« und der »Authentizität« desFilms, zu der dann auch die »rea-litätsgenaue« (?) filmische Wieder-gabe der Höhe von Einschuss-löchern zählt (»Da sitzt jederSchuss«, Stefan Aust im Zeit-Maga-zin, 11. September 2008), beein-druckt zeigen sollen, in jedem Fallaber ein weiterer Meilenstein imdemokratisch-aufgeklärten Umgangdes postnazistischen Deutschlandmit seiner Vergangenheit gefeiertwird, wird anderenorts weiter aneben jener Geschäftsordnung frei-heitlich-demokratischer Willensbil-dung, dem Grundgesetz, gesägt –und dem Räsonieren, von dem dasRingen um das allgemeine Besteangeblich lebt, ein Riegel vorge-schoben.

»Räsoniert, so lange Ihr wollt undworüber Ihr wollt, aber gehorcht« –während der aufgeklärte Absolutis-mus in Deutschland in Person von

Friedrich II. immerhin noch wusste,dass zur demokratischen Psychohy-giene auch ein gewisses Maß an pri-vatim abgelassenem Dampf notwen-dig ist, könnte es selbst damit, auchin kleinstem Kreise und in den eige-nen vier Wänden, bald ein Endehaben.

Neben einer Fülle anderer Errun-genschaften wie der Einführung vonStudiengebühren, der Flexibilisie-rung und de facto-Abschaffung vonLadenschlusszeiten, der Populismus-Konkurrenz um den schärfstenStrafvollzug, wie er aus HessensKoch-Studio bereits angekündigtwurde, der ökonomischen Konkur-renz um die billigste Versorgung beider Heimunterbringung, der Ände-rung des Presse- und des Beamten-rechts hat der Rückfall in die Klein-staaterei, kurz: Föderalismusreform,den BürgerInnen auch die Ände-rung des Versammlungsrechtsbeschert, das nun auf landesherrli-

che Weise umdefiniert werden darf.Bayern hat, wie hätte es anders seinkönnen, als erstes Bundeslanddavon Gebrauch gemacht und –gegen massive Proteste und einegesellschaftspolitisch ambitionierte»Kampagne«, initiiert von ver.di-Bayern – ein eigenständiges Ver-sammlungsgesetz beschlossen, daszum 1. Oktober diesen Jahres inKraft tritt.

Es ist nicht zu übersehen, dassmit der so genannten Föderalismus-reform vor allem die Interpretationpolitischer Freiheitsrechte auf Län-derebene verschoben wurde. Dochein vor dem Hintergrund des jüngs-ten Armuts- und Reichtumsberichtsbemerkenswerter Aspekt dieserMaßnahme liegt auch darin, dassdamit der grundgesetzliche Auftragzur Herstellung einheitlicherLebensverhältnisse um weitereDimensionen reduziert wurde.

Man muss das Grundgesetz nicht

zur ultima ratio normativer Verfas-sungsbegründungen und -entwürfeerklären oder, wie die Abendroth-Schule, die Hoffnung darein setzen,mittels Grundgesetz die Sozialbin-dung des Eigentums, geschweige»gleichwertige« Lebensverhältnisseherzustellen. Aber dieser Zusam-menhang zwischen dem offensicht-lich nicht einlösbaren Anspruch aufdie Hebung des allgemeinen Wohl-stands durch den Staat und einerzunehmenden Beschneidung politi-scher Freiheits- und individuellerSchutzrechte vor dem Staat wirdhier offensichtlich.

Ein Kontinuum deutscher Innenpo-litik von Schilys »Otto-Katalog«(Terrorismusbekämpfungsgesetz von2002) bis Schäubles »Anti-Terror-Datei-Gesetz« von 2007 ist dasBemühen, die Auseinandersetzungmit (vermutlichen oder auch nurvermuteten) Feinden von Rechts-

Organisationsentwicklung, Mitglie-dergewinnung und -betreuung,Organizing und Campaigning sindzentrale Themen zweier Papiere, diedie IGM und ver.di vorgelegt haben,um der Stärkung bzw. Wiedergewin-nung gewerkschaftlicher Durchset-zungsfähigkeit der jeweiligen Ge-werkschaft einen programmatischen›Unterbau‹ zu verschaffen. Mit denbisherigen Erfahrungen zu diesenAnsätzen, dem Warum und Wozuneuer Strategien zur »Mitglieder-orientierung« werden wir uns in Vor-bereitung auf die öffentliche Redak-tionskonferenz des express zum The-ma »Organisationsentwicklung« am17. Januar 2009 in Berlin (eine aus-führliche Ankündigung folgt imnächsten express) in den folgendenAusgaben noch intensiver beschäfti-gen. Das im Mai vom ver.di-Bundes-vorstand verabschiedete Diskussions-papier »Chance 2011 – Mitglieder-orientierung bestimmt das Organisa-tionshandeln«, zunächst unter demTitel »Chance 2010« angekündigt, istauch vor dem Hintergrund der bis-lang ausgesetzten Programmdebattein ver.di zu sehen. Auch dies erklärt,warum dem Strategiepapier derzeiteine erhöhte Aufmerksamkeit zu-kommt. Während in einem Kommen-tar des Landesfachbereichs Post-dienste, Spedition und Logistik vonver.di Nord vor allem die Tendenzzur Abschaffung der Matrixorganisa-tion durch eine Zentralisierung derKompetenzen in der »Ebene« gegen-über einer Stärkung der Fachberei-che kritisiert werden, beschäftigt sichder Landesbezirk Baden-Württem-berg mit der fehlenden Einbettungder Organisationsreform in einegesellschafts- und wirtschaftspoliti-sche Analyse. Wir dokumentieren:

Thema und Einordnung: Wenig Neues Das o.g. Papier war Schwerpunktthema der6. LBV-Sitzung am 24. April 2008. Nachengagierter Diskussion wurde eine Arbeits-gruppe beauftragt, die Kritik zu konkretisie-ren und in einer ersten Stellungnahme in dieDiskussion auf den Frühjahrstagungen EndeMai einzubringen.

Anlass von »Chance 2010« war, den An-trag H1 des letzten Bundeskongresses, der imWesentlichen Hypothesen und Prüfaufträgeenthielt, zu konkretisieren. Mit dieser Maß-gabe wurde er auf dem Kongress ohne nen-nenswerte Diskussion verabschiedet. DerLBV kritisiert, dass der Konkretionsgrad von»Chance 2010« gegenüber dem Beschluss H1kaum zugenommen hat.

Form und Sprache: Ungeeignet für demokratische DiskussionDas Papier bewegt sich inhaltlich undsprachlich in der Welt der modernen Mana-gement- und Personalführungstheorien. Die-se ist zum einen mit ihrem Wortschatz weitweg von der gewerkschaftlichen und betrieb-lichen Umgangssprache, und zum anderen istes die Sprache, in der den KollegInnen dieArbeitgeberInneninteressen gegenübertreten.Das täglich’ Brot gewerkschaftlicher Interes-senvertretungen ist, sich den in derartigenVerklausulierungen versteckten Zumutungenzur Wehr zu setzen. So verfasste, dann auchnoch 16 Seiten lange Texte sind, ganz unab-hängig von ihrem Inhalt, ungeeignet, einentiefgreifenden demokratischen Diskussions-prozess einzuleiten. Sie erwecken eher denEindruck einer Regieanweisung fürFührungshandeln.

Ansatz: Ausblendung des politisch-ökono-mischen Umfelds von GewerkschaftIm Anschreiben zu »Chance 2010« wird derAnspruch des Papiers formuliert, Antwortenauf die »Perspektive für die weitere Entwick-lung von ver.di« zu geben. Es soll insoweiteine »Richtschnur« bieten.

Diesem hohen Anspruch kann ein Papiervon vornherein nicht genügen, das sich inkeinem Satz mit dem Umfeld und den Her-ausforderungen beschäftigt, auf die eine

Gewerkschaft reagieren muss, innerhalb derersie die Interessen der ArbeitnehmerInnendurchsetzen soll.

Dieser Mangel ist umso dramatischer, alssich dieses Umfeld, der Kapitalismus und dasstaatliche Handeln, mit dem wir uns heutzu-tage auseinandersetzen müssen, fundamentalvon den Verhältnissen unterscheidet, die diederzeitigen Organisationsstrukturen und poli-tischen Strategien von ver.di und allen ande-ren Gewerkschaften geprägt haben. Daszunehmend global und dereguliert handelndeKapital hat ganz neue erpresserische Hand-lungsoptionen, die uns in die Defensivegedrängt haben. Es gelingt ihm auch mehrdenn je, staatliches Handeln bis auf die kom-munale Ebene herunter seinen Interessendienstbar zu machen, Lohn- und Lohnneben-kosten zu senken, den Sozialstaat zu demon-tieren und in großem Stil und fast unabhängigvon politischen Mehrheiten Umverteilungspo-litik von unten nach oben zu betreiben.

Ein Papier, das den Anspruch erhebt,gewerkschaftliche Perspektiven zu ent-wickeln, kommt nicht umhin, sich auf dieseneuen Szenarien einzulassen und daraus Ver-änderungsnotwendigkeiten zu entwickeln, zuanalysieren, mit welchen gewerkschaftlichenund tarifpolitischen Strukturen dem gegen-zuhalten ist, wie die gewerkschaftliche Kon-fliktfähigkeit unter den Bedingungen eines(global) entfesselten Kapitalismus wiederher-stellbar wäre, wie und mit wem politischeForderungen nach Verteilungsgerechtigkeitund sozialer Sicherheit durchsetzbar sind.Nur als Ableitung aus einer solchen Diskus-sion und gemeinsamen Analyse lässt sich eine»Richtschnur« für die organisatorische Wei-terentwicklung der Organisation gewinnen.

Schon die sog. Programmdebatte vor demletzten Bundeskongress ist am Fehlen einersolchen Grundlage in Form einer gemeinsa-men Sichtweise der politischen und ökono-mischen Rahmenbedingungen gewerkschaft-lichen Handelns gescheitert.

Managementansatz: Individualistischestatt solidarische LösungenEntgegen dem gesellschaftlichen Mainstreamund anders als in profitorientierten Unter-nehmen ist die gewerkschaftliche Hand-

lungsweise nicht individualistisch, sonderneine kollektive, Konkurrenz überwindende,solidarische. Wird der gesellschaftliche Kon-text ausgeblendet, geht das Besondere desPrinzips Gewerkschaft verloren, und Mana-gementmethoden, wie sie andernorts üblichsind, können kaum gefiltert oder uminter-pretiert bei Gewerkschaften Einzug halten.

Verloren geht das Emanzipatorische einerGewerkschaft, nämlich der Schritt vom Ein-zelnen zum gemeinsam Handelnden, im Sin-ne von Ernst Bloch: »Ich bin, aber ich habemich noch nicht, darum werden wir erstnoch« (Zitat aus dem LBV).

Ziel Mitgliederorientierung: verkürzt und vordergründigDass in einer Gewerkschaft Mitgliederorien-tierung ein Kernpunkt des Selbstverständnis-ses zu sein hat, ist im Prinzip schon immerunbestritten gewesen. Das Papier verfolgtaber ein verkürztes und vordergründiges Ver-ständnis von Mitgliederorientierung.

