11
4 5 Nr. 1  DIE FEUERSTELLE 8 Nr. 2 DER BODEN 10 Nr. 3 DIE MAUER 12 Nr. 4 SäULE UND BALKEN 14 Nr. 5 DIE TüR 16 Nr. 6 DAS FENSTER 18 Nr. 7 DER ZIEGEL 20 Nr. 8 DIE TREPPE 22 Nr. 9 DIE KLASSISCHEN SäULENORDNUNGEN 24 Nr. 10 DER BOGEN 26 Nr. 11 DAS GEWöLBE 28 Nr. 12 DIE KUPPEL 30 Nr. 13 DIE ARKADE 32 Nr. 14 DER (INNEN-) HOF 34 Nr. 15 DAS ATRIUM 36 Nr. 16 DIE PLATTFORM 38 Nr. 17 DIE BASILIKA 40 Nr. 18 DER HUMANISMUS 42 Nr. 19 DIE PROPORTIONSLEHRE 44 Nr. 20 DIE FORM 46 Nr. 21 DAS ORNAMENT 48 Nr. 22 DAS IDEAL 50 Nr. 23 DAS MODUL 52 Nr. 24 DAS KONSTRUKTIONSGITTER 54 Nr. 25 DIE SYMMETRIE 56 Nr. 26 STABILITäT, NüTZLICHKEIT UND ANMUT 58 Nr. 27 DAS PARTIKULARE 60 Nr. 28 DER ARCHITEKT 62 Nr. 29 DIE ORTHOGRAPHISCHE PROJEKTION 64 Nr. 30 DIE PERSPEKTIVE 66 Nr. 31 DIE KOMPOSITION 68 Nr. 32 UTOPIA 70 Nr. 33 DER STIL 72 Nr. 34 DER PALLADIANISMUS 74 Nr. 35 DER KORRIDOR 76 Nr. 36 DIE URHüTTE 78 Nr. 37 DER GENIUS LOCI 80 Nr. 38 DIE SZENOGRAPHIE 82 Nr. 39 DAS PITTORESKE 84 Nr. 40 DIE NEUGOTIK 86 Nr. 41 BEAUX-ARTS 88 Nr. 42 EISEN 90 Nr. 43 STAHL 92 Nr. 44 GLAS 94 Nr. 45 DIE DACHBELICHTUNG 96 Nr. 46 DIE SKELETTBAUWEISE 98 Nr. 47 DIE ZENTRALHEIZUNG 100 Nr. 48 ELEKTRISCHES LICHT 102 Nr. 49 DER AUFZUG 104 Nr. 50 STAHLBETON 106 Nr. 51 DIE BAUKUNST 108 Nr. 52 DAS TEKTONISCHE GEFüGE 110 Nr. 53 POLYCHROMIE 112 Nr. 54 DENKMALSCHUTZ 114 Nr. 55 EINFüHLUNG 116 Nr. 56 KLIMATISIERUNG 118 Nr. 57 DIE FORM FOLGT DER FUNKTION 120 Nr. 58 ZEITGEIST 122 Nr. 59 DER ARCHITEKTONISCHE RAUM 124 Nr. 60 DIE MODERNE 126 Nr. 61 MATERIALGERECHTIGKEIT 128 Nr. 62 DIE VERKLEIDUNG 130 Nr. 63 ORGANISCHE ARCHITEKTUR 132 Nr. 64 ORNAMENT UND VERBRECHEN 134 Nr. 65 DER FREIE GRUNDRISS 136 Nr. 66 DIE ARCHITEKTONISCHE PROMENADE 138 No.67 FüNF PUNKTE ZU EINER NEUEN ARCHITEKTUR 140 Nr. 68 ABSTRAKTION 142 Nr. 69 TRANSPARENZ 144 Nr. 70 DIE AXONOMETRISCHE PROJEKTION 146 Nr. 71 DIE COLLAGE 148 Nr. 72 SCHICHTUNG 150 Nr. 73 DER INTERNATIONALE STIL 152 Nr. 74 WENIGER IST MEHR 154 Nr. 75 REGIONALISMUS 156 Nr. 76 FLEXIBILITäT 158 Nr. 77 BETON BRUT 160 Nr. 78 MORPHOLOGIE 162 Nr. 79 ADDITIVE STRUKTUREN 164 Nr. 80 VERSORGUNGS- UND VERSORTE RäUME 166 Nr. 81 POSTMODERNE 168 Nr. 82 KOMPLEXITäT UND WIDERSPRUCH 170 Nr. 83 SCHUPPEN 172 Nr. 84 TYPUS 174 Nr. 85 KONTEXT 176 Nr. 86 ORT 178 Nr. 87 PHäNOMENOLOGIE 180 Nr. 88 HAUT 182 Nr. 89 COMPUTER-AIDED DESIGN (CAD) 184 Nr. 90 VORGEHäNGTE FASSADEN 186 Nr. 91 GEMEINSCHAFTSARCHITEKTUR 188 Nr. 92 UNIVERSELLES DESIGN 190 Nr. 93 ENTWERFEN UND BAUEN 192 Nr. 94 PASSIVHäUSER 194 Nr. 95 NACHHALTIGKEIT 196 Nr. 96 DEKONSTRUKTIVISMUS 198 Nr. 97 BIGNESS 200 Nr. 98 FALTUNG 202 Nr. 99 PARAMETRISCHES DESIGN 204 Nr. 100 DAS ALLTäGLICHE 206 Einleitung 6 100 Ideen, die die Architektur verändert haben 8 Glossar 208 Mehr zum Thema 210 Index 212 Bildnachweis 216

Einleitung 6 8 108 - bilder.buecher.de · Baukunst war ein als dougong bezeich-netes konstruktives System, das aus Holz-platten, -konsolen und -schrägarmen be- ... an den heiligen

