26
Einführung in die Literaturwissenschaft 6: Intertextualität

Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Einführung in die Literaturwissenschaft

6: Intertextualität

Page 2: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Themenübersicht

• Literarizität: Was unterscheidet Literatur von anderen sprachlichen Äußerungen?

• Zeichen und Referenz: Wie stellt Literatur den Bezug sprachlicher Äußerungen auf ›Wirklichkeit‹ dar?

• Rhetorik: Was sind sprachliche ›Figuren‹?• Narration: Wie entstehen Geschichten?

• Autorschaft und sprachliches Handeln: Wie greift Schreiben in Wirklichkeit ein?

• Intertextualität: Wie bezieht sich Literatur auf andere Texte?

Page 3: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Sprachliches Handeln und Literatur

Austin schließt bestimmte sprachliche Äußerungsformen aus seinen theoretischen Überlegungen aus:

»In einer ganz besonderen Weise sind performative Äußerungen unernst oder nichtig, wenn ein Schauspieler sie auf der Bühne tut oder wenn sie in einem Gedicht vorkommen oder wenn jemand sie zu sich selbst sagt. […] All das schließen wir aus unserer Betrachtung aus.« (S. 43f.)

Äußerungen, die einem solchen ›Szenenwechsel‹ unterliegen, sind zitathaft. Sie sind in sich gedoppelt, vielfältig. Sie sind wie Äußerungen, die sich auf frühere Äußerungen beziehen, in dem sie sie wiederholend aus ihrem Kontext herauslösen. Austin nennt vor allem literarische Äußerungen als Beispiel für ein solches Verfahren.

Page 4: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Michail Bachtin: Literatur und Karneval

Für den ›Unernst‹ der Literatur, von dem Austin spricht, und der die Literaturder gewöhnlichen Handlungszusammenhänge sprachlicher Äußerungenentkleidet, hat der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin (1895-1975) den Begriff des Karnevalesken vorgeschlagen.

Es ist ein Grundzug des Karnevals, dass er sich alltäglichen Handlungsbe-zügen entgegensetzt. Weitere Merkmale des Karnevals sind nach Bachtin:• Der Karneval ist ein Schauspiel ohne Polarisierung der Teilnehmer

in Akteure und Zuschauer. Alle sind aktiv.

• Gesetze und Beschränkungen, die die gewöhnliche Lebensordnung bestimmen, werden für die Dauer des Karnevals außer Kraft gesetzt.

• Benehmen, Geste und Wort lösen sich aus der Gewalt einer jeden hierarchischen Stellung (des Standes, der Rangstufe, des Alters, des Besitzstandes). Es wird ein intim-familiärer Kontakt zwischen den Teilnehmer hergestellt.

• Der Karneval vermengt das Geheiligte mit dem Profanen, das Hohe mit dem Niedrigen, das Große mit dem Winzigen, das Weise mit dem Törichten.

Page 5: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Bachtin: Literatur und Karneval

Bachtin denkt dabei nicht an den Karneval, wie wir ihn heute kennen, sondern an archaische Formen volkstümlicher Lachkultur, wie sie in der Antike, im Mittelalter und in der Renaissance je verschiedene Ausprägungen gefunden haben. Diese Tradition des Karnevalesken, so Bachtins These, ist in die Literatur eingegangen.

»Die[ ] Karnevals-Kategorien, besonders die Kategorie der freien Familiarisierung von Mensch und Welt, wurden im Verlauf von Jahrtausenden in die Literatur transponiert [...]. Die Familiarisierung förderte die Zerstörung der epischen und tragischen Distanz und die Versetzung des Dargestellten in die Zone des intim-familiären Kontakts. Sie beeinflußte wesentlich die Organisation des Sujets, den Aufbau von Sujetsituationen, sie bestimmte die (in den hohen Gattungen nicht mögliche) spezifische Familiarität der Einstellung des Autors zu seinen Helden, sie brachte in alles die Logik der Mesalliancen und der profanierenden Erniedrigungen hinein, sie veränderte endlich den Wortstil der Literatur.« (Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1985, S. 49f.)