Das grundlegende Motiv für den Beitrittzu einer Gewerkschaft ist die Erkenntnis,dass man/frau allein nicht viel bewerkstelli-gen kann, es im Zusammenschluss mit ande-ren Lohnabhängigen bessere Durchsetzungs-bedingungen gibt. Erster Fixpunkt der Mit-gliederorientierung ist daher die glaubwürdi-ge Darstellung einer Gewerkschaft, eben die-sen entscheidenden Mitgliederwunsch erfül-len zu können, d.h. plausible Strategien zurVerbesserung von Arbeits- und Einkom-mensbedingungen und damit zur Lebenslagevon ArbeitnehmerInnen anbieten zu können– am besten durch (tarif-)politische Erfolge,mindestens aber durch Erfolgsperspektiven.Der zweite Aspekt ist dann die operative Sei-te der Mitgliederorientierung: konkrete Wer-bearbeit, Halte- und Rückgewinnungsarbeit,positive Ansprache etc. Die beste operativeMitgliederorientierung kann Defizite imprimären Bereich nicht oder nur begrenztausgleichen.

Da sie den politischen Kontext vonGewerkschaft ausblendet, wird Mitglieder-orientierung auf ihre operative Seite verkürzt.Es entsteht eine instrumentelle Sicht desMitglieds, dessen Wünsche notfalls mit denMitteln der Meinungsforschung ermitteltwerden müssten. Tunlichst wird zwar dieCharakterisierung des Mitglieds als Kundevermieden, aber inhaltlich bewegt sich dasPapier in dieser überwunden geglaubtenDenkungsart.

Charakteristisch für diese Verkürzung istdie Bestimmung des Verhältnisses von Tarif-politik und Mitgliedergewinnung. Unbestrit-ten ist, dass besonders Arbeitskämpfe stärkerzur Mitgliedergewinnung genutzt werdenmüssen. Viel entscheidender für die langfris-tige Mitgliedergewinnungsperspektive istaber die umgekehrte Frage: Wie müssenTarif- und Organisationsstrukturen unter

Chance 2011 statt Agenda 2010?Mitgliederorientierung als Maßstab des Organisationshandelns?Anmerkungen zum Diskussionspapier des ver.di-Bundesvorstands

Fortsetzung von Seite 1

express 9/2008 3

staat und Demokratie als einenKampf gegen äußere Bedrohungenzu inszenieren. »Fälschlich glaubtman, erst nach den äußeren Kund-gebungen eines Regimes sei zubeurteilen, wie wahrscheinlichdurch seine Art der Krieg wird. ImGegenteil! Sein Auftreten im Inne-ren entscheidet!«, so HeinrichMann 1933; gründlicher hatte diesder Historiker Eckart Kehr mit sei-nen Studien zum »Primat derInnenpolitik« untersucht.4 Überdas Auftreten im Inneren in derjüngsten Vergangenheit – Novellie-rung des Großen Lauschangriffs,Erfassung biometrischer Daten inPässen, Vorratsdatenspeicherung,Bespitzelung von »Risikofaktoren«im Betrieb etc. – hatte Frank-UweBetz im letzten express berichtet(Nr. 8/2008).

Getroffen, wenn nicht gemeint,sind also andere, und die Mitteldieses Kampfes, allesamt noch in

Kraft, nun ergänzt um substantielleNeuerungen, lassen sich hervorra-gend auch im Inneren einsetzen,wenn es soweit ist – ggf. nochdavor, wie die neuartigen Präventiv-Funktionen, die insbesondere BKAund anderen Polizeistellen sowieder Bundeswehr zukommen, zei-gen. Im »Weißbuch 2006 zurSicherheitspolitik Deutschlandsund zur Zukunft der Bundeswehr«macht die Bundesregierung deut-lich, wer vor wem geschützt werdensoll. Neu zu schaffende »zivil-militärische Verbindungskomman-dos«, bestehend aus Bundeswehr-Reservisten, Polizei und Zivil-Orga-nisationen wie THW, DRK, Feuer-wehr etc., sollen unter Vertrauen indie Demokratie nach 1945 schaf-fenden Titeln wie »Heimatschutz«einen »wirkungsvollen SchutzDeutschlands« in »Katastrophensi-tuationen« gewährleisten sowie»vitale Sicherheitsinteressen

Deutschlands« verteidigen – ggf.auch präventiv zur nicht näherbestimmten »Gefahrenabwehr«,und ggf. auch im Ausland.

»Sicherheitsinteressen Deutsch-lands«? Damit kann offenbar nichtdas Interesse der BürgerInnen ansozialer Sicherheit gemeint sein.Deren Grundrechte auf Unverletz-lichkeit der Wohnung und Freizü-gigkeit wurden mit der Hartz-Gesetzgebung vielmehr massivbeschnitten.

Eben diesen Zusammenhang hatver.di Bayern frühzeitig aufgegriffenund zur Grundlage der o.g. Kam-pagne »Rettet die Grundrechte –gegen den Notstand der Republik«gemacht. »Während Millionenabhängig Beschäftigten immermehr zugemutet wird, wird öffent-lich und doch fast unbemerkt derStaat gegen die Bevölkerung umge-baut. Zufall oder Zusammen-

hang?«, fragen die Herausgeberin-nen der lesenswerten Broschüre »Jemehr Not, desto mehr Notstand,oder: Grundgesetz – war da was?«,in der ver.di München eine derBegleit-Veranstaltungen der Kam-pagne mit dem ehemaligen FDP-Innenminister Gerhart Baum undder Hamburger RechtsanwältinGabriele Heinecke, Mitglied imRepublikanischen Anwältinnen-und Anwälteverein, dokumentierthat.

Gegenstand der Kampagne warsowohl die Einrichtung eben jener»zivilmilitärischen Verbindungs-kommandos« in Bayern als auch dieVerabschiedung des BayerischenVersammlungsgesetzes, das jede/neinzelne/n BürgerIn, vor allem aberderen Zusammenschluss zu politi-schen Organisationen in der Arti-kulation und Demonstration ihrerpolitischen Anliegen so einschrän-

ken würde, dass z.B. selbst harmlo-se Warnstreiks, die Verteilung tarif-politischer Flugblätter in Fußgän-gerzonen, Info-Aktionen vor Lidl-Filialen, Daimler-Niederlassungenoder Ikea-Märkten oder schlichteStreikversammlungen in geschlosse-nen Räumen verunmöglicht wür-den.

In einem Flugblatt fasst ver.di Bay-ern Beispiele für die geplantenMaßnahmen des Versammlungsge-setzes zusammen:

● »Bereits zwei Personen, diesich laut unterhalten, können alsVersammlung gewertet werden.

● Bereits Fahnen, Anstecker,einheitliche Schilder können nachwillkürlicher Entscheidung derPolizei gegen das neu erfundene›Militanzverbot‹ verstoßen und miteiner Geldbuße bis zu 3 000 Euro

geänderten Bedingungen weiterentwickeltwerden, um eine Gewerkschaft wieder erfolg-reich zu machen oder eine Perspektive zumErfolg und auf diese Weise zu steigendenMitgliederzahlen bieten zu können?

Ist das Bild einer Gewerkschaft (Ziel undWeg dahin) überzeugend, entlastet underleichtert das die operative Mitgliedergewin-nung. Selbst ein »systematisches Mitglieder-beziehungsmanagement« wird schon auf-grund immer knapperer Personalressourcenan Grenzen stoßen und sich schwer tun, denletzten weißen Flecken zu erreichen, wenn esnicht auf ein solches positives Bild einerGewerkschaft aufbauen kann.

FunktionärInnen – Scheinproblem VerhaltensstarreAls eine Schwachstelle in der Mitglieder-orientierung identifiziert das Papier »struk-turresistente« Einstellungs- und Verhaltens-muster bei nicht näher beschriebenen Funk-tionärInnen (S. 4). Es wird ein Gegensatzgesehen zwischen Mitgliederinteressen undteils illegitimen Beschäftigteninteressen(S. 5), dessen sich die verantwortlichenFührungskräfte top-down annehmen müss-ten. Unbestritten ist, dass es in jeder Großor-ganisation mehr oder weniger Starke undErfolgreiche gibt und dass den Schwächerengeholfen werden muss, sie bei Bedarf zu kriti-sieren und in Grenzfällen auch zu sanktionie-ren sind. Durch die pauschale Formulierungentsteht der Eindruck eines halsstarrigenFunktionärskörpers, der durch moderne Per-

sonalführungstechniken in die Modernegetrieben werden müsse.

Das Bild ist verzerrt: Die haupt- undehrenamtlichen Funktionäre sind großteilshochmotiviert, aber oft unter Druck und inSchwierigkeiten. Typisch für die vorherr-schenden Managementmethoden ist dieUmdefinition eines Strukturproblems zueinem Individualproblem. Die defizitäreMitgliederentwicklung wird der unzurei-chend motivierten FunktionärIn zugeschrie-ben und soll durch Änderung von deren Ver-halten und Einstellung behoben werden.Eine solidarische Organisation würde denSchwerpunkt auf die gemeinsame Analyseder Schwachstellen legen, kurzfristige undgrundsätzliche Auswege suchen und ggf.auch Grenzen akzeptieren.

Richtige PunkteTrotz der fehlenden analytischen Einbettungwerden etliche generelle oder auch Detailvor-schläge grundsätzlich oder in der Tendenzvom LBV unterstützt. In vielen Punktenwird es aber für eine sinnvolle Diskussionüber die Weiterentwicklung und Konkretisie-rung des Papiers eines gemeinsamen politi-schen Vorverständnisses bedürfen.

Umbruchsituation: Richtig beschreibt dasPapier das Erfordernis, nach sechs Jahren desOrganisationsaufbaus und der starkenBeschäftigung mit Binnenproblemen dieGewichte wieder stärker auf die eigentlichengewerkschaftlichen Aufgaben zu lenken.

MIBS (Mitgliederinformations- und Betreu-ungssystem) (S. 5): Die Pflege der MIBS-Daten in den Bezirken ist für die gezielteKommunikation mit den Mitgliedern erfor-derlich.

Sanitäter vs. Prozessmanager (S. 3): Das pro-fessionelle Selbstverständnis von haupt- undehrenamtlichen FunktionärInnen ist eineMischung aus solidarischem Beistand imEinzelfall und einem priorisierenden undstrukturierten Arbeiten. Wo diese Balanceaus dem Lot geraten ist, ist Unterstützung,Beratung oder Weiterbildung erforderlich.

Organizing (S. 5): Die bisher randständigenOrganizing-Ansätze in ver.di müssen ver-stärkt diskutiert und zu einem »gemeinsamenOrganizing-Verständnis« weiterentwickeltwerden. Auch dies setzt aber eine vertiefteBeschäftigung mit den geänderten Rahmen-bedingungen voraus, auf die Organizing eineAntwort darstellen soll.

Schwerpunktbereiche, Betriebsatlanten(S. 6f.): Eine qualifizierte Fachbereichsarbeitsetzt in der Tat genaue(re) Kenntnisse derBranchenstrukturen, der Organisationsgradeund Prioritätensetzungen voraus.

Verankerung Mitgliederwerbung in der Betriebs-arbeit und -kultur (S. 9): ein richtiges Anliegen!

Zweistufige Organisation mitgliederfernerAufgaben: muss weiterverfolgt werden, wosinnvoll.

Ausdifferenzierung des Organisationsaufbaus,z.B. ehrenamtliche Präsenz auf örtlicher Ebe-ne (S. 13): ein denkbarer Ansatz, der der Dis-kussion und Präzisierung bedarf.

Steuerungsfunktion im Bezirk (S. 13): DieBündelung von Zuständigkeiten ist währendeines Arbeitskampfes für die Fachbereiche imÖffentlichen Dienst sinnvoll, ob auch weiter-gehend, ist umstritten.

Weiterentwicklung des Finanzausgleichs(S. 14f.): ist ein wichtiges Ziel, das der solida-rischen Diskussion bedarf!

Fachbereichsstrukturen und -kooperationen(S. 15): Die Diskussion muss fortgesetzt wer-den, wobei nicht nur betriebswirtschaftlicheAspekte, sondern verstärkt Fragen der Bran-chenstrukturen und der veränderten Konkur-renzverhältnisse zu berücksichtigen sind.

Aufgabenabgrenzung Bundes-Landesbezirks-ebene (S. 16): ist angesichts vieler Doppel-arbeiten und Koordinationsdefizite auch auslandesbezirklicher Sicht sinnvoll.

ver.di LandesbezirksvorstandBaden-Württemberg

Spendenaufruf für den express

Liebe Leserinnen und Leser,

die »Anleger sind verunsichert«, und »das Ver-trauen in den Markt ist gänzlich verschwun-den«. Wo ist das Geld hin, wo kam es her,und wohin mit dem Geld? Stellt Ihr Euch dieseFrage auch?

Unser Tipp: eine ertragreiche Spende für einverlässliches Anlagepapier – wie den express!Denn so sicher die Krisen im Kapitalismus sind,so notwendig ist die fundierte Kritik an ihm –nicht nur in den Zeiten offenkundiger Krisen –,und so sicher könnt Ihr einen Teil Eures Geldesanlegen.

Verlässlich, weil wir dem Markt nie getrauthaben, im Gegenteil: Wir arbeiten hartnäckigan der Kritik desselben.

Ertragreich, weil wir uns jeden Monat erneutmit dem express, aber auch mit den Ränke-schmieden und anderen von der AFP e.V. her-ausgegebenen Broschüren darum bemühen,diese Kritik gerade und auch aus den Betrie-ben zu Wort kommen zu lassen, zu reflektie-ren, zu dokumentieren und weiterzugeben.Unsere Perspektive ist Offenheit und Öffent-lichkeit für die widrigen, in jedem Fall verbes-serungswürdigen Bedingungen, unter denenproduziert wird, und für die Probleme derjeni-gen, die mit der Produktion der und in dieserGesellschaft beschäftigt sind, wie verkehrtauch immer. Papier alleine reicht dafür nieaus: Mit Tagungen und Seminaren, die dieAFP als Herausgeberin des express organisiertoder an denen wir uns beteiligen, bieten undsuchen wir die Möglichkeit für gründlichereDiskussionen und die gemeinsame Entwicklungvon Perspektiven der Kritik.

Finanziell waren und sind wir dabei immerunabhängig – auch von uns politisch naheste-henden Organisationen, Gewerkschaften oderParteien, und wir hoffen, dass man das auchmerkt!

Aber die Unabhängigkeit hat ihren Preis. Undden können wir – bei aller Bescheidenheit beiden eigenen Löhnen und Produktionsbedingun-gen – nicht allein über die Abopreise reinholen.Der express war und ist deshalb seit seinerGründung vor 46 Jahren auf finanzielle Unter-stützung seiner LeserInnen und MacherInnenangewiesen. Eine volle Kostendeckung könnenwir schon gar nicht verlangen angesichts der»Krisenopfer«, der Arbeitslosen, Hartz IV-Bezie-herInnen und der Niedriglöhner unter den Lese-rInnen. Wir haben deshalb auch solidarischePreise und bitten dafür um Eure Solidarität.

Legt einen Teil Eures Geldes an für den expressund damit für die Sicherheit einer Kritik, die dasVertrauen in den Markt noch nie hatte.

Das regelmäßige Erscheinen des express undunsere Öffentlichkeitsarbeit sind Eure krisensi-chere Rendite! Und dafür gibt’s auch nocheine steuerabzugsfähige Spendenquittung!

Die express-RedaktionDer Vorstand der AFP e.V.

Fortsetzung auf Seite 4 unten

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4express 9/2008

belangt werden.● Versammlungsleiter und Ord-

ner werden zum verlängerten Armgemacht. Selbst Ordner müssenihre persönlichen Daten angebenund können von Behörden undPolizei als ›ungeeignet‹ und ›unzu-verlässig‹ abgelehnt werden.

● Versammlungen können nachGutdünken von der Polizei inÜbersichtsaufnahmen gefilmt wer-den, die Aufnahmen beliebig langeaufbewahrt werden.

● Zum Verbot einer Versamm-lung soll es ausreichen, wenn›Rechte Dritter unzumutbar beein-trächtigt werden‹, womöglich z.B.von Verkehrsteilnehmern undKauflustigen.

● Versammlungsleiter von Ver-anstaltungen in geschlossenen Räu-

men müssen im Vorfeld und vorOrt ihre persönlichen Daten an diePolizei weitergeben. Die Polizeikann den Versammlungsleiter als›ungeeignet‹ ablehnen.

● Der Polizei muss der Zutritt(in geschlossenen Räumen bzw.Veranstaltungen) gewährt werdenund ein ›angemessener Platz‹ einge-räumt werden – sonst sind bis zu3 000 Euro Bußgeld zu zahlen.

● Nur die Einsatzleitung derPolizei muss sich den Veranstalternzu erkennen geben.

● Selbst nicht öffentliche Ver-sammlungen (z.B. Streikversamm-lungen) können betroffen sein.«

(»Wir brauchen unsere Ver-sammlungsfreiheit«, Flugblatt vom16. April 2008)

So treffend also die eingangs zitierteÄußerung von Gerhart Baum den

Mechanismus einer hysterisch demSicherheitsdiskurs verfallenenGesellschaft und ihrer Repräsentan-ten zu beschreiben scheint: So ano-nym ist der Kreis der Verdächtigtenund so unklar die Ursache dieserinnenpolitischen Besorgnisse garnicht, wie er meint. Recht hat erallerdings, dass alle von dieser SorteMaßnahmenstaat und dessen sehrkonkreten und praktischenFreund/Feind-Erklärungen betrof-fen sind.

Dies zu zeigen gelingt den Produ-zenten/Rezensenten des Baader-Meinhof-Komplexes nicht, oderdeutlicher: Deshalb sind sie nomi-niert als Oscar-Bewerber für dasModell Deutschland, und deshalbkann der Film – jede Wette, s.o. –bedenkenlos auch von der Bundes-zentrale für politische Bildung zur

Halbbildung der StaatsbürgerInnenempfohlen werden.

Wir empfehlen unterdessen, sichder Verfassungsbeschwerde gegendas Bayerische Versammlungsgesetzanzuschließen. Man befindet sichdabei (noch) in bester Gesell-schaft.5 Und: Bayern wird, nach-dem dort infolge umstürzlerischenWählerverhaltens ›normale‹ parla-mentarische Verhältnisse eingekehrtsind, als Testlabor für die weitereUmsetzung der Föderalismusreformnoch interessanter. Mal sehn, wiesich das koalitionsfähige »bürgerli-che Lager«, das, wie man hört, dieWahlen gewonnen hat, verhält,wenn es um den Widerspruch zwi-schen seinen eigenen Freiheitsrech-ten und seinem Gleichheitsan-spruch geht.

KH

Anmerkungen:1) Lesetipps und Anmerkungen: ver.di Mün-

chen, Arbeitskreis »Aktiv gegen Rechts«(Hrsg.): »Je mehr Not, desto mehr Notstand,oder: Grundgesetz – war da was?«, Januar2007, S. 11; im Internet unter: www.verdi.de/muenchen/aktive_gruppen/kampa-gne_rettet_die_grundrechte

2) Bafin: Bundesanstalt für Finanzdienstleis-tungsaufsicht; Basel II: Abkommen zurSicherung der Eigenkapitalausstattung vonFinanzinstituten.

3) Vgl. »Je mehr Not, desto mehr Notstand«,a.a.O., S. 11

4) Eckart Kehr: »Der Primat der Innenpolitik.Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deut-schen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahr-hundert«, hrsg. und eingleitet von Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt/Berlin/Wien1976

5) Der Verfassungsbeschwerde haben sich bis-lang angeschlossen: DGB Bayern, ver.diBayern, GEW Bayern, Bund NaturschutzBayern, Paritätischer WohlfahrtsverbandBayern, Bayerischer Journalistenverband,Humanistische Union Bayern, ArbeitskreisVorratsdatenspeicherung, Attac München –und: SPD Landesverband Bayern, Bündnis90/Die Grünen Bayern, FDP Bayern !

Die Frauen und Männer an den Fließbän-dern und Akkordarbeitsplätzen überall in derWelt wissen das: Es ist zwar ein Unterschied,ob ich in einer Taktzeit von 58 Sekundenoder »nur« alle 1,5 Minuten die gleichenArbeitsbewegungen wiederholen muss, undwichtig ist auch die Art dieser auszuführen-den Bewegungen. Noch wichtiger allerdingsist die Frage, wie viele Arbeitsbewegungenich innerhalb der Taktzeit schaffen muss. DieZeit für die einzelnen Arbeitsbewegungen istvorbestimmt, und zwar auf der Basis vonTime Measurement Units (TMU). Ein TMUsind 21 Hunderttausendstel Stunden, eine Sekunde entspricht also umgerechnet27,8 TMU, eine Minute 1 667 TMU. Für»Hinlangen zum Kippschalter« gibt es z.B.21 TMU, für »Greifen einfach« 3 TMU, für »Loslassen« 2 TMU. So sind auch für»Bücken«, für »1 Schritt Gehen«, für »In denBlick nehmen« usw. die TMU-Sekunden-bruchteile genau festgelegt.1 Dieses anfangsrätselhaft klingende System vorbestimmterZeiten nennt sich MTM (Methods-TimeMeasurement) bzw. Methoden-Zeit-Messungund wird im Folgenden ausführlicher erhellt.Doch zunächst zum aktuellen Anlass, sichmit den wenig diskutierten Grundlagen heu-tiger Arbeitszeitplanung und damit auch Per-sonalbemessung zu befassen.

General Motors hat seit 1993 den Beleg-schaften einen Verzichtsvertrag nach demandern abgepresst. Reduktion der Lohnzu-

wächse durch Anrechnung auf übertariflicheLohnbestandteile, Kürzung der Gruppenge-sprächszeiten, massiver Job-Abbau durchAuslagerungen und Fremdvergabe, Einsatzvon Leiharbeitern usw. – alles zwecks Siche-rung und Verbesserung der Wettbewerbs-fähigkeit im globalen Konkurrenzkrieg,sprich: des Profits.

Aktuell versucht GM einen neuartigenAngriff: In den europäischen Autowerkensoll die Arbeitshetze durch Kürzung derMTM-Vorgabezeiten um knapp 20 Prozentmit Hilfe einer neuen, »VPM« genanntenMethode, massiv erhöht werden.

Von Opel-Eisenach liegt den Betriebsrätenein Dokument mit dem Titel »GM-Eisenach:VPM-Workshop, 06.05.2008« vor. Hierheißt es am Schluss: »Vergleich VPM-Analy-setool vs. MTM-Analysetool: VPM: 1 Minute = 2 000 TMU. MTM: 1 Minute =1 667 TMU. Fazit: VPM Analysetool ist einneuer Benchmark bzw. eine neue Messgrößefür Handlungsaktivitäten im Vergleich zuMTM.«

Das bedeutet also: Können die Opel-Manager den Arbeiterinnen und Arbeiternauf der Basis von MTM bisher pro MinuteArbeitsbewegungen zumessen, die zusammen1 667 TMU ergeben, so behaupten sie nachder neuen Methode, in Zukunft pro Minutenoch mehr Arbeitsbewegungen abfordern zukönnen, die dann zusammen 2 000 TMUergeben. Das entspricht knapp 20 Prozentmehr Arbeitsleistung! Gelingt GM dieDurchsetzung dieses »neuen Benchmarks«,wird das weltweit Folgen für die Beschäftig-ten nicht nur bei GM und in der Autoindus-trie haben.

Das belegt ein Blick auf die aktuelleHomepage der Deutschen MTM-Vereini-gung e.V.:2

»MTM Weltweiter Standard für EffizienzMit MTM lassen sich Arbeitssysteme umfas-send optimieren. Das macht MTM weltweitzum Standard für Effizienz.

In mehr als 20 Ländern setzen Unterneh-men aus fast allen WirtschaftsbereichenMethods-Time Measurement (MTM) zurAnalyse, Gestaltung und Optimierung ihrerGeschäftsprozesse ein. Damit ist MTM daserfolgreichste Zeitmanagement- und Arbeitsge-staltungssystem der Welt. Es sichert den Unter-nehmen an allen Produktionsstandorten eineeinheitliche Prozesssprache für gleichbleibendhohe Standards in der Konstruktion, Herstel-lung und Montage – von der Massenproduk-tion bis zur komplexen Einzel- und Kleinse-rienfertigung.

Die zur Verrichtung einer Arbeit benötigteZeit hängt von der gewählten Methode ab.Dies zum ersten Mal systematisch dargestelltzu haben, ist das Verdienst der MTM-Begrün-der: Bei der Analyse menschlicher Bewegungs-abläufe entschlüsselten sie das gesamte Inventaran Bewegungselementen, aus denen manuelleTätigkeiten zusammengesetzt sind. Für jedesdieser Bewegungselemente wurde ein wissen-schaftlich gesicherter und genormter Zeitwertermittelt. Durch kontinuierliche fortgeführteUntersuchungen und eine Vielzahl vonAnwendungen verfügt MTM heute über denweltgrößten Bestand an entsprechenden Pro-zessdaten. Mit Hilfe dieses Materials lassensich alle manuellen Arbeitsvorgänge objektivbeschreiben und hinsichtlich ihrer Zeit- undProduktivitätseffizienz optimieren.

Mit MTM lassen sich Gestaltungspotenzialeentlang der gesamten Wertschöpfungsketteerkennen und realisieren. Deshalb wird MTMin Industrie- und Logistikunternehmen ebensoangewendet wie in Reparaturbetrieben undadministrativen Bereichen. MTM ist das er-folgreichste Zeitmanagement- und Arbeitsge-staltungssystem der Welt.«

Ein »großer Wurf«, aberweder »wissenschaftlich«noch »objektiv«

Die Kritik solcher Systeme vorbestimmterZeiten ist aus dem kapitalismuskritischenDiskurs weitgehend verschwunden. Dass sichdie MTM-Anwendung weiterhin ausbreitet,wird kaum wahrgenommen.3 Zum genaue-

ren Verständnis von MTM, erst recht für denVersuch, diese Zeiten noch zu kürzen, ist einBlick in die Entstehungsgeschichte unab-dingbar.

MTM-Zeitwerte sind weder »wissen-schaftlich gesichert«, noch »sind alle manuel-len Arbeitsvorgänge objektiv zu beschreiben«.Ein erster Hinweis wird von den Arbeitswis-senschaftlern der MTM-Vereinigung selbergegeben. Im von ihr herausgegebenen undvon Rainer Bokranz und Kurt Landau ver-fassten »MTM-Handbuch« heißt es:

»Seit Menschen in der Arbeitswelt mitZeitstandards konfrontiert wurden, stelltesich die Frage nach der Angemessenheit derdamit verbundenen Leistungsanforderungen.Diese Frage lässt sich mit Hilfe wissenschaft-lich begründeter Methoden nicht beantwor-ten. Um das Problem der ›Leistungsniveau-setzung‹ zu lösen, bedarf es sozialer Konsen-se, d.h. Übereinkünfte, wie man das ›Leis-tungsanforderungsniveau‹ von Prozessbau-steinen, Vorgabezeiten oder Zeitstandards,die so genannte Bezugsleistung, festlegenwill.«4

Dazu heißt es genauer in der »Anmerkung10: Menschliche Leistung ist weder exakt zubeschreiben, noch zu messen. Alle Diskussio-nen um die menschliche Leistung erfassendeshalb nur als relevant erachtete Teilaspektedieses Phänomens. Auch Teilaspekte, wie inMengeneinheiten pro Zeiteinheit (z.B.Anzahl montierter Gutstücke pro Stunde)ausgedrückte Arbeitsergebnisse, sind arbeits-wissenschaftlich nicht zu begründen.«5

Trotzdem ›Wissenschaftlichkeit‹ und›Objektivität‹ der Vorgabezeiten zu behaup-ten, stellt sich bei genauerem Hinblick alsBestandteil der fortwährenden Verschleie-rung des eigentlichen Zwecks solcher Syste-me heraus: maximale Mehrwertauspressung.Das wird sehr gut sichtbar beim Blick auf dieEntstehungsgeschichte von MTM, verständ-lich dargestellt im »MTM-Handbuch«6:

»Ein Auslöser für die Entwicklung des ele-mentaren MTM-Bausteinsystems MTM-1

GM zieht die Zeitschraube anWolfgang Schaumberg* über einen neuen Ansatz zur Leistungsbemessung in der Autoindustrie

Fortsetzung von Seite 3 unten

Die Abbildungen dieser Doppelseite sind dem IGM-Arbeitsheft 807 (Pornschlegel / Birkwald, s. FN 1) entnommen

express 9/2008 5

Während der moderne Hei-matfilm über den »Baader-Meinhof-Komplex« dem Publi-kum zeigen soll, wovor manes beschützen muss (sieheArtikel von KH auf Seite 1)führt hier Thomas Kunkel vor,wie der »Heimatschutz« inZukunft aussehen soll.

Wir dokumentieren eine Redevon ihm, die er anlässlich desProtestes gegen das jährlicheTreffen des »Kameradenkrei-

ses der Gebirgsjäger« in Mit-tenwald gehalten hat.

Ich bin Mitarbeiter des Arbeitskrei-ses »Aktiv gegen Rechts« der Ge-werkschaft ver.di im Bezirk Mün-chen.

Seit Januar diesen Jahres erfolgtdie Umsetzung der Direktiven desneuen Weißbuches des Bundesver-teidigungsministers. Uns blüht da-mit, neben der Umdefinierung desVerteidigungsbegriffs, die den Ein-

satz der Bundeswehr im Innerenermöglicht, auch die flächende-ckende Indienststellung so genann-ter »Landeskommandos zum Hei-matschutz«.

Am 18. April haben sich Politikerund Militärs in München getroffen,um Günther Beckstein bei der In-dienststellung des Landeskomman-dos Bayern zu lauschen. MünchnerBürgern, um deren Schutz es bei derEinrichtung des Heimatschutzes javorgeblich gehen soll, wurde dieTeilnahme verweigert.

Die Dimension der Militari-sierung durch die Landeskomman-dos unter dem Deckmantel der»Zivil-Militärischen Zusammenar-beit« kann gar nicht überschätztwerden.

Die Heimatschutzkommandoserhalten in 429 kreisfreien Städtenund Landratsämtern Räume, um

immer präsent zu sein. Sie habenden Auftrag, ständige Verbindun-gen mit den zivilen Hilfsorganisa-tionen aufzubauen. Dazu gehörendie Feuerwehren, der Arbeiter-Samariter-Bund, das Rote Kreuzund andere bis hin zur DLRG. Die-se Hilfsorganisationen umfassenetwa dreieinhalb Millionen Men-schen, die sich für die Lebensret-tung engagieren. Jetzt sollen siedenen zuarbeiten, deren Handwerkdas Töten ist. »Zivil-MilitärischeZusammenarbeit« bedeutet nichtsanderes als den Zugriff des Militärsauf die Gesellschaft, einen immertieferen Eingriff der Bundeswehr inunser Zivilleben.

Als Leiter der Landeskomman-dos, als so genannte »Beauftragtefür die Zivil-Militärische Zusam-menarbeit«, sollen zunächst zehn-tausend Reservisten herangezogen

werden. Die CDU fordert bereitsheute eine Erhöhung dieser Zahlauf 250 000. Diese Reservisten sol-len die Qualifikationen und Er-kenntnisse ihrer zivilen Tätigkeiteneinbringen. Das heißt, es werdenPersonen aus gesellschaftlichenSchlüsselpositionen herangezogen,die eine möglichst effektive Vernet-zung mit den zivilen und huma-nitären Organisationen sowie derVerwaltung vor Ort ermöglichensollen.

Neben dieser personalen Milita-risierung strebt die Regierung mitder Zivil-Militärischen Zusammen-arbeit auch eine Durchdringungziviler Forschungseinrichtungen an.Die Regierung fordert, dass zivileForschungsergebnisse dem deut-schen Militär unmittelbar zur Ver-

(früher: MTM-Grundverfahren) warendurch den Eintritt der USA in den ZweitenWeltkrieg verursachte besondere Umstände.«Besonders in der Rüstungsindustrie sahensich die Unternehmen demnach unterDruck, Konflikte mit den Beschäftigten aus-zuschalten, die immer wieder gegen die ange-wiesenen, von Hand gestoppten Zeiten fürihre Arbeitsgänge und die damit festgelegtenAkkordlöhne protestierten. Einen Auswegversprachen die in der amerikanischen Indus-trie bereits begonnenen Vorhaben zur Ent-wicklung von Systemen vorbestimmter Zei-ten. Eine Gruppe von Entwicklern »formu-lierte acht elementare Bewegungen desHand-Arm-Systems sowie zwei Blickfunktio-nen, später auch neun Körper-, Bein- undFußbewegungen ..., insgesamt 19 Grundbe-wegungen. Die als MTM-Normzeitwertebezeichneten Sollzeiten für die Ausführungvon Grundbewegungen wurden ermittelt,indem Bewegungsabläufe mit einer Aufnah-megeschwindigkeit von 16 Bildern proSekunde gefilmt und der Zeitbedarf proBewegung durch Auszählen der ihr zugeord-neten Bilder bestimmt wurde. Die den Film-aufnahmen zu Grunde liegenden Leistungs-streuungen wurden mit Hilfe eines Nivellie-rungsverfahrens auf ein einheitliches Leis-tungsniveau gebracht, also atypisch hohe undgeringe Bewegungswirksamkeiten und -in-tensitäten ausgeglichen. Für jede Grundbe-wegung wurden Datenkarten angelegt, aufdenen die relevanten Rahmenbedingungenerfasst wurden. (...) Die durch Auszählengefilmter Bildersequenzen erfassten Zeitenwurden mit Hilfe von Regressions- und Va-rianzanalysen ausgewertet und in Abhängig-keit von den als signifikant ermittelten Zeit-einflussgrößen tabelliert. Die Zeiteinheit derin der MTM-Normzeitwertekarte enthalte-nen Normzeitwerte wird als TMU (TimeMeasurement Unit) bezeichnet. 1 TMU ent-spricht 1/100 000 Stunde bzw. 0,0006

Minuten. (...) Die MTM-Bezugsleistungwird als MTM-Normleistung bezeichnet. Sie... wird ... beschrieben als die Leistung einesdurchschnittlich geübten Menschen, der die-se Leistung ohne zunehmende Arbeitsermü-dung auf Dauer erbringen kann.« (Hervorhe-bungen i.O.)