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4 5

Nr. 1   Die Feuerstelle  8

Nr. 2  Der BoDen  10

Nr. 3  Die Mauer  12

Nr. 4  säule unD Balken  14

Nr. 5  Die tür  16

Nr. 6  Das Fenster  18

Nr. 7  Der Ziegel  20

Nr. 8  Die treppe  22

Nr. 9  Die klassischen säulenorDnungen  24

Nr. 10  Der Bogen  26

Nr. 11  Das gewölBe  28

Nr. 12  Die kuppel  30

Nr. 13  Die arkaDe  32

Nr. 14  Der (innen-) hoF  34

Nr. 15  Das atriuM  36

Nr. 16  Die plattForM  38

Nr. 17  Die Basilika  40

Nr. 18  Der huManisMus  42

Nr. 19  Die proportionslehre  44

Nr. 20  Die ForM  46

Nr. 21  Das ornaMent  48

Nr. 22  Das iDeal  50

Nr. 23  Das MoDul  52

Nr. 24  Das konstruktionsgitter  54

Nr. 25  Die syMMetrie  56

Nr. 26  staBilität, nütZlichkeit unD anMut  58

Nr. 27  Das partikulare  60

Nr. 28  Der architekt  62

Nr. 29  Die orthographische projektion  64

Nr. 30  Die perspektive  66

Nr. 31  Die koMposition  68

Nr. 32  utopia  70

Nr. 33  Der stil  72

Nr. 34  Der pallaDianisMus  74

Nr. 35  Der korriDor  76

Nr. 36  Die urhütte  78

Nr. 37  Der genius loci  80

Nr. 38  Die sZenographie  82

Nr. 39  Das pittoreske  84

Nr. 40  Die neugotik  86

Nr. 41  Beaux-arts 88

Nr. 42  eisen  90

Nr. 43  stahl  92

Nr. 44  glas  94

Nr. 45  Die DachBelichtung  96

Nr. 46  Die skelettBauweise  98

Nr. 47  Die ZentralheiZung  100

Nr. 48  elektrisches licht  102

Nr. 49  Der auFZug 104

Nr. 50  stahlBeton  106

Nr. 51  Die Baukunst  108

Nr. 52  Das tektonische geFüge  110

Nr. 53  polychroMie  112

Nr. 54  DenkMalschutZ  114

Nr. 55  einFühlung  116

Nr. 56  kliMatisierung  118

Nr. 57  Die ForM Folgt Der Funktion  120

Nr. 58  Zeitgeist  122

Nr. 59  Der architektonische rauM  124

Nr. 60  Die MoDerne  126

Nr. 61  Materialgerechtigkeit  128

Nr. 62  Die verkleiDung  130

Nr. 63  organische architektur  132

Nr. 64  ornaMent unD verBrechen  134

Nr. 65  Der Freie grunDriss  136

Nr. 66  Die architektonische proMenaDe  138

No.67  FünF punkte Zu einer neuen architektur  140

Nr. 68  aBstraktion  142

Nr. 69  transparenZ  144

Nr. 70  Die axonoMetrische projektion  146

Nr. 71  Die collage  148

Nr. 72  schichtung  150

Nr. 73  Der internationale stil  152

Nr. 74  weniger ist Mehr  154

Nr. 75  regionalisMus  156

Nr. 76  FlexiBilität  158

Nr. 77  Beton Brut  160

Nr. 78  Morphologie  162

Nr. 79  aDDitive strukturen  164

Nr. 80  versorgungs- unD versorte räuMe  166

Nr. 81  postMoDerne  168

Nr. 82  koMplexität unD wiDerspruch  170

Nr. 83  schuppen  172

Nr. 84  typus  174

Nr. 85  kontext  176

Nr. 86  ort  178

Nr. 87  phänoMenologie  180

Nr. 88  haut  182

Nr. 89  coMputer-aiDeD Design (caD)  184

Nr. 90  vorgehängte FassaDen  186

Nr. 91  geMeinschaFtsarchitektur  188

Nr. 92  universelles Design  190

Nr. 93  entwerFen unD Bauen  192

Nr. 94  passivhäuser  194

Nr. 95  nachhaltigkeit  196

Nr. 96  DekonstruktivisMus  198

Nr. 97  Bigness  200

Nr. 98  Faltung  202

Nr. 99  paraMetrisches Design  204

Nr. 100 Das alltägliche  206

Einleitung 6

100 Ideen, die die Architektur verändert haben 8

Glossar 208

MehrzumThema 210

Index 212

Bildnachweis 216

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14

Archaische Elemente der Konstruktion

IdEE Nr. 4

Säule und Balken

Die Säulen-Balken-Konstruktion – gewissermaßen eine Frühform

der heutigen Skelettbauweise – lässt sich bis auf die jungstein-

zeitlichen Trilithen zurückführen, torartige Bauten, die aus zwei

großen, aufrecht stehenden Tragsteinen und einem obenauf

liegenden Deckstein bestehen.

Wie wir heute wissen, befanden sich in Stonehenge fünf separate Trilithen in der Mitte eines Kreises aus dreißig Großstei-nen, die oben durch Decksteine miteinan-der verbunden waren, also einen geschlos-senen Ring bildeten.

Aus den mykenischen und ägyptischen Artefakten, die man in Stonehenge als Grabbeigaben gefunden hat, schließen die Archäologen auf eine Beeinflussung durch die Frühkulturen des Mittelmeerraums. Von diesen Kulturen hat keine so giganti-sche Säulen-Balken-Konstruktionen hervor -ge bracht wie die Ägypter. So bestand etwa die berühmte Große Säulenhalle im Tem-pel von Karnak aus 134 Säulen, die in sech-zehn Reihen angeordnet waren. Die Säu-len der beiden mittleren Reihen waren 24 Meter hoch; sie hatten jeweils einen Um-fang von zehn Metern und überragten die seitlichen Säulen. Wegen ihrer mangeln-den Zugfestigkeit vermögen Steinbalken nur relativ geringe Abstände zu überbrü-cken. Doch während sich die Griechen vor allem mit der künstlerischen Ausgestal-tung ihrer klassischen Säulenordnungen beschäftigten, blieb es den Römern überlas-sen, in Gestalt des Bogens und des Gewöl-bes neue Verfahren der Lastableitung zu entwickeln. Für diese konstruktiven Ele-mente eignet sich vor allem die Ziegelbau-weise. Im Fernen Osten dagegen wurden Monumentalbauten mit Vorliebe aus Holz errichtet, womit sich deutlich weitere Dis-tanzen überbrücken ließen.

Ein zentrales Element der im ganzen Fernen Osten tonangebenden chinesischen

Baukunst war ein als dougong bezeich-netes konstruktives System, das aus Holz-platten, -konsolen und -schrägarmen be-stand, die ineinandergesteckt und mitein- ander verzapft wurden. Mit Hilfe dieser seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. allgemein verbreiteten, sorgfältig zugeschnit tenen Steckelemente, die vor allem in der Tang- und der Song-Dynastie eine Blütezeit er-lebten, ließen sich Säulen und Gebälk ohne Leim oder Beschläge zusammenfü-gen. Diese Systeme waren so flexibel, dass sie ein weitgehend erdbebensicheres Bauen ermöglichten. Nach Ende der Song-Periode hatten sie an Palast- und Sakralbauten je-doch vor allem eine schmückende Funk-tion.

Die auf dem dougong aufruhenden Tragglieder des Daches bestehen aus grob quadratisch behauenen Holzbalken oder einfachen Trägerbündeln aus übereinan-der geschichteten Balken und Latten. An den technischen Lösungen, die sich später in der westlichen Baukunst durchsetzen sollten, zeigten die Chinesen hingegen kein Interesse. Auch die Griechen verwen-deten zur Abdeckung ihrer Tempel bereits einfache Dreiecksbinder. Freilich sollte es erst den Römern gelingen, Spannweiten zu überbrücken, die nicht mehr durch die naturgegebene Begrenztheit der Balken-länge definiert waren. Der mit einer Spannweite von 31,70 Metern größte die-ser Dachstühle, der schon an die heute bekannten Dachstuhlkonstruktionen er-innert, krönte den Thronsaal des Kaisers Domitian (81–96 n. Chr.). Eine beträchtli-

che konstruktive Verbesserung des Stütze-Balken-Systems stellten der Stahl- und der Stahlbeton-Skelettbau dar. Wenn man bei dieser Vorgehensweise den Träger im Quer-schnitt betrachtet, wird das Material, das von dessen Schwerpunkt am weitesten ent-fernt ist, am meisten beansprucht. Des-halb wurde Ende des 19. Jahrhunderts der Doppel-T-Träger eingeführt, der noch heute in der ganzen Welt in Gebrauch ist.

oben: Trilithen – torartige Bauten aus zwei aufrecht stehenden Trag- steinen und einem waagerecht auf diesen aufruhendem Deckstein – sind die ältesten bekannten Säulen-Balken-Konstruktionen. Die berühmtesten dieser Gebilde sind hier in Stone- henge in Südwestengland zu sehen.

unten: Das Middelbøe-Haus (1953) sollte einen Eindruck von der elementaren Wirkung einer Säulen-Balken-Konstruktion ver- mitteln. Jørn Utzon hat daher für das erste Geschoss und das Dach unterschiedliche Stütz- elemente verwendet.

Eine Stahlskelettkonstruktion ist ein mächtiges Tragwerk aus Stützen und Trägern. In den USA wird die Technik seit dem späten 19. Jahrhundert vorzugsweise im Hochhausbau eingesetzt.

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27

Das Grundelement der Kuppel und des Gewölbes

IdEE Nr. 10

Der Bogen

Obwohl bereits mehrere antike Kulturen den Bogen kannten, ver-

wendete man ihn aus bislang unbekannten Gründen zunächst nur

für Zweckbauten, etwa Lagergebäude oder unterirdische Abwasser-

systeme. Seine höchste Entwicklung erreichte er in der Gotik.

In der modernen Architektur dagegen spielt er kaum eine Rolle.

Der Bogen ermöglicht die Überspannung größerer Weiten und die Überdeckung von Öffnungen im Mauerwerk. Da in einem Bogen nur Druckspannungen auftreten, eignet sich diese Konstruktionsform ideal für Baumaterialien wie Naturstein und Ziegel, die zwar viel Druck, aber nur we-nig Zugspannung vertragen. An der Basis eines Bogens treten freilich Seitenschübe auf, denen nur starke Widerlager stand-halten können.