Page 6: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Das reduzierte Lachen und die Stellung des Autors

Mit dem Eingang karnevalesker Elemente in die Literatur wird, so Bachtin, das Lachen zurückgenommen, reduziert. Aber die fröhliche Relativierung durchzieht die Literatur als ein Grundprinzip. Insbesondere die Position des Autors wird davon berührt:

»Die entscheidende Ausprägung erhält das reduzierte Lachen in der Stellung des Autors. Diese Position schließt jede einseitige dogmatische Ernsthaftigkeit aus, läßt nicht zu, daß sich ein einzelner Standpunkt, ein einzelner Pol des Lebens und Denkens absolut setzt. Der einseitige Ernst (des Lebens wie des Denkens), das einseitige Pathos geht voll und ganz auf die Helden über. Der Autor jedoch, der alle Helden im ›großen Dialog‹ des Romans aufeinander stoßen läßt, läßt diesen Dialog offen, setzt keinen Schlußpunkt.«

Page 7: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Karneval und AutorfunktionBachtins Beschreibung der Stellung des Autors innerhalb der karnevalisier-ten Literatur kommt Foucaults These von dem Zusammenhang von Autorfunktion und Ego-Pluralität nah.

Wie sich Autorschaft gerade über die vielen Stimmen verschiedener Ich-Instanzen konstituiert, hat sich auch bei Edgar Lee Masters in seinem Gedichtzyklus Die Toten von Spoon River gezeigt. Auch hier kann man von einem karnevalesken Verfahren sprechen, wenn die Toten zu sprechen beginnen und durcheinander reden, ohne das einem der vielen Sprecher das letzte Wort vorbehalten bleibt.

Auch Panizzas Krankengeschichte, als Literatur gelesen, ist in diesem Sinne karnevalesk, wenn die Stimmen des Patienten, des Psychiaters und des Dichters einander durchdringen und die klare Unterscheidung von ›gesund‹ und ›krank‹ aufgehoben erscheint.

Bachtin selbst bezieht sich auf die Romane von Dostojewskij, zum Beispiel auf die Figur des Mörders Raskolnikow aus Schuld und Sühne, dem die Greisin, die er getötet und ausgeraubt hat, des Nachts im Traum erscheint.

Page 8: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Raskolnikows Traum»Er stand über sie geneigt. ›Sie fürchtet sich‹, dachte er, löste die Axt leise aus der Schlinge und schlug auf den Scheitel der Greisin ein, einmal und noch einmal. Aber seltsam: trotz dieser Schläge rührte sie sich gar nicht, als wäre sie aus Holz. Er erschrak, neigte sich tiefer und begann sie zu betrachten; aber sie hielt ihren Kopf noch tiefer. Daraufhin krümmte er sich ganz zum Fußboden hinunter und blickte ihr von unten ins Gesicht, blickte und erstarb: die alte Frau saß da und lachte. Sie wurde von einem leisen, unhörbaren Lachen geschüttelt und nahm sich sehr zusammen, daß er sie nicht hört. Plötzlich war ihm, als hätte sich die Tür zum Schlafzimmer ein wenig geöffnet und als würde auch dort gelacht und geflüstert. Rasende Wut ergriff ihn. Er begann, aus vollen Kräften die Greisin auf den Kopf zu schlagen, doch mit jedem Schlag der Axt wurde das Lachen und Flüstern aus dem Schlafzimmer immer lauter und lauter, die alte Frau aber schaukelte geradezu vor Lachen. Er wollte weglaufen, doch die Diele ist schon voller Menschen, die Türen auf die Treppe stehen auf, auf dem Treppenabsatz auf der Treppe und weiter unten: überall Leute, Kopf an Kopf. Alle schauen, aber sie sind ganz still und warten, sie schweigen… Sein Herz krampft sich zusammen, die Beine bewegen sich nicht, sind angewachsen… Er wollte aufschreien – und wachte auf.« (zit. nach: Bachtin: Literatur und Karneval, S. 71f.)