Die Definition der »Normalleistung«durch die MTM-Entwickler wurde auf einerinternationalen Gewerkschaftskonferenz1959 in Dortmund ausführlicher so wieder-gegeben: »Bei der MTM-Zeit wird behaup-tet, dass es sich um die von einem Arbeiterbenötigte Zeit handelt, der ... mit einer Nor-malleistung arbeitet, d.h. ein Arbeiter, der: –weder außergewöhnlich begabt, noch beson-ders untüchtig ist; – für die von ihm geleiste-te Arbeit qualifiziert ist; – ohne Anreiz, aberauch ohne bösen Willen arbeitet«.7 Wider-stand von Beschäftigten mit »bösem Willen«wurde auch vom Refa-Verband8 deutlichproblematisiert: In der Refa-»Methodenleh-re« 1975 taucht im Kapitel über die »Füh-rungstechnik« bei den am Textrand hervorge-hobenen Stichwörtern die Kategorie »Stören-friede« auf. Im Begleittext heißt es: »Dane-ben gibt es immer auch Personen, die nichtbereit sind, die Forderungen zu erfüllen, diehinsichtlich der Leistung und des Verhaltensgestellt werden. Sie stören den Betriebsablaufund hindern ihre Kollegen am Erbringen dergewollten Leistung. Ein Vorgesetzter hat diePflicht, den Betrieb durch geeignete Ord-nungsmaßnahmen vor den Schäden zuschützen, die durch solche Personen entste-hen.«9

Die Einführung von MTM unter demLabel von ›Wissenschaftlichkeit‹ wurde alsgute ›Ordnungsmaßnahme‹ angesehen, nichtnur die Mehrwertauspressung zu verschärfen,sondern auch Widerstand gegen die Ausbeu-tung zu unterdrücken. Im »MTM-Hand-buch« 2006 wird dieser Aspekt nicht spürbar,kann man sich jetzt doch auf eine ›Norma-lität‹ beziehen, in der solche Verfahren keinegesellschaftliche Kritik mehr auslösen. Be-geistert urteilen die Verfasser des »MTM-Handbuchs«: »Dass die Entwicklung vonMTM ein großer Wurf war, ist daran zuerkennen, dass der Kern des MTM-Prozess-bausteinsystems, MTM-1, inzwischen über50 Jahre lang nahezu unverändert bleibenkonnte.« (S. 510)

Die MTM-Anwendung hat in der Praxissicherlich zu sehr genauer Beobachtung derArbeitsabläufe geführt und dabei viele Ver-besserungen erzielt, biomechanische Er-kenntnisse eingearbeitet, die Ergonomie auchim positiven Sinne vorangetrieben, was beiden Verfassern des »MTM-Handbuches«durchgängig betont wird. Doch das entschei-dende Ziel von Verbesserungen musste inden praktischen Auseinandersetzungenimmer der Zeitgewinn für das Kapital blei-ben. Für Zeitersparnis durch Erleichterungvon Arbeitsgängen werden dann eben zusätz-liche Arbeitsbewegungen abverlangt.10

Zum besseren Verständnis im Folgenden

noch ein Beispiel für eine MTM-Analyse:Der Arbeitsvorgang »Anbringen einesSchraubverschlusses auf eine Flasche«11

bekommt ein Kürzel, das aus Buchstabenund Zahlen besteht; die einzelnen Groß-buchstaben müssen als Kurzzeichen engli-scher Begriffe vorher erklärt werden: Zuerststeht ein Buchstabe, der die fraglicheBewegung beschreibt (z.B. R für»Reach«, Hinlangen), dann eine Zahl fürdie Länge der Bewegung, dann die Kate-gorie der Bewegung (mit Buchstabe,Zahl oder Kombination) gemäß derMTM-Tabelle. »Soll ein Hammer 40 cmvon einer Stelle an eine andere gebrachtwerden, so wird die Bewegung mitM40B bezeichnet. M bedeutet die Aus-führung einer Bring-Bewegung, 40 gibtdie Bewegungslänge mit 40 cm an, undB bedeutet das Wegnehmen des Ham-mers zu einer nicht näher bezeichneten Stel-le. Durch Anwendung dieses Kurzzeichensys-tems können alle Grundbewegungen undBewegungsfälle bei MTM einfach, kurz undklar beschrieben werden. Bei der Anwendungvon MTM wird auf der ganzen Welt eingenormtes Kurzzeichensystem verwendet.(...) Die MTM-Analyse enthält also eineBeschreibung der Methode wie auch eineZeitfestsetzung für den Arbeitsvorgang.«12

(Siehe Bild 1)

Erste gewerkschaftsoffizielleReaktion: Ablehnen!

Auf der Dortmunder Gewerkschaftskonfe-renz 1959 vertrat einer der US-amerikani-schen Delegierten eine klare Position: »DieUnternehmensleitung ist niemals glücklich

über den Umstand gewesen, über Leistungs-normen und Akkordsätze verhandeln zumüssen. Sie hat immer nach Möglichkeitengesucht, derartigen Verhandlungen ein Endezu setzen, indem sie die Arbeiterschaft davonzu überzeugen suchte, dass es eine ›wissen-schaftliche‹ Methode gibt, um gerechte Vor-

gabezeiten und Tarife festzusetzen. Auf dieserGrundlage wurden zunächst die Zeitstudienbefürwortet. Durch ihre Erfahrungen sinddie Arbeiter jedoch immer skeptischergeworden, und die Unternehmensleitungenbegrüßen ›Methods-Time Measurement‹ alseinen neuen ›wissenschaftlichen‹ Vorwand,um Tarifverhandlungen abzuschalten oder zuunterdrücken. MTM ist für Unternehmens-leitungen besonders attraktiv, da es zum min-desten Verhandlungen über einzelne Be-schwerden, bei denen es sich um Vorgabezei-ten oder Akkordsätze handelt, hoffnungsloskomplizieren würde. Die Ablehnung einereinzelnen Vorgabezeit, die mit diesem Ver-fahren festgelegt wurde, würde die Ableh-nung der Vorgabezeiten für jede andereTätigkeit im Betrieb, bei der die gleichen

Quelle: IGM 1960, S. 39

Notstand – zum Alltag gewordenVon Thomas Kunkel

Fortsetzung auf Seite 6

Fortsetzung auf Seite 6 unten

6express 9/2008

fügung gestellt werden müssen.Dazu finanziert das Verteidi-

gungsministerium direkt die Neu-ordnung für Forschung und Tech-nologie im Rüstungsbereich. Derdeutsche Wissenschaftsrat, einBeratungsgremium von Bund undLändern, empfahl Anfang des Jah-res, mehrere wehrtechnische Insti-tute zusammenzuführen und sie indie Fraunhofer-Gesellschaft zu inte-grieren. Dadurch wird der zivileAnspruch der 56 Fraunhofer Insti-tute mit ihren 12 500 Mitarbeiternund 1,2 Milliarden Euro For-schungsvolumen weiter ausgehöhlt.Acht wehrtechnische Institute sindbereits im Fraunhofer-Verbund»Verteidigungs- und Sicherheitsfor-schung« zusammengeschlossen.

Aber nicht nur das. Wirft maneinen näheren Blick auf die mitstaatlichen Geldern und Strukturen

vernetzten Organisationen, drängtsich die Befürchtung auf, dass vorallem das rechtskonservative Spek-trum von dieser Straffung seinerbisher eher losen Anknüpfungs-punkte profitiert. Das könnte auchbedeuten, dass bald überall inDeutschland die Zusammenarbeitvon Reservisten der Bundeswehr,zivilen Vereinen sowie alten undjungen Nazis ähnlich reibungslosablaufen kann wie in Mittenwald anPfingsten.

Wir sollten uns keine Illusionenüber Sinn und Zweck der aktuellstattfindenden Militarisierung ma-chen. Neben dem Krieg nach Au-ßen wird damit auch der Einsatz derBundeswehr gegen die Menschen inDeutschland vorbereitet. Die Ge-schichte lehrt uns, dass neben strei-kenden Kolleginnen und Kollegenalle anderen demokratischen Kräfteihre ersten Gegner sind.

Das ist keine orakelhafte Prophe-

zeiung, es ist angesichts der Repres-sion im Vorfeld des G8-Gipfels einesimple Feststellung. Die Heimat-schutzkommandos hatten im Vor-feld schon monatelang den Einsatzgegen die Bürger erprobt, die inHeiligendamm ihr Grundrecht aufVersammlungsfreiheit gegen denG8-Gipfel wahrnehmen wollten.Oberst Manfred Pape, Chef desBundeswehr-LandeskommandosMecklenburg-Vorpommern nanntedas eine Übung, bei der das Zusam-menwirken der Sicherheits- undHilfskräfte trainiert werde und auchdie neuen zivilmilitärischen Verbin-dungskommandos einbezogen wür-den.

Die Einrichtung der Landeskom-mandos stellt nur einen Aspekteines umfassenden Umstrukturie-rungsprozesses des staatlichen Ge-waltapparates dar, den wir zur Zeiterfahren. Der verfassungswidrigeEinsatz der Bundeswehr im Inneren

bei Kirchentag, WM und Papstbe-such, die völkerrechtswidrige Zen-tralisierung von Polizei, Militär undGeheimdiensten im »GemeinsamenTerrorismusabwehrzentrum« unddie Einschränkung von Grundrech-ten wie dem auf Versammlungsfrei-heit sind Maßnahmen, die dasGrundgesetz erst durch die Ausru-fung des Notstands legitimiert.

Und? Wurde der Notstand ausge-rufen? Dass die antidemokratischenMaßnahmen jetzt nachträglich indie Gesetzbücher übernommenwerden sollen, bedeutet nichtsanderes, als dass der Notstand zumAlltag erklärt wird.

Die bürgerliche Demokratie istkein statischer Zustand. Und dieGeschichte lehrt uns: Wer in derDemokratie schläft, wacht imFaschismus auf.

Ich möchte abschließend nochdie Gelegenheit nutzen, auf diekürzlich erschienene Broschüre des

Arbeitskreis »Aktiv gegen Rechts«des ver.di-Bezirk München hinzu-weisen, in der die beschriebenenMaßnahmen in den Gesamtzusam-menhang gestellt werden. Sie heißt»Je mehr Not, desto mehr Not-stand« und ist erhältlich über:

Nie wieder Faschismus – Niewieder Krieg!

Vielen Dank.

Die bereits genannte Broschüre der Mer-cedes-Kollegen von 1978 zeichnet exaktnach, wie sich die anfängliche engagierteAblehnung von MTM seitens der IGM-Experten zu entschiedener Unterstützungentwickelte. Die »offizielle Gewerkschaftspo-litik heute (bedeutet) die Verteidigung sol-cher Systeme«.18 In den Opel-Werken hatder Betriebsrat 1991 mit der Betriebsverein-barung 181 mehrheitlich die Umstellung aufMTM in allen Werken akzeptiert (zusammenmit den BV »Prämienlohn« und »Gruppen-arbeit«).

General Motors: von MTM zu »VPM (ILO 100)«?

»Wenn MTM eingeführt ist, sind Produkti-vitätsentwicklungen ausschließlich durchArbeitsgestaltung und Prozessverbesserungen,nicht aber durch Intensitätserhöhung reali-sierbar.«19 Diese Feststellung der Verfasserdes »MTM-Handbuchs« ist nur bedingt rich-tig: Muss man z.B. zum Abholen der Auto-batterien an die Einbaustelle am Fließbandstatt 8 nur 5 Schritte machen, wird MTM-Zeit eingespart; der oder die Beschäftigte hat»Luft« zu weiteren Arbeitsbewegungen inner-halb der Taktzeit. Das kann sicher auch»Intensitätserhöhung« bedeuten. Doch sind– worauf die Autoren rekurrieren – die Zei-ten für die einzelnen Bewegungen nicht soeinfach zu kürzen. Genau das wird nun aberin dem aktuellen Versuch mit VPM (ILO100) in den GM-Fabriken angepeilt.

Die Methode der Einführung ist dabeiäußerst zwielichtig und entspricht frappie-rend der Warnung, die das damalige IGM-Vorstandsmitglied Fritz Salm, Teilnehmer ander Dortmunder Gewerkschaftskonferenz1959, in seinem Vorwort zu dem zitiertenKonferenzbericht ausgesprochen hatte: DieSchrift »soll helfen, die Geheimniskrämereizu verbannen, mit der manche Geschäftslei-tungen die Einführung oder Anwendung sol-cher Verfahren zu umgeben versuchen.«20

1. Im derzeit dem Bochumer Opel-Betriebsrat zur Abstimmung vorliegendenEntwurf zur Betriebsvereinbarung »Zu-kunftsvertrag 2016«21 heißt es in der Einlei-tung: »Mit dieser Vereinbarung werden dieVoraussetzungen erfüllt, um im WerkBochum zukünftig Fahrzeuge der neuenGeneration Kompaktwagenklasse zu produ-zieren. Grundlage dieser Vereinbarung ist dereuropäische Rahmenvertrag für die Zutei-lung der Kompaktwagenklasse in Europavom 29.04.2008.« Dann weiter im Punkt»II. Optimierung«: »Fertigungsabläufe sollenso gestaltet werden, dass ... eine Fertigungs-zeit von 15 Stunden erreicht wird. Das kannu.a. dadurch erfolgen, dass bestehende Wege-und Wartezeiten angepasst werden und hier-durch die wertschöpfende Tätigkeit opti-miert wird. Neben bestehenden Zeitwirt-

schaftsverfahren kann die Geschäftsleitungzur Ermittlung von Vorgabezeiten auch sol-che Verfahren anwenden, die in den europä-ischen Deltastandorten vereinbart sind unddort auch angewandt werden.«22

2. Der angesprochene »europäische Rahmen-vertrag« nennt als »zwingend erforderliche«Anforderungen u.a.: »Festlegen, Verhandelnund Unterzeichnen eines Kosteneffizienz-plans (d.h. Ausbau der Linienlaufzeit, ... ILO100 Standards...)« Mit »ILO 100« bezeichnetdie GM-Geschäftsleitung im so genannten»Letter of Intent«, einem Entwurf zu einerBochumer Betriebsvereinbarung vom 17.September 2007, ein »Zeitwirtschaftsverfah-ren zur Ermittlung von Vorgabezeiten«, dasab Beginn des Jahres 2008 eingeführt werdensollte. Der Opel-Gesamtbetriebsrat hat dazuim November 2007 die »Vorläufige Stellung-nahme zum Thema ILO 100« von Prof. KurtLandau, dem Mitverfasser des »MTM-Hand-buchs« erhalten. Der Arbeitswissenschaftlerweist diesen Bezug auf eine Richtlinie derInternational Labor Organisation (ILO, Sitzin Genf ) verärgert zurück. Genauer sei wohleine »ILO Beurteilungsskala 0-100« ange-sprochen, bei der es um ›normale‹ Gehge-schwindigkeit gehen würde. Laut GM wärenanhand eines ›Ankerwertes‹ von 4 Meilenbzw. 6,4 km pro Stunde alle weiteren Leis-tungsvorgaben für körperliche Arbeit zuberechnen. Prof. Landau dazu weiter: »EinSchriftstück mit der Begründung dazu konn-te mir weder von Opel noch von MTM (alsoder Deutschen MTM-Vereinigung, W.S.) zurVerfügung gestellt werden.« Er stellt klar,dass die Festlegung auf eine ›normale‹ Geh-geschwindigkeit von 6,4 km pro Stunde alsRichtwert für industrielle Leistungsvorgabenarbeitswissenschaftlich nirgends begründetsei und es darüber hinaus keinen Sinnmache, davon alle anderen Zeitvorgaben fürArbeitsbewegungen ableiten zu wollen.23

3. Ein weiteres Dokument konnte in derBochumer Belegschaft ein wenig Licht insDunkel bringen: Der Betriebsratsvorsitzendevon Opel-Eisenach, Harald Lieske, hat »ILO100« scharf kritisiert. Im Scheibenwischer, derZeitung des Eisenacher Betriebsrats und derIGM-Vertrauensleute, vom Mai 2008 stelltLieske zunächst klar, dass die Opel-Manager,etwas zurückweichend, mit »VPM« inzwi-schen einen neuen Namen für die ILO 100-Maßnahme benutzen. Er schreibt: »Bei VPM,also ILO 100, wird die Arbeitsorganisationim Takt durch Augenschein analysiert undeingeschätzt. Ein trainierter Beobachterschätzt ein, ob 100 Prozent VPM-Tempoerreicht sind. Eine Bewegung, die VPM zu100 Prozent erreicht, liegt allgemein bis zu 25Prozent unter MTM. (...) Rein praktisch wirddies durch simple Umrechnung der MTM-Zeitwerte realisiert. (...) Außerdem wird derArbeitstag auf wertschöpfende Anteile und

nicht wertschöpfende Anteile überprüft. (...)In der Summe kam man also zu dem (un-glaublichen) Ergebnis, dass fast 1/4 des Tageseines Mitarbeiters bei Opel in Eisenach, wört-liches Zitat! ›Erholungszeit‹ ist! Das ist derblanke Hohn!« (Hervorhebungen im Text)Lieske bezieht sich dabei auf das eingangszitierte Eisenacher Dokument »GM-Eisenach: VPM-Workshop, 06.05.2008«.24

Schlussfolgerung des Betriebsrats: »VPM istweder im Tarifvertrag noch für Eisenach ver-einbart. Auch in anderen Standorten ist VPMvon der IG-Metall nicht zugelassen. Wennder Arbeitgeber für sich eine VPM-Analysedurchführt, ist das seine Sache. Wir werdenaber weiterhin ausschließen, dass in Eisenachnach VPM gearbeitet wird. Dafür gibt esweder bei Opel Eisenach noch in anderenOpelwerken eine Rechtsgrundlage.« Nebender Leistungsverdichtung kritisiert Lieske(ähnlich wie Prof. Kurt Landau) hiermit auchdie rechtlichen Grundlagen der Erprobungund schleichenden Einführung von VPM.

Das GM-Management versucht also inäußerst zweifelhafter, undurchsichtiger Formeine neue, auch arbeitswissenschaftlich undrechtlich unbegründete Methode zur Ermitt-lung von Vorgabezeiten durchzusetzen, beider angeblich eine schnellere als die von

Portea Panteão de Patria Tancredo Neves

Grundbewegungen vorkommen wie bei derstrittigen Tätigkeit, nach sich ziehen. (...)Angesichts der Gefahren und Probleme, dieMTM hervorruft, sollten unsere internatio-nalen Vertretungen und Ortsverbände nach-drücklich angewiesen werden, sich seinerEinführung in unseren Betrieben zu wider-setzen. Vor allem sollten sich unsere Gewerk-schaftsortsverbände davor schützen, irgend-wie in die Einführung oder Anwendung desVerfahrens hineingezogen zu werden.«13

Auch von deutschen Gewerkschaftsfunk-tionären gab es zunächst scharfe Kritik: »Die-se an Dressur grenzende Einfügung des Men-schen in ein Bewegungsschema ist mit derWürde des Menschen nicht mehr verein-bar!«, so der Beirat der Gewerkschaft Lederin seinem Beschluss zu MTM vom 20. Okto-ber 1959 – zitiert in einer Broschüre überMTM bei Daimler Benz, in der Kollegenüber die Einführung des neuen Lohnsystemsberichten.14 Und in der IGM-Zeitung DerGewerkschafter wurde in den 60er Jahren for-muliert: »Die Industrie entwickelt Arbeitsfor-men, die buchstäblich von dressierten Affengleichgut oder besser gemacht werden kön-nen.«15 Noch in den 70er Jahren wird vonden IGM-Experten u.a. kritisiert: »Dergeschäftliche Stil, mit dem die Verfahren vor-bestimmter Zeiten in den USA angepriesenwerden, wird in der Bundesrepublik durchgedämpfte, akademisch gefärbte Töne ersetzt.Auch tun alle Beteiligten – einschließlich derin erster Linie geschäftlich interessiertenBerater – alles, um eine gepflegte wissen-schaftliche Atmosphäre zu schaffen, in dergute Honorare und Gehälter für die Anwen-der sowie die intensivere Ausnutzung derArbeitskraft der Betroffenen nicht zur Dis-kussion zu stehen scheinen. Aber genau da-rum geht es. Wer sich das vor Augen hält,wird besonders kritisch allen Äußerungengegenüberstehen, die im Gewand der Wissen-schaftlichkeit nur den Verkauf dieser Verfah-ren fördern möchten.16 (Hervorhebungeni.O.)

Ablehnen sinnlos – zustimmen!

Doch im selben »Arbeitsheft 807« der IGMdeutet sich schon die Wende an: »Was ist zutun? Die Zeiten der Maschinenstürmereisind vorbei. Die Rationalisierung ist einewesentliche Voraussetzung für die Steigerungder Löhne und des Lebensstandards. (...) Dadie Verfahren vorbestimmter Zeiten nur einMittel der Rationalisierung sind, hat es kei-nen Sinn, sie völlig abzulehnen. Da sie abersehr nachhaltig die Situation der Arbeitendenberühren, stellen sich hier besondere Fragender Kontrolle in der Anwendung dieser Ver-fahren.«17

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Was ist besser – Berufsgewerkschaf-ten oder industrielle Branchenge-werkschaften? Die Debatte ist so altwie die Arbeiterbewegung selbst,und sie widersetzt sich einer einfa-chen Beantwortung.

So genannte Berufs- oder Spar-tengewerkschaften organisierenBeschäftigte entlang professionellerLinien, während Einheitsgewerk-schaften alle, die für einen Arbeitge-ber oder in einer Branche bzw.Industrie arbeiten, in einer gemein-samen Gewerkschaft organisieren.

Der Streit taucht in der Debattezwischen der Service EmployeesInternational Union (SEIU) und derCalifornia Nurses Association (CNA)

wieder auf. Während die SEIU ver-sichert, der einzige Weg, es mit denriesigen Krankenhauskonzernenaufzunehmen, sei die Organisierungaller Beschäftigten in einer gemein-samen Gewerkschaft, vertritt dieCNA die Ansicht, nur eine Gewerk-schaft von und für Krankenschwes-tern könne sich in der erforderli-chen Weise auf deren Bedürfnissekonzentrieren.

In ähnlicher Weise haben sich erstkürzlich bei United Airlines dieTeamsters und die Aircraft MechanicsFraternal Association (AMFA) be-kämpft. Die Teamsters erhobendabei den Vorwurf, die AMFA sei alsBerufsgewerkschaft nur an Mecha-

nikern interessiert,nicht aber anReinigungskräftenoder Gepäckverla-depersonal.

In solchen Fäl-len von Konkur-

renz sind aber andere Faktoren ent-scheidender als die Frage nachBerufs- versus Einheitsgewerk-schaft: Welche der beiden Gewerk-schaften ist demokratischer, welchehat die besseren Verträge ausgehan-delt, welche hat ein größeresMachtpotenzial? Das sollten dieFaktoren sein, anhand derer dieBeschäftigten entscheiden, welchevon zwei Gewerkschaften sie vertre-ten soll.

Eine sorgfältigere Betrachtungergibt, dass keine der beiden For-men von vornherein besser geeignetist, dem kompletten Interessenspek-trum der ArbeiterInnen gerecht zuwerden.

Ein Schritt vorwärts

Niemand bestreitet, dass Industrie-gewerkschaften in den 1930er Jah-ren einen qualitativen Fortschrittfür die ArbeiterInnen bedeuteten.Der CIO schob damals die engstir-nigen Handwerkergewerkschaftender AFL beiseite, um die Arbeite-rInnen in der industriellen Mas-senproduktion zu organisieren,welche für die Wirtschaft unddamit für die Arbeiterbewegungzentral war.

Damals wie heute betont dieOrganisierung in Branchen die ge-meinsamen Interessen aller Beschäf-tigten. Teilweise kann sie die rassis-tischen und sexistischen Spaltungenüberwinden, die verstärkt aus Ein-gruppierungen sowie Diskriminie-rungen bei der Einstellung resultie-ren.

Zusätzlich macht die Größe derEinheitsgewerkschaften und ihre

Dichte in manchen Gemeindenpolitische Massenaktionen einfa-cher, im Vergleich zu einer Politikfür einzelne Berufsgruppen, die aufLobbying bzw. die Wahrnehmungspezifischer Interessen abzielt.

Dennoch wurden Spartenge-werkschaften von den Einheitsge-werkschaften nicht einfach wegge-fegt. Während der CIO Millionenorganisierte, wuchs die AFL verhält-nismäßig sogar noch stärker.

Berufsgewerkschaftenmachen weiter

Es gab viele Gründe, warum dieBerufsgewerkschaften bis heute wei-tergemacht haben. In den 1930erJahren stellten sie aufgrund ihrereher konservativen Politik für dieArbeitgeber keine solche Bedro-hung dar wie die Industriegewerk-

MTM festgelegte Gehgeschwindigkeit undeine andere Berechnung von Erholungszeitzugrunde gelegt werden könnte – und damitwären dann auch alle anderen vorbestimmtenZeiten entsprechend kürzbar.

Dass die IG Metall nicht in allen Betrie-ben wie auch in der Öffentlichkeit darüberaufklärt und zum notwendigen Widerstandmobilisiert, erinnert an den Geisteswandelder führenden Funktionäre bei der MTM-Einführung und treibt kritische Gewerk-schaftsmitglieder eigentlich nur weiter in dieResignation. Eigenständig die Gegenwehrvoranzubringen, hat die Betriebsgruppe GoGbei Opel in Bochum zumindest mit ihremFlugblatt versucht.

Eine andere Debatte ist nötig

Als erste Reaktion auf den GM-Angriff magsich ja die Überlegung aufdrängen, es müssejetzt darum gehen, die MTM-Vorgabezeitenzu verteidigen, um noch Schlimmeres zu ver-hüten. Doch dass die Betroffenen sich an sol-che Arbeitsmethoden nicht gewöhnt haben,sogar mehr darunter leiden und stressbelaste-ter sind, lässt sich nicht nur in den Autofa-briken schnell erfragen. Eine viel umfassen-dere Reaktion muss diskutiert werden. EinigeThesen dazu:

1. Rotation, Aufgabenerweiterung und länge-re Taktzeiten können die Arbeitsbelastungsicherlich abmildern. Jede Arbeit nach vorbe-stimmten Zeiten wäre leichter zu ertragen,wenn es mehr Pausen gäbe, und erst recht beiverkürzter Schichtzeit. Die Forderung nachArbeitszeitverkürzung wie z.B. »sechs Stun-den bei vollem Lohnausgleich« ist derzeitschwierig zu verbreiten und durchzusetzen,aber dringend aufrecht zu erhalten. Die tech-nologische Entwicklung ermöglicht heutesogar eine viel kürzere Schichtzeit von vierStunden oder weniger, erst recht unterBerücksichtigung all der unfreiwillig nichtBeschäftigten, der Produktion überflüssigerProdukte wie der konkurrenzbestimmtenunnötigen Parallelproduktionen.

2. Die Arbeitsweise heute ist nicht naturge-geben. Daran schließt sich die Frage an, obman nicht auch unter der Bedingung, dassdie Produktion nicht zwecks Profit für weni-ge, sondern zwecks guter Versorgung für alleorganisiert würde, eine Planungsgrundlagefür die benötigten Zeiten brauchen würde.

● Sicher, aber dann müsste man nicht amFließband mithetzen, sondern könnte dieArbeit zum Beispiel in Montage-Zellen ganzanders organisieren ...

● Dann brauchte man statt Angst vorArbeitsplatzverlust bestimmte Tätigkeitennur befristet mitmachen und könnte sorglo-ser wechseln, auch in ganz andere Arbeitsbe-reiche ...

● Und vor allem: dann würde den Produ-zierenden das Arbeitstempo nicht von eini-gen Profitexperten in »vorbestimmten Zei-ten« nach angeblich ›wissenschaftlichen‹Systemen wie MTM oder VPM aufdiktiert.Sie selber hätten mit abzusprechen, welcheProduktionszeiten für die herzustellendenGüter für welche Phasen mit welcher Dauerakzeptiert werden können und wie regel-mäßig die angestrebten Produktionszeitenüberprüft und verändert werden. Selbstver-ständlich würde dabei die Gesundheit vorder Stückzahl rangieren, und Produktivitäts-fortschritte würden zu weiteren Arbeitszeit-verkürzungen führen ...

3. »Gute Arbeit« lässt sich einfach ohne dieKritik der die Lohnarbeit charakterisierendenund bei den Systemen vorbestimmter Zeitenam deutlichsten manifestierten Zeitzwängenicht diskutieren. Wie es übrigens wohl auchziemlich blöde ist, bei »guter Arbeit« nebender Kritik der Produktionsmethoden die Kri-tik der Art der Produkte ausklammern zuwollen: z.B. die Unmassen von Tag für Tagproduzierten PKW-Blechkisten oder dieKriegsgeräte aller Art.

* Wolfgang Schaumberg ist nach 30 Jahren Arbeit bei Opelin Bochum immer noch in der Betriebsgruppe GoG-Gegen-wehr ohne Grenzen aktiv, darüber hinaus in der Gewerk-schaftslinken und in Vernetzungsprojekten mit aktiven Men-schen in China.

Anmerkungen:1) TMU-Angaben nach: Hans Pornschlegel / Reimer Birk-

wald: »Verfahren vorbestimmter Zeiten«, IG MetallArbeitsheft 807, 5. Aufl. 1977, S. 23

2) Siehe: www.dmtm.com3) Vgl. »Die MTM-Anwendung nimmt weiter zu«, in:

direkt, IG Metall-Vertrauensleutezeitung, Nr.12/2001, S. 4

4) Rainer Bokranz / Kurt Landau: »Produktivitätsmana-gement von Arbeitssystemen. MTM-Handbuch«, Hrsg.Deutsche MTM-Vereinigung e.V., Stuttgart 2006, 838Seiten

5) Bokranz/Landau 2006, a.a.O., S. 491f.6) Die Zitate des folgenden Absatzes finden sich in

Bokranz/Landau 2006, a.a.O., S. 508ff.7) Siehe: »Kleinzeit- und Bewegungselemente-Verfahren.

Bericht der internationalen GewerkschaftskonferenzDortmund, 27. bis 30. Oktober 1959«, Schriftenreiheder Industriegewerkschaft Metall, 1960, 1. NachdruckMärz 1964, im Folgenden zitiert als »IGM 1960«,S. 15

8) Heute: Verband für Arbeitsgestaltung, Betriebsorganisa-tion und Unternehmensentwicklung; gegründet 1924als Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung

9) Refa (Hrsg.): »Methodenlehre des Arbeitsstudiums«, 4.Auflage, München 1975, S. 175

10) Zum Zeitproblem unter den Bedingungen kapitalisti-scher Produktion siehe auch Wolfgang Schaumberg:»Eine andere Welt ist vorstellbar? Schritte zur konkretenVision«, Reihe Ränkeschmiede, Nr. 16, Juni 2006,Hrsg. AFP e.V.

11) »IGM 1960«, a.a.O., S. 35ff.12) »IGM 1960«, a.a.O., S. 3713) Zit. aus: »Anhang XII. Die gewerkschaftliche Haltung

in den USA. Die Einstellung der Gewerkschaften«,»IGM 1960«, a.a.O., S. 78

14) »MTM bei Daimler Benz, Kollegen berichten über dieEinführung eines neuen Lohnsystems«, Broschüre, Ver-trieb W. Münzenberg, Oldenburg 1978, S. 14

15) Zit. nach: »MTM bei Daimler Benz«, a.a.O., S. 38

Keine ZaubereiSind Einheitsgewerkschaften den Spartengewerkschaf-ten vorzuziehen? Nicht immer, meint Mike Parker

16) Pornschlegel / Birkwald, a.a.O., S. 15f. 17) Pornschlegel / Birkwald, a.a.O., S. 2418) »MTM bei Daimler Benz« 1978, a.a.O., S. 4719) Bokranz / Landau, a.a.O., S. 11420) »IGM 1960«, a.a.O., S. 321) Der BV-Entwurf ist einsehbar unter www.labournet.

de/branchen/auto/gm-opel/bochum/zukunft2016.pdf22) Der Verweis auf »andere Werke« bleibt im Dunkel.

Dass in Gliwice/Polen bereits nach dem neuen Ver-fahren vorbestimmter Zeiten gearbeitet wird, ist nichtdokumentiert. Der Bochumer BR-Vorsitzende hatteallerdings in einem Brief an den Euro-BR und die

IGM am 26. Oktober 2007 geschrieben: »... im›Lohnabkommen 2006‹ wurden in England Regelun-gen zu ILO 100 vereinbart.« – Die Belegschaftenwurden vom Euro-BR und der IGM jedenfalls nichtdarüber aufgeklärt. Das Verdunkeln hat wohl Metho-de.

23) Die »Vorläufige Stellungnahme« ist einsehbar unterhttp://media.de.indymedia.org/media/2008/05//21207207.pdf

24) Dieses ist insgesamt nachzulesen im GOG-Extra-Flug-blatt, dokumentiert in: www.labournet.de/branchen/auto/gm-opel/bochum/gog-0908extra.pdf

Fortsetzung auf Seite 8 unten

8express 9/2008

schaften, die einen radikalen politi-schen Wechsel anstrebten.

Außerdem haben die Spartenge-werkschaften die Kontrolle überdie Ausbildung und andere berufs-spezifische Prozesse stets dazubenutzt, den Zugang neuer Arbei-terInnen zur jeweiligen Professionzu begrenzen. Die daraus resultie-rende Verknappung von Arbeits-kräften lässt die Löhne steigen undverschafft der Gewerkschaft einzusätzliches Druckmittel. DieseEingangskontrolle bedeutet, dassdie Professionen durch erweiterteFamiliennetzwerke und Systemegegenseitiger Verpflichtung struk-turiert sind. Mit der Kontrolleüber die berufsbezogene Ausbil-dung erlangt die Berufsgewerk-schaft Macht über die Arbeitsin-halte sowie darüber, wer den Berufausüben darf.

Der so gewonnene Einfluss istallerdings zweischneidig. Einerseitswaren Berufsbildung, Familiennetz-werke und kulturelle Homogenitätvon Vorteil, als Angriffe von denPinkertons und anderen Spionendes Managements abgewehrt wer-den mussten. Andererseits, und vielwichtiger, bildeten diese Qualitäteneine Barriere für schwarze sowieArbeiter ethnischer Minderheiten,und für Frauen. Berufsgewerkschaf-ten, die »das Eigene« verteidigten,haben sich oft gegen soziale Verän-derung und soziale Bewegungengestellt.

Die Kontrolle über den Arbeits-inhalt ist ebenfalls zweischneidig:Häufig haben sich die Gewerkschaf-ten neuen Technologien verschlos-sen. Diese werden dann wie zumBeispiel bei einer neuen Technologieim Schriftsatz zur Waffe, mit der dieArbeitgeber einst mächtige Gewerk-schaften zerschlagen können.

Zur Arbeit berufen

Dennoch bleibt der Ansatz nachBerufen lebendig, denn für diebetroffenen Beschäftigten themati-siert er die Arbeitserfahrung direk-ter. Für die Berufsgewerkschaftenspielen spezifische Bedingungen desBerufs, Stolz auf den Beruf und eineprofessionelle Berufsauffassung diezentrale Rolle.

In einer Autofabrik z.B. sehendie meisten Beschäftigten in ihremJob nicht mehr als eine Möglich-keit, ein angemessenes Einkommenzu erzielen. Viele qualifizierteHandwerker sehen ihre Arbeit hin-gegen als Profession und sind stolzauf ihre Qualifikationen. VieleMenschen werden Krankenschwes-tern, Lehrer, Mechaniker, Elektri-ker, gewerkschaftliche Organizeroder Schauspieler, weil sie sich dazuberufen fühlen.

Für diese Beschäftigten sind Fra-

gen der Profession nicht nur subjek-tiv von Bedeutung; ihr Wissen undKönnen geben ihnen darüber hin-aus Werkzeuge für den Kampf umdie Kontrolle ihrer Arbeitsplätze andie Hand. Berufsgewerkschaftenhaben so einen quasi natürlichenZugang zu Organisierung »on thejob«. Industriegewerkschaften, dieberufsbezogene Themen ignorieren,kann es blühen, dass Mitgliederihnen den Rücken kehren und ihreeigenen Berufsgewerkschaften grün-den, wie es die SEIU mit Beschäf-tigten notärztlicher Dienste undElektrotechnikern in der RegionBay Area erleben musste.

Gleichzeitig kann die Konzentra-tion auf Professionsfragen zurAblenkung oder zum Hinderniswerden, vor allem in solchen histo-rischen Phasen, in denen Klassenbe-wusstsein und soziale Bewegungeneinen Schub erfahren und die Phan-tasie der Arbeiterbewegung und der

Gesellschaft als Ganzes beflügelnund zur Veränderung anregen.

Damit will ich nicht sagen, dassdies bei Industriegewerkschaftenausgeschlossen ist. Auch eine Ein-heitsgewerkschaft kämpft vielleichtnur für ihre eigenen Mitglieder stattfür die gesamte Arbeiterschaft.

Die United Auto Workers (UAW)haben bspw. jahrzehntelang gegenVorgaben zur Senkung des Benzin-verbrauchs gekämpft, um die Sprit-fresser der Großen Drei (GM, Ford,Chrysler, Anm. d. Red.) zu verteidi-gen. Andererseits kämpft die Ge-werkschaft CNA, die nur Kranken-schwestern vertritt, für eine allge-meine Krankenversicherung.

Sich um alles kümmern

Beide Modelle – Berufs- und Ein-heitsgewerkschaft – beziehen sichauf wichtige Bereiche unsererArbeitserfahrung. Eine Arbeiterbe-

Nach einer Woche Streik für das Fortgeltendes Flächentarifvertrages (FTV) gab dieGeschäftsleitung der Vacuumschmelze Hanau(VAC) auf, zumal ihr die Gerichte auch nichtgeholfen hatten. Gleichwohl hat die Beleg-schaft (noch) nicht gewonnen. Denn auchwenn der Flächentarifvertrag nun wieder gilt,hat die Firma ihre Kürzungsabsichten nichtaufgegeben, und die Verhandlungen über dasAusmaß der Kürzungen, die zwischen VAC-Geschäftsleitung und IGM im Rahmen des»Pforzheimer Abkommens« geführt werdensollen, beginnen jetzt erst. Auf einen Streikwar es zugesteuert, nachdem VAC schon imJuni d.J. aus dem Arbeitgeberverband Hes-senmetall und damit aus dem FTV ausge-schieden war, dies aber erst zwei Monate spä-ter bekannt gegeben hatte. Als Grund fürden Austritt gab VAC die gestiegenen Roh-stoff- und Energiepreise an. Diese sollten aufdie Belegschaft abgewälzt werden. Bei den1 500 Beschäftigten sollten in diesem Jahrzwölf Millionen Euro eingespart werden, proKopf wären das pro Jahr 8 000 Euro gewe-sen. Die tarifliche Erhöhung dieses Jahr hättekeine Anwendung gefunden.

IGM und Betriebsrat sahen die Firmajedoch als gesund an und die Ursache dervorgeblichen Finanzklemme vielmehr darin,dass der US-Finanzinvestor One Equity Part-ners (OEP) im Jahre 2005 die VAC zu 66Prozent kreditfinanziert gekauft hatte. DieBelegschaft muss jetzt die hohen Zinsen auf-bringen. Dafür wurden laut IGM-Bezirkslei-ter Armin Schild vorhandene Erträge insMinus gedreht.

IGM bietet Einbußen an

Vor dem Streik bestand Einigkeit zwischenIGM und Betriebsrat, der Geschäftsführungvon VAC Einbußen für die Belegschaft anzu-bieten. Diese Angebote wurden durch dasAusscheren aus dem FTV hinfällig. Währenddie Belegschaft bei dem Streik primär dasZiel verfolgte, den FTV wieder zur Geltungzu bringen, interessierte den IGM-Apparat,dass eine der Folgerungen aus dem FTV, dasPforzheimer Abkommen, in Anwendungkommt und damit die IGM direkt im Spielbleibt. Die Situation für die Belegschaft istbesser, aber auch schwieriger geworden. DieFAZ drückt es treffend so aus: »Die Lage in

Hanau ist vertrackt: Mit dem Streik habenIG Metall und Betriebsrat Erwartungen inder Belegschaft geschürt, dass das Opfernicht zu groß ausfallen wird. Das Manage-ment hingegen hat nach der Rückkehr in dieTarifbindung härteste Schnitte wie Personal-abbau angekündigt, um sein Einsparziel zuerreichen. Es wird viel Mühe kosten, einenKompromiss zu finden – und ihn der sie-gestrunkenen Belegschaft schmackhaft zumachen«. (FAZ, 20. September 2008)

Da werden dann IGM-Funktionäre inder hohen Kunst des Rollenspiels gefordertsein: Im ersten Akt wird klassenkämpferischaufgetreten – die böswillige und unfähigeGeschäftsführung gehöre »abgewählt«. Die-ser Akt ist schon absolviert. Im zweiten Aktgeht es nun darum, »auf gleicher Augen-höhe« mit »den Sozialpartnern« das im»Gesamtinteresse zur Standortsicherung«Beste herauszuholen, um das Ergebnis die-ser Verhandlungen dann im dritten Akt alsErfolg zu verkünden (»schmackhaft zumachen«, wie die FAZ es ausdrückt) – selbstwenn es herbe Kürzungen sind. Nach demdritten Akt stellt sich dann heraus, ob dasPublikum (die Belegschaft) Beifall klatschtoder selbst die Bühne betritt.

Jetzt feiern aber erst mal alle zusammen ihrenSieg gegen die VAC-Geschäftsführung –Belegschaft, IGM-Funktionäre und LandratPipa mit seiner Initiative »Eine Region stehtauf«. Gemeinsamer Siegesgrund ist, dassVAC zwei Prozesse verloren hat. Es »durfte«also gestreikt werden, und das Unternehmenist in den Arbeitgeberverband, also in dieTarifbindung zurückgekehrt. Unterschied-lich sind die Gründe zum Feiern: Die Beleg-schaft freut sich vor dem Hintergrund stän-diger und allgemeiner Niederlagen imArbeitnehmerlager, endlich mal die Gegen-seite bezwungen zu haben, dazu noch eine sogenannte »Heuschrecke«, und darüber, dasssie dabei die ganze Region hinter sich hatte.Die IGM-Funktionäre feiern, weil sie ihrenSozialpartner durch Gerichtsurteile auf dieGewerkschaftsgleise des Pforzheimer Abkom-mens gezwungen haben. Und sie freuen sichsicherlich, sich in Einklang mit Mitgliedernund Bevölkerung zu befinden.

Doch es muss die Frage erlaubt sein: Waswäre gewesen, wenn die beiden Gerichte denStreik nicht erlaubt hätten, wie etwa beim

ersten Prozess gegen die Gdl im Bahnstreikvor einem Jahr?

VAC verweigert sich demPforzheimer Abkommen

VAC ist ein Metallbetrieb in Hanau mit1 500 Beschäftigten. Die Arbeiter sind zu 99Prozent organisiert. Sie stellen Spezialteileher für Uhrenbauer, Medizintechnik, regene-rative Energien, Schiffbau, Telekommunika-tion, Automobilbau und Luftfahrtindustrie.Seit 1923 war VAC Teil des Siemens-Kon-zerns, von 2005 an gehörte das Unterneh-men der Private Equity-Firma OEP.

VAC war im Juni d.J. aus dem Arbeitge-berverband/Flächentarifverband ausgestie-

gen, weil die Geschäftsführung freie Handhaben wollte bei der unentgeltlichen Erhö-hung der Arbeitszeit, einer dauerhaftenAbsenkung der Löhne und deren Anbindungan die jeweilige Geschäftslage. Begründetwurde der Tarifaustritt auch mit gestiegenenRohstoff- und Energiekosten. Der Clou: DasPforzheimer Abkommen, ein Abkommenzwischen Arbeitgeberverbänden und IGMaus dem Jahr 2004, das genau solche Abwei-chungen von der Tarifnorm zur Regel macht,sollte dabei gar nicht benutzt werden. Esbesagt, dass Firmen bei schlechter Ertrags-lage, im Sanierungsfall, bei wichtigen Inves-titionen und vor allem: für bestimmte Be-schäftigtengruppen Tarifbedingungen nach-verhandeln können, um Löhne zu senkenund Arbeitszeiten heraufzusetzen. IGMBezirksleiter Schild hatte dazu erklärt: »Wirhaben einen umfangreichen Beitrag derArbeitnehmer angeboten!« (Hanauer Zeitung,18. August 2008). Doch die Geschäfts-führung schien der Meinung zu sein, dieGewerkschaften beim Sozialabbau gar nichtmehr zu brauchen. Die Gerichte haben sieeines Besseren belehrt.

Seine Ziele hat VAC sicher auch nach denverlorenen Prozessen beim ArbeitsgerichtHanau und beim LAG Frankfurt nicht auf-gegeben. Wie die FAZ am 17. September

Gewonnen – aber derKampf geht weiterDieter Wegner* zum Streik bei der Vacuumschmelze Hanau

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