Die Ersten, die das architektonische Potential des Bogens voll genutzt haben, waren die Römer. Erst dank dieses konst-ruktiven Elements konnten sie überall in ihrem riesigen Reich imposante Brücken, Aquädukte und Viadukte hinterlassen und die Stadt Rom selbst zur weltweit ersten Millionen-Metropole ausbauen. Von Bögen überspannte Öffnungen – etwa die drei über-einander angeordneten Arkaden-Reihen des Kolosseums (s. S. 25) – schmückten öffentliche Gebäude. Triumphbögen erin-nerten an die großen militärischen Siege. Mit Hilfe räumlicher Bogentragwerke lie-ßen sich Gewölbe errichten, durch Rota-tion des Bogens entstand eine Kuppel.

Die Römer schöpften das Potential des Rundbogens voll aus, danach spielte er wieder eine wichtige Rolle in der Roma-nik, als Europa zum ersten Mal mit einem eng geknüpften Netzwerk von Kirchen und Klöstern überzogen wurde. Die Konstruk-tionstechnik hatte allerdings zwei Schwach-punkte: den beträchtlichen Seitendruck und den Umstand, dass sich aus Rund-bögen nur Kreuzgewölbe über quadrati-schem Grundriss errichten ließen. Die Lö-sung brachte hier der gotische Spitzbogen, der den Seitenschub verringerte, sich we-

gen seiner vertikalen und horizontalen Dimensionen variieren ließ und infolge-dessen auch die Überwölbung rechteckiger Grundrisse gestattete. Das gotische System erlaubte es zudem, das Mauerwerk weniger massiv auszuführen. Um den verbleiben-den Seitendruck abzutragen, entwickelten die Bauleute ausgeklügelte Strebe pfeiler.

Die stabilste Bogenform ergibt sich aus der Parabel- und der Kettenkurve. Diese Konstruktionsweise ist typisch für das System der katalanischen Wölbung, das sich nicht nur der Architekt Antoni Gau-dí, sondern später auch der uruguayische Ingenieur Eladio Dieste zunutze gemacht hat. Gaudí hat die alten Strebepfeiler sogar verächtlich als „architektonische Krücken“ bezeichnet. In der modernen Architektur sind Bogenkonstruktionen nur spärlich vertreten. Das liegt zum einen daran, dass Baumaterialien wie Stahl und Stahlbeton hohe Zug- und Drucklasten tolerieren. Hinzu kommt, dass das aufwendige Lehr-gerüst, das für die Konstruktion eines Bo-gens erforderlich ist, kostspielig ist. Eine glanzvolle Wiedergeburt erlebte der Bogen letztlich im Schaffen des Louis Kahn. Der amerikanische Architekt konstruierte dün-ne Stahlbetonbänder, um den Seitendruck abzufangen. In Indien und Bangladesch baute er Ziegelgebäude mit Halbbögen, die zu Kreisen zusammengefügt sind und bei einem Erdbeben die nach oben wirken-den Kräfte ableiten sollen.

Das gotische System des Spitzbogens und -gewölbes erlaubte es, das Ver - hältnis von Spannweite und Höhe zu variieren, und revolutionierte so den Steinbau. Hier die Kathedrale von Amiens, ein frühes Beispiel dieses Stils.

Die massiven Rundbögen in den Außenwänden der Maxentiusbasilika (unten) – des größten Bauwerks auf dem Forum Romanum – müssen sich im Vergleich zu der Überwölbung des Mittelschiffs recht bescheiden ausgenommen haben. Von dieser „römischen Größe“ tief beeindruckt, schuf Louis Kahn in Indien und Bangladesch ebenfalls Ziegelbauten und machte aus halbrunden Bögen vollrunde Öffnungen (unten)

„Das gotische System erlaubte es, das Mauerwerk weniger massiv auszuführen.“

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39

Das erhöht positionierte Bauwerk

IdEE Nr. 16

Die Plattform

Aus Erdreich aufgeschüttete oder aus Steinen aufgeschichtete

oben abgeflachte und mit Bauwerken bestückte Erhebungen

findet man in vielen alten Hoch- und Volkskulturen. Ihre

Entstehung verdanken sie ganz unterschiedlichen Motiven.

In modernen Gebäuden dient die Plattform häufig auch der

Unterbringung sekundärer Funktionen.

Oben abgeflachte Erdaufschüttungen wa-ren früher oft Teil des Verteidigungssys-tems. Häufig wurden auf ihnen aber auch Gebäude errichtet, vor allem empfindli-che Holzkonstruktionen, die es vor Feuch-tigkeit und Hochwasser zu schützen galt. Gebäude, die auf diese Weise aus ihrer Umgebung herausgehoben waren, hatten stets einen besonderen Nimbus. Deshalb wurden immer wieder Tempel und Be-gräbnisstätten auf solchen künstlichen Plateaus errichtet. Eine rechteckig angeleg-te Erderhebung war mitunter aber auch ein Sinnbild der Welt, die man sich in manchen Kulturen „viereckig“ vorstellte.

Im Laufe der Zeit wurden die Erdauf-schüttungen immer häufiger durch dauer-hafte Steinkonstruktionen ersetzt. So kann man etwa bis heute in Ägypten einige der gewaltigsten Terrassen besichtigen, die jemals gebaut worden sind. Sie befinden sich auf dem Gelände des Totentempels (gegenüber unten), den die Königin Hat-schepsut um 1450 v. Chr. in Deir el-Bahri für sich hat errichten lassen. Die stufen-förmig ansteigenden Monumentalterras-sen werden auf der Rückseite jeweils von einer Säulenhalle begrenzt. Auch der klas-sische griechische Tempel steht auf einer dreistufigen Basis, der so genannten Kre-pis, die ihn über seine Umgebung hinaus-hebt. Die Holzarchitektur chinesischer

Tempelkomplexe wiederum ruht auf um-fangreichen Mauerwerksverbänden. Und an den heiligen Stätten der Maya sind die eigentlichen Tempel im Verhältnis zu den gewaltigen Stufenterrassen, auf denen sie stehen, relativ klein.

Im Jahr 1949 stattete der junge däni-sche Architekt Jørn Utzon diesen Terras-sen einen Besuch ab. Er war vom Anblick des grenzenlosen Raums, der sich über dem Dach der eng stehenden Dschungel-bäume auftat, völlig überwältigt. Und so kam er auf die Idee, das Prinzip der Ter-rasse/Plattform auch für die zeitgenössi-sche Architektur nutzbar zu machen. Sein Plan: Er wollte die sekundären Funk-tionen im Bauch der Platte unterbringen und die Terrasse oben mit „Tempeln“ für den Publikumsverkehr bestücken. Im Grun-de genommen nahm er damit bereits die einige Jahre später von Louis Kahn einge-führte Unterscheidung zwischen „dienen-den“ und „bedienten“ architektonischen Formen vorweg. Praktisch umsetzen konn-te er seine Idee erstmals in dem Entwurf, mit dem er 1957 den Wettbewerb für ein neues Opernhaus in Sydney gewann. Dort bestehen die „Tempel“ aus Schalen, die mit glasierten Keramikfliesen verkleidet sind. Die großen Stufenterrassen dagegen, heute ein Publikumsmagnet, erinnern an eine geologische Formation, die wie eine

„Gebäude, die aus ihrer Umgebung herausgehoben waren, hatten stets einen besonderen Nimbus.“

OBEN: Das Architekturbüro Snøhetta hat das – 2008 fertiggestellte – Osloer Opernhaus in Form einer abgeschrägten Plattform angelegt. Dabei sind die Sekundärbereiche im unteren Teil, die für das Publikum bestimmten Zonen dagegen im oberen Bereich des Gebäudes untergebracht.

RECHTS: Wer sich dem unweit des Eingangs zum Tal der Könige gelegenen Felsengrab der ägyptischen Königin Hatschepsut nähert, muss eine Abfolge großzügig bemessener Terrassen passieren, die ursprünglich einmal von üppiger Vegetation bedeckte „hängende“ Gärten waren.

Die gewaltige Plattform, die die Basis des von Jørn Utzon entworfenen Opernhauses von Sydney (1957–1973) bildet, ist durch die Erinnerungen an den Besuch inspiriert, den er 1949 den Maya-Tempeln auf der mexikanischen Halbinsel Yucatan abgestattet hat.

der übrigen Landzungen in den Hafen von Sydney vorstößt. Sie sind in sich viel-fach gegliedert und mit vorgefertigten Betonpaneelen verkleidet, denen als Zu-schlagstoff der ortstypische rote Sand-stein beigemischt ist.

Das Konzept der bewohnten Plattform hat bis heute relativ wenig Nachahmung gefunden, was verwundert, da es sehr wohl dabei helfen kann, ein komplexes Baupro-gramm zu organisieren. In der 2005 nach Entwürfen von Richard Rogers + Partners fertiggestellten Walisischen Nationalver-sammlung ist die Idee zumindest ansatz-weise realisiert worden. Bei dem von den Foreign Office Architects entworfenen Yokohama International Ferry Terminal (1995–2002, s. S. 184) wiederum handelt es sich um eine bewohnte Plattform ohne Aufbauten; und das vom Büro Snøhetta gestaltete neue Opernhaus in Oslo (2000–2008, gegenüber oben) verbindet Utzons Modell mit der Idee der ­architektonischen­Promenade à la Rem Koolhaas.

Man könnte die Plattform aber auch mit dem „Rustika-Geschoss“ vergleichen, das in vielen historischen Gebäuden die Wirtschaftsräume beherbergt und dem Pia-no nobile weiter oben formal und funktio-nal zugeordnet ist. Dieses Gliederungs-schema wirkt auch noch in Le Cor busiers „Fünf Punkte zu einer neuen Architektur“ nach, wo das wuchtige Rustika-Geschoss durch einen offenen Fußgänger- und Fahrzeugbereich ersetzt wird.

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Funktion, Standort, Material und Gestaltung

IdEE Nr. 27

Das Partikulare – alltag versus Zeitentrücktheit

Die Philosophie unterscheidet zwischen dem von den indivi­

duellen Dingen abstrahierten – zeitenthobenen – „Allgemeinen“

und dem „Partikularen“ oder „Besonderen“, also den konkreten

Einzeldingen in Zeit und Raum. Der platonischen Weltdeutung

entlehnte Begriffe wie Form, Ideal, Symmetrie, Proportion sind

den meisten von uns vertraut. Was hingegen im Kontext der

Kunst mit dem „Partikularen“, dem Alltäglichen, gemeint ist,

leuchtet uns zunächst nicht unmittelbar ein. Trotzdem verweist

uns der Begriff auf Fragen, die in der Architektur stets wieder­

kehren, zum Beispiel: Welchen Stellen wert hat der Genius Loci?

Was unterscheidet einen konkreten (historischen) Ort von einem

rein physikalisch aufgefassten stets und überall gleichartigen

Raumkontinuum? Was ist Materialgerechtigkeit?

Den an der griechischen Klassik orientier­ten Standpunkt, der eine künstlerische Gestaltung in ihrer Individualität kenntli­cher Sujets ebenso ablehnt wie eine indi­vidualisierte Formensprache, hat der Maler Sir Joshua Reynolds (1723–1792) in seinen Discourses on Art trefflich formuliert: Die Kraft der Kunst, so heißt es dort, liegt in der Aufdeckung. Nur so kann es gelingen, alles „Partikulare und Ungewöhnliche“ aus­zuscheiden, damit die Kunst sich „über alle Einzelformen, örtlichen Gepflogen­heiten, Besonderheiten und Details jeder Art erheben kann“. Sein Zeitgenosse und Gegenspieler William Blake dagegen hat erklärt, dass „Kunst und Wissenschaft ihr Daseinsrecht nur durch sorgfältig orga­nisierte Einzelheiten verwirklichen kön­nen“.

In der Architektur waren individuali­sierte Formen vor allem in der gotischen Sakralbaukunst sehr beliebt. Die großen Kirchenbauten bildeten hier gewisserma­ßen einen platonischen Rahmen, der mit naturalistischen Details ausgeschmückt wurde. Nikolaus Pevsner (1902–1983) hat das exquisit gearbeitete Eichenlaub im Kapitelhaus von Southwell Minster im eng­lischen Nottinghamshire (oben) in diesem Zusammenhang als einen entscheiden­den Wendepunkt bezeichnet. Ebenso kunst­

volle wie naturnahe Pflanzendarstellun­gen findet man allerdings auch in Chartres und in anderen französischen Kathedra­len im Bereich der Île­de­France.

Dieser für die Gotik typische Blick für das konkrete Detail hat Geschichte ge­schrieben. Aus ihm spricht nämlich nicht nur der empirische Geist der modernen Wissenschaft, vielmehr kündigt sich in ihm auch bereits jene seelische und ästhe­tische Disposition an, der wir den eng­lischen Landschaftsgarten mit seinen pittoresken Durchblicken und Ansichten verdanken. Zudem weist er schon auf ein neues Denken voraus, das Baustoffe nicht nur nach ihrer ingenieurstechnischen Tauglichkeit beurteilt, sondern zugleich ihre „Natur“ sichtbar machen möchte – ein Impuls, der die moderne Architektur grundlegend beeinflusst hat.

Frank Lloyd Wrights Fallingwater (1935, gegenüber) hat beide Aspekte zu einer vollendeten Einheit verschmolzen. Hier spiegelt die Schichtung des Ent­wurfs die geologische Situation des Stand­orts. Und dies gilt auch für die Anord­nung der Wände, Treppen, Fenster und der sonstigen Details. Wer sich dort unter einem Betongitter dem Eingang nähert, bemerkt, dass ein Balken einen Baum um­fängt und damit nicht nur auf dessen Ein­

zigartigkeit verweist, sondern zugleich auf den Naturbezug der Architektur selbst. Auch die Verarbeitung der Materialien ist bewusst darauf angelegt, deren „Natur“ sichtbar zu machen. So sind etwa die Kragbalkone ein dramatischer Ausdruck der konstruktiven Möglichkeiten des Stah­lbetons. Zugleich künden ihre abgerunde­ten Ecken davon, dass der Stahlbeton nach Wrights Überzeugung eigentlich ein flüssiges Material ist.

In der Architektur lässt sich meist ein Spannungsverhältnis zwischen konkreter Bauaufgabe und allgemeinen Prinzipien feststellen. In seinem 1966 erschienenen Buch Complexity and Contradiction in Archi­tecture hat der amerikanische Architekt Robert Venturi diese Beziehung als das „schwierige Ganze“ bezeichnet und dafür eine ganze Reihe von Beispielen und Ent­wurfstaktiken angeführt. Die Klarheit des Entwurfs, die Le Corbusiers zweifellos „ideale“ Villa Savoye (s. S. 141) auszeich­net, ist durch bestimmte Anforderungen diktiert: Das reicht vom Wendekreis eines Autos, der die Krümmung einer Glaswand bestimmt, bis zu der Art und Weise, wie eines der Bäder von gebogenen Trenn­wänden umschlossen wird.

Die gotischen Bauleute hatten wenig Sinn für das durch Typisierungen geprägte Formempfinden der Antike; sie interessierten sich vielmehr für die konkreten Erscheinungen ihrer natürlichen Umwelt. Dies zeigt auch das erstaunlich naturgetreu wiedergegebene Eichenlaub hier im Münster von Southwell im eng­ lischen Nottinghamshire.

Dass Frank Lloyd Wright Wert darauf legte, Häuser stets in Zwiesprache mit dem betreffenden Standort zu entwerfen, ist besonders anschaulich in Fallingwater (1935) zu beobachten. Angefangen von der „geologischen“ Schichtung des Gebäudes bis zu dem Rankgitter, das er um einen Baum gewickelt hat.

„Ich halte mich beim Bauen an die Prinzipien, die auch im Reich der Natur selbst gelten.“ – Frank Lloyd Wright

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Der Geist des Ortes

IdEE Nr. 37

Der Genius loci

Bei den Griechen und Römern wurden viele Heiligtümer,

Haine und Quellen bestimmten Gottheiten zugeordnet.

Einen Geist hingegen, der keinen Namen hatte, bezeichneten

die Römer als Genius Loci. Freilich war damit der Schutzgeist

selbst und nicht die Atmosphäre oder das besondere Fluidum

eines Ortes gemeint.

Die modernen europäischen Sprachen h aben die Vorstellung des Genius Loci zwar von den Römern übernommen, doch auch andere antike Völker, zum Bei-spiel die prädynastischen Ägypter, haben die Naturkräfte wie Gottheiten verehrt und etwa die Achsen ihrer Tempel am Lauf der Sonne ausgerichtet.

Dass die Vorstellung eines Genius Loci schließlich Allgemeingut wurde, ist nicht zuletzt dem englischen Dichter Alexan-der Pope (1688–1744) zu verdanken. Im 4. seiner Moral Essays, den er Richard Boyle, dem Earl von Burlington und wichtigs-tem Wortführer des Palladianismus wid-mete, empfahl er den selbst ernannten Protagonisten des neuen Landschaftsgar-tens:

Den Genius des Ortes musst zu Rat’ du ziehn, / der Wasser zwingt, mal anzusteigen, mal zu fliehen; / dem Hügel hilft, zum Him-mel hoch sich zu erheben / und dann ganz sanft ins Tal zurückzustreben; / lässt über Land unhörbar den Befehl erschallen, dass Dunkelheit und Schatten auseinanderfallen; / der jetzt die Linien brechen, jetzt sie neu sich fügen lässt, / in Farben schwelgen macht, was du gepflanzt, und deiner Arbeit gibt Gestalt mit viel Bedacht.

Nicht nur Landschaftsgärtner wie Lance-lot „Capability“ Brown (1716–1783) und Humphry Repton befolgten Popes Rat, sondern – wenigstens indirekt – auch die

Wortführer der pittoresken Architektur, etwa John Nash (1752–1835) und Frank Lloyd Wright. Pope setzte sich hier aber auch bereits für eine Art Landschafts-„Funktionalismus“ ein, demzufolge sich die künftige Landschaftsgestalt aus der systematischen Analyse des betreffenden Geländes gewissermaßen von selbst er-gab. Diese vom schottischen Biologen Patrick Geddes propagierte Vorgehenswei-se wurde später vor allem mit der des Landschaftsarchitekten Ian McHarg in Verbindung gebracht, der sich in seinem einflussreichen Buch Design with Nature (1969) für ein Entwurfsverfahren einsetz-te, das die „natürlichen Faktoren“ – also Topographie, Klima, Biologie und Geolo-gie – mit dem „menschlichen Faktor“, das heißt der Art der Landnutzung und der Siedlungsstruktur, in Einklang bringen sollte.

In der Architektur ist die Bedeutung des Genius Loci inzwischen allgemein an-erkannt. So sind die Arbeiten, die Aldo Rossi und Giorgio Grassi geschaffen ha-ben, nicht zuletzt das Ergebnis jener „wis-senschaftlichen“ Standortanalyse, die für diese beiden Vorreiter des italienischen Neorationalismus eine Selbstverständlich-keit ist. Auch im Tessin ist bereits seit den 1960er Jahren eine als Tendenza bezeich-nete Bewegung darum bemüht, ortstypi-sche Tendenzen oder Trends fortzuschrei-ben. So erinnert etwa Mario Bot tas Haus

in Riva San Vitale (1971–1973, gegenüber) an die turmartigen Landhäuser, die frü-her einmal typisch für die Region waren. Das verwendete Baumaterial lässt an das Mauerwerk der traditionellen Bauernhäu-ser der Gegend denken.

Heute ist das Konzept des Genius Loci vor allem für das postmoderne Kontext-Denken von Bedeutung, aber auch für jene Richtungen der Architektur, die sich der Tradition der philosophischen Phäno-menologie verpflichtet fühlen. Besonders deutlich wird dies auch in Christian Nor-berg-Schulz’ Buch Genius Loci – Landschaft, Lebensraum, Baukunst, wo er mehr Achtung vor der Topographie der Landschaft, der „Kosmologie“ des Himmels und des Lichts und dem symbolischen und dem existen-tiellen Gehalt jener Kulturlandschaft ein-fordert, die die Basis menschlichen „Woh-nens“ darstellt.

Bis heute lassen sich Architekten von der Vorstellung eines „Genius Loci“ inspirieren. Dem Schweizer Architekten Mario Botta geht es darum, „den Bauplatz zu bauen“ („building the site“). Das Haus, das er in Riva San Vitale (1971–1973) ausgeführt hat, ist beides: ein „Observatorium“, das einen herr- lichen Ausblick ermöglicht, und eine Form gewordene Antwort auf die Gebirgslandschaft.

„Den Genius des Ortes musst zu Rat’ du ziehn.“

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Im Schmelztiegel der industriellen Revolution

Ihren Anfang nahm diese Massenproduk-tion im frühen 18. Jahrhundert in Eng-land. Seit den 1770er Jahren fand das neue Material auch im Bauwesen Verwendung. 1784 erfand der Engländer Henry Cort dann das Puddelverfahren, das die Her-stellung von schmiedbarem Eisen – daher Schmiedeeisen – ermöglichte. Ein geübter Arbeiter konnte auf diese Weise maximal eine Tonne Eisen am Tag produzieren. Kurz darauf wurden die später auch in der Stahlverarbeitung üblichen Walztech-niken eingeführt und zunächst zur Her-stellung von Bahnschienen, bald auch von Trägern und Stützen für das Bauwesen eingesetzt.

Eisen war ein idealer Werkstoff für die Konstruktion von Industriebauten, etwa Baumwollspinnereien und Lagerhäu sern, wo es in Verbindung mit Außenwänden aus Ziegeln die Errichtung mehrgeschos-siger feuersicherer Gebäude erlaubte. Der schottische Autor und Reformer Samuel Smiles (1812–1904) schrieb bereits 1863, dass das Eisen „nicht nur die Seele aller anderen Herstellungsverfahren [sei], son-dern vielleicht die Triebfeder der gesam-ten zivilisierten Gesellschaft“. In Frank-reich ließ der Architekt und Theoretiker Eugène Viollet-le-Duc verlauten, dass die konstruktive Beherrschung industriell her-gestellter Baustoffe der Schlüssel zum Er-folg sei. Für Menschen, die in der Archi-

tektur vor allem eine Kunst des Bauens und nicht etwa ein Verfahren abstrakter Form- beziehungsweise Raumgestaltung sehen wollten, war das Eisen das lang er-sehnte Ausdrucksmedium des Zeitgeists. Überall entstanden von Ingenieuren ge-plante neue Zweckbauten: Markthallen, Gewächshäuser oder Bahnhofsgebäude. Auch wenn viele die neuen Konstruktio-nen nicht als „Architektur“ anerkannten, eindrucksvoll waren sie dennoch.

Die erste vollständig freiliegende Ei-senkonstruktion in einem öffentlichen Gebäude schuf Henri Labrouste 1850 mit der Bibliothèque Sainte-Geneviève (gegen-über) in Paris. Der große Lesesaal mit sei-nen von reich verzierten gusseisernen Stützbögen getragenen Tonnengewölben blieb zwar einer konventionellen Formen-sprache verpflichtet, wurde jedoch von vielen Zeitgenossen gleichwohl als Provo-kation empfunden. Überhaupt galt Eisen als architektonischer Werkstoff weithin als ästhetische Unart. Der von der populä-ren Theorie der Einfühlung beeinflusste deutsche Architekt Ludwig Bohn stedt zwei-felte sogar daran, dass die Verwendung von Eisen einen neuen Stil begründen könne. „Unsere alten, üblichen Stilgesetze wurzeln eben in den Erfahrungen, welche wir an dem Vollmateriale, dem Steine, ge-sammelt und mit ihm in Einklang ge-bracht haben“, schrieb er. „Sie bedingen

die Erfüllung aller Ansprüche, welchen bisher nur allein der Stein zu genügen vermochte.“

Edvard Metzger, einer der frühen Für-sprecher des Eisens in Deutschland, wider-sprach dieser Argumentation. Er räumt zwar ein, dass „eine Eisenkonstruktion für den skulptural empfindenden Archi-tekten ein wahres Greuel“ sein könne. Doch die „schlanken und anmutigen auf-wärts strebenden Konturen – je nach Um-ständen mal stark, mal grazil“ –, die das Eisen gestatte, kündeten von einer neuen Art von Schönheit. Selbst ein Karl Bötti-cher, der sich in seiner dreibändigen Tekto-nik der Hellenen (1843–1852) vor allem mit den Vorzügen der griechischen Tektonik beschäftigte, sah im Eisen das Baumateri-al der Zukunft und verwies darauf, dass der griechische und der gotische Stil „das Ende ihres Weges“ fast erreicht hätten und dass gerade die Fundamente eines „dritten Stiles“ gelegt würden. Aber trotz so eindrucksvoller Leistungen wie dem Londoner Kristallpalast (oben) und dem Eiffelturm in Paris sollte der neue Stil sich erst endgültig durchsetzen, als mit dem Stahl ein Werkstoff gefunden war, dessen Zugfestigkeit die des Eisens deutlich über-traf.

Der Kristallpalast wurde 1851 innerhalb von nur sechs Monaten im Eiltempo errichtet. Der Bau war das Musterbeispiel einer Konstruktion, die aus industriell vorgefertigten Eisenprofilen montiert wurde. In so kurzer Zeit wurde seither nie mehr ein so großes Gebäude errichtet.

Im Lesesaal der 1850 fertiggestellten Bibliothèque Sainte-Geneviève in Paris hat der Architekt Henri Labrouste erstmals in einem öffentlichen Gebäude traditionelle Gewölbe mit einer unverkleideten Eisenkonstruktion kombiniert.

IdEE Nr. 42

EisEn

Nach unserem heutigen Wissensstand ist es erstmals im

12. Jahrhundert v. Chr. gelungen, Eisen zu schmelzen und daraus

Waffen zu schmieden. Die für die Verwendung des Eisens als

Baustoff erforderliche Massenproduktion ist allerdings erst ein

Ergebnis der industriellen Revolution.

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Ein uralter Luxus der „Sitzkultur“

IdEE Nr. 47

Die ZentralheiZung

Zentrale Heizsysteme sind fast so alt wie die Architektur selbst.

Bereits die alten Griechen leiteten Heißluft aus Brennöfen in

Belüftungskanäle im Fußboden. Das früheste bekannte Beispiel

ist der Große Tempel von Ephesos, der bereits um 350 v. Chr.

so beheizt wurde. Doch die berühmteste antike Warmluft-

heizung ist das römische Hypokaustum.

Ein solches System besteht aus einem un-ter dem Fußboden liegenden Heizraum und Abzügen, durch die der Rauch und die Heißluft in den Wänden nach oben steigen können. Der Brennofen selbst war meist im Freien aufgestellt. Anfangs war diese Heizung ein Privileg der Reichen, später wurden jedoch überall im Rö-mischen Reich öffentliche Gebäude mit dem System ausgestattet. Im Mittelalter führten Zisterziensermönche das Prinzip der Zentralheizung beispielsweise im Kloster unserer lieben Frau zum Wasser-rad (Monasterio de neustra Señora de Rue-da, 1202) nahe Aragon wieder ein. Dazu erhitzten sie das Wasser mit Hilfe von Holzöfen und speisten es anschließend in Rinnen ein.

Im Boden verlegte Rohrleitungen sind erstmals für das 12. Jahrhundert in Syrien nachgewiesen. Im späteren Mittel-alter wurden überall in der islamischen Welt auf diese Weise die Badehäuser be-heizt. Die als Ondol bezeichnete koreani-sche Form der Fußbodenheizung wurde angeblich schon 37 v. Chr., also zu Beginn der Koguryo-Periode, eingeführt. Anfangs wurden bei diesem Verfahren heiße Abga-se durch das Leitungssystem geführt, spä-ter dann erhitztes Wasser, wie es in dem fernöstlichen Land bis heute üblich ist. Dass die Koreaner traditionell in ihren Wohnräumen keine Schuhe tragen, am Boden sitzen und auch essen, ist gewiss nicht zuletzt auf die 2000-jährige Traditi-on des Ondol zurückzuführen. Frank Lloyd Wright hatte die Ondol-Heizung in Japan kennen und schätzen gelernt. Deshalb

ließ er die Fußböden der „usonischen“ Häuser (gegenüber unten), die er seit Mit-te der 1930er Jahre baute, mit entspre-chenden Rohrleitungen ausstatten.

In Europa gab es noch im 18. und 19. Jahrhundert erstaunlich wenige Zentral-heizungen. Eine Ausnahme bildeten auch in dieser Hinsicht die Häuser des Adels. So verfügte etwa der 1714 fertiggestellte Sommerpalast in St. Petersburg über eine Warmwasserheizung. Es gab aber auch reiche Leute, die sich – wie der Gouver-neur der Bank von England – solche Syste-me leisteten, um beispielsweise Weintrau-ben anzubauen. Später wurden auch neue Warenhäuser und Fabriken mit Zen-tralheizungen ausgestattet.

Ende des 19. Jahrhunderts kamen erstmals preiswerte gusseiserne Heizkör-per, aber auch Heizkessel und -boiler auf den Markt, die als Vorläufer jener Heiz-technik gelten können, die wir heute kennen. Der nächste Schritt war die so genannte Fernwärmeversorgung. Dabei wird die etwa bei der Stromerzeugung an-fallende Abwärme als Heißwasser an Tau-sende von Haushalten verteilt, die dieses Wasser zu Heizzwecken und zur Warm-wasserversorgung verwenden. Obwohl auch in den westlichen Ländern verbreitet – etwa im Londoner Stadtviertel Pimlico –, war die Fernwärme vor allem in der ehema-ligen Sowjetunion sehr beliebt, wo zentra-lisierte Versorgungssysteme auf weniger Widerstand stießen.

Die Zentralheizung befreite die Archi-tekten aber auch von den zahlreichen Schornsteinen, die ihnen die Entwurfs-

arbeit bis dahin beträchtlich erschwert hatten. Sie erleichterte es überdies, Neue-rungen wie den freien Grundriss zu reali-sieren. Trotzdem blieb der offene Kamin in so manchem stilvollen Wohnzimmer noch längere Zeit erhalten. Doch die Zahl der befeuerten Kamine nahm deutlich ab, und so verschwand allmählich auch der dunkle Schleier, der die Industriestädte bis dahin eingehüllt hatte.

Auch das Zusammenleben der Men-schen wurde durch die Zentralheizung grundlegend verändert. Während es zu-vor in der unteren Mittelschicht und im Arbeitermilieu üblich gewesen war, dass sich die ganze Familie in den ein oder zwei von einem Kamin beheizten Wohn-räumen aufhielt, sorgte die Zentralhei-zung dafür, dass sich Kinder und Jugendli-che fortan auch in ihrem eigenen (Schlaf-)Zimmer aufhalten konnten. Die Folge war ein starker Individualisierungs- und Differenzierungsschub, der das Familien-leben revolutionierte. Später wurde dieser Trend durch ein reichhaltiges Angebot preiswerter Unterhaltungselektronik noch -mals gesteigert.

OBEN: Das römische Prinzip eines von unten beheizten und auf niedrigen Stützen aufruhenden Fußbodens gehört zu den frühesten Formen der Zentralheizung. Hier ist ein solches Hypokaustum (3. Jh. n. Chr.) in den Ruinen der Thermen von Sbeita (Tunesien) zu sehen.

LINKS: Als Frank Lloyd Wright Anfang des 20. Jahrhunderts während eines Japan-Aufenthalts ein koreanisches System der Fuß- bodenheizung sah, war er sehr beeindruckt. Deshalb ließ er später auf sämtlichen Bodenplatten seiner usonischen Häuser Heißwasser-Rohrsysteme verlegen.

OBEN: Dieser um eine Eisenstütze gewickelte viktorianische Warm- wasserheizkörper im Schottischen Nationalmuseum ist ein frühes Beispiel der Verwendung zentraler Heizsysteme in öffentlichen Gebäuden.

„Die Zentralheizung hat auch das Zusammenleben der Menschen grundlegend verändert.“

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Hundert Etagen himmelwärts

„Ohne den Aufzug sind Häuser, die höher sind als nur ein paar Geschosse, weder für Wohn- noch für Arbeitszwecke brauchbar.“

OBEN: In den 1930er Jahren war die New Yorker Skyline das Sinnbild der rasanten architektonischen und städtebaulichen Umwälzungen, die mit der Erfindung des Lifts einhergingen. Das hier aus der Ferne gesehene Empire State Building blieb mit seinen 102 Etagen bis in die 1970er Jahre das höchste Gebäude der Welt.

GANZ LINKS: Elisha Otis demonstriert hier anlässlich der Crystal Palace Exposition 1854 in New York die Verlässlichkeit des Sicherheitsme- chanismus, den er später patentieren ließ. Diese Technik hat entscheidend zur raschen Verbreitung des neuen „Transportmittels“ beigetragen.

LINKS: Die Petronas Towers in Kuala Lumpur, von 1998 bis 2004 das höchste Gebäude der Welt, sind mit einem komplizierten System von Otis-Aufzügen ausgestattet, viele davon „Doppeldecker“, die gleich- zeitig zwei Geschosse ansteuern, eines davon mit gerader, das andere mit ungerader Zahl.

IdEE Nr. 49

Der Aufzug

Architekturgeschichten unterstreichen immer wieder, dass

erst die Skelettbauweise jene Hochhäuser ermöglicht hat, die

das Gesicht der Städte weltweit so grundlegend verändert haben.

Doch genauso wichtig ist der Fahrstuhl, der Aufzug, ohne den

Häuser, die mehr als einige Geschosse hoch sind, weder für

Wohn- noch für Arbeitszwecke brauchbar sind.

Das 2009 fertiggestellte, von dem amerikanischen Architekturbüro SOM entworfene Burdsch Chalifa in Dubai ist mit einer Höhe von über 600 Metern das höchste Gebäude der Welt. Seine 57 Lifte erreichen eine Höchstgeschwindigkeit von zehn Metern pro Sekunde.

Die Idee des Aufzugs findet schon bei dem Architekturkritiker Vitruv Erwähnung, und bereits Archimedes soll um 236 v. Chr. einen funktionierenden Lift gebaut haben. Proto-Aufzüge gab es im 17. Jahrhundert bereits in englischen und französischen Palastbauten. Doch den endgültigen Durch-bruch erzielte erst 1852 ein gewisser Elisha Graves Otis mit der Erfindung eines zuver-lässigen Sicherheitsmechanismus.

Der erste Otis-Personenaufzug ging 1857 in einem New Yorker Kaufhaus in Betrieb; sieben Jahre später war in Lon-don das Grosvenor das erste Hotel der Stadt, das über einen Lift verfügte. Die fol-genreiche Erfindung führte dazu, dass die bis dahin wenig geschätzten oberen Hotel-etagen sich jetzt wegen ihres Ausblicks großer Beliebtheit erfreuten. Heute gel-ten als „Penthouse“ bezeichnete Wohnun-gen auf Hochhausdächern sogar als be-sonders exklusiv.

Als dann Werner von Siemens 1880 den ersten elektrischen Aufzug vorstellte, war der moderne Lift fast komplett. Ein Elekt-romotor, der Stahlseile über eine angetrie-bene Rolle – die so genannte Treibscheibe – führt, kann eine Aufzugkabine heutzuta-ge bis zu 150 Meter in der Minute in die Höhe tragen; getriebelose Aufzugmaschi-nen schaffen sogar 600 Meter pro Minute.

In der Anfangszeit wurden Lifte von Aufzugführern oder von den Benutzern selbst bedient, doch allmählich wurden immer bessere Systeme entwickelt, um Fahrstühle genau dorthin zu schicken, wo die meisten Passagiere zu erwarten sind. Mit zunehmender Gebäudehöhe wurden solche Systeme immer wichtiger. Die heu-

tigen computerisierten Dispositionssyste-me „registrieren“ sogar Nachfragespitzen und können auf Schwankungen des Ver-kehrsaufkommens „reagieren“. Architek-tonisch interessanter war die Idee, Express-lifte, die nur auf ausgewählten Etagen halten, mit lokalen Aufzügen zu kombi-nieren, die in ihrem jeweiligen Gebäude-segment alle Stockwerke bedienen. Zum ersten Mal realisiert wurde ein solches „Sky Lobby“-Konzept in dem vom Büro SOM geplanten, 1969 fertiggestellten hun-dertgeschossigen John Hancock Center in Chicago. Gut fünfzehn Jahre später hat Norman Foster im Gebäude der Hong-kong and Shanghai Bank in Hongkong (s. S. 92) sein Konzept zweigeschossiger „Vertikaldörfer“ umgesetzt, die per Auf-zug zu erreichen, intern jedoch über Roll-treppen erschlossen sind.

Um das Liftfahren interessanter zu machen, führen manche Architekten mit Glaskabinen bestückte Aufzugschächte au-ßen an Hochhäusern hinauf. Ins Spiel ge-bracht haben die Wesnin-Brüder diese Idee bereits 1924 in ihrem Entwurf für das Prawda-Gebäude in Moskau. Erstmals rea-lisiert wurde sie jedoch 1926 an der Fassa-de des El Cortez Hotels im kalifornischen San Diego. Verglaste Außenlifte wurden auch später noch des Öfteren umgesetzt. Ein besonders spektakuläres Beispiel ist der Aufzug an dem von Richard Rogers ge-planten Lloyd’s Building (s. S. 167) in Lon-don. Die Vorbildrolle hat hier meist John Portmans Hyatt Regency in Atlanta (1967) gespielt, dessen Glaskabinen direkt zu dem Drehrestaurant auf dem Dach des Ge-bäudes hinaufschweben.

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Das architektonische Gesicht eines Zeitalters

IdEE Nr. 58

zeitgeist

Im Jahr 1828 veröffentlichte der nur wenig bekannte deutsche

Architekt Heinrich Hübsch das Buch In welchem Style sollen wir

bauen? – eine Frage, die den großen Klassizisten Karl Friedrich

Schinkel zu der Überlegung veranlasste: „Jede bedeutende

Periode in der Baukunst hat ihren eigenen Stil hinterlassen.

Warum sollten wir nicht versuchen, auch für uns einen solchen

Stil zu finden?“ In dieser Frage ist bereits implizit der von Johann

Gottfried Herder (1744–1803) geprägte Begriff des „Zeitgeists“

enthalten, der bei der Herausbildung der architektonischen

Moderne noch eine sehr wichtige Rolle spielen sollte.

So ging es etwa dem deutschen Architek-ten Peter Behrens (1868–1940) vor allem um eine „Klärung der Raumform mit ma-thematischer Präzision“, einer Form, in der der deutsche „Volksgeist“ einen eige-nen Ausdruck findet. Mies van der Rohe wiederum erklärte Anfang der 1920er Jah-re, dass „Architektur der in gestalteten Raum übersetzte Wille einer Epoche [ist]; lebendig, veränderlich, neu“.

Diese Vorstellung ist tief in der deut-schen Philosophie verwurzelt. Laut Kant ist die Geschichte die Entfaltung eines „Weltplans“, in dem jedes Zeitalter seinen natürlich Ausdruck findet, während der „Zeitgeist“ für Hegel eine aktive Kraft ist, die das Ethos der Gesellschaft oder der Kultur prägt und über ihren Status innerhalb der soziokulturellen Entwick-lung der Menschheit bestimmt. Diese Ge-schichtsauffassung hat die allesamt dem deutschsprachigen Kulturraum entstam-menden Begründer der akademischen Kunstgeschichte zutiefst geprägt, also Männer wie Jacob Burckhardt, Heinrich Wölfflin, Alois Riegl und Erwin Panows-ky. Sie hat aber auch einen tiefgreifenden Einfluss auf zwei wichtige Wortführer der modernen Architektur ausgeübt, nämlich Nikolaus Pevsner und Sigfried Giedion, die ebenfalls durch diese Tradition beein-flusst waren. Giedion hat in seinem 1941 zuerst auf Englisch erschienenen Buch Raum, Zeit, Architektur sogar geschrieben, dass er von Wölfflin gelernt habe, „den Geist einer Epoche zu erfassen“.

Die Anhänger der Moderne verorte-ten den schwer fassbaren Zeitgeist der Mo-derne in der Effizienz der Maschine und der unaufhaltsamen Verdrängung des Handwerks durch die Massenproduktion. Sie sprachen daher gerne vom „Maschi-nenzeitalter“ und waren davon über-zeugt, dass der rationale Umgang mit den Werkstoffen Stahl, Stahlbeton und Flach-glas eine repräsentative neue Architektur hervorbringen würde. Außerdem führten Theoretiker wie Pevsner und Giedion in ihren architekturgeschichtlichen Publi-kationen den Nachweis, dass die Bau-kunst von der Neugotik – und der für sie typischen Betonung der Konstruktion als Basis jeglicher Architektur – über die Arts and Craft Bewegung und den Jugendstil einen Weg eingeschlagen hatte, der am Ende fast zwangsläufig in den so genann-ten Internationalen Stil eingemündet war. Dieser Standpunkt, den Pevsner 1936 erst-mals in seinem Buch Pioneers of the Modern Movement vertreten hatte (das 1949 in einer erweiterten Auflage unter dem Titel Pioneers of Modern Design neu erschienen ist), ist in zahlreichen historischen Dar-stellungen aus der damaligen Zeit anzu-treffen.

Bei den Protagonisten der Postmoder-ne dagegen stieß das Konzept eines Zeit-geists, der die Entwicklung der Architek-tur aktiv beeinflusst, weithin auf Kritik. Besonders ablehnend äußerte sich in die-sem Zusammenhang David Watkins in seinem 1977 erschienenen Buch Morality

Die eleganten geometrischen Formen dieser von Marianne Brandt und Hans Przyrembel entworfenen Lampe (oben) und des einflussreichen Wassily-Sessels von Marcel Breuer (1925–1927, unten) sind typisch für den bis heute prägenden Bauhausstil.

and Architecture. Als Anhänger des Klassi-zismus zeigte sich Watkins darüber verär-gert, dass die Protagonisten der Moderne alle Stile, die nicht ihrer eigenen Rich-tung entsprechen, als „unzeitgemäß“ abtun. Ferner entrüstete er sich über die moralisierende Haltung all jener, die glauben, dass einzig der Stil, den sie per-sönlich bevorzugen, dem Kriterium der Wahrhaftigkeit und Rationalität genügt und die Bedürfnisse der Gesellschaft am besten widerspiegelt. Dabei nannte er vor allem Namen wie A. W. N. Pugin, Eugène Viollet-le-Duc, Le Corbusier und andere mehr.

„Architektur ist der in gestalteten Raum übersetzte Wille einer Epoche; lebendig, veränderlich, neu“. – Mies van der Rohe

Durch sein Lehrangebot in den verschiedensten künstlerischen Bereichen, aber auch durch seine eigene Bautradition ist das 1926 nach einem Entwurf seines Direktors Walter Gropius in Dessau ent- standene Staatliche Bauhaus zu einer Institution geworden, die dem Geist des Maschinenzeitalters ein unverkennbares Gesicht gegeben hat.

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Die Zerstörung des Traums von der reinen Form

IdEE Nr. 96

Dekonstruktivismus

Die offensichtlichste Herausforderung des Konventionellen durch

die Projekte der Dekonstruktivisten bestand in deren Angriff auf

vertraute Normen wie waagerechte Fußböden, senkrechte Wände

und ein reguläres Strukturraster. Viele dieser Gebäude scheinen

zu wanken und am Rande des Zusammenbruchs zu stehen, und

statt auf ein funktionales Programm zurückzugehen, wurden

ihre Räume erst später einem Verwendungszweck zugeordnet.

Mit dem Werk De la grammatologie von 1974 (deutsch unter dem Titel Grammato­logie) des französischen Philosophen Jacques Derrida brachte der Dekonstruktivismus eine radikale Kritik an der abendländi­schen Philosophie zum Ausdruck: Er focht die Bevorzugung der Sprache gegenüber der Schrift an und entlarvte die hierdurch häufig hervorgerufenen Machtbeziehungen, auf denen vertraute Gegensatzpaare – Form / Inhalt, Natur / Kultur, Gedanke / Wahr­nehmung, Theorie / Praxis, männlich / weib­lich – aufbauen.

Zu den ersten Architekten, die Derri­das komplexe Ideen auf die Baukunst an­zuwenden versuchten, gehörten Peter Eisenman und Bernard Tschumi, die mit Begriffen wie „Dekomposition“, „Dezent­rierung“ und „Diskontinuität“ klassische und modernistische Normen zu untergra­ben suchten. In Eisenmans Wexner Cen­ter for the Visual Arts der Ohio State Uni­versity in Columbus (1982/83, oben links) wurde die Ordnung des für den Campus gültigen Rasters mittels der Projektion ei­ner neuen Achse „destabilisiert“. Diese basiert auf der Mercator­Projektion der Erdoberfläche. Ein vor langer Zeit abge­rissenes Waffenlager, ein Ziegelgebäude, wurde wieder aufgebaut, was eine histori­sche Lesart des Geländes unterminiert; eine Rasterstruktur aus weißem Stahl, die den Komplex durchdringt, nährt Zweifel an der Vorstellung von Vollendung. Im Fall von Tschumis Parc de la Villette in Paris ist das gesamte Projekt als „unvollen­detes Gebäude“ konzipiert worden, und die altvertraute Vorstellung von Bedeutung als Folge eines geplanten Zwecks wurde durch die Verteilung eines Rasters knall­

roter „Follies“ (exzentrischer Staffagebau­ten) überall auf dem Gelände, denen will­kürlich Funktionen zugewiesen wurden, in Frage gestellt.

Eisenman und Tschumi waren zwei der sieben Architekten, die 1988 in der von Philip Johnson und Mark Wigley im New Yorker Museum of Modern Art orga­nisierten Ausstellung „Deconstructivist Architecture“ vorgestellt wurden. Diese Schau verband das Konzept der Dekonst­ruktion mit dem wachsenden Interesse an den Schöpfungen der russischen Avantgarde der 1920er Jahre (welche der Einfachheit halber, aber nicht korrekt, unter dem Begriff Konstruktivismus sub­sumiert worden waren), das sich im Werk einiger der präsentierten Künstler – wie Rem Koolhaas, Zaha Hadid und Tschumi – zeigt und für das anderer – vor allem von Frank Gehry – eher marginal ist.

In der neueren Architektur sind Bau­plätze und Gebäude zunehmend als mit mehreren Bedeutungsschichten erfüllt ge­sehen worden. Die berühmteste und um­fassendste Anwendung solcher Vorstel­lungen findet sich in Daniel Libeskinds Jüdischem Museum in Berlin (unten links), dessen fragmentierte Formen aus der Schichtung mehrerer geometrischer Sys­teme abgeleitet wurden, darunter ein verzerrter Davidstern und mehrere Ach­sen, welche die Adressen von im Holo­caust ermordeten jüdischen Familien ver­binden.

GANZ OBEN: Mit seinen kollidierenden Rastern, der unfertigen „Einrüstung“ und den nur partiell rekonstruierten Arsenaltürmen, die vor ihrem Abriss 1958 einmal ganz in der Nähe standen, ist Peter Eisenmans Wexner Center for the Visual Arts der Ohio State University (1982/83) eines der ersten Beispiele dekonstruktivistischer Architektur.

OBEN: Daniel Libeskinds preis­ gekrönter Entwurf für das Jüdische Museum in Berlin ist aus einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Standort und der jüdischen Stadtgeschichte hervorgegangen.

Das am Ende einer Straße mächtig aufblühende, von Frank Gehry geschaffene Guggenheim Museum Bilbao ist ein Sinnbild der komplexen, mitunter chaotisch wirkenden Formensprache, die das Bild der architektonischen Dekonstruktion bestimmt.

„Ein Angriff auf horizontale Flächen, senkrechte Wände und regelmäßige Strukturraster.“