Page 9: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Die Logik des TraumsRaskolnikows Traum ist im Modus einer internen Fokalisierung erzählt, das heißt es wird die Sicht des Protagonisten geschildert. In einer Mitteilung seiner Gedanken, einem inneren Monolog, der in direkter Rede erzählt ist, wird diese Perspektive unterstrichen: »›Sie fürchtet sich‹, dachte er.« Indem aber dieser innere Monolog eine Spekulation über die Gedanken einer anderen Person ist, der Greisin, macht sich hier bereits eine fremde Instanz bemerkbar. Diese erhält nun eine eigene Stimme; ihr Gelächter ertönt, und es wird schließlich von dem Flüstern und Lachen einer unabsehbaren Menge von Menschen begleitet.

Diese Vielstimmigkeit (Polyphonie), so Bachtin, ist ein karnevaleskes Phänomen. Es verbindet sich hier mit der Logik des Traums.

Wer, so könnte man fragen, ist eigentlich das Subjekt eines Traums? Ein Traum hat nicht nur eine Stimme, obwohl er von einem Subjekt geträumt wird. Diese Logik des Traums verhält sich genau analog zum Problem von Autorfunktion und Ego-Pluralität.

Page 10: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Polyphonie

Bachtin gewinnt den Begriff der Polyphonie aus seiner Lektüre Dostojewskijs. Es geht ihm zunächst darum, eine bestimmte Schreibweise zu untersuchen, die sich vor allem in der literarischen Gattung des Romans beobachten lässt.

Zugleich aber findet er Momente des Karnevalesken und der Vielstimmigkeit in sehr verschiedenen Texten wieder. Mehr und mehr stellt sich bei ihm daher die Frage, ob Polyphonie nicht als ein allgemeineres Kriterium von Literatur gelten kann.

Dabei entdeckt Bachtin verschiedene Verwendungsformen von Worten, denen eine sehr grundlegende Bedeutung zukommt.

Page 11: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Drei Typen des Wortes

Bachtin unterscheidet drei Typen des Wortes:

• das gegenständlich gerichtete Wort (Worte, die eine Sache mitteilen)

• das objekthafte Wort (Worte, die selbst als Sache mitgeteilt werden)• das dialogische Wort (Worte, die Bestandteil mehrerer Mitteilungen

gleichzeitig sind; Beispiele: Ironie, Parodie, Zitat etc.)

Letztlich sind dies aber wohl drei verschiedene Aspekte von Worten, die nicht unabhängig voneinander vorkommen und einander nicht ausschließen. Diese drei verschiedenen Aspekte werden nur jeweils auf verschiedene Weise und unterschiedlich stark ausgeprägt.

Bachtin geht von einer grundsätzlichen Dialogizität des Wortes aus.

Page 12: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Das dialogische Prinzip

»Das Wort ist kein Ding, sondern das ewig bewegte, sich ewig verändernde Medium des dialogischen Umgangs. Ein einzelnes Bewußtsein, eine einzelne Stimme ist ihm niemals genug. Das Leben des Wortes besteht im Übergang von Mund zu Mund, von Kontext zu Kontext, von Kollektiv zu Kollektiv, von Generation zu Generation. Dabei bleibt das Wort seines Weges eingedenk. Es vermag sich nicht restlos aus der Gewalt jener Kontexte zu lösen, in die es einst einging.

Jedes Mitglied eines Sprechkollektivs findet das Wort nicht als ein neutrales Wort der Sprache vor, das von fremden Bestrebungen und Bewertungen frei ist, dem keine fremden Stimmen innewohnen. Nein, es empfängt das Wort von einer fremden Stimme, angefüllt mit dieser fremden Stimme. In seinen Kontext kommt das Wort aus einem anderen Kontext, durchwirkt von fremden Sinngebungen. Sein eigener Gedanke findet das Wort bereits besiedelt.« (Bachtin, S. 129f.)

Page 13: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Bachtins ›Wort‹ und Saussures ›Zeichen‹Bachtins Theorie des dialogischen Wortes impliziert zugleich eine

produktive Auseinandersetzung mit Saussures Zeichentheorie.

Bei Saussure bestimmt sich die Bedeutung eines Zeichens aus seinem Verhältnis

zu den anderen Zeichen eines gegebenen Sprachsystems (langue). Die Bedeutung des Zeichens ist eindeutig (Bachtin würde sagen:

monologisch).

Bei Bachtin hingegen bestimmt sich die Bedeutung des Wortes in seinem Verhältnis zu den

anderen Worten einer gegebenen Sprachpraxis (parole) und im Verhältnis zu seiner Bedeutung in anderen Sprachpraktiken. Die Bedeutung des Wortes ist ambivalent (dialogisch).

So betrachtet, beinhalten Bachtins Überlegungen eine wesentliche Weiterführung und Dynamisierung von Saussures strukturalistischer Theorie.

Page 14: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

›Poetische Funktion‹ und ›polyphoner Roman‹Bachtins Theorie der Polyphonie stellt zudem eine besondere Literarizität von Texten heraus, die nicht auf die poetische Funktion Jakobsons reduziert werden kann.

Bei Jakobson manifestiert sich die poetische Funktion durch Entsprechungen (Äquivalenzen) innerhalb einer sprachlichen Äußerung.

Bei Bachtin hingegen geht es darum, dass die sprachliche Äuße-rung in sich vielfältig ist und Antworten auf andere sprachliche Äußerungen gibt.

Es besteht ein gattungsmäßiger Unterschied zwischen den Texten, auf die sich Jakobson und Bachtin hauptsächlich beziehen:

Jakobson bezieht sich insbesondere auf Phänomene der Lyrik (zum Beispiel den Reim).

Bachtin bezieht sich vor allem auf den Roman.

Die Prinzipien der Entsprechung (Jakobson) und der Vielstimmigkeit (Bachtin) haben jedoch beide an allen sprachlichen Äußerungen teil.

Page 15: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman

Die Philosophin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva hat Bachtins Prinzip des Dialogischen bzw. der Dialogizität umformuliert als ein Prinzip des Schreiben-Lesens:»[D]as ›literarische Wort‹ [ist] nicht ein Punkt (ein feststehender Sinn) [...], sondern eine Überlagerung von Text-Ebenen, ein Dialog verschie-dener Schreibweisen: der des Schriftstellers, der des Adressaten [...], der des gegenwärtigen oder vorangegangenen Kontextes. Indem er den Begriff Wortstatus [...] einführt, stellt Bachtin den Text in die Ge-schichte und die Gesellschaft, welche wiederum als Texte angesehen werden, die der Schriftsteller liest, in die er sich einfügt, wenn er schreibt. Die Diachronie verwandelt sich in Synchronie, und im Lichte dieser Verwandlung erscheint die lineare Geschichte als eine Abstrak-tion; die einzige Möglichkeit für den Schriftsteller, an der Geschichte teilzunehmen, besteht nun im Überschreiten dieser Abstraktion durch ein Schreiben-Lesen (une écriture-lecture)«.

Page 16: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Schreiben als Lesen

Kristevas Begriff des Schreiben-Lesens weist in zwei Richtungen.

• Einerseits wird damit hervorgehoben, dass literarische Texte als ein Prozess des Schreibens aufgefasst werden können, durch den vorangegangene Texte gelesen werden.

Schreiben und Lesen bilden hier eine Einheit: Gemeint ist nicht einfach nur, dass ein Text sich einen früheren Text zum Gegenstand macht (dies wäre nur das, was Bachtin unter einem ›objekthaften Wort‹ versteht). Vielmehr geht es darum, dass eine sprachliche Äußerung aus einem früheren Kontext in die eigene Äußerung einwandert und dort einen veränderten Sinn erhält.

Page 17: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Lesen als Schreiben

• Andererseits meint Schreiben-Lesen, dass Texte als Prozess des Schreibens keine geschlossene Struktur bilden, sondern dass das Lesen an den Texten mitarbeitet.

Wenn wir zum Beispiel den Versuch unternehmen, Panizzas Text als den eines Dichters zu lesen, ihm also Autorschaft zuzuschrei-ben, dann arbeitet unsere Lektüre gewissermaßen an diesem Text mit.

Dies steht im völligen Gegensatz zum traditionellen Verständnis der Geschlossenheit eines Kunstwerks.

Die Theorie der écriture-lecture bedeutet die weitgehende Problematisierung und Infragestellung des Werkbegriffs.

Page 18: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Intertextualität

In diesem Schreiben-Lesen geht es, so argumentiert Kristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich vielmehr um ein Verhältnis zwischen Texten. Dafür schlägt sie den Begriff der »Intertextualität« vor:

»[J]eder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache läßt sich zumindest als eine doppelte lesen.«

Page 19: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Wie beziehen sich literarische Texte auf andere Texte?

Die Beziehung literarischer Texte auf andere Texte ist nicht rein äußerlich. Das heißt sie stellt sich nicht nur als eine Text/Kontext-Beziehung dar, denn literarische Texte erweisen sich ja gerade als dekontextualisiert. Im Vergleich zu anderen sprachlichen Äußerungen erscheinen sie als herausgerissen aus Handlungszusammenhängen.

›Intertextualität‹ ist paradoxerweise ein Phänomen, das literarischen Texten innewohnt.

Bachtin beobachtet dies als eine Karnevalisierung der Literatur. Dies bedeutet: Eine Vielfalt von Instanzen kommt in einem Text zu Wort – man denke an das Stimmengewirr in Raskolnikows Traum.

Diese Vielfalt lässt sich nicht auf einen Nenner bringen, etwa den einer ›Autorintention‹. Es geht darum, diese verschiedenen Instanzen und Texte in dem Verhältnis zu bestimmen, das sie in einem literarischen Text zueinander einnehmen.

Page 20: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Alfred Döblin: Das Leben Jacks, des Bauchaufschlitzers

Nachdem nun Jack der Bauchaufschlitzer so vorgegangen war, in der Dachkammer, die er sich für einen Schilling gemietet hatte, und nachdem er sich durch die Erledigung seines Opfers noch in den Besitz von drei Schilling und einen Samtgürtel gesetzt hatte, holte er einen schon vorbereiteten Sack unter dem Bett hervor, steckte sein Opfer hinein, welches Angela Kalb hieß, und trug es stückweise die Treppe hinunter. Es begegneten ihm Hausbewohner mit Wachsstreichhölzern auf diesem Weg und sagten: Guten Abend, Jack, wohin so spät. Er antwortete: Ich habe noch allerhand zu erledigen. Was sie mit Schauer erfüllte, denn sie wußten, wer er war und daß er in dem Sack wieder ein Mädchen ganz oder teilweise trug. Aber obwohl sie das wußten und überhaupt keine guten Gerüchte über seinen Ruf beziehungsweise kein guter Ruf über seine Gerüchte umging, wagten sie nicht zu fragen, wer es diesmal war und was er gerade von ihr heruntertrug. Denn sie dach-ten: Jeder kehre vor seiner Tür, und wer zuletzt lacht, lacht am besten. Damit grüßten sie denn Jack den Bauchaufschlitzer und wünschten ihm gute Nacht und gute Verrichtung, ihm und seinen Kindern und Kindes-

Page 21: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

kindern. Jeder bat ihn nur, unten die Haustür zuzuschließen, denn es sei unsicher in dieser Gegend, und man könne nie wissen, was passiert. Das versprach er auch und beeilte sich, denn er hatte selber Furcht, und niemals ist ihm freilich etwas passiert, auch nicht, daß seine Opfer, die er eine Viertelstunde entfernt unter einem Weidenbusch deponierte, dort wieder zu Bewußtsein kamen. Er stellte dies bei seinen unzähligen Taten stets mit neuer Genugtuung fest. […] Jack war noch ein junger Mann, der viel lachen konnte; Gott, konnte der lachen.

Aber sie haben ihm einmal, als er nach getaner Tat in einer Kneipe nebenan Gulasch mit Gurken und vorher eine Ochsenschwanzsuppe für sechzig Pfennig aß, den Sack it Inhalt gestohlen, den er neben seinen Stuhl gelegt hatte. Es war damals sehr kalt, und er wollte sich erst vor dem ungemütlichen Weg nach dem Weidenbusch stärken. Da machte er nun einen Höllenkrach über die Gäste hier, das arbeitsscheue Diebesgesindel, der Wirt verbat sich das, ein englischer Schutzmann kam herein und machte ihnen unter Vorzeigung seines Knüppels allesamt Vorwürfe. Den Sack aber fand Jack richtig am Tage darauf mit Inhalt in der Kneipe wieder, wie er erwartet hatte, und einen frechen Zettel dabei, der ihn empörte: Schlepp doch deine dreckigen Weiber nicht in eine anständige Kneipe, du. Mach das zu Hause ab, Schweine-

Page 22: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

hund. K. R. Beim Ausschütten unter dem Weidenbusch sah Jack dann noch große Knochen meben den Teilen seines Opfers; der Schuft hatte Rinder- oder Pferdeknochen zugelegt. Ich will nur sagen, dies war eine Wendung im Leben Jacks des Bauchaufschlitzers. […] Er war beleidigt von den Schikanen, denen man ihn jetzt aussetzte. Man zog ihn rechts und links wegen seiner Liebhabereien auf. Er konnte sicher sein, wenn er in aller Heimlichkeit eine Freundin erledigte, daß er gleich am selben Abend einen Trauerkranz unter dem Weidenbusch fand oder eine Laterne und einmal sogar einen Zaun um den Busch herum mit dem Schild: ›Wegen Überfüllung geschlossen.‹ Fassen konnte er keinen, aber überall lächelte man. Sogar die Hausbewohner benahmen sich schlecht gegen ihn. Wohin sollte er sich wenden. Er war drauf und dran, vor Ärger sich selbst die Gurgel abzuschneiden. Er ist aber bloß umgezogen und hat in einer andern Gegend einen Handel mit Einpackpapier für Konditorwaren und Tortendeckel begonnen.

[…]

(Alfred Döblin: Autobiographische Schriften und letzte Aufzeichnungen. Olten 1978, S. 90f.)

Page 23: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

The Ripper – der Bauchaufschlitzer: Intertextualität

Der Titel von Döblins Text verweist auf eine literarische Gattung: die Biographie (»Leben Jacks … «). Der Text spielt mit den Erwartungen an diese Gattung.

Zugleich ist der Text Teil von Döblins Autobiographie. Er könnte daher als eine Art biographischer Travestie gelesen werden.

Die Bezeichnung des Helden ist eine Übersetzung aus dem Englischen.

Der Text setzt ein spezifisches Wissen um Jack the Ripper voraus, das durch zahllose andere Texte verbreitet worden ist.

Zugleich baut er auf einem spezifischen Unwissen auf: darüber, wer Jack the Ripper wirklich war.

Es handelt sich an vielen Stellen um eine Erzählung von Worten, teilweise in direkter Rede (als Zitat). Der Text ist durchsetzt von Floskeln und Redensarten (»Jeder kehre vor seiner eigenen Tür«).

Page 24: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Einzelne Wendung sind von Ironie geprägt (»sie wünschten […] gute Verrichtung«).

Der Text liefert die Parodie eines Kriminalfalls. Eigentlich wissen alle über die Morde Bescheid.

Das wesentliche Ereignis des Textes ist ein unkontrollierbares anonymes Gerede, dem Jack der Bauchaufschlitzer zum Opfer fällt.

etc.

Page 25: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Intertextualität und Verfremdung

Intertextualität steht nicht immer mit Verfahren der Verfremdung in Zusammenhang – aber Verfahren der Verfremdung sind immer intertextuell, sofern sie sich auf irgend eine Form früherer sprachlicher Äußerung zurückbeziehen.

Wo Šklovskijs Verfremdungskonzept auf relativ vage Begriffe wie ›Automatismus‹, ›unbewusst gewordene Wahrnehmung‹ usw. zurückgreifen musste, ermöglichen es die Theorien der Intertextualität, Verfremdung auf der Basis von textuellen Konstellationen zu beschreiben.

Page 26: Einführung in die Literaturwissenschaft - uni- · PDF fileKristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich

Fazit: weitere Grundbegriffe

Intertextualität

Karnevalisierung der LiteraturPolyphoniedas Prinzip des Dialogischen (Dialogizität)Schreiben-Lesen (écriture-lecture)Problematisierung des WerkbegriffsIntersubjektivität vs. Intertextualität