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Heft 4/2008 Militärgeschichte im Bild: Schlacht bei Vionville und Mars-la-Tour am 16. August 1870 »Im Westen nichts Neues« Deutsche Herrschaft in der Ukraine Das Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg Eisenbahnen und Festungen in Preußen C 21234 ISSN 0940 - 4163

:EITSCHRIFTFÓRHISTORISCHEILDUNG 4_2008.pdf · »Im Westen nichts Neues«. Ein Film macht Geschichte 4 PD Dr. Matthias Rogg, geboren 1963 in Wittmund, Oberstleutnant i.G. und Referent

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Hef

t 4/

2008

Militärgeschichte im Bild: Schlacht bei Vionville und Mars-la-Tour am 16. August 1870

»Im Westen nichts Neues«

Deutsche Herrschaft in der Ukraine

Das Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg

Eisenbahnen und Festungen in Preußen

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EditorialImpressum

Das vorliegende Heft der Militärgeschichte setzt mit zwei Großbeiträgen den inhaltlichen Schluss-punkt unter unsere Reihe zum Kriegsende 1918 und seinen unmittelbaren Folgen.

Der 1929 erschienene Roman »Im Westen nichts Neues« von Erich Maria Remarque schildert die Schrecken des Ersten Weltkrieges an der Westfront aus der Sicht eines jungen Soldaten, der 1918 kurz

vor Kriegsende tödlich getroffen wurde, »an einem Tag, der so ruhig und still war, dass der Heeresbericht sich auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden«. Matthias Rogg stellt den einst umstrittenen Roman, vor allem aber dessen Verfilmung und die zeitgenössischen Reaktionen auf die Uraufführung der US-amerikanischen Produktion im Dezember 1930 in Deutschland vor.

Die deutsche Herrschaft über weite Teile Osteuropas im Zweiten Weltkrieg ist der Allgemeinheit weitgehend bekannt, weniger dagegen, dass das Deut-sche Reich bereits im Ersten Weltkrieg große polnische und baltische Landes-teile des zaristischen Russlands besetzt hielt. Im letzten Kriegsjahr 1918 gerie-ten dann Weißrussland und die Ukraine, die »Kornkammer Europas«, unter deutsche und teilweise österreichisch-ungarische Kontrolle. Peter Lieb rich-tet den Blick auf die deutsche Herrschaft und Partisanenbekämpfung in der Ukraine von Februar 1918 bis März 1919. Er zieht auch einen Vergleich zwi-schen dem deutschen Vorgehen 1918/19 und 1941/44 und zeigt Gemeinsam-keiten wie Unterschiede der beiden deutschen Besatzungen auf.

Militärische Akten aus diesen Besatzungszeiten in der Ukraine finden sich im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg i.Br., das Archivgut der preu-ßischen und der deutschen Armeen von 1864 bis zur Gegenwart verwahrt. Andreas Kunz verschafft anhand eines fiktiven Rundganges Einblicke in das Innenleben dieser Institution. Ausgewählte Beispiele zeigen die Einzigartig-keit des in Freiburg gelagerten Archivguts, seine Vielgestaltigkeit wie auch seinen Stellenwert für die Erforschung der deutschen Militärgeschichte. Schließlich gibt der Autor noch praktische Hinweise für die Benutzung des Archivs.

Ein Aufsatz aus der Feder von Klaus Jürgen Bremm über Eisenbahnen und Festungen in den militärischen Planungen Preußens im 19. Jahrhundert run-det dieses Heft ab.

In eigener Sache: Die Redaktion der Militärgeschichte heißt den neuen Re-daktionsassistenten, Herrn Thomas Bäuml, herzlich willkommen und be-dankt sich bei Herrn Michael Schadow für die geleistete Arbeit.

Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünschen wir eine gewinnbringende Lektüre der aktuellen Ausgabe und ein gutes Jahr 2009!

Magnus Pahl M.A.Hauptmann

MilitärgeschichteZeitschrift für historische Bildung

Herausgegebenvom Militärgeschichtlichen Forschungsamtdurch Oberst Dr. Hans Ehlert undOberst i.G. Dr. Hans-Hubertus Mack (V.i.S.d.P.)

Produktionsredakteurder aktuellen Ausgabe:Hauptmann Magnus Pahl M.A.

Redaktion:Hauptmann Matthias Nicklaus M.A. (mn)Hauptmann Magnus Pahl M.A. (mp)Oberstleutnant Dr. Harald Potempa (hp)Hauptmann Klaus Storkmann M.A. (ks)Mag. phil. Michael Thomae (mt)Bildredaktion:Dipl.-Phil. Marina SandigRedaktionsassistenz:Thomas Bäuml (tb)Lektorat:Dr. Aleksandar-S. VuletićLayout/Grafik:Maurice Woynoski / Medienwerkstatt D. LangKarten:Dipl.-Ing. Bernd Nogli

Anschrift der Redaktion:Redaktion »Militärgeschichte«Militärgeschichtliches ForschungsamtPostfach 60 11 22, 14411 PotsdamE-Mail: MGFARedaktionMilGeschichte@

bundeswehr.orgTelefax: 03 31 / 9 71 45 07Homepage: www.mgfa.de

Manuskripte für die Militärgeschichte werden an diese Anschrift erbeten. Für unverlangt ein-gesandte Manuskripte wird nicht gehaftet. Durch Annahme eines Manuskriptes erwirkt der Herausgeber auch das Recht zur Veröffent-lichung, Übersetzung usw. Honorarabrechnung erfolgt jeweils nach Veröffentlichung. Die Re-daktion behält sich Kürzungen eingereichter Beiträge vor. Nachdrucke, auch auszugsweise, fotomechanische Wiedergabe und Übersetzung sind nur nach vorheriger schriftlicher Zustim-mung durch die Redaktion und mit Quellenanga-ben erlaubt. Dies gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Vervielfälti-gungen auf CD-ROM. Die Redaktion hat keiner-lei Einfluss auf die Gestaltung und die Inhalte derjenigen Seiten, auf die in dieser Zeitschrift durch Angabe eines Link verwiesen wird. Des-halb übernimmt die Redaktion keine Verantwor-tung für die Inhalte aller durch Angabe einer Link-adresse in dieser Zeitschrift genannten Seiten und deren Unterseiten. Dieses gilt für alle ausge-wählten und angebotenen Links und für alle Sei-teninhalte, zu denen Links oder Banner führen.

© 2008 für alle Beiträge beimMilitärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA)Sollten nicht in allen Fällen die Rechteinhaberermittelt worden sein, bitten wir ggf. um Mitteilung.

Druck:SKN Druck und Verlag GmbH & Co., Norden

ISSN 0940-4163

Service

Das historische Stichwort:Napoleon im Orient. Die »Ägyptische Expedition« 1798 bis 1801

Medien online/digital

Lesetipp

Ausstellungen

Geschichte kompakt

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Militärgeschichteim BildSchlacht bei Vionville und Mars-la-Tour (Nähe Metz) am 16. August 1870 31

Zwei preußische Korps brachten in dieser Schlacht des Deutsch-Französischen Krieges der zahlenmäßig überlegenen Französischen Rheinarmee eine bedeu-tende Niederlage bei und zwangen sie zum Rückzug in die Festung Metz. Im Verlauf der letzten großen Reiterschlacht der Geschichte zeichnete sich auch das Preußische Ulanen-Regiment Nr. 13 (1. Hannoversches) aus, dessen Tradition vom Ausbildungszentrum der Heeresauf-klärungstruppe in Munster fortgeführt wird. Gemälde von H. Lang.Foto: pa/akg-images

Weitere Mitarbeiter dieser Ausgabe: Wissenschaftlicher Oberrat Dr. Bernhard Chiari, MGFA;Hauptmann Dr. Thorsten Loch, Kompaniechef 9./Wachbataillon beim BMVg, Berlin;Dr. Martin Rink, Historiker, Potsdam

Inhalt

»Im Westen nichts Neues«. Ein Film macht Geschichte

4

PD Dr. Matthias Rogg, geboren 1963 in Wittmund, Oberstleutnant i.G. und Referent im Planungsstab im Bundes-ministerium der Verteidigung, Berlin

Deutsche Herrschaft in der Ukraine 1918/19: Wegweiser zum Vernichtungskrieg?

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Dr. Peter Lieb, geboren 1974 in Garmisch-Partenkirchen, Oberleutnant d.R., Senior

Lecturer im Department of War Studies an der Royal Military Academy Sandhurst

Das Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg. Quell(en) deutscher Militärgeschichte von 1864 bis heute

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Dr. Andreas Kunz, geboren 1970 in Lüneburg, Referatsleiter im Bundesarchiv-Militärarchiv,

Freiburg i.Br.

Preußische Eisenbahnen und Festungen im 19. Jahrhundert

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Dr. Klaus-Jürgen Bremm, geboren 1958 in Duisburg, Oberstleutnant d.R.,

Lehrbeauftragter für Neuere Geschichte an der Universität Osnabrück

Die Darstellung von Krieg und Militär im Film ist fast so alt wie das Medium Film selbst.

Für die Wahrnehmung, Diskussion und Deutung von Krieg und Militär spielt der Film seit über 100 Jahren eine zentrale Rolle. Produktionen wie »Die Brücke« (1959), »Apocalypse Now« (1979) oder »Der Soldat James Ryan« (1998) haben in den Köpfen der Zu-schauer Bilder entstehen lassen, mit denen die öffentliche Auseinanderset-zung über den Sinn des Krieges nach-haltig beeinflusst wurde. Zu den he-rausragenden Filmen dieser Gattung gehört ein Streifen, der Filmgeschichte geschrieben hat und auch nach fast 80 Jahren immer noch unter die Haut geht.

Die Vorlage für den Film

Am Anfang stand ein Roman, für den sich zuerst kein Verleger finden wollte und der dann in kürzester Frist zu einem Weltbestseller wurde. Der Autor war ein unbekannter ehemaliger Welt-kriegssoldat, der nach dem Krieg be-

ruflich nicht richtig Fuß fassen konnte, anfangs als Lehrer und dann als Gele-genheitsjournalist arbeitete. Anfang der 1920er Jahre änderte er seinen Namen und nannte sich fortan Erich Maria Remarque (eigentlich Erich Paul Remark, 1893–1970). Wie Millionen an-derer Männer trieb ihn das Trauma der Kriegserfahrung um. Er begann mit Recherchen für einen Weltkriegsro-man, die er Ende 1927 abschloss. Der Roman schildert aus der Perspektive des Kriegsfreiwilligen Paul Bäumer die Erlebnisse einer Gruppe von Soldaten an der Westfront. Wie in vielen Militär-romanen verschmelzen dabei Autobio-grafie und Fiktion.

Mitte 1928 reichte Remarque die Druckvorlage beim S. Fischer Verlag ein. Doch da traute man dem unbe-kannten Romancier nicht viel zu. Auf

dem Büchermarkt der Weimarer Repu-blik tummelte sich eine Vielzahl von Werken, die den Weltkrieg in irgendei-ner Form verarbeiteten. Das Spektrum reichte von nationalkonservativen Ar-beiten, in denen der Krieg zu einer prä-genden Lebenserfahrung stilisiert wurde (»In Stahlgewittern« von Ernst Jünger, »Der Wanderer zwischen bei-den Welten« von Walter Flex) bis zu kritischen Auseinandersetzungen mit dem Wesen von Krieg und Militär (»Der Streit um den Sergeanten Grischa« von Arnold Zweig). Die Ablehnung des Remarque-Manuskripts durch den Fischer Verlag sollte sich als eine der größten Fehleinschätzungen der Lite-raturgeschichte erweisen.

Ende 1928 fand sich für den Roman mit dem Propyläen Verlag in Berlin doch noch ein Interessent. Dort über-

5  »All Quiet on The Western Front«, Film nach dem Roman von Erich Maria Remarque, USA 1930. Regie: Lewis Milestone, Buch: Del Andrews, Maxwell Anderson, George Abbott, Lewis Milestone. Filmszene mit John Wray als Feldwebel Himmelstoß (stehend).

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4 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

Ein Film macht Geschichte

zeugte die einfache, präzise, manch-mal erschreckend nüchterne Sprache, die auch heute anrührt, während Re-marque auf jede Sinndeutung, jede Auseinandersetzung mit Ursachen, Zielen und Konsequenzen des Krieges verzichtete. Mit diesem Stilmittel traf er offensichtlich den Nerv der Zeit. Der Krieg wurde als »Urkatastrophe« dar-gestellt, als ein unerhörtes Geschehen, das sich des Menschen bemächtigt und rationalen Erklärungsmustern ent-zieht. Der Titel griff auf die immerwäh-rende, lakonische Formulierung im deutschen Heeresbericht zurück und gab der fatalistischen Sicht so einen programmatischen Titel: »Im Westen

nichts Neues«. Damit sprach Remarque einer ganzen Generation aus der Seele.

Schon vor der Veröffentlichung machte der Roman Furore. Noch bevor die Erstausgabe am 31. Januar 1929 in den Handel kam, erschienen über vier Wochen mehrere Vorabdrucke in der liberalen »Vossischen Zeitung«. Die Auflage des krisengeschüttelten Blattes stieg daraufhin sprunghaft an. Bis Ende 1929 verkaufte sich das Buch über eine Million Mal in Deutschland. Es folgten Übersetzungen in alle europä-ischen Sprachen. In den USA erschie-nen 1929 mehr als 300 000 Exemplare.

Remarques überwältigender Erfolg polarisierte die Öffentlichkeit und na-türlich auch die Kritiker. Am 31. Januar 1929 schrieb Carl Zuckmayer in der li-beralen »Berliner Illustrierten Zei-tung«: »Es gibt jetzt ein Buch, geschrie-ben von einem Mann namens Erich Maria Remarque, gelebt von Millionen, es wird auch von Millionen gelesen werden [...] so geschrieben, so geschaf-fen, so gelebt, dass es mehr wird als Wirklichkeit: Wahrheit, reine gültige Wahrheit.«

Diese euphorische Sicht wollten viele Deutsche nicht teilen. In nationalkon-servativen und monarchistischen Krei-sen sowie in der Reichswehr wurde Remarque heftig attackiert (siehe Kas-ten rechts). Dort warf man ihm vor, der Vorreiter einer pazifistischen Propa-ganda zu sein, die das ehrenhafte Ge-denken der deutschen Soldaten im Weltkrieg in den Schmutz zog. Nicht die Beschreibung der nackten Gewalt und Erbarmungslosigkeit des Krieges wurde als Affront begriffen, sondern die fehlende Sinnstiftung. Um die ge-waltigen Opfer, die politischen und wirtschaftlichen Folgen des Krieges für Deutschland begreifbar zu machen, musste das Desaster nach dieser Lesart einen tieferen Sinn erhalten – und sei es durch das Produzieren heroischer Vorbilder oder die individuelle Läute-rung durch Kampf und Entbehrung. Ein sinnloser Krieg hätte letztlich die Fragen nach den politischen Ursachen und der Verantwortlichkeit gestellt. Remarques Roman wurde so von einem nicht unbeträchtlichen Teil der Bevölkerung in Deutschland nicht nur als Provokation, sondern als öffent-liche Gefahr eingeschätzt. Auch heute ist das noch der Stoff, aus dem man Filme macht.

5Erich Maria Remarque, um 1930.

5 Titelblatt der Originalausgabe des Romans, erschienen 1929 im Propyläen Verlag.

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Oberst a.D. Freiherr von der Goltz schrieb 1929  in  »Deutsche Wehr.  Zeitschrift  für Heer und Flotte« (Heft 14) über Remarques Roman:

Es  ist  ein  besonders  betrübendes  Zei­chen  für  den  Zeitgeist  im  heutigen Deutschland,  dass  dieser  Roman,  der nichts  anderes  darstellt  als  eine  raffi­nierte  pazifistische  Propaganda,  es  in wenigen Wochen  auf  einen  Absatz  von einer  Million  Exemplaren  gebracht  hat. Sein Zweck ist es, der heranwachsenden Jugend  eine  unüberwindliche  Abscheu vor dem Kriege, überhaupt vor allem Mi­litärischen,  ins  Herz  zu  senken.  Das  ist umso  gefährlicher,  als  der  Roman  gut geschrieben ist und daher einen gewis­sen literarischen Wert besitzt. Die einzel­nen  Soldatenfiguren,  die  als Träger  der Handlung  auftreten,  sind  gut  beobach­tet  und  richtig  gezeichnet,  die  Kampf­szenen mit dramatischer Wucht und pa­ckender Realistik dargestellt.Und doch ist das Ganze ein maßlos ver­logener Schwindel! Es ist ja einfach nicht wahr, dass der deutsche Soldat nur unter dem  Zwang  des  Drills  seine  Pflicht  ge­tan, sich bei jedem Kanonenschuss in To­desangst an den Boden geklammert und im  Übrigen  lediglich  seinen  anima­lischen Instinkten gelebt habe. Wohl gab es  solche  Typen  in  unseren  Reihen ebenso wie drüben beim Feinde. Die an­deren  aber,  die  in  der  großen  Überzahl waren, für die der Kampf ums Vaterland noch eine heilige Sache war, und die sich ihre  Menschenwürde  trotz  aller  verro­henden  Einflüsse  des  Krieges  bis  zum Schluss  zu  bewahren  wussten,  sie  alle kommen  in  der  Tendenzschrift  Re­marques  (wer  verbirgt  sich  hinter  die­sem  Pseudonym?,  sicherlich  kein  deut­scher Mann) überhaupt nicht zu Worte! Darin liegt eine grobe und bewusste Ir­reführung.  Es  wird  einfach  ein  minder­wertiger  Teil  als  gleichbedeutend  mit dem Ganzen hingestellt. Ebenso irrefüh­rend  ist  es,  wenn  bis  zum  Überdruss grausige Kampfszenen oder andere Be­gebenheiten, in denen das Tier im Men­schen  sich  austobt,  aneinandergereiht, alle erhebenden Momente des Kriegser­lebens  aber  einfach  fortgelassen  wer­den. [...]›Im Westen nichts Neues‹ ist eine einzige ungeheuerliche  Beleidigung  des  deut­schen Heeres im Weltkriege [...] eine Ver­unglimpfung  des  Andenkens  unserer gefallenen Kameraden [...]

�Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

und Komparsen bis an die Grenzen ih-rer körperlichen Leistungsfähigkeit militärisch ausgebildet wurden. Beim Hauptdarsteller griff man mit Lew Ayres auf ein völlig unbekanntes und damit unverbrauchtes Gesicht zurück: Ein »universal soldier«, der stellvertre-tend für die namenlos Leidenden einer ganzen Generation stehen sollte. Da-mit erhielt der Film schon vor Drehbe-ginn eine universale Aussage.

Eine zentrale Rolle spielte der Ton, der 1929 noch in den Kinderschuhen steckte. »Im Westen nichts Neues« (All quiet on the Western Front) ist eine Produktion an der Schwelle vom Stumm- zum Tonfilm. Der Tonfilm be-gann sich damals nur langsam durch-zusetzen, weil die Investitionen hierfür sehr aufwendig waren. Manche Kinos scheuten noch die relativ hohen Kosten für die Umrüstung. Die Universal Pic-tures entschieden sich deshalb, parallel zwei Versionen abzudrehen. Die mit Untertiteln versehene Stummfilmver-sion dauerte eine halbe Stunde länger. Die technischen Möglichkeiten für die Tonaufnahmen waren – gemessen an heutigen Standards – noch primitiv. So stand zum Beispiel nur eine Tonspur zur Verfügung. Während die Dialoge parallel zum Spielgeschehen als Pri-märton aufgenommen wurden, muss-ten alle anderen Geräusche später im Tonstudio produziert und abgemischt werden. Das betraf vor allem die Ge-fechtsszenen.

Milestone fand im Kameramann Arthur Edeson einen kongenialen Part-ner, der sich zum Beispiel hervorra-gend auf die Beleuchtung verstand und so bei den Nachttaufnahmen be-sonders eindrückliche Effekte erzielte. Da die Kameras sehr laute Aufnahme-geräusche verursachten, entwickelte Edeson eine Lärmschutzhülle – ohne diese Erfindung wären mobile Aufnah-men mit Primärton nicht möglich ge-wesen. Um die Dynamik der Aufnah-men zu steigern, entwickelte man für die Produktion einen Kamerakran, der eine bewegliche Draufsicht ermögli-chte. Dadurch konnte die Kamera von oben in die Schützengräben quasi ein-tauchen oder die stürmenden Soldaten auf Augenhöhe begleiten. So etwas hatte das Kinopublikum bis dahin noch nicht gesehen.

Schnelle Schnitte und plötzliche Per-spektivwechsel verstärkten beim Zu-

schauer das subjektive Gefühl einer be-schleunigten und inhaltlich aufgela-denen Handlung. Diese Effekte wur-den von Milestone zum ersten Mal in der Filmgeschichte konsequent umge-setzt und zu einem filmästhetischen Gesamtkunstwerk zusammengefügt. Einige Szenen vermittelten durch die Rasanz das Gefühl von Orientierungs-losigkeit in einem chaotischen Um-feld.

Der Krieg im Film

Milestone setzte mit filmtechnischen Mitteln ein Gefühl um, das charakteris-tisch für die Wahrnehmung der Sol-daten des Ersten Weltkriegs in den Schützengräben war. Die Zeit war für die Soldaten im Schützengraben im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Takt geraten. Im Unterschied zum 18. und 19. Jahrhundert wurde nun bei je-der Tages- und Nachtzeit und auch bei jeder Witterung gekämpft. Schlechtes Wetter und der Schutz der Dunkelheit konnten manche Operationshand-lungen sogar begünstigen. Bei Tag ver-krochen sich die Soldaten oft in Gräben und Unterständen; ihre Gefechtshand-lungen führten sie im Schutz der Dun-kelheit. Während die Einsätze der Fronttruppen immer länger wurden und die Schlachten nicht mehr Tage, sondern Monate dauerten, hatte sich das Gefecht rasant beschleunigt. Der

5 Für die Produktion des Films wurde eigens ein Kamerakran entwickelt, der eine bewegliche Draufsicht ermöglichte.

Deutsches Filminstitut

Meilenstein der Filmgeschichte

Noch bevor der Roman auf den Best-sellerlisten stand, wurde die amerika-nische »Universal Pictures Company« auf ihn aufmerksam und erwarb im Juli 1929 die Filmrechte. Die Universal Pictures Company verfügte über die notwendigen finanziellen Mittel und mit der »Universal City« über die da-mals größte Filmstadt. Beim Regisseur fiel die Wahl auf Lewis Milestone, einen noch völlig unbekannten Spiel-leiter, der allerdings das Geschäft von der Pike auf gelernt und ein Gespür für technische Neuerungen hatte.

Milestone war fest entschlossen, ein möglichst realistisches Bild vom Krieg zu vermitteln. Der materielle Aufwand war gewaltig. Um den Kriegsbeginn und die Ausbildung möglichst authen-tisch wirken zu lassen, wurden auf dem Filmgelände eine deutsche Klein-stadt und komplette Kasernenanlagen nachgebaut. Nach Fotovorlagen ver-wandelte man ein Gelände von 16 000 m² in eine Schützengrabenland-schaft, die noch Jahre später für Doku-mentarsequenzen anderer Filme über den Ersten Weltkrieg genutzt wurde. Bei den Dreharbeiten setzte das Film-team teilweise sogar scharfe Munition ein. Aus Deutschland warb Milestone ehemalige deutsche Offiziere an, unter deren Kommando die Schauspieler

5 Filmplakat von Klaus Dill (1922–2000) für die Wiederaufführung von »Im Westen nichts Neues« in den 1950er Jahren.

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Ein Film macht Geschichte

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Sekundenzeiger entschied, wann Zün-der detonierten oder Sperrfeuer ver-legt wurden – nicht umsonst hat der Erste Weltkrieg die bislang übliche Ta-schenuhr durch die handlichere Arm-banduhr verdrängt. Neue Fernmelde-mittel sorgten dafür, dass aufgeklärte Ziele sofort unter Feuer genommen wurden. Die Reaktionszeiten began-nen auf ein Minimum zu schrumpfen. Hinzu kam eine bruchstückhafte Wahr-nehmung des Gefechtsfelds und der Kampfhandlungen. Im Schützengra-ben konnte sich der Soldat kaum noch räumlich orientieren, geschweige denn den Feind identifizieren.

Diese zentralen Veränderungen in der individuellen Wahrnehmung des modernen Krieges wurden von Mile-stone erkannt und filmkünstlerisch ge-nial umgesetzt. Am deutlichsten wird das in einer sechsminütigen Kampf-szene, die Filmgeschichte geschrieben hat. Die Sequenz zeigt einen Sturman-griff der Franzosen auf die deutschen Stellungen, den Nahkampf der Solda-ten, den Rückzug aus der vorderen Grabenzone, den Gegenangriff der Deutschen und die Rückeroberung der

alten Stellung. Am Ende hat keine Seite einen Gewinn zu verbuchen, nur unge-zählte Menschen haben ihr Leben verloren. Die feindlichen Franzosen werden in dem Ausschnitt in starker Untersicht und mit verschatteten Ge-sichtern gezeigt. Selbst im Nahkampf wird der Feind dadurch anonymisiert – ein Strukturelement, dass man auch heute bei Kriegsfilmen häufig antrifft.

Die Erbarmungslosigkeit der Hand-lung verdichtet sich in einer Szene, die nur 30 Sekunden dauert und in deren Mittelpunkt das Maschinengewehr steht. Wie keine andere Waffe ist das Maschinengewehr zu einem Synonym für die Technisierung des Krieges ge-worden, die mit extrem geringem ma-teriellen Aufwand ein Maximum an Zerstörung erreichen sollte. Milestone näherte nun durch einen Trick die Feu-ergeschwindigkeit des Maschinenge-wehrs dem Rhythmus der Filmaufnah-men an. Eine Filmkamera »schoss« in einer Sekunde etwa 24 Einzelbilder, die Felder genannt wurden. Der Regisseur wählte für jede MG-Einstellung sechs bis sieben Felder und für jeden getrof-fenen französischen Soldaten die glei-

che Zahl; er passte damit die Abfolge der Einzelbilder der Feuergeschwin-digkeit des MGs an. Durch die extrem kurzen Einstellungen von einer Drittel Sekunde gelang es ihm, den Hand-lungsablauf enorm zu verdichten und zu beschleunigen. Die wechselnden Einstellungen des Films und die Feuer-geschwindigkeit des Maschinenge-wehrs scheinen ineinanderzugreifen und das Tempo zu forcieren. Durch die ständigen Wechsel aus statischen und dynamischen Einstellungen entsteht ein ähnlicher Effekt. Die enorme, mit bloßem Auge kaum noch nachvollzieh-bare Geschwindigkeit, verbunden mit dem Wechsel von Schuss und Treffer, erweckt bis heute den Eindruck einer authentischen Szene.

Filmzensur

Diese und andere Bilder von »Im Wes-ten nichts Neues« bekamen viele Kino-besucher allerdings nicht zu sehen. In jedem Land musste damals ein Film vor der Veröffentlichung einer Zensur-abteilung vorgelegt werden. Dort

5 Angriff französischer Soldaten auf einen deutschen Schützengraben im Ersten Weltkrieg. Szene aus dem Spielfilm »All Quiet on The Western Front«.

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7Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

konnte nach politischen und teilweise recht willkürlichen moralischen Vor-stellungen gestrichen werden. In den Akten der »Motion Pictures of Associa-tion of America« sind diese »Deletions« akkurat aufgeführt worden. In Austra-lien strich man Fäkalausdrücke, Schlei-ferszenen, Soldaten, die sich nackt aus-zogen, und schließlich die Tötung eines französischen Soldaten. In der Tsche-choslowakei durfte die Tonfassung nicht aufgeführt werden. In Polen mochte man den Zuschauern nicht das Grauen des Lazaretts zumuten. Dort schnitt die Zensur auch eine komplette Schlüsselszene, worin Paul Bäumer als Soldat in seiner alten Schulklasse jün-gere Schüler vor dem Irrsinn des Krieges warnt. Ähnliche Zensurmaß-nahmen verhängten auch einzelne Bundesstaaten in den USA. In Deutsch-land fiel eine andere Szene des Films der Zensur zum Opfer, in der die deut-schen Soldaten mit französischen Mäd-chen fraternisieren. Besonderen An-stoß nahm man in fast allen Ländern an der Maschinengewehrszene. Ver-mutlich hatten die Zensurbehörden Angst, eine öffentliche Debatte über den Sinn des Krieges loszutreten. Die meisten Kinobesucher bekamen um bis zu 15 Minuten gekürzte Versionen zu sehen, die sich von Milestones »Direc-tors Cut« deutlich unterschieden.

Doch auch das durch Schnitte ent-schärfte Filmmaterial sorgte bei Publi-kum und Kritikern für leidenschaft-liche Diskussionen. Am 21. April 1930 wurde die amerikanische Originalver-sion in Los Angeles uraufgeführt und dort von Kritikern und Publikum glei-chermaßen gefeiert. Das war alles an-dere als selbstverständlich, denn der Film wählte ja nicht die Perspektive der alliierten Truppen, sondern die des ehemaligen Kriegsgegners Deutsch-land. Noch im selben Jahr erhielt der Streifen zwei Oskars: für die beste Re-gie und den besten Film des Jahres.

Wie nicht anders zu erwarten, tat man sich in Deutschland mit dem Film besonders schwer. Noch vor der Fertig-stellung der deutschen Fassung signa-lisierte die größte deutsche Filmfirma, die Universum-Film AG (UfA), den Universal Pictures, die Produktion nicht in den Verleih aufnehmen zu wollen. Am 21. November 1930 erhielt der Film die Freigabe von der Filmoberprüf-stelle; die Prüfung durch diese Instanz

war ein ganz normales Verfahren, dem sich jede neue Produktion unterziehen musste. In Deutschland erfolgte die Premiere am 4. Dezember 1930 in Ber-lin.

»Kinoterror« in Deutschland

Wie die Romanvorlage spaltete auch der Film das Publikum. Der NSDAP-Gauleiter von Berlin, Joseph Goebbels, witterte seine Chance und ließ am 5. Dezember Freikarten für den Film an SA-Männer, Parteimitglieder und Sym-pathisanten verteilen. Die braunen Banden warfen im Kino Stinkbomben, ließen weiße Mäuse laufen, verstreuten Niespulver und konnten mit diesen primitiven, aber wirkungsvollen Metho-

den die Vorstellung erfolgreich sabo-tieren. Doch das war erst der Auftakt eines Kinoterrors, der das Kampfge-schehen von der Leinwand auf die Straßen vor den Lichtspielhäusern ver-lagerte. Weitere Aufführungen wurden in den folgenden Tagen von SA-Grup-pen sabotiert, Kinobesucher beschimpft oder am Betreten von Lichtspielhäu-sern mit Gewalt gehindert. Während li-berale Kräfte und Sozialdemokraten in der Öffentlichkeit für den Film Partei ergriffen, setzte sich der NS-Terror ge-gen Kinobesucher ungehindert fort. Täglich fanden jetzt Demonstrationen der bestens organisierten Nationalsozi-alisten und ihrer Gefolgsleute in Berlin statt, mit Tausenden von Teilnehmern. Aufführungen waren nur noch unter massivem Polizeischutz möglich. Be-

5 Polizisten vor dem Mozartsaal in Berlin anlässlich der Unruhen bei der deutschen Uraufführung des Films »Im Westen nichts Neues«, Dezember 1930.

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Ein Film macht Geschichte

8 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

günstigt wurde diese Gewalt der Straße durch die Tatenlosigkeit der Staatsan-waltschaft und vieler Polizisten, die dem rechtsstaatlichen System der Wei-marer Republik reserviert gegenüber-standen.

Am 11. Dezember 1930 befasste sich sogar der Reichstag mit dem Skandal-film. Noch am selben Tag wurde für Berlin ein allgemeines Demonstra-tionsverbot verhängt. Die nationalsozi-alistische Presse schnaubte, allen voran der »Völkische Beobachter«: Man müsse nicht die Demonstrationen, son-dern »den Film an sich« verbieten. Schließlich wurde »Im Westen nichts Neues« aufgrund der angespannten Si-cherheitslage vorläufig abgesetzt und der »Filmoberprüfstelle« in Berlin, dem letztinstanzlichen Entscheidungsor-gan, ein zweites Mal zur Prüfung vor-gelegt. Dort erkannte man kurz darauf eine »ungehemmte pazifistische Ten-denz« und belegte den Film mit einem dauerhaften Aufführungsverbot.

Die nationalkonservative »Neue Preu-ßische Kreuzzeitung« sprach in einem Artikel vom 13. Dezember vielen Kriti-kern aus der Seele. Danach sei das Ver-bot gerechtfertigt, weil die Art der Dar-stellung geeignet sei, »das Ansehen der Kriegsteilnehmer auf das Empfind-lichste zu schädigen. Es sei unbestreit-bar, dass es nur deutsche Soldaten seien, die jammerten und schrien, wäh-rend die Franzosen, die gegen den Sta-cheldraht anrennen, schweigend stür-ben.« Im Ganzen werde der Film der Gemütsverfassung der Teilnehmer am Kriege nicht gerecht. Weiter hieß es, man wolle »das Volk sehen, das sich die Darstellung der eigenen Nieder-lage gefallen lasse«.

Der Film als Politikum

Die Argumentation der Filmoberprüf-stelle, einer nachgeordneten Behörde des Reichsinnenministeriums, unter-strich eindringlich, dass man den Film nicht nach ästhetischen, juristischen oder pädagogischen Gesichtspunkten eingestuft hatte. Während die NS-Presse die Entscheidung mit hämischer Freude feierte, organisierte sich Wider-stand. Da der Film nur im Reichsgebiet verboten war, wurden Busfahrten ins benachbarte Ausland organisiert, zum Beispiel nach Österreich. Doch auch

hier verbot man »Im Westen nichts Neues« Anfang 1931.

Im Preußischen Landtag kochte die Stimmung so hoch, dass die Abgeord-neten des rechten Parteienspektrums einen Misstrauensantrag gegen Innen-minister Carl Severing (SPD) ein-brachten. Der Antrag scheiterte zwar am 19. Dezember 1930. Doch nichts zeigt deutlicher, dass die Diskussion über »Im Westen nichts Neues« längst zu einem Politikum geworden war. Es ging nicht mehr um den Film, sondern um eine Standortbestimmung über die Deutung des Weltkrieges und damit letztlich über die zukünftige Richtung der deutschen Politik. Auch der Schrift-steller Kurt Tucholsky brachte seine Empörung über den Filmskandal am 20. März 1931 in der Monatszeitschrift »Menschenrechte« unmissverständlich zum Ausdruck (siehe Kasten rechts).

Am 24. März 1931 entschied schließ-lich der Reichstag, dass der verbotene Film nur noch für geschlossene Veran-staltungen freigegeben werden durfte. Die Front der Kritiker hatte damit ihr Ziel erreicht und eine differenzierte Auseinandersetzung über die Sinndeu-tung des Weltkriegs unterbunden.

Es folgten nur noch wenige kriegskri-tische Produktionen, etwa Georg Wil-helm Pabsts »Westfront 1918« (1930). Im deutschen Filmgeschäft der frühen 1930er Jahre setzten sich die national-konservativen und monarchistisch ge-sinnten Kräfte immer stärker durch. Produzenten und Regisseure, die die-ser Linie folgten, durften mit erheblich besserer staatlicher Förderung rech-nen. Mit Produktionen wie »Berge in Flammen« (1931), »Tannenberg« (1932) oder pseudohistorischen Preußenfil-men wurde die kritisch-pessimistische Kriegsdeutung immer stärker von der Leinwand verdrängt. Das Kino war da-mit zu einem »Kampfplatz« geworden, der das Ende der Weimarer Republik beschleunigte.

Matthias Rogg

Literaturtipps

Bärbel Schrader (Hrsg.) Der Fall Remarque. Im Westen nichts Neues. Eine Dokumentation, Leipzig 1992Thomas Klein, Marcus Stiglegger und Bodo Traber (Hrsg.), Filmgenres. Kriegsfilm, Stuttgart 2006Wolfhard Keiser, Erich M. Remarque: Im Westen nichts Neues, Hollfeld 2005 (= Königs Erläuterungen und Materialien, 433)

In der Zeitschrift »Die Menschenrechte« vom  20. März  1931  sprach  sich  Kurt Tucholsky für die Ausstrahlung des Films »Im Westen nichts Neues« aus:

Gegen das Remarque-Filmverbot (Eine Umfrage der ›Deutschen Liga für Men-schenrechte‹)Der nordische Barde Goebbels hat in sei­nen  Kundgebungen  wiederholt  darauf hingewiesen,  dass  der  Remarque­Film ein ›Geschäft‹ sei [...] Die Nationaille hat aus  unlauteren  Beweggründen  gegen diesen  Film  protestiert.  Es  ist  bedauer­lich,  dass  ein  Pazifist  wie  Friedrich Wil­helm Foerster Verwirrung  in die Reihen des  Pazifismus  getragen  hat,  indem  er sagt:  ›Das Szenario stellt eine tendenzi­öse Auswahl seitens einer Art von senti­mentalem,  ja  oft  weinerlichem  Pazifis­mus  dar,  bei  dem  der  Abscheu  gegen den Krieg nicht aus den Tiefen der mora­lischen Menschennatur kommt, sondern aus  dem  Nervensystem  [...]‹  Aus  dem Nervensystem! Nur aus dem Nervensys­tem? Wir haben oft zu Foerster gehalten. In  diesem  Falle  ist  dem Vorsteher  eines kleineren  katholischen  Moralamtes  nur zu wünschen, dass er einmal in die Lage kommt, nur aus dem Nervensystem ge­gen den Krieg protestieren zu müssen – also  etwa  nach  achtundvierzigstün­digem  Trommelfeuer.  Noch  der  nied­rigste Pazifismus hat gegen den edelsten Militarismus  tausendmal  recht!  Es  gibt kein Mittel, das uns nicht recht wäre, den Moloch  des  Kriegswahnsinns  und  des Staatswahnsinns zu bekämpfen.Der Tod  der  zehn  Millionen  ist  sinnlos gewesen – sie sind für nichts gefallen.[...] Ehre der Trauer. Schmach dem Kriege! Wir  brauchen  keine  Kartenkunststücke, die  uns  den  angeblichen  Sinn  dieses Wahnsinns  vormachen  sollen.  Und  da­rum  ist  uns  jeder,  jeder  Film  recht,  der der Menschheit den Krieg auch in seinen niederen Formen, gerade in seinen nied­rigsten Formen vorführt. Mussolini zeigt seinem Volk nur die Fahnen und nichts als das – Remarque zeigt uns die Fahnen und den Rest: die Zerfetzten und die Tau­melnden,  die  Blutenden  und  die  Zer­schossenen – und wer sich daran begei­stern will, der mag es tun. Wir andern ru­fen  gegen  die  Weltenschande:  Nieder mit dem Kriege!

Zit. nach: Kurt Tucholsky, Unser Militär! Schriften gegen Krieg und Militarismus, Frankfurt a.M. 1962, S. 447 f.

9Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

10 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

Deutsche Herrschaft in der Ukraine

Nicht erst im Zweiten Weltkrieg gerieten große Gebiete Osteuro-pas unter deutsche Herrschaft.

Bereits im Ersten Weltkrieg besetzte das Deutsche Reich ab 1915 polnische wie baltische Gebiete des zaristischen Russlands. Im letzten Kriegsjahr 1918 kamen dann die Ukraine und Weißruss-land unter deutsche (sowie österrei-chisch-ungarische) Kontrolle. Es ist er-staunlich, dass diese von Februar 1918 bis März 1919 dauernde Besatzungs-zeit bisher kaum erforscht ist. Dabei liegen die Vergleichsmöglichkeiten zu den Ereignissen in den Jahren 1941 bis 1944 – vor allem im Fall der Ukraine – auf der Hand: Beide Male spielte ein geostrategisches Kalkül eine wichtige Rolle, beide Male ging es aus deutscher Sicht gegen den »Bolschewismus« und beide Male kam es zu Auseinanderset-zungen mit irregulären Kräften, also mit Partisanen. War bereits diese erste deutsche Besatzung in der Ukraine von

entgrenzter Gewalt gegen Partisanen, Partisanenverdächtige und Zivilbevöl-kerung begleitet? Welche Unterschiede und Ähnlichkeiten gab es in der Partisa-nenbekämpfung 1918/19 und 1941 bis 1944? Stellte die Besatzung 1918 einen Wegweiser zum Vernichtungskrieg im Zweiten Weltkrieg dar?

Schutzmacht Deutschland?

Seit 1917 war das ehemals zaristische Vielvölkerreich Russland durch Revo-lutionswirren in seinen Grundfesten erschüttert. Die einzelnen »Nationen« strebten nach Unabhängigkeit, so auch die Ukraine, wo sich Mitte 1917 eine eigene Regierung, die sogenannte »Rada«, bildete. Am 20. November 1917 verkündete sie die »Ukrainische Volksrepublik« und erklärte sie zu-nächst für autonom, wenig später folgte die Unabhängigkeitserklärung.

Die »Rada« war ein Sammelsurium von Parteien unterschiedlichster Cou-leur: Bürgerliche, Sozialisten und Sozi-alrevolutionäre. Ihre Herrschaft stand von Beginn an auf wackeligen Füßen, denn von Moskau unterstützt, rekla-mierten auch die Bolschewiki die Macht in Kiew für sich.

Wollte die »Rada« politisch überle-ben, brauchte sie unbedingt Unterstüt-zung von außen. Sie setzte auf die Mit-telmächte. Während das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn mit dem bolschewistischen Russland in Brest-Litowsk Friedensgespräche führten, tauchte unerwartet eine Delegation der Ukrainischen Volksrepublik am Ver-handlungsort auf und besprach mit den Bevollmächtigten des Deutschen Reiches im Geheimen mögliche Hilfe-leistungen. Als am 8. Februar 1918 die Bolschewiki die »Rada« in Kiew stürzten, sah sich die ukrainische Dele-gation zum Handeln gezwungen und

Wegweiser zum Vernichtungskrieg?

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Deutsche Herrschaft in der Ukraine 1918/19:

5 Deutsche Truppen besetzen Kiew, 1. März 1918.

11Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

schloss spontan ein Bündnis mit dem Deutschen Reich: Deutsche Truppen sollten die Bolschewiki vertreiben und die »Rada« wieder an die Macht brin-gen. Im Gegenzug versprach die ukra-inische Seite umfangreiche Getreidelie-ferungen. Die deutsche Regierung setzte darauf große Hoffnungen, hatte doch die britische Seeblockade seit 1914 zu einer katastrophalen Versor-gungslage in der Heimat geführt.

Ab dem 18. Februar 1918 marschier-ten Truppen der Heeresgruppen (Ale-xander von) Linsingen und (Hermann von) Eichhorn offiziell als Schutzmächte der »Rada« in die Ukraine ein. Die Deutschen drangen in diesem »Eisen-bahnfeldzug« schnell in das Innere des Landes vor und vertrieben die schlecht organisierten regulären und irregulä-ren Truppen der Bolschewiki. Auch Österreich-Ungarn schloss sich einige Tage später diesem »Eisenbahnfeld-zug« an, wollte es sich doch auch einen Teil der scheinbar leichten Beute si-chern. Während die nördliche Ukraine sowie die Krim unter deutsche Kon-trolle fielen, wurde Österreich-Ungarn ein breiter Besatzungsstreifen in der Südukraine zugestanden. Die deutschen Besatzungsverbände bestanden über-wiegend aus zweit- und drittklassigen Landwehrdivisionen oder gar dem Landsturm, der zum Teil aus nicht aus-gebildeten, älteren Männern bestand. Darüber hinaus sah dieser Kriegs-schauplatz einen der letzten großen Einsätze der Kavallerie: Als schnelle und mobile Eingreiftruppe sollte sie

sich hervorragend zur Aufstandsbe-kämpfung eignen.

Offiziell waren die Mittelmächte je-doch keine Besatzer. Vielmehr hob man nach der Einnahme Kiews Anfang März die »Rada« wieder in den Regie-rungssattel, doch war ihre Macht sehr schwach: Ihre Politiker waren jung und unerfahren, in der eigenen Bevölke-rung fanden sie kaum Rückhalt, und ein eigenes ukrainisches Nationalge-fühl war nur schwach entwickelt. Als schwerste Hypothek für das deutsch-ukrainische Verhältnis erwiesen sich die versprochenen umfangreichen Ge-treidelieferungen. Die Ukraine erfüllte die Zusage bei Weitem nicht; Span-nungen zwischen dem deutschen Mili-tär und der ukrainischen Regierung waren die Folge.

Das Verhalten deutscher Truppen

Um sich das versprochene Getreide dennoch zu sichern, zogen deutsche Truppen durch das Land und beschlag-nahmten Bestände ohne Rücksicht auf die Belange der einheimischen Zivilbe-völkerung. Dies verschlechterte natür-lich das Verhältnis zwischen Schutz-macht und Schutzbefohlenen. Dabei war beim Einmarsch im Februar 1918 noch in mehreren Befehlen betont wor-den, man sei von der ukrainischen Re-gierung als befreundete Schutzmacht und Befreier vom Bolschewismus ins Land gerufen worden. Bald erhoben sich aber auch andere Stimmen. So

warnte die 9. Armee ihre Truppen vor Verhältnissen, die an den Einmarsch in Belgien im Sommer 1914 erinnern wür-den. Aufstandsbewegungen seien da-her im Keime zu ersticken, bewaffnete Aufständische sofort zu exekutieren.

In der Tat hatten bolschewistische Revolten weite Teile des Landes er-schüttert. Im ganzen Land lagerten Waffen, die von ehemaligen zarischen Soldaten bei ihrer Rückkehr in die Hei-mat einfach mitgenommen worden waren. Diese Waffen konnten nun leicht von roten Partisanen beschlag-nahmt werden, um das Land zu beun-ruhigen. Folglich waren die drei Haupt-aufgaben der deutschen Truppen zu-nächst: das Einbringen von Getreide, das Einsammeln der Waffen und die Bekämpfung der bolschewistischen Aufständischen. Dabei kam es ver-gleichsweise häufig zu Exzessen. Un-schuldige Zivilisten wurden getötet, ganze Dörfer angezündet. Mit gefan-genen Bolschewiki machte man zu-meist kurzen Prozess, wenngleich man hinzufügen muss, dass diese wohl nur selten die Bedingungen der Haager Landkriegsordnung von 1907 erfüllten, um als Kombattanten anerkannt zu

5 Mitglieder der ukrainischen Delegation im Gespräch mit deutschen Offizieren vor dem ehemaligen Gouvernementsgebäude in Brest-Litowsk während der Friedensverhandlungen im Februar 1918.

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5 Generalfeldmarschall Hermann von Eichhorn, um 1917.

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Deutsche Herrschaft in der Ukraine

werden. Lapidar berichtete eine Bri-gade der Bayerischen Kavallerie-Divi-sion beim Vormarsch auf die Krim-Halbinsel im April, man habe prinzipi-ell keine Gefangenen gemacht. Dies habe sich außerordentlich bewährt, da so Angst und Schrecken beim Gegner verbreitet worden seien.

Besonders drastisch war der Vorfall am Mius-See im Südosten der Ukraine Anfang Juni 1918. Bolschewistische Truppen wollten dort in einem amphi-bischen Unternehmen den Deutschen in den Rücken fallen, was aber bereits nach zwei Tagen scheiterte. Anschlie-ßend ließ der deutsche Kommandeur in diesem Gebiet, Oberst Arthur Bopp, sämtliche Gefangene erschießen. Die Zahl der Toten dürfte bei etwa 3000 ge-legen haben und es bleibt bis heute unklar, wieviele Zivilisten aus den um-liegenden Orten sich unter den Opfern befanden. Dieser Vorfall wurde sogar im deutschen Reichstag debattiert und die Heeresgruppe Eichhorn verlangte eine genaue Untersuchung der Ereig-nisse, die jedoch keine Ergebnisse zei-tigte bzw. ohne Folgen blieb. Es ist aber davon auszugehen, dass dieses Massa-ker am Mius-See in seiner Dimension eine Ausnahme während der Besat-zungszeit darstellte.

Allerdings setzte genau in diesen Monaten Mai/Juni 1918 auf deutscher Seite ein Umdenkprozess ein. Man er-kannte, dass ein blindes Drauflosschla-gen zwar eine kurzfristige Beruhigung, keinesfalls aber eine dauerhafte Befrie-dung des Landes ermöglichte und Ausschreitungen deutscher Truppen die ländliche Bevölkerung nur in die Arme der Bolschewiki trieben. Letzt-endlich, so die Heeresgruppe Eich-horn, würden nur gut zehn Prozent der Landbevölkerung die Bolschewiki unterstützen. Das Niederbrennen von Häusern wurde daher ausdrücklich verboten, mutmaßliche Täter sollten den Feldgerichten überantwortet wer-den. Bei Verhaftungen von Verdächti-gen mussten stets der genaue Sachver-halt angegeben und Zeugen genannt werden, da man sonst kein rechtmä-ßiges Verfahren eröffnen konnte und man die Verdächtigen wieder freilas-sen musste. Anordnungen einer reinen Willkürherrschaft hätten sicherlich an-ders ausgesehen.

Begünstigt wurde diese Entwicklung für die deutsche Seite durch Umwäl-

zungen in der ukrainischen Innenpoli-tik. Anfang Mai 1918 kam es zu einem Staatsstreich des ehemaligen zarischen Generals Pawlo Skoropadskij gegen die »Rada«, woran die Deutschen ver-mutlich beteiligt waren. Skoropadskij ließ sich zum »Hetman der Ukraine« ausrufen. Er entsprach damit einem »Reichsverweser« bzw. »Militärbefehls-haber« und bildete ein deutschhöriges autoritäres Regime. Wie die »Rada« war auch diese neue Regierung bei der Bevölkerung unbeliebt, aber zumin-dest hatten die Deutschen einen Part-ner gefunden, mit dem sie zusammen-arbeiten konnten.

Deutsch-ukrainische Zusammenarbeit

Im Juli 1918 erließen die Hetman-Regie-rung und die Heeresgruppe Eichhorn Anordnungen zur Zusammenarbeit von ukrainischen und deutschen Stel-len. Bei der Unterdrückung von Unru-hen wollten beide Seiten eng kooperie-ren. Listen mit Verdächtigen und Rä-delsführern sollten geführt werden, damit Missverständnisse beseitigt wür-den, die bisher »oft zu Massenbestra-fungen, wie z.B. Abbrennen von Dör-fern« geführt hatten.

Zusätzlich wurden ein bewaffneter Selbstschutz in den Dörfern aufgestellt, sodass sich die Bevölkerung selbst ge-gen die umherziehenden bolschewisti-schen Partisanen wehren konnte, sowie ein Agentennetz installiert. Weiterhin erfolgte die Aufstellung einer ukraini-schen Miliz, die aber als unzuverlässig galt und bei der Bevölkerung wegen ihrer mangelnden Disziplin eher für Beunruhigung denn für Ruhe sorgte. Dennoch war der Einsatz landeseige-ner Kräfte aufs Ganze gesehen ein Er-folg und trug nicht unwesentlich zur Befriedung der Ukraine bei. Ab Septem-ber/Oktober 1918 wurde eine »Ukraini-sierung«, also die Besetzung von Schlüs-selpositionen mit Ukrainern, offizielle Besatzungspolitik.

Die deutsche Aufstandsbekämpfung hatte sich somit gewandelt. Ignoranz und Härte gegenüber der Regierung und den Einheimischen wichen einer Kooperation zwischen deutschen und ukrainischen Stellen sowie einer maß-vollen Behandlung der Zivilbevölke-rung. Vergleichsweise schnell gelang

es nun, die bolschewistischen Partisa-nen erfolgreich zu bekämpfen und das Land zumindest äußerlich zu befrieden. So kam es im deutsch kontrollierten Teil der Ukraine während des Som-mers und Herbstes kaum mehr zu Auf-ständen – ganz im Gegensatz übrigens zum österreichisch-ungarischen Sek-tor, wo eine Neuorientierung in der Aufstandsbekämpfung nicht stattge-funden hatte. Eine spektakuläre Aus-nahme bildete die Ermordung des Ge-neralfeldmarschalls Hermann von Eichhorn durch einen Sozialrevolutio-när am 30. Juli 1918 in Kiew. Bezeich-nenderweise folgten aber diesem Attentat auf den höchsten deutschen Repräsentanten in der Ukraine keine Repressalien.

Antisemitismus als Konstante deutscher Besatzungspolitik

Eine Konstante in der Besatzungspoli-tik 1918/19 und 1941/44 bildete sicher-lich der Antisemitismus des deutschen Militärs. So lassen sich in den Militär-akten aus dem Jahr 1918 immer wieder antisemitische Äußerungen finden mit dem bekannten Stereotyp der Gleich-setzung von Juden und Bolschewiki. »Die Juden sind die natürlichen Feinde der Ordnung und damit Anhänger des

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5 Kaiser Wilhelm II. empfängt den Hetmann der Ukraine, Pawlo Skoropadskij. Deutsches Pressefoto, 1918.

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Bolschewismus«, behauptete die Hee-resgruppe Eichhorn-Kiew, so die Be-zeichnung der Heeresgruppe vom 31. März bis 30. April 1918, in einem zen-tralen Befehl vom April 1918. Beson-ders drastisch wurde der Komman-deur der Bayerischen Kavallerie-Divi-sion in einem Lagebericht vom Juni 1918: »Die Juden sind die Haupthetzer im Lande. Solange wir ihnen nicht das Handwerk legen, wird niemals Ruhe im Lande eintreten.« Daher müssten »schärfste Maßnahmen« angewandt werden. Selbst der Kommandeur der 15. Bayerischen Reserve-Infanterie-Bri-gade stieß in das antisemitische Horn – obwohl seine eigene Frau Jüdin war.

Im Gegensatz zum Zweiten Welt-krieg unterschieden sich aber 1918 Rhetorik und Praxis. So kam es wäh-rend der deutschen Besatzungszeit 1918 zu keinen antijüdischen Maßnah-men. Im Gegenteil: Mittels der Akten lassen sich Fälle belegen, wo deutsche Truppen Juden vor der Gewalt der auf-gebrachten ukrainischen Bevölkerung beschützten. Erst nach dem deutschen Abzug kam es in Galizien 1918/19 zu Massenpogromen der einheimischen Bevölkerung gegen ihre jüdischen Mit-bürger mit mehreren tausend Opfern.

Auch wenn es die Deutschen im Som-mer 1918 geschafft hatten, der Ukraine noch einmal eine Phase der relativen Ruhe zu bescheren, stand die Regierung des Hetman weiterhin auf fragilen Fü-ßen. Der ukrainische Staat konnte nur durch die deutsche (und österreichisch-ungarische) Truppenpräsenz bestehen. Als Sozialisten am 20. November 1918 die Regierung des Hetman stürzten, brach dessen Herrschaft im ganzen Land wie ein Kartenhaus zusammen. Die Deutschen griffen auf Anweisung des neu gegründeten Soldatenrats der Heeresgruppe Kiew, wie die Heeres-gruppe nach der Ermordung Eich-horns genannt wurde, nicht ein. Die Ukraine versank nun in einen chao-tischen, unübersichtlichen und blu-tigen Bürgerkrieg.

Bereits am 4. November 1918 war die sich in Auflösung befindliche österrei-chisch-ungarische Ostarmee überhas-tet aus der Ukraine abgezogen. Die deutschen Truppen verblieben nach Absprachen mit der Entente noch meh-rere Wochen in der Ukraine, um dort die Ordnung einigermaßen aufrecht-zuerhalten. Doch kam es nun auch im

deutschen Heer zu Zerfallserschei-nungen. Schnell zerstoben die Pläne der Heeresgruppe Kiew, Freiwilligen-Formationen aufzustellen, um Teile der Ukraine für deutsche Interessen noch weiterhin besetzt zu halten. So zogen sich trotz der teilweise feindlichen und drohenden Haltung der Bürgerkriegs-parteien die deutschen Einheiten bis März 1919 ohne größere Zwischenfälle aus der Ukraine zurück. Die erste deut-sche Herrschaft im Osten im 20. Jahr-hundert war damit zu Ende.

Welche Erkenntnisse lassen sich aus der knapp einjährigen deutschen Be-satzung der Ukraine 1918/19 ziehen? Sicherlich setzte man in beiden Welt-kriegen vor allem zu Beginn auf Härte. Die Terminologie der Befehle von 1918 ähnelt teilweise sehr stark jenen des Unternehmens »Barbarossa« ab 1941: So wurde »rücksichtsloses« Vorgehen verlangt, die Juden wurden als »Het-zer« bezeichnet. Außerdem verfuhr man mit gefangenen Partisanen ge-nauso wie später im Zweiten Welt-krieg: Sie wurden erschossen oder ge-hängt. Auch das Niederbrennen von ganzen Dörfern als Repressalie lässt sich in beiden Weltkriegen finden.

Von der befreundeten Macht zu den Eroberern neuen »Lebensraumes«

Doch allgemein überwiegen die Unter-schiede zwischen 1918/19 und 1941/44, sodass man insgesamt, was die Besat-zungsherrschaft in der Ukraine 1918/19 betrifft, nicht von einem Wegweiser zum Vernichtungskrieg sprechen kann. Allein die politischen Rahmenbedin-gungen der jeweiligen Besatzungen standen unter gänzlich anderen Vor-zeichen: 1918 kam man zumindest offi-ziell als befreundete Macht in die Uk-raine, 1941 als Eroberer neuen, deut-schen »Lebensraumes«. Das zeigte sich auch in der Partisanenbekämpfung: Während man im Zweiten Weltkrieg erst 1943/44 offiziell von Terrorme-thoden abrückte, geschah dies in der Ukraine nur wenige Monate nach der deutschen Besetzung im Februar 1918. Die Fähigkeit, aus den eigenen militä-rischen Fehlern schnell zu lernen – üb-rigens eine der traditionellen Leistun-gen des preußisch-deutschen Militärs – war ein Charakteristikum der Partisa-

nenbekämpfung 1918. Den Deutschen gelang es sogar schließlich, einen ver-gleichsweise modernen Ansatz zu fin-den: Sie versuchten, eng mit den ukrai-nischen Stellen zusammenzuarbeiten, bauten einen bewaffneten Selbstschutz sowie ein Agentennetz auf und waren bemüht, ein gewisses Vertrauen bei der lokalen Bevölkerung zu gewinnen. Missgriffe bei der Wahl der Mittel soll-ten in der Partisanenbekämpfung verhindert werden, auch wenn dies nicht immer gelang. Hinzu kam der, wenngleich auch erfolglose, Wille, den ukrainischen Staat auf ein solides wirt-schaftliches Fundament zu stellen. Die Sympathie der Einheimischen hatten die Deutschen jedoch durch ihr rabia-tes Vorgehen bereits im Frühjahr 1918 größtenteils verspielt, und später gal-ten sie als Beschützer der reaktionären Hetman-Regierung. Insgesamt hätten sich aber trotz aller Fehler aus der Be-satzung der Ukraine 1918/19 viele Leh-ren für die Zukunft ziehen lassen. Doch eine positive Rückbesinnung auf die weitgehend erfolgreiche Partisanen-bekämpfung 1918/19 fand in der Zwi-schenkriegszeit nicht statt. Hitler selbst lehnte eine Besatzung nach dem Muster von 1918/19 ab. War die Armee im Ers-ten Weltkrieg noch traditionelles Werk-zeug der Politik, so sollte sie im Zweiten Weltkrieg Träger einer menschenver-achtenden Ideologie sein, was im Übri-gen auch für die Rote Armee galt. Das alles sollte katastrophale Folgen für die zweite deutsche Besatzung im Osten gut zwei Jahrzehnte später haben.

Peter Lieb

Literaturtipps

Winfried Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918. Von Brest-Litowsk bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Wien, München 1966.Von Brest-Litovsk zur deutschen Novemberrevolution. Aus den Tagebüchern, Briefen und Aufzeichnungen von Alfons Paquet, Wilhelm Groener und Albert Hopman. März bis November 1918. Mit einem Vorwort von Hans Herzfeld, Göttingen 1971.Frank Grelka, Die ukrainische Nationalbewegung unter deutscher Besatzungsherrschaft 1918 und 1941/42, Wiesbaden 2005.Peter Lieb, Aufstandsbekämpfung im strategischen Di-lemma. Deutsche Besatzung in der Ukraine 1918. In: Wolfram Dornik und Stefan Karner (Hrsg.), Die Besat-zung der Ukraine 1918. Historischer Kontext – Forschungs-stand – wirtschaftliche und soziale Folgen, Graz 2008.

14 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 3/2008

Freikorps 1918–1920Quell(en) deutscher Militärgeschichte

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

Das Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg i.Br.Das Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg i.Br.

I n einem Außenbezirk der südba-dischen Stadt Freiburg, inmitten von Gewerbe- und Wohnanlagen,

liegt eine Einrichtung, deren weitläu-figes Areal mit mehreren fußballfeld-großen Lagerhallen an ein Speditions-gelände erinnert. Hier befindet sich das Bundesarchiv-Militärarchiv. Die hohen Hallenmauern schützen etwas ganz Besonderes: die amtlichen Unter-lagen deutscher Streitkräfte seit dem Jahre 1864 bis hin zur Bundeswehr der Gegenwart. Im Jahre 2008 beläuft sich der Gesamtumfang des hier verwahr-ten Archivguts auf nahezu 55 Regal-kilometer. Siebzig Mitarbeiter sorgen dafür, dass das kulturelle Erbe deut-scher Streitkräfte für die Zukunft er-halten und für die Benutzung durch die Bundeswehr, Wissenschaftler so-wie für die interessierte Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wur-den die meisten militärischen Unter-lagen deutscher Herkunft, soweit sie Kriegseinwirkungen und systemati-sche Vernichtung überstanden hatten, von den Siegermächten ins Ausland verbracht. Die Rückgaben erfolgten langsam und wurden über die Bundes-wehr abgewickelt. Zu diesem Zweck wurde eine Dokumentensammelstelle im Militärgeschichtlichen Forschungs-amt (MGFA) eingerichtet, das ab 1958 in Freiburg ansässig war. Mit dem Ziel, die Überlieferung der deutschen Streitkräfte an einem Ort zu vereinen, verlegte das Bundesarchiv seine Abtei-lung Militärarchiv im Jahre 1968 von Koblenz nach Freiburg; sie nimmt seit-her die Aufgabe eines zentralen Militä-rarchivs wahr.

Im Rahmen eines fiktiven Archiv-rundgangs sollen im Folgenden anhand

ausgewählter Beispiele die Einzigar-tigkeit des in Freiburg verwahrten Ar-chivguts und seine Vielgestaltigkeit vorgestellt sowie seine Bedeutung für die Erforschung der deutschen Mili-tärgeschichte gezeigt werden.

Der erste Eindruck von den groß-räumigen, doppelstöckigen Magazin-hallen ist nüchtern. In den riesigen Regalanlagen werden die Archivali-en zum Schutz vor Schmutz, Staub, Licht und vor Beschädigung in Tau-senden grauer Archivkartons aufbe-wahrt. Doch der Blick zwischen die Regalböden offenbart klangvolle Na-men wie Moltke, Tirpitz, Fritsch, Hal-der, Ruge oder Heusinger. Hier liegen die privat-dienstlichen Unterlagen be-deutsamer Persönlichkeiten der deut-schen Militärgeschichte, die man als Nachlässe bezeichnet. Doch auch aus dem Besitz weniger bekannter Perso-nen lagern hier Unterlagen mit großer Aussagekraft. Ein Beispiel dafür bietet der aus nur wenigen Archivalien be-stehende Nachlass der Gebrüder Koe-the (BArch, N 557).

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Quell(en) deutscher Militärgeschichte von 1864 bis heute

Magazinhalle des Bundesarchiv-Militärarchivs, Freiburg i.Br.

Archivbestände

Das Bundesarchiv-Militärarchiv ver-wahrt Akten und andere Quellen der preußisch-deutschen Armee seit den Einigungskriegen, des Deutschen Heeres und der Kaiserlichen Marine bis zum Ende des Ersten Weltkrieges sowie der Reichswehr, Wehrmacht, Waffen-SS wie auch der Nationalen Volksarmee und der Bundeswehr. Hin-zu kommen Tagebücher, Feldpost-briefe und Fotoalben mit militärge-schichtlichem Bezug aus über 800 privaten Nachlässen deutscher Mili-tärangehöriger des 19. und 20. Jahr-hunderts.

1�Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 3/2008 15Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

Ernst Koethe nahm als junger Of-fizier an den Schlachten in Frank-reich in den Jahren 1914 bis 1916 so-wie am Feldzug gegen Rumänien im Jahre 1917 teil. Eine Akte enthält die erhalten gebliebenen Personalunter-lagen, mit deren Hilfe sich die Biogra-fie des Ernst Koethe im Wesentlichen rekonstruieren lässt. Eine aufwändig gestaltete Hörsaalzeitung aus der Zeit der Generalstabsausbildung Ernst Koethes an der preußischen Kriegs-akademie zu Berlin in den Jahren 1905/07 lässt die Vergangenheit in ebenso alltagsnaher wie humoriger Art präsent werden. Die Ernennungs-urkunde Koethes zum Hauptmann im Jahre 1911 wurde, wie damals üblich, vom Monarchen persönlich unter-zeichnet. Daneben liegen Briefwech-sel und ein Konvolut mit Flugblät-tern, Frontzeitungen, Tagesbefehlen und vielen anderen Erinnerungsstü-cken aus dem fast ein halbes Jahrhun-dert währenden Soldatenleben. Die eigentliche Aufmerksamkeit zieht je-doch ein Stapel Fotoalben auf sich, worin Ernst Koethe seine Erlebnisse während des Ersten Weltkrieges fest-gehalten hat. Eindrucksvoll sind bei-spielsweise die vielen Aufnahmen des Grabenkrieges vor Verdun im Jahre 1915/16. Nicht minder interessant sind aber auch die charakteristischen Mo-mentaufnahmen vom Soldatenalltag im rückwärtigen Bereich: Befehls-ausgaben, Kantinenbetrieb in einem unterirdischen Stollen, Berge frisch-gebackenen Kommisbrotes oder die zahnärztliche Versorgung im Felde.

Zusammen mit dem Nachlass Ernst Koethes kamen auch Unterlagen sei-nes Bruders Bernhard in das Archiv. Von Bernhard Koethe wissen wir nur sehr wenig. Er war Angehöriger des Expeditionskorps, welches das Deut-sche Reich im Jahre 1900/01 zur Nie-

derschlagung des sogenannten Boxer-aufstandes nach China entsandte. Bernhard Koethe hat uns aus dieser Zeit ein ausführliches Tagebuch sowie ein opulentes Fotoalbum hinterlassen, die uns die Erlebnisse und Gedan-kenwelt des Zeitgenossen auch mehr als einhundert Jahre danach nacher-leben lassen. Die Fotoaufnahmen ver-anschaulichen Land und Kultur, sie verstören aber auch durch die Doku-mentation kriegerischer Gewalt, Zer-störung und menschlichen Elends.

In einem anderen Magazinbereich zeugen endlos scheinende Aktenrei-hen von der Tätigkeit des Wehrmacht-führungsstabes im Oberkommando der Wehrmacht (OKW) und der Gene-ralstäbe von Heer und Luftwaffe sowie der Seekriegsleitung. Ein Aktenband enthält Ausfertigungen von Hitlers Weisungen für die Kriegführung aus den Jahren 1939 bis 1945; zahlreich sind verbrecherische Befehle, etwa die Aufforderung, kriegsgefangene Polit-

offiziere der Roten Armee zu liquidie-ren (der sogenannte Kommissarbe-fehl) oder die präventive Amnestie für Übergriffe von Wehrmachtangehörigen gegen die Zivilbevölkerung der besetz-ten Gebiete im Osten (»Kriegsgerichts-barkeitserlass«). In großer Zahl doku-mentieren die Kriegstagebücher der

Heeresgruppen, Armeen und Divisio-nen das Kampfgeschehen. Dramati-sches offenbart der Blick in einen An-lagenband zum Kriegstagebuch der Heeresgruppe Don aus dem Jahre 1943. Darin befindet sich ein Funk-spruch von General Friedrich Paulus, Oberbefehlshaber der 6. Armee, vom 22. Januar 1943. Unter Aufbietung al-ler Kräfte hatte die seit dem 23. No-vember 1942 durch eine großangeleg-te Gegenoffensive der Roten Armee in

Einsatz mit Gasmasken im Frankreichfeldzug 1915. Foto aus dem Privatnachlass der Brüder Koethe (BArch, N 557/24, unpag.).

Auszug aus der »Übersichtskarte der Operationen« (BArch, N 43/141 K) der Großen Generalstabsreise West 1905 Alfred Graf von Schlieffens.

16 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 3/2008

Freikorps 1918–1920Quell(en) deutscher Militärgeschichte

16 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

Stalingrad eingeschlossene 6. Armee den Zusammenhang ihrer Verbände wahren und die Aufspaltung des Kes-sels verhindern können. Nun meldete Paulus:

»Russe im Vorgehen in 6 km Breite beider-seits Woroponow, zum Teil mit entrollten Fahnen nach Osten. Keine Möglichkeit mehr, Lücke zu schließen. Zurücknahme in Nachbarfronten, die auch ohne Muni-tion, zwecklos und nicht durchführbar. Ausgleich mit Munition von anderen Fronten auch nicht mehr möglich. Ver-pflegung zu Ende. Über 12 000 unver-sorgte Verwundete im Kessel. Welche Befehle soll ich den Truppen geben, die keine Munition mehr haben und weiter mit starker Artillerie, Panzern und Infan-teriemassen angegriffen werden.«

(BArch, RH 19 VI/42, Bl. 60).

Das Studium dieses und anderer im Regal liegender Aktenbände offen-bart die Apokalypse, die Tausende deutsche Soldaten bei bitterer Kälte in der Trümmerwüste von Stalingrad er-lebten, bis die Kämpfe am 2. Februar 1943 ihr Ende fanden und 110 000 von ihnen erschöpft und halb verhungert den Gang in die sowjetische Kriegs-gefangenschaft antraten. Und das Ar-chivgut belegt: Stalingrad war kein heroischer Opfergang; das Desaster war aufgrund falscher Lagebeurtei-lungen und einer katastrophalen Ver-sorgungslage bereits vor der Einschlie-ßung der 6. Armee absehbar!

Andere Akten aus der Zeit der Wehrmacht zeigen, wie Regime und Wehrmachtführung versuchten, die Soldaten im Sinne der NS-Ideologie zu beeinflussen. Erhalten gebliebene Prüf-berichte der Feldpostzensur aus den Jahren 1944/45 belegen, dass sich die besiegte Wehrmacht zunehmend auf-löste. Vom Schicksal derer, die wegen jugendlicher Unbekümmertheit, Zwei-fel, Opposition oder Verweigerung in die Mühlen einer mit fortschreitendem Krieg immer hemmungslos-brutaler agierenden Wehrmachtjustiz gerieten, künden Tausende von Gerichtsakten.

In einer anderen Magazinhalle signa-lisiert die an einem Magazinregal ange-brachte Bestandsbezeichnung DVW 1, dass hier die Unterlagen des Minis-teriums für Nationale Verteidigung der DDR gelagert werden. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wur-

de der gesamte Bestand des Militär-archivs der DDR in den Bestand des Bundesarchiv-Militärarchivs überführt. Daneben fanden weitere Unterlagen zur Militärgeschichte der DDR Ein-gang in das Freiburger Militärarchiv. In den mit den Signaturen DVW 1/ 39458-39539 beschrifteten Archivkar-tons befinden sich die ehemals streng geheim gehaltenen Protokolle des Na-tionalen Verteidigungsrates (NVR), die auf Initiative eines Berliner Bür-gerkomitees im Jahre 1990 vor der bereits laufenden Aktenvernichtung gesichert wurden. Der NVR wurde per Gesetz im Jahre 1960 zur Len-kung der Landesverteidigung einge-setzt. Der NVR nahm in der Orga-nisation der Landesverteidigung der DDR eine Spitzenfunktion ein. Formal war das Politbüro der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) das höchste Führungsgremium der DDR, das Regierung und Staatsapparat als ausführenden Organen Beschlüsse und Weisungen vorgab. Das bedeute-te jedoch nicht, dass hier alle wichti-gen Staats- und Regierungsfragen ent-schieden wurden. Gerade für die zur Stützung des Regimes unverzichtbare Sicherheitspolitik schuf der SED-Vor-sitzende Walter Ulbricht 1960 mit dem Nationalen Verteidigungsrat ein sicherheitspolitisches Führungszent-rum. Beim NVR handelte es sich auch um ein zusätzliches Machtinstrument, das Ulbricht und später Erich Hone-cker dazu dienen sollte, ihren persönli-chen Einfluss und die Vorrangstellung der SED zu sichern.

Schlägt der Leser das Protokoll der 16. Sitzung des NVR vom 20. September 1963 auf (BArch, DVW 1/39473), so stößt er auf Erörterun-gen der SED-Spitze unter anderem zu folgenden Themen: Zweifel an der politisch-moralischen Zuverlässigkeit der Grenztruppen; Abriss von Wohn-gebäuden, Produktionsstätten sowie Umsiedlung von Bürgern entlang des Grenzstreifens zu West-Berlin; Aufstel-lung sogenannter Arbeitsbataillone für Kriegsdienstverweigerer. Die Sitzungs-protokolle des NVR der DDR von 1960 bis 1989 wurden in einem gemeinsa-men Projekt des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, des Bundesarchivs und des Instituts für Zeitgeschichte, gefördert durch die Bundesstiftung Aufarbeitung, ins Internet eingestellt und sind dort für jedermann abrufbar (www.nationaler-verteidigungsrat.de).

Den umfangreichsten Teil des im Bundesarchiv-Militärarchiv verwahr-ten Archivguts machen inzwischen Unterlagen verschiedener Art aus (Aktenbände, Anlagekarten, Konstruk-tionszeichnungen, Fotos, Datenträger, Vorschriften), die vom Bundesministe-rium der Verteidigung und von Heer, Luftwaffe, Marine, der Streitkräfteba-sis, von den Wehrverwaltungen, aus dem Rüstungsbereich oder seitens der Rechtspflege (z.B. Truppendienstge-richte) abgegeben werden. Jedes Jahr kommen etwa vier Aktenkilometer neu hinzu. Das Archivgut zur Bundes-wehrgeschichte ist jung, und vielfach unterliegen die Unterlagen der Ge-heimhaltung. Dies schränkt die Benut-zung des Archivguts im Vergleich zu anderen Überlieferungen noch stark ein. Zu Fragen der Strategie, Organi-sation, der Führung und Ausbildung

In der Nacht vom 23. Februar 1940 war gegen 0.32 Uhr ein Flugzeug von der Marineflak vor der Insel Borkum für ein gegnerisches gehalten und abgeschossen worden. Daraufhin erfolgte am 26. Februar 1940 eine Führerweisung (BArch, RM 7/962, Bl.105; vgl. Kriegstagebuch der Seekriegsleitung 1939–1945, Teil A, Bd 6: Februar 1946, Herford, Bonn 1988, Bl. 94, S.179-A).

17Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 3/2008 17Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

sowie der Einsatzbereitschaft der Bun-deswehr unter den Bedingungen von Ost-West-Konfrontation und nuklea-rem Wettrüsten gibt das Archivgut Bedrückendes preis, wie die folgen-den Beispiele zeigen: Unterrichtsmate-rialien des »Atomlehroffiziers« an der Führungsakademie der Bundeswehr, die sich im Nachlass eines Lehrgangs-teilnehmers erhalten haben, veran-schaulichen, wie in den späten 1950er Jahren der Einsatz atomarer Gefechts-feldwaffen theoretisch geübt wurde. Der taktisch-operative Einsatz von Atomwaffen war damals ein fester Be-standteil von Operationsplänen, mit deren Hilfe man die konventionelle Überlegenheit der Angriffskräfte der Warschauer-Pakt-Armeen zu kompen-sieren versuchte. Die atomare Feuer-unterstützung der Kampftruppe war bei Planungen und Übungen notge-drungen zu einer solchen Selbstver-

ständlichkeit geworden, dass im Falle eines Krieges unvorstellbare Verwüs-tungen Deutschlands die sichere Folge gewesen wären. Eine in den Akten ent-haltene Richtlinie für den Atomwaf-feneinsatz vom damaligen Generalin-spekteur Ulrich de Maizière aus dem Jahre 1966 mahnte an:

»Bei dem Einsatz von Atomwaffen sind die Auswirkungen auf die eigene Bevöl-kerung und im Hinblick auf Erhaltung des eigenen Landes besonders zu beach-ten […] Durch die richtige Wahl des Or-tes, der Art und Zeit des Einsatzes kann oft sowohl den militärischen Erforder-nissen als auch der gebotenen Rücksicht-nahme entsprochen werden.«

(BArch, BH 2/160, S. 9; zit. nach: Die Bundeswehr 1955 bis 2005. Rück-

blenden, Einsichten, Perspektiven, München 2007, S. 312).

Dass das Dilemma militärischer Ver-teidigungsplanung vor dem Hinter-grund des atomaren Wettrüstens dem Militär bewusst war, belegt schon eine Ausarbeitung des Führungsstabes der Bundeswehr von Anfang 1959, worin man die grundlegende Frage aufwarf, ob im Falle eines Krieges die »Wie-dereroberung eines ›Atomschlachtfel-des‹ nach Verlust der Substanz unse-res Volkes« überhaupt noch sinnvoll sei (BArch, BW 17/42, Bl. 49; zit. nach Bruno Thoß, NATO-Strategie und na-tionale Verteidigungsplanung, Mün-chen 2006, S. 727).

Am Ende des »Rundgangs« soll noch etwas Besonderes vorgestellt werden:

die Kartensammlung des Militärar-chivs. Tausende besonders großfor-martiger Lagekarten des Generalsta-bes des Heeres zum Kampfgeschehen an der Ostfront 1941–1945 hängen von der Hallendecke. Wenige Meter ent-fernt werden nicht nur die Karten-werke des Amtes für Geoinformati-onswesen der Bundeswehr, wie etwa Truppenübungsplatzkarten, verwahrt. In den Kartenschränken lagern auch die zahlreichen Kartenwerke des mili-tärischen Geowesens der DDR. Deren geodätische und topgrafische Arbeiten unterlagen bis 1990 einer strikten Geheimhaltung; viele Kartenwerke existieren nur noch im Bundesarchiv- Militärarchiv. Dazu zählen beispiels-weise die Karten der Grenzsiche-rung (1:10 000) und der Aufklärung (1:25 000), beides Spezialkarten der Grenztruppen der DDR. Beide Kar-tenwerke beziehen sich auf das Ter-ritorium des früheren West-Berlins. Eingetragen sind darin sämtliche mi-litärisch relevanten Objekte wie öffent-liche Gebäude, Lager, Kraftwerke, mög- liche Einschränkungen der Passierbar-keit von Geländeabschnitten und vor-bereitete Sprengschächte an wichti-gen Brücken. Dargestellt werden auch die DDR-Grenzsicherungsanlagen.

Die vorgestellten Beispiele und wei-teres Archivgut zu den unterschied-lichsten Themen der deutschen Mili-tärgeschichte können im Benutzersaal des Bundesarchiv-Militärarchivs ein-gesehen werden.

Andreas Kunz

Archivbenutzung

Das im Bundesarchiv-Militärarchiv lagernde Archivgut kann von je-dermann genutzt werden. Voraus-setzung dafür ist, dass die Unter-lagen keiner Geheimhaltung mehr unterliegen (gilt nur für Bundes-wehrakten), älter als 30 Jahre sind und keine personenbezogenen Da-ten enthalten (z.B. Gerichts- oder Personalakten). In diesen Fällen be-darf die Benutzung der gesonderten rechtlichen Prüfung der Zugangs-, d.h. Benutzungsmöglichkeiten.

Auf der Homepage des Bundesar-chivs können sich Interessierte mit den Möglichkeiten der Archivrecher-che vertraut machen. Sogenannte Findbücher bieten wichtige Hinter-grundinformationen zu den einzel-nen Beständen und unterstützen die systematische Recherche. Auch sonst bietet die Homepage des Bundesar-chivs in Form von Dokumenten des Monats oder Internet-Gallerien ein attraktives Onlineangebot zu einer breiten Palette militärgeschichtlicher Themen.Bundesarchiv-MilitärarchivWiesentalstraße 10, 79115 FreiburgTel.: 0761/47817-0 Fax: 0761/47817-900E-Mail: [email protected] Homepage: www.bundesarchiv.de

Übungsmaterial zum Atomlehrgang an der Führungsakademie der Bundeswehr, 5. bis 9. Mai 1958, Nachlass Freytag von Loringhoven (BArch, N 525/1, unpag.).

Preußische Eisenbahnen und Festungen im 19. Jahrhundert

18 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

Mit Staunen notierte der preu-ßische Kronprinz und spä-tere deutsche Kaiser Fried-

rich III. (1831–1888) Anfang August 1870 in sein Tagebuch, dass er nie ge-glaubt hatte, einmal mit einer so großen Streitmacht noch vor den Franzosen am Rhein zu sein. Tatsächlich war es den deutschen Eisenbahnen gelungen, in nur drei Wochen rund 460 000 Mann an den Rhein zu transportieren. So konnten die preußisch-deutschen Ar-meen schon am 4. August 1870 mit doppelter Übermacht ihre Offensive gegen Frankreich eröffnen.

Der militärische Nutzen der Eisenbahnen

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war mit dem raschen Ausbau der ersten vereinzelten Eisenbahnen zu einem ganz Deutschland verbindenden Stre-ckennetz auch das Verständnis der Strategen für den militärischen Nutzen des neuen Transportmittels gewach-sen. Schon 1842 hatte Preußen be-schlossen, seine anfängliche Politik der ausschließlich privat finanzierten Ei-senbahnen aufzugeben. Mit Zinsga-rantien beteiligte sich Preußen am Auf-

bau eines nationalen Eisenbahnnetzes, das im Kern aus fünf strategischen Bahnlinien bestehen sollte. Von nun an zogen die Militärs die Eisenbahnen vermehrt in ihre militärischen Planun-gen ein. Der erste Militärtransport auf der Eisenbahn fand im Oktober 1839 auf der neuen Berlin-Potsdamer Eisen-bahn statt. Drei Jahre später wurden auf derselben Strecke die ersten Trup-penversuche mit dem Transport von Artillerie und Kavallerie durchgeführt und im Frühjahr 1846 erfolgte die Be-förderung eines Observationskorps in Brigadestärke an die oberschlesische

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Preußische Eisenbahnen und Festungen im 19. Jahrhundert

5 Mit der Eröffnung der ersten deutschen Eisenbahnlinie zwischen Nürnberg und Fürth 1835 begann auch das Militär, sich für die neue Technik zu interessieren.

19Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

Grenze. Als im Frühjahr 1848 in Europa die Revolution ausbrach, war der stra-tegische Nutzen der Eisenbahnen in militärischen Kreisen längst unbestrit-ten. Tatsächlich gelang es den Regierun-gen in Berlin und Wien, ihre politische Lage in den anschließenden Revolu-tionskämpfen mit Hilfe umfangreicher Eisenbahntransporte mit oft mehr als 10 000 Soldaten zu stabilisieren.

Die bestandene militärische Bewäh-rungsprobe der Eisenbahnen warf je-doch die Frage auf, wie sie sich mit den Festungen, neben dem Landheer der zweite Pfeiler der damaligen Kriegfüh-rung, zu einem neuen System der Lan-desverteidigung verbinden ließen. 1836 vertrat der Publizist und Eisen-bahnpionier Friedrich List in einem Aufsatz in der Darmstädter »Allgemei-nen Militärzeitung« die These, dass Deutschland durch ein Netz von Eisen-bahnen in Zukunft zu einer einzigen großen Festung werde, da nun Trup-pen mit beliebiger Schnelligkeit von einem Ende des Landes zum anderen befördert werden könnten. Auf keinen Fall mochten sich jedoch die preu-ßischen Offiziere der von List gezo-genen Schlussfolgerung anschließen, dass durch die neuen Eisenbahnen bald alle Festungen überflüssig sein würden.

Eisenbahnen contra Festungen

Der Konflikt zwischen den Befürwor-tern der neuen Eisenbahnen und den Vertretern der traditionellen, sich auf die Festungen stützenden Landesver-teidigung beschäftigte die preußische Armee bis in die 1850er Jahre. Anfangs behielten dabei die Vertreter des preu-ßischen Ingenieur- und Pionierkorps als Befürworter des Festungswesens die Oberhand. Sie befürchteten vor allem eine Minderung des Verteidigungswer-tes ihrer Festungen, sobald Eisenbah-nen in deren Nähe geführt würden.

Als in den 1830er Jahren die ersten Eisenbahnlinien im preußischen Rhein-land projektiert wurden, galt für sie wie bisher für die Chausseen, dass sie Flüsse oder Landesgrenzen nur im Schutze von Festungen passieren durf-ten, um einem Angreifer keine ungesi-cherte Umgehungsmöglichkeit zu bie-ten. Keinesfalls, so hieß es im preu-ßischen »Rayonregulativ von 1828, dürften durch Dämme oder ähnliche bauliche Veränderungen »unbestri-chene Räume« (Räume vor einer Fes-tung, die von den Festungsgeschützen nicht getroffen werden konnten) ent-stehen und damit dem Feind Möglich-keiten geboten werden, sich der Fes-tung in Deckung zu nähern.

Als die 1837 geplante Taunusbahn von Frankfurt nach Mainz auch den Bereich der dortigen Bundesfestung berühren sollte, einigten sich daher die zuständigen Offiziere der Bundesmili-tärkommission schnell auf einen um-fangreichen Forderungskatalog, den sie an die Eisenbahngesellschaft richte-ten. Vor allem müsse, so das Militär, die Bahn direkt in den Festungsbereich geführt werden: Einerseits habe der Fe-stungskommandant damit im Kriegs-falle die Kontrolle über sämtliches Be-triebsmaterial der Gesellschaft. Ande-rerseits entstünde, sofern die Bahn über den Rhein geführt würde, kein ungesicherter Flussübergang.

Aus der Sicht der Strategen war es wiederum wichtig, dass die neuen Eisenbahnen, ebenso wie bisher die Chausseen, möglichst viele Festungen miteinander verbanden. Erst so konnte ihrer Meinung nach ein preußisches Festungssystem entstehen, das den mi-litärischen Wert der Festungswerke be-trächtlich erhöhen würde. Eine preu-ßische Denkschrift aus dem Jahre 1837 forderte daher auch, wichtige Orte, in denen Waffen und Kriegsbedürfnisse gelagert oder hergestellt wurden, so-wohl untereinander als auch auf den kürzesten Wegen mit der Hauptstadt Berlin zu verbinden.

Vermutlich war es der preußische In-genieuroffizier und spätere General Friedrich From (1787–1857), der 1846 in einem Aufsatz im »Archiv für Offi-ziere des Königlich-Preußischen Artil-lerie- und Ingenieurkorps« forderte, dass an den Landesgrenzen Eisenbahn-strecken nur in Festungen enden und Eisenbahnüberquerungen wichtiger Flüsse nur in Festungen erfolgen sollten. Den Festungen wurde somit eine Sperrfunktion gegenüber Eisen-bahnlinien zugewiesen. Ebenso wich-tig war den Festungsspezialisten in der preußischen Armee, die Bahnhöfe im Vorgriff auf den Kriegsfall nach Mög-lichkeit nur in Festungen anzulegen. Dazu mussten wiederum die Festun-gen so angelegt oder erweitert werden, dass die Eisenbahnen in sie hinein oder in ihrem Schussbereich aus- und ein-münden konnten. »Das Débouchée der Eisenbahnen«, also das Einführen der Bahntrasse in die Festung, sollte an der dem erwarteten feindlichen Angriff ab-gelegenen Seite der Festung erfolgen. Die Bahnstrecken sollten von der er-

5Preußische Beamte der Berlin-Potsdamer Eisenbahn, ca. 1863.

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Preußische Eisenbahnen und Festungen im 19. Jahrhundert

20 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

warteten feindlichen Seite erst einen Bogen in angemessener Entfernung um die Festung machen, ehe sie dort einmündeten.

Der langjährige Chef des preußischen Ingenieurkorps, General Ernst Ludwig von Aster (1778–1855), stand den neuen Eisenbahnen zeitlebens kritisch gegen-über. In einer Denkschrift aus dem Jahre 1844 forderte er, dass die Eisen-bahnen nur bis zum dritten, äußeren Rayon an eine Festung herangeführt werden dürften, denn dort könnten sie durch die Festungsartillerie noch hin-reichend »beherrscht« werden. Nur auf diese Weise ließen sich nach seiner Ansicht die zu hohen Kosten für die notwendigen Änderungen im Festungs-bereich einsparen, die bei einer Füh-rung der Bahn durch die Umwallung anfallen würden. Asters Lösung lag je-doch nicht im kommerziellen Interesse der Eisenbahngesellschaften, die ihren Kunden lange Wege zu Bahnhöfen außerhalb der Städte nicht zumuten wollten. Aber auch der preußische Kriegsminister Hermann von Boyen (1771–1848) mochte sich Asters Ansich-ten nicht anschließen und trat für eine besondere Prüfung in jedem einzelnen Fall ein.

Magdeburg, Minden, Stettin, Koblenz

Schon 1840 war in der Festung Magde-burg, einer der größten Festungen Preußens, die Einführung der Magde-burg-Leipziger Bahn in die Stadt ohne wesentliche bauliche Veränderungen der Festungsanlagen gelungen. Eine

Musterlösung für das Problem von Ei-senbahnen und Festungen war damit jedoch nicht gefunden worden. So wurde in Wesel am Rhein der Bahnhof der Oberhausen-Arnheimer Eisenbahn in den Rayonbereich der Festung ge-legt. Im Falle der Festung Minden be-schloss das Kriegsministerium eine besondere Befestigung des auf dem rechten Weserufer anzulegenden großen Bahnhofes. Man errichtete dazu bis 1852 drei selbstständige Forts, die durch eine Walllinie miteinander ver-bunden wurden, wodurch ein geräu-miger, befestigter Bahnhofsbereich ent-stand. Dieser diente zugleich als rech-ter Weserbrückenkopf der Hauptfes-tung.

In Stettin wiederum sollte der Bahn-hof unmittelbar vor den alten Befesti-gungen angelegt werden. Aufgrund eines längst als notwendig erkannten Erweiterungsbaus in den Jahren 1847 bis 1851 wurde er aber in die neue Be-festigung einbezogen. Besondere Be-denken hatten die Militärs hier auch aus maritimer Sicht, da der Hafen von Swinemünde gänzlich unbefestigt und somit dem Zugriff jeder feindlichen Flotte ausgesetzt sei. Die Anlage der strategisch wichtigen Ostbahn von Stettin entlang der pommerschen Küste nach Danzig kam für die Armee auch aus diesem Grunde nicht in Frage.

Entgegen der vorwiegend »fortifika-torischen« Sichtweise der Ingenieure legten die Offiziere des preußischen Generalstabes besonderen Wert auf eine Erleichterung des Transportes von Nachschub und Truppen mit der Eisen-bahn. In den Festungen sahen sie vor allem die zukünftigen geschützten Um-

schlagpunkte in einem großen Eisen-bahnnetz. Grundsätzlich bestand ein hohes militärisches Interesse daran, die Bahnhöfe wichtiger Linien innerhalb der Festungen anzulegen, um auch im drohenden Kriegsfall den Eisenbahn-betrieb so lange wie möglich aufrecht-zuerhalten. So entfiele nach Meinung der Generalstabsoffiziere auch die weitreichende Entscheidung zur recht-zeitigen Zerstörung des vor einer Fes-tung angelegten Bahnhofes. Diese Maßnahme hätte schon lange vor dem Auftreten des ersten Feindes den Nach-schub von Kriegsmaterial und Verpfle-gung erheblich beeinträchtigt und zudem unweigerlich zu Entschädi-gungsforderungen der zivilen Eisen-bahngesellschaften geführt. Aus diesem Grunde forderte 1857 der Komman-deur der 3. Ingenieurinspektion, Gene-ralmajor Friedrich Leopold Fischer (1798–1857), beim Bau der Eisenbahn-strecke von Köln nach Koblenz beider-seits des Rheins, den Bahnhof Koblenz innerhalb der westlichen Umwallung der bedeutendsten preußischen Fes-tungsstadt anzulegen. Die Stadt musste sogar hinnehmen, dass eine Eisenbahn innerhalb der Wallanlage durch Wohn-gebiete zum Rhein führte. Dort stellte seit 1864 die heutige »Pfaffendorfer Brücke« als Eisenbahnbrücke im Schutz der Festung und ihrer Artillerie eine Verbindung zur strategisch wichtigen Lahntalstrecke und zur Festung Ehren-breitstein am anderen Rheinufer her. Erst nachdem die Doppelfestung Ko-blenz durch die neuen Grenzziehungen zu Frankreich ihre militärische Bedeu-tung verloren hatte, konnte 1879 mit einer neuen Eisenbahnbrücke bei Horch-heim der Rhein endlich an einer ver-kehrstechnisch günstigeren Stelle über-quert werden.

Die Berlin-Hamburger Bahn und die Ostbahn

Weit blickende Militärs hatten schon früh die Ansicht vertreten, dass Eisen-bahnen durch ihre Möglichkeit der schnellen Truppenkonzentration an bedrohten Frontabschnitten Lücken im eigenen Festungssystem schließen würden. Dies könne den Bau neuer Festungen überhaupt überflüssig ma-chen. So äußerte sich in einer Denk-schrift der Berlin-Hamburger-Eisen-

5 Georg Friedrich List (1789–1846), Publi-zist und Eisenbahnpionier.

5 Hermann von Boyen (1771–1848), preußischer Kriegsminister.

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21Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

bahngesellschaft vom November 1842 der Major Helmuth von Moltke, da-mals noch Vorstandsmitglied der Ge-sellschaft, über den militärischen Nut-zen einer Bahnlinie entlang des Elb-ufers. Auf dem rechten Ufer der Elbe waren von Magdeburg flussabwärts keine Festungen vorhanden. Eine Eisen-bahnstrecke von Berlin nach Hamburg auf dem östlichen Ufer ermöglichte es, so Moltke, zu jedem bedrohten Punkt in kurzer Zeit Truppen zu dirigieren, ohne dass sie sich jedoch dem Fluss nä-herten und dem feindlichen Feuer vom jenseitigen Ufer aussetzten.

Dass im preußischen Kriegsministe-rium bald auch darüber nachgedacht wurde, Eisenbahnen und Festungen gemeinsam für eine offensive Krieg-führung zu nutzen, zeigte sich spätes-tens bei den ministeriellen Beratungen über den Verlauf der Ostbahngleise von Berlin nach Danzig 1844/45. Hier-bei hatte sich Kriegsminister von Boyen im Staatsministerium mit Erfolg dafür eingesetzt, die Eisenbahn auf einer mittleren Linie über Küstrin und, ge-schützt von Warthe und Netze, in die Nähe der Weichselfestung Thorn zu führen. Thorn besitze als Waffenplatz den Vorteil einer offensiven Lage ge-gen die vermuteten wichtigen russi-schen Operationslinien Richtung Po-sen und Breslau. Eine Eisenbahn könne Preußen in den Stand versetzen, schnell Truppen und Kriegsmaterial heranzu-führen, und zugleich die Möglichkeit bieten, den feindlichen Truppen »von dort aus auf den Hals zu fallen, ihre

Kommunikationen und Flanken zu be-drohen, und auf diese Weise Breslau und Posen am wirksamsten zu vertei-digen«. Eisenbahn und Festung sollten sich hier also in der Vorstellung der Ar-meeführung ergänzen und eine offen-sive Kriegführung, zumindest auf ope-rativer Ebene, ermöglichen.

Vorfahrt für die Eisenbahn

Mit der stetigen Zunahme der Eisen-bahnkapazitäten und der wachsenden Fähigkeit der Eisenbahnen, immer grö-ßere Truppenmassen in kürzester Zeit an bedrohte Frontabschnitte zu trans-portieren, sank die bisherige Bedeu-tung der Festungen innerhalb des preußischen Verteidigungssystems. Deren Aufgabe hatte vor allem darin bestanden, den Vormarsch des Feindes so lange zu hemmen oder aufzuhalten, bis aus dem Landesinneren weitere Kräfte zur Verstärkung herangeführt wurden. Auch in ihrer logistischen Rolle als Lagerplatz verloren die Fes-tungen an Bedeutung, da Güter aller Art nun ebenfalls schnell aus dem Lan-desinnern herbei befördert werden konnten. Dagegen wuchs die Bedeu-tung der Festungen als Umschlagplatz für Truppen sowie als Bergungsort für das Betriebsmaterial der Eisenbahnen, das ansonsten im Kriegsfall in die Hände des Feindes zu fallen drohte. Das strategische Ziel möglichst durch-gehender Eisenbahnlinien setzte sich schließlich gegen die »fortifikato-

rischen« Interessen durch. »Sämtliche Eisenbahnlinien müssen ununterbro-chen, Schiene in Schiene, miteinander zusammen hängen«, lautete schon im Jahre 1846 die Forderung eines unbe-kannten Ingenieuroffiziers im »Archiv für das Königlich-Preußische Artille-rie- und Ingenieurkorps«. Die Festungs-anlagen dürften diesem Prinzip nir-gends entgegenstehen. Auch müsse der Verlauf der Eisenbahnenlinien zu-künftig die Lage neuer Festungen be-stimmen. Veraltete Plätze, deren Lage diese Bedingung nicht mehr erfüllten, sollten geschleift oder wenigstens nicht mehr mit besonderen Besatzungen und Verteidigungsmitteln versehen werden.

Damit wird bereits ein beachtlicher Sinneswandel in der Armeeführung deutlich, der kaum mehr als anderthalb Dekaden beansprucht hatte. Nunmehr sah der Generalstab in der Fähigkeit der Eisenbahnen, schnell bedeutende Truppenmassen an einem bedrohten Ort zu konzentrieren, einen vollwer-tigen Ersatz für die traditionelle Rolle der Festungen. Die ursprüngliche Wert-hierarchie von Festungen und Eisen-bahnen hatte sich praktisch umgekehrt, so wie es frühe Eisenbahnprotagonis-ten wie Friedrich List prophezeit hat-ten. Nicht vorausgesehen hatten diese jedoch, dass die Eisenbahn viel eher eine offensivere, beweglichere Krieg-führung begünstigen und somit den Charakter der Kriege gänzlich verän-dern sollte.

Klaus-Jürgen Bremm

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5Strategisch wichtige Eisenbahnbrücke: Die Pfaffendorfer Brücke in Koblenz, Aufnahme zwischen 1890 und 1900.

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22 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

Nicht nur wegen dieser Anspra-che bleibt die Schlacht Napo-leon Bonapartes bei den Pyrami-

den am 21. Juli 1798, ja der französische Orientfeldzug als Ganzes legendär.

Analog zu den Kampagnen des revo-lutionären Frankreich am Rhein und in Italien ab 1792 sollten auch in Ägypten die alten Autoritäten gestürzt werden, um das Land von der »Despotie«, der unumschränkten Herrschaft, zu »be-freien«. Seit 1517 gehörte Ägypten zum Osmanischen Reich, wurde aber de facto von der Militärkaste der Mamlu-ken beherrscht. Die beiden Mächtigs-ten unter ihnen, Murad Bey und Ibra-him Bey, besaßen ihr Machtzentrum in Kairo bzw. Gizeh. Berichte über interne Rivalitäten im Land hatten den frisch

zum französischen Außenminister avancierten Charles de Talleyrand im Juli 1797 zur Idee einer Ägyptenexpe-dition motiviert; begeistert griff der Be-fehlshaber der Italienarmee, Napoleon Bonaparte, die Idee auf. Dieser hatte die französische Direktorialregierung, die letzte Regierungsform der Franzö-sischen Revolution, durch seine Bajo-nette im Innern gestärkt und versorgte sie reich mit italienischer Beute. Mit seinem ohne Regierungsvollmacht ge-schlossenen Vertrag mit Österreich hatte der junge Revolutionsgeneral nicht nur den Frieden gebracht, son-dern Norditalien unterworfen. In der Folge suchte der ehrgeizige Korse nach einer Gelegenheit, um der politisch un-klaren Situation in Paris aus dem Wege zu gehen. Die unpopuläre Direktorial-regierung stimmte den Plänen für das

ägyptische Unternehmen zu; nicht zu-letzt, um den charismatischen Aufstei-ger einstweilen von Paris fernzuhalten.

Ägypten war in Mitteleuropa my-thisch verklärt, doch kaum bekannt. So erhielt der Feldzug einen kulturellen Nebenauftrag. Napoleon rief persön-lich 167 Gelehrte aller Disziplinen zu-sammen, um die Expedition zu beglei-ten: Mathematiker und Astronomen, Geologen und Geografen, Pulver- und Salpeterexperten (also »Chemiker«), Architekten, Ingenieure, Künstler, Zeichner, Zoologen, Botaniker, Orien-talisten und andere Philologen. Dazu kamen Übersetzer, Drucker mit allen verfügbaren Zeichensätzen und zahl-reiche Hilfskräfte. Das »englische Joch«, das es angeblich abzuschütteln galt, war eine andere, geopolitische Motiva-tion für den gewagten Feldzug: Zwi-

Das historische Stichwort

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Napoleon im Orient

5 Schlacht bei Abukir zwischen den Osmanen unter Mustafa Pascha und den Franzo-sen unter Napoleon Bonaparte am 25. Juli 1799. Gemälde (Ausschnitt) von Louis-François Lejeune (1775–1848), Öl auf Leinwand. Inv.-Nr. MV 6856, Versailles, Musee du Château.

»Soldaten! Ihr seid in diese Gegend gezogen, um sie der Barbarei zu entreißen, um die Zivilisation in den Orient zu tragen und um diesen schönen Teil der Erde dem Joch Englands zu entziehen. Wir werden kämpfen. Denkt daran, dass Euch von der Spitze dieser Denkmäler vierzig Jahrhunderte betrachten.«

Die »Ägyptische Expedition« 1798 bis 1801

23Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

schenzeitlich zum Oberbefehlshaber der England-Armee ernannt, verwarf Napoleon die Pläne zur direkten Inva-sion der britischen Inseln bald als Illu-sion. Demgegenüber versprach die In-vasion Ägyptens die Möglichkeit, die französische Herrschaft Richtung In-dien auszudehnen, wo im Süden Tipu Sultan, der Herrscher von Mysore, ge-gen britische Truppen kämpfte.

In kurzer Zeit wurde nun im süd-französischen Toulon und in Häfen Ita-liens eine Flotte von rund 300 Schiffen zusammengezogen. An die 35 000 Mann und etwa 1000 heimlich von ihren Män-nern und Freunden an Bord geschmug-gelte Frauen brachen am 19. Mai 1798 auf. Unterwegs nahm Bonaparte am 11. Juni 1798 Malta fast kampflos in Be-sitz. Am 30. Juni landeten die Franzo-sen in Alexandria. Just am Tag zuvor war das Geschwader des britischen Admirals Horatio Nelson unverrichte-ter Dinge von dort abgezogen. Bei sei-ner Verfolgung der französischen Flotte hatte Nelson diese mehrfach ver-passt und sie dann – ohne es zu wissen – überholt.

Die Hauptkräfte der französischen Truppen setzten sich unterdessen nach Kairo in Marsch. Nach ersten Gefech-ten schwand die Kampfkraft infolge von Hitze, Wassermangel, Augenlei-den, Durchfall und strapaziöser Mär-sche durch Wüste und Schwemmland. Ein Teil der Armee, die meisten Wis-senschaftler und das Gepäck fuhren parallel dazu in Booten nilaufwärts. Frühmorgens am 21. Juli brach Napo-leons Armee zur letzten Etappe nach Kairo auf. Gegen zwei Uhr nachmit-tags erreichten die in fünf Divisionen eingeteilten rund 25 000 französischen Soldaten den Ort Embaba nördlich von Gizeh. Zehn Kilometer südlich waren die Pyramiden zu sehen; im Ort selbst und in der Ebene westlich davon sowie am anderen Nilufer stand eine dop-pelte Übermacht: etwa 20 000 Janitscha-ren (und andere Infanterie), 40 Ge-schütze, rund 12 000 mamlukische und ägyptische Reiter, eine kaum über-schaubare Zahl an bewaffneten Fuß-knechten und Milizen sowie 8 000 Be-duinen. Sonst, in Europa, lag die Stärke der französischen Revolutionstruppen im vorwärtsstürmenden Angriff. Doch hier siegten geschlossene Ordnung und Feuerkraft. Die Franzosen formier-ten sich zu rund 2 000 Mann umfas-

brachten ca. 4 000 osmanischen Kriegs-gefangenen ermorden zu lassen. Ende März begann die Belagerung des osma-nischen Verwaltungssitzes Akko nörd-lich von Haifa. Sie blieb infolge der bri-tischen Unterstützung der Belagerten erfolglos. Währenddessen wurde ein zahlenmäßig weit überlegenes osmani-sches Entsatzheer am 16. April am Berg Tabor in Galiläa zerschlagen. Trotzdem musste der Feldzug Ende Juni erfolg-los abgebrochen werden. Zurück in Ägypten, siegte Napoleon am 25. Juli bei Abukir gegen angelandete britisch-osmanische Truppen. Ende August 1799 verließ Bonaparte seine Armee, ohne seinen Nachfolger im Kommando, Ge-neral Jean-Baptiste Kléber, vorher auch nur gesprochen zu haben. Ebenso fehlte eine entsprechende Regierungs-weisung. Im Mutterland war unterdes-sen das Verlangen nach einem starken Mann gewachsen. Die Armee blieb noch zwei Jahre im Land. Kléber, der gegen die Osmanen eine weitere Schlacht für sich entschied, fiel am 14. Juni 1800 einem Attentat zum Opfer; am selben Tag errang Napoleon seinen Triumph in der Schlacht von Marengo in Italien. Menou führte nun die Franzosen in Ägypten, wurde von britischen Trup-pen wiederholt geschlagen und kapitu-lierte gegen freien Abzug. Am 31. Au-gust 1801 verließen die letzten Franzo-sen Ägypten.

Wissenschaftlich und propagandi-stisch blieb der Orientfeldzug ein gro-ßer Erfolg. Die Mission, die »Zivilisa-tion« nach Ägypten zu bringen, verlief letztlich in die Gegenrichtung: In Europa folgte eine wahre Ägyptoma-nie, und von den hier erschlossenen Kunstschätzen, Ausgrabungen und na-turwissenschaftlichen Erkenntnissen zehrte die Wissenschaft noch lange. Auch ein militärisches Erbe des Ägyp-tenfeldzugs blieb. Bis zum Ende des französischen Empire blieben Mam-luken im Dienst der kaiserlichen Garde, darunter auch der berühmte Leibwäch-ter Napoleons, Rustan. Trotz seines De-sasters in Palästina erwarb sich Napo-leon daheim den »Mythos des Retters«. Seit seinem Putsch vom 9. November 1799 war er als Erster Konsul nun fak-tisch Alleinherrscher der Französischen Republik und wurde vier Jahre später Kaiser aller Franzosen.

Martin Rink

senden Infanterie-Karrees. An deren Flanken befanden sich die Geschütze, in deren Mitte Tragtiere und mitmar-schierende Wissenschaftler (und so rie-fen die Soldaten »Esel in die Mitte!«). Die wiederholten ungestümen Reiter-attacken der Mamluken brachen sich an den langsam vorrückenden Karrees. Danach wurde Embaba im Sturm ge-nommen, die dort eingegrabenen Ägypter wichen. Ein Entsatzversuch der ägyptischen Truppen vom anderen Ufer blieb bald im Strom der Flüchten-den sowie im aufkommenden stür-mischen Gegenwind stecken. Nach gut zwei Stunden war die Schlacht bei den Pyramiden entschieden. Von nun an beherrschte Napoleon Unterägypten.

Nur eine Woche nach dem Triumph wurde die französische Armee vom Mutterland abgeschnitten: In der Nacht auf den 2. August vernichtete das Ge-schwader Nelsons die bei Abukir vor Anker liegende französische Flotte. In-dessen wurde General Louis-Charles-Antoine Desaix nach Oberägypten aus-gesandt, der sich dort als der »gerechte Sultan« Vertrauen erwarb (genauso wie einen Harem, über den er stolz einer Brieffreundin berichtete). Ende Oktober 1798 erschütterte ein Aufstand Kairo, der blutig niedergeschlagen wurde. Die französische Herrschaft konnte anschließend wieder etabliert werden.

Infolge der Besatzung kam es zu fun-damentalen kulturellen Missverständ-nissen, u.a. wegen des Alkoholkonsums der ausländischen Soldaten und des Auftretens der französischen Frauen – und dem der ägyptischen Freundinnen der Franzosen. Die Übernahme ägyp-tischer und muslimischer kultureller Werte durch die Franzosen blieb die Ausnahme. Gleichwohl heiratete der Stadtkommandant von Alexandria, General Jacques-François Menou, eine Ägypterin und trat zum Islam über.

Als Misserfolg erwies sich Napole-ons Expedition nach »Syrien« auf dem Gebiet des heutigen Israel in der ersten Jahreshälfte 1799. Das Ziel des ehrgei-zigen Generals war es, entweder über Konstantinopel den Heimweg nach Frankreich zu erkämpfen oder nach In-dien zu ziehen. Entlang der Küste zog das französische Heer nach Jaffa, wo Napoleon infolge der Versorgungs-schwierigkeiten den Entschluss traf, die beim Sturm auf die Stadt einge-

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24 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

Medien online/digital

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Digitales Archiv Marburg

Das »Digitale Archiv Marburg« ist ein Projekt der Arbeitsstelle Archivpäda-gogik des Hessischen Staatsarchivs Marburg. 59 virtuelle Ausstellungen aus sieben Epochen mit insgesamt ca. 7000 online abrufbaren Dokumenten werden darin präsentiert. Jeder Epoche ist ein Einführungstext vorangestellt, der dem Nutzer den Quellenzugang erleichtert.

Der Schwerpunkt liegt auf Bild- und Schriftquellen zur hessischen Landes- und Regionalgeschichte. Darüber hi-naus können Arbeitsgruppen in der Rubrik »Werkstattausstellungen« ihre

Tage des Ruhms (frz. Titel: Indigènes). Regie: Rachid Bouchareb, 119 Minuten, Belgien/Frankreich/Marokko 2006. ISBN 4048317357512; 14,99 Euro

Der Spielfilm »Tage des Ruhms« wäre dem hiesigen Publikum besser be-kannt, wenn seiner Oskar-Nominie-rung von 2007 auch die Trophäe selbst gefolgt wäre. So kam die deutsche Pro-duktion »Das Leben der Anderen« mit dem überragenden Ulrich Mühe zum Zuge. Hier wie dort geht es um die Ver-arbeitung eines heiklen historischen Erbes. »Indigènes«: »Einheimische«, so lautet der 2006 von Regisseur Rachid Bouchareb unter dem Originaltitel ge-drehte Film aus französisch-belgisch-marokkanisch-algerischer Produktion.

Nordafrikanische Soldaten hatten zwischen 1943 und 1945 erheblichen Anteil an der Befreiung Frankreichs. Bereits der Titel ist provokant, denn genau wie im Deutschen der Begriff »Eingeborene« spiegelt auch die Be-zeichnung »Indigènes« europäische Vorurteile wider. »Herr Hauptmann, nennen Sie sie nicht Einheimische!«, sagt der Nordafrika-Franzose Sergeant Martinez in einer Schlüsselszene des

Krieg von 1866 und dem Deutsch-Fran-zösischen Krieg von 1870/71.

Besondere Aufmerksamkeit jedoch verdient die Wilhelmshöher Kriegskar-tensammlung, die dank des Digitalen Archivs Marburg nun einem breiten Publikum zugänglich gemacht worden ist. Bei diesem Bestand handelt es sich um 44 großformatige Bände mit 3000 Plänen, Karten und sonstigen Darstel-lungen. Die Sammlung war um 1700 von dem Landgrafen Karl von Hessen-Kassel begonnen worden und befand sich ab 1790 im Schloss Wilhelmshöhe bei Kassel. Bis in die Mitte des 19. Jahr-hunderts war der Bestand noch um einzelne Stücke ergänzt worden, bevor sie 1878 in das Staatsarchiv Marburg gelangte.

Die Wilhelmshöher Kriegskarten do-kumentieren Kriegsschauplätze und Kriegsereignisse in Europa und Ame-rika vom frühen 16. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Bei den Dokumenten handelt es sich um Hand-zeichnungen, Kupferstiche, Holz-schnitte und Lithographien. Neben den Land- und Schlachtkarten finden sich Geschützzeichnungen, Manöver-karten, Lagepläne, Uniformblätter sowie Truppengliederungen und Schlachtord-nungen.

Die Kriegskartensammlung bietet u.a. Karten zum Ungarisch-Türkischen Krieg 1683–1699 (Bd. 6), Nordischen Krieg 1700–1719 (Bd. 10), Spanischen Erbfolgekrieg 1701–1714 (Bd. 11–16) und zum Siebenjährigen Krieg 1756–1763 (Bd. 24–26). Karten zum Amerika-nischen Unabhängigkeitskrieg 1775–1783 (Bd. 28–29) und zu den Koaliti-onskriegen 1792–1815 (Bd. 31–33) wer-den ebenso präsentiert wie Kartenwerke zur Festung Wilhelmstein im Stein-huder Meer (Bd. 37) und zu verschie-denen Manövern (Bd. 38–42, 44).

Die einzelnen Dokumente sind als JPEG-Grafik oder PDF-Datei aufrufbar und mit editorischen Bemerkungen so-wie knappen Angaben zum Inhalt ver-sehen. Mit Hilfe der Suchfunktion kann daher auch in den 44 virtuellen Räu-men der Kriegskartensammlung nach beliebigen Begriffen recherchiert wer-den.

Die Wilhelmshöher Kriegskarten sind ein militärhistorischer Quellen-schatz, der nun online entdeckt wer-den kann.

mn

eigenen Ausstellungen präsentieren. Zusätzlich finden sich auf den Seiten des Digitalen Archivs Marburg Infor-mationen zum archivpädagogischen Bildungsangebot sowie Links zu ande-ren Einrichtungen und Archivportalen. Ton- und Filmquellen werden (noch) nicht angeboten.

Von militärhistorischem Interesse sind u.a. die Ausstellungen zum 20. Juli 1944 im Bereich »Weimar & National-sozialismus«. Eine davon ist dem Gene-ral der Nachrichtentruppe und Mit-glied des Widerstandes Erich Fellgiebel gewidmet, der am 4. September 1944 in Berlin-Plötzensee ermordet wurde. In der Rubrik »Kaiserreich & 1. Welt-krieg« finden sich u.a. Feldpostbriefe von Friedrich Ludwig aus Niederkleen aus dem Preußisch-Österreichischen

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onlineonline 2�Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

digitalFilms, nachdem die ungleichen Ver-pflegungsrationen fast zur Meuterei geführt hätten. Der Dialog geht weiter und zeigt das Problem der französi-schen Kolonialherrschaft in verdichte-ter Form: »Muselmanen!« – »So auch nicht!« – »Wie wollen Sie, dass wir sie nennen?« – »Männer, Herr Hauptmann, (leise:) Freunde«.

Freilich entpuppt sich auch Martinez (Bernard Blancan) als Vertreter der al-ten Ordnung. Und dieser sind die vier nordafrikanisch-muslimischen Prota-gonisten ausgesetzt, zwischen Anpas-sung und Konflikt: Saïd (Jamel Deb-bouze) lehnt sich eng an seinen Zugfüh-rer an, bis zur bitteren Enttäuschung; Messaoud (Roschdy Zem) verliebt sich in eine Französin, doch Liebesbriefe werden Opfer der Zensur; Yassir (Samy Naceri) versucht sich in kriegsnahen Gelegenheitsgeschäften. Die eigent-liche Hauptperson Abdelkader (Sami Bouajila) versucht den sozialen Auf-stieg über den Weg von Bildung und Militärkarriere. Als düpierter Korporal überlebt er als einziger seiner Kame-raden den Krieg.

Die »Indigènes« kämpfen zunächst in Italien und befreien 1944 in Frank-reich ein »Mutterland«, das sie nicht kennen. Ihr Kampf in den blutigen Schlachten um den italienischen Monte Cassino und in den französischen Voge-sen findet keine Entsprechung in mili-tärischer Gleichbehandlung, geschweige denn werden den »Indigènes« die glei-chen Bürgerrechte wie den Franzosen zugestanden. 1959 schließlich setzte der französische Staat die Rentenzah-lungen für seine nordafrikanischen Kämpfer aus. So ist der Film auch ein politischer Appell, der zu anhaltenden Diskussionen in Frankreich – und mitt-lerweile auch zur Rentenzahlung – ge-führt hat.

Der Film erzählt die Geschichte der muslimischen nordafrikanischen Sol-daten Frankreichs aus ihrer Perspek-tive. Das führt aber auch dazu, dass an-dere heikle Aspekte der Geschichte nur leise angedeutet bleiben: So fielen in Italien Tausende von Frauen der Ge-walt der »Marokkaner« zum Opfer. (Hiervon erzählte 1960 der italienische Film »La Ciociara«/»Und dennoch lebten sie«, der größte kommerzielle Erfolg des italienischen Weltstars Sofia Loren.) Der handwerklich gut ge-machte Film Boucharebs ist dennoch

sehenswert: Das liegt nicht zuletzt an den eindrucksvollen Darstellern, be-reichert um die Musik von Arman Amar und Cheb Khaled (weltweit be-kannt durch »Aïcha«). Der Film zeigt dem europäischen Publikum einen Teil seiner Geschichte – aus der Sicht der »Anderen«. Die nordafrikanischen »Einheimischen« erhalten hier ihr eige-nes Gesicht.

Martin Rink

denverfolgung, Kriegsverbrechen und Vergasung. Durch die Reden wurde der Literaturnobelpreisträger von 1929 zu einem der prominentesten Gegner des »Dritten Reiches«. Das Abhören solcher »Feindsendungen« war unter Hitler strengstens verboten und wurde mit aller Härte bestraft. Für die Briten waren Thomas Manns Reden Teil ihrer allgemeinen Demoralisierungstaktik gegenüber dem »Dritten Reich«, somit also auch Teil ihrer Anti-Nazi-Propa-ganda.

Es ist Oliver Boeck, Redakteur des Bayerischen Rundfunks, zu verdan-ken, dass die berühmten BBC-Reden Thomas Manns nun wieder in einem neuen Zusammenhang zur Verfügung stehen. Elf ausgesuchten Ansprachen Thomas Manns werden auf der im hör-verlag erschienenen CD kurze Aus-schnitte aus Reden von Heinrich Himmler, Joseph Goebbels, Gauleiter Arthur Karl Greiser und anderen Grö-ßen des NS-Regimes gegenüberge-stellt. Durch diese Zusammenstellung wird auch deutlich, dass Propaganda auf beiden Seiten der Front ein ge-bräuchliches Mittel war.

tb

Zwischen Oktober 1940 und Mai 1945 hielt Thomas Mann insgesamt 58 meist kurze Reden im »Deutschsprachigen Dienst« der BBC (British Broadcasting Corporation) im Rahmen seiner mo-natlich ausgestrahlten Sendung »Deut-sche Hörer!«. Mit emotional geprägten und nachhaltigen Worten rief Mann seine Radiohörer im nationalsozialis-tischen Deutschland zum Widerstand gegen die politische Führung auf. Er unterschied dabei zwischen der ver-brecherischen politischen Elite und der Masse der deutschen Bevölkerung, die er für Demokratie und Menschlichkeit zurückgewinnen wollte. Schon 1941 warnte Mann vor systematischer Ju-

Thomas Mann, Deutsche Hörer! BBC-Reden 1941 bis 1945 (CD). Hrsg. von Oliver Boeck, Der Hörverlag, 73 Mi-nuten, München 2004. ISBN 3899403983; 14,95 EUR

tobte laut Michels kein »ritterlicher Kampf«, sondern ein »rücksichtsloser Kleinkrieg« mit katastrophalen Folgen für die dortige Bevölkerung. Michels geht auch mit den Heldenlegenden der Zwischen- und Nachkriegszeit ins Gericht und hinterfragt, wie der My-thos des »Löwen von Afrika« entste-hen konnte.

ks

Deserteure

Die deutsche Wehrmacht umfasste im Zweiten Weltkrieg insgesamt

etwa 18,2 Millionen Soldaten, die ent-weder eingezogen wurden oder sich freiwillig gemeldet hatten. Die Zahl derer, die sich zwischen 1939 und 1945 nach damals geltender Rechtsauffas-sung »unerlaubt« von der Truppe ent-fernten, ist nicht präzise zu ermitteln. Wissenschaftliche Schätzungen gehen von bis zu 300 000 fahnenflüchtigen Wehrmachtsoldaten aus. Viele von denjenigen, die nach ihrer Desertion wieder aufgegriffen wurden, erwartete der Tod: Über 15 000 ließ die Wehr-machtjustiz im Verlauf des Krieges hin-richten. Andere überlebten den Krieg in der Haft. Einigen Deserteuren ge-lang es, sich nach ihrer Fahnenflucht dauerhaft dem Kriegsdienst in der Wehrmacht zu entziehen, indem sie in den Untergrund gingen oder ins neu-trale Ausland flüchteten.

Der General tat nach dem Krieg alles, um die Legendenbildung um seine Person zu fördern. Nicht zuletzt seine Bücher (am bekanntesten »Heia Sa-fari!«, 1920) prägten und prägen bis heute das Bild von Lettow-Vorbeck.

Uwe Schulte-Varendorff durchleuch-tet das Leben des Generals und spart dabei bewusst die weniger strahlenden Seiten nicht aus. Insbesondere Lettow-Vorbecks Beteiligung am Kapp-Lütt-witz-Putsch 1920 wird bisweilen gern übersehen: Als Kommandeur in Schwe-rin ließ er die Landesregierung von Mecklenburg-Schwerin verhaften und

Lettow-Vorbeck

Der »Löwe von Afrika« wurde er genannt. Bereits zu Lebzeiten war

Paul von Lettow-Vorbeck Legende, Mythos und, für nicht wenige, solda-tisches Vorbild. Im Ersten Weltkrieg versuchte er als Kommandeur der kai-serlichen Schutztruppe die Kolonie Deutsch-Ostafrika (heute Teil Tansa-nias) gegen britische Angriffe zu ver-teidigen. Seine Truppen bestanden vor allem aus einheimischen Söldnern, den sogenannten Askari. Deutsche bildeten das Offizierkorps. Trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit hielt die Schutztruppe dem Gegner bis Kriegsende stand. Let-tow-Vorbeck ergab sich erst knapp zwei Wochen nach dem Waffenstill-stand in Europa im November 1918.

Teilnehmer von Demonstrationen zu-sammenschießen. Dafür wurde er vor dem Reichsgericht des Hochverrats an-geklagt, aber kurze Zeit später per Ge-setz amnestiert. Schulte-Varendorff zeichnet auch das weitere politische Wirken des Generals nach: »als Kolo-nialrevisionist« vor und nach 1933 so-wie als »Ewiggestriger« in der Bundes-republik bis zu seinem Tod 1964.

Eckard Michels, »Der Held von Deutsch-Ostafrika«. Paul von Lettow-Vorbeck. Ein preußischer Kolonialoffi-zier, Paderborn 2008. ISBN 978-3-506-76370-9; 360 S., 39,90 Euro

Uwe Schulte-Varendorff, Kolonialheld für Kaiser und Führer. General Lettow-Vorbeck. Mythos und Wirklich-keit, Berlin 2006 (= Schlaglichter der Kolonialgeschichte, 5). ISBN 978-3-86153-412-6; 224 S., 24,90 Euro

Eckard Michels blickt in seiner 2008 erschienenen preisgekrönten um-

fangreichen Arbeit ebenfalls kritisch hinter die Kulissen der Legende. Er fragt nach den Denk- und Handlungs-mustern Lettow-Vorbecks und sieht in ihm einen »typischen Repräsentanten adeliger preußischer Militärdynas-tien«. Trotz Einsätzen in den Kolonial-kriegen in China, in Deutsch-Süd-westafrika und als Kommandeur in Deutsch-Ostafrika blieb sein Denken stets ganz mitteleuropäisch geprägt. Michels beleuchtet ähnlich wie Schulte-Varendorff sehr kritisch die gegen die Republik gerichtete Beteiligung am Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920. Der Autor lässt Lettow-Vorbecks spätere Recht-fertigung, er habe nur Befehle befolgt, nicht gelten. Sein Schwerpunkt liegt aber auf dem Kriegsgeschehen in Ost-afrika 1914 bis 1918. Er zeichnet eine quellengestützte wissenschaftliche Ge-schichte des Krieges in Ostafrika. Dort

Magnus Koch, Fahnenfluchten. Deserteure der Wehr-macht im Zweiten Weltkrieg – Lebenswege und Entschei-dungen, Paderborn 2008 (= Krieg in der Geschichte, 42). ISBN 978-3-506-76457-7; 426 S., 39,90 Euro

Lesetipp

26 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

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Sechs in die Schweiz geflüchtete Männer stellt Magnus Koch in seinem Buch in einzelnen Fallstudien vor. Ihre Lebenswege und Beweggründe für die Desertion zeichnet der Autor vorwie-gend anhand von schweizerischen und deutschen Quellenfunden wie Verneh-mungsprotokollen und Selbstzeugnis-sen nach. Die heute gängigen Vorstel-lungen von Deserteuren als per se re-gimekritischen Kriegsgegnern werden dabei von Koch widerlegt. Kochs Un-tersuchung zeigt zum einen die unter-schiedlichen Motive auf, welche die sechs Soldaten zur Desertion veran-lasste, zum andern lässt seine Analyse im Umkehrschluss aber auch Aussa-gen darüber zu, was die Wehrmacht zusammenhielt. Koch richtet seinen Blick des Weiteren auf die kontrovers geführte Nachkriegsdebatte in der Bundesrepublik Deutschland, die auch die Selbstsichten der Deserteure stark beeinflusste.

In rechtlicher Hinsicht ist der The-menkomplex in der Bundesrepublik Deutschland inzwischen geklärt: Im Mai 1999 beschloss der Bundestag ein Gesetz zur Rehabilitierung der Wehr-macht-Deserteure und eine symbo-lische Entschädigung der Überleben-den und ihrer Angehörigen. In Öster-reich warten die ehemaligen Fahnen-flüchtigen der Wehrmacht dagegen bis heute auf ihre Rehabilitierung.

mp

Krieg gegen die Zivilbevölkerung

Die Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941

bis 1944« machte auch der breiten Öf-fentlichkeit klar, dass im Zweiten Welt-krieg »Partisanenbekämpfung« un-trennbar mit der Tötung von Zivilisten verbunden war.

Dem Wiener Fotohistoriker Anton Holzer gelingt der Nachweis, dass dies kein ausgesprochenes Phänomen des Zweiten Weltkrieges gewesen ist. Der Kampf gegen vermeintliche oder tatsäch-liche Spione, Verräter, Saboteure oder Aufwiegler wurde bereits im Ersten Weltkrieg brutal und systematisch ge-gen die Zivilbevölkerung des Hinterlan-des geführt. Zehntausende fielen ihm zum Opfer. Holzer führt dazu überwie-gend österreichisch-ungarische Kriegs-schauplätze an, die in Deutschland für die Jahre 1914–1918 eher vergessen sind: Galizien (Ostfront) und Serbien (Balkan).

Ausgangspunkt von Holzers Überle-gungen sind beklemmende Fotos von Hinrichtungen, die sich mehr oder we-niger öffentlich abspielten. Ein Teil der Fotos wurde bereits während des Ers-ten Weltkrieges veröffentlicht. Holzer stellt dabei Grundsatzfragen zum öf-fentlichen Umgang mit Kriegsfotos, mit der Gewalt gegen Zivilsten sowie zur Pose der Henker. Er verbindet diese Fotogeschichte gekonnt mit litera-rischen Zeugnissen bekannter Autoren zu diesem Krieg gegen die Zivilbevöl-kerung: Karl Kraus, Egon Erwin Kisch und Joseph Roth.

hp

Herrschaft der Wehrmacht

Der Beginn des Zweiten Weltkriegs jährt sich 2009 zum 70. Mal. Un-

zählige Bücher und Beiträge, welche die großen Entwicklungslinien nach-zeichnen, aber auch Detailfragen be-antworten, füllen mittlerweile ganze Bibliotheken. Und doch gibt es immer noch Themenfelder, über die wir nur wenig wissen, obwohl sie von großem wissenschaftlichen und öffentlichem Interesse sind. Dieter Pohl untersucht mit seiner Arbeit über die Besatzungs-herrschaft der Wehrmacht in der So-wjetunion ein solches Feld. Unser Wis-sen über die Vorgänge in den besetzten Gebieten ist wesentlich geprägt von der sowjetischen Geschichtsschreibung einerseits sowie andererseits von der zeitgenössischen deutschen Berichter-stattung und der Erinnerungsliteratur hoher deutscher Offiziere nach Ende

kriegführenden Parteien verliefen, son-dern der Alltag »hinter« der Front ei-nen Spannungsbogen zwischen Mili-tärverwaltung, Wirtschaftsorganisa-tion und Fronttruppe bildete, der Auf-schluss über die »brutalste militärische Besatzungsherrschaft, die die Ge-schichte bis dahin gekannt hatte«, bie-tet. Detailreich vermittelt das Buch so-wohl organisationsgeschichtliches Wis-sen als auch unterschiedliche Aspekte im alltäglichen Zusammenleben von Zivilbevölkerung und Wehrmacht. Da-bei werden Fragen zur Ernährungspo-litik, Zwangsarbeit, zu Massenmorden und zum Partisanenkrieg thematisiert, und dem Leser wird eindringlich ver-mittelt, dass die Wehrmacht vor allem als militärischer Besatzungsapparat teilhatte an den Massenverbrechen in der Sowjetunion.

Thorsten Loch

Dieter Pohl, Die Herrschaft der Wehrmacht. Deut-sche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941-1944, München 2008 (=Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 71). ISBN 978-3-486-58065-5; 399 S., 39,80 Euro

des Zweiten Weltkriegs. Zudem beein-trächtigt der Schleier des Verdrängens während des Ost-West-Konflikts bis heute unser Wissen über die dama-ligen Ereignisse.

Der Autor nimmt den Leser kennt-nisreich und spannend formuliert in jene Steppen, Wälder und Sumpfge-biete der Sowjetunion mit, in denen nicht nur die Hauptkampflinien der

Anton Holzer, Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914–1918, Darm-stadt 2008. ISBN 978-3-89678-375-2; 208 S., 39,90 Euro

27Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

Service

28 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

 Bad Karlshafen

Geschichte der Hugenotten Deutsches Hugenotten-Museum Hafenplatz 9 a 34385 Bad Karlshafen Telefon: 0 56 72 / 14 10 Telefax: 0 56 72 / 92 50 72 www.hugenottenmuseum.de [email protected] Dauerausstellung Samstag und Sonntag 14.00 bis 17.00 Uhr Eintritt: 3,00 Euro ermäßigt: 2,00 EuroVerkehrsanbindung: Anfahrtsskizze unter www.hugenottenmuseum.de/museum/museumspfad.php.

 Bad Mergentheim 800 Jahre Deutscher Orden Deutschordensmuseum Schloß 16 97980 Bad Mergentheim Telefon: 0 79 31 / 5 22 12 Telefax: 0 79 31 / 5 26 69 www.deutschordensmuseum.de [email protected] Dauerausstellung April bis Oktober täglich 10.30 bis 17.00 Uhr November bis März 14.00 bis 17.00 Uhr (montags geschlossen) Eintritt: 4,20 Euro ermäßigt: 3,20 EuroVerkehrsanbindung: Anfahrtbeschreibung unter www.deutschordensmuseum.de/Lageplan.htm.

 Berlin The Making of ... Die Män-ner und Frauen der Berli-ner Luftbrücke 1948/49Alliierten-Museum Clayallee 135 14195 Berlin Telefon: 0 30 / 81 81 99-0 Telefax: 0 30 / 81 81 99-91 www.alliiertenmuseum.de [email protected] 27. Juni 2008 bis 27. September 2009

täglich außer Mittwoch 10.00 bis 18.00 Uhr Eintritt frei Verkehrsanbindung: S-Bahn: S 1 bis Station »Zehlendorf«, weiter mit Bus-linie 115 bis Haltestelle »Alliierten-Museum«; U-Bahn: U 3 bis Haltestelle »Oskar-Helene-Heim«; Bus: Linie 115 oder X 83 bis Haltestelle »Alliierten Museum«.

Kassandra. Visionen des Unheils 1914–1945Deutsches Historisches Museum, Pei-Bau Hinter dem Gießhaus 3 10117 Berlin Telefon: 0 30 / 20 30-40 Telefax: 03 0 / 8 20 30 45 43 [email protected](Führungen)19. November 2008 bis 22. Februar 2009 täglich 10.00 bis 18.00 UhrEintritt: 5,00 Euro(unter 18 Jahren frei, Tageskarte für alleAusstellungen)Verkehrsanbindung: S-Bahn: Stationen »Hacke-scher Markt« und »Friedrich-straße«; U-Bahn: Stationen »Französische Straße«, »Hausvogteiplatz« und »Friedrichstraße«; Bus: Linien 100, 157, 200 und 348 bis Haltestellen »Staatsoper« oder »Lustgarten«. Russischer Soldatenalltag in DeutschlandBilder des Militärfotografen Wladimir Borissow 1990–1994 Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst Zwieseler Straße 4/ Ecke Rheinsteinstraße

10318 Berlin Telefon: 0 30 / 50 15 08 10 Telefax: 0 30 / 50 15 08 40 www.museum-karlshorst.de [email protected] 14. November 2008 bis 1. März 2009 10.00 bis 18.00 Uhr (montags geschlossen) Eintritt frei Verkehrsanbindung: S-Bahn: S 3 bis Station »Karlshorst«: Ausgang Treskowallee, dann zu Fuß die Rheinsteinstraße entlang (ca. 15 min. Fußweg); Bus: Linie 396. Haus der Wannsee- Konfernz Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee- Konferenz Am Großen Wannsee 56–58 14109 Berlin Telefon: 030 / 80 50 01-0 Telefax: 030 / 80 50 01-27 www.ghwk.de [email protected] Dauerausstellung 10.00 bis 18.00 Uhr (außer an gesetzlichen Feier-tagen) Eintritt frei Verkehrsanbindung: S-Bahn/Bus: S 1 oder S 7 bis Station »Wannsee«, dann Buslinie 114 bis Haltestelle »Haus der Wannsee- Konferenz«.

 Bonn Auf die Bilder kommt es an! Wahlkampf und poli-tischer Alltag in Deutsch-land nach 1945in der U-Bahn-Galerie der Station »Heussallee«

Stiftung Haus der Geschichte der Bundes-republik Deutschland Museumsmeile Willy-Brandt-Allee 14 53113 Bonn Telefon: 02 28 / 91 65-0 Telefax: 02 28 / 91 65-302 www.hdg.de [email protected] 13. Juni 2008 bis Ende Mai 2009 Tag und Nacht geöffnet Eintritt frei Verkehrsanbindung: U-Bahn: Linien 16, 63 und 66 bis Station »Heussallee/Museumsmeile«; Bus: Linien 610 und 630 (Museumslinie) bis Haltestelle »Bundeskanz-lerplatz/Heussallee«. Flagge zeigen? Die Deut-schen und ihre National-symboleStiftung Haus der Geschichte der Bundes-republik Deutschland (siehe oben)4. Dezember 2008 bis13. April 2009

 Dresden Hinterlassenschaften aus fünf Jahrhunderten (Schaumagazin mit kost-baren und seltenen Expona-ten aus allen Sachgebieten des Museums) Militärhistorisches Museum der Bundeswehr Olbrichtplatz 2 01099 Dresden Telefon: 03 51 / 8 23 28 03 Telefax: 03 51 / 8 23 28 05 www.militaerhistorisches- museum.bundeswehr.de Dauerausstellung bis 2010 9.00 bis 17.00 Uhr (montags geschlossen) Eintritt und Führungen frei Verkehrsanbindung: Straßenbahn: Linien 7 und 8 bis Haltestelle »Olbrichtplatz/Militärhistorisches Museum«; Bus: Linie 91 bis Haltestelle »Stauffenbergallee/Militär-historisches Museum«.

Ausstellungen

29Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

Dresden und das Militär (800 Jahre Stadtgeschichte - 800 Jahre Militärgeschichte) Militärhistorisches Museum der Bundeswehr (siehe oben) Dauerausstellung bis 2010  Frankfurt (Oder) Frankfurt im Dreißig-jährigen Krieg Städtische Museen Junge Kunst und Viadrina Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Straße 11 15230 Frankfurt (Oder) Telefon 03 35 / 4 01 56-0 Telefax 03 35 / 4 01 56-11 www.museum-viadrina.de verwaltung@museum- viadrina.de Dauerausstellung 11.00 bis 17.00 Uhr (montags geschlossen) Eintritt: 3,00 Euro ermäßigt: 2,00 Euro. Gedenk- und Dokumen-tationsstätte »Opfer poli-tischer Gewaltherrschaft« 1930–1945 und 1945–1989 Städtische Museen Junge Kunst und Viadrina Collegienstraße 10 15230 Frankfurt (Oder) Telefon: 03 35 / 68 02-712 Telefax: 03 35 / 4 01 56-11 www.museum-viadrina.de unter »Ständige Ausstellungen außerhalb des Junkerhauses« verwaltung@museum- viadrina.de Dauerausstellung Montag bis Freitag9.00 bis 16.00 Uhr Eintritt frei

 Ingolstadt Herbert Agricola (1912–1998). Graphiken aus dem Zweiten Weltkrieg Bayerisches Armeemuseum Ingolstadt Neues Schloss, Paradeplatz 4 85049 Ingolstadt Telefon: 08 41 / 93 77-0 Telefax: 08 41 / 93 77-200

www.bayerisches- armeemuseum.de sekretariat@bayerisches- armeemuseum.de 9. Juli 2008 bis 13. April 2009 08.45 bis 17.00 Uhr (montags geschlossen) Eintritt: 3,50 Euro ermäßigt: 3,00 Euro Verkehrsanbindung: Anfahrtsbeschreibung auf der Website unter »Kontakt/Anschrift«.

 Ludwigsburg Die 260-jährige Geschichte der Garnison Ludwigsburg Garnisonmuseum Ludwigs-burg im Asperger Torhaus Asperger Straße 52 71634 Ludwigsburg Telefon: 0 71 41 / 9 10-2412 www.garnisonmuseum- ludwigsburg.de info@garnisonmuseum- ludwigsburg.de Dauerausstellung Mittwoch 15.00 bis 18.00 Uhr Sonntag 13.00 bis 17.00 Uhr Eintritt: 2,00 Euro ermäßigt: 1,00 Euro Verkehrsanbindung: S-Bahn: S 4 und S 5 (von Stuttgart bzw. Bietigheim) bis Station »Ludwigsburg«, weiter zu Fuß über Bahnhof- und Uhlandstraße zum Asper-ger Torhaus (10 Minuten).

 Nordholz Willy Messerschmitt (1898–1978). Ein Konstruk-teur und seine Flugzeuge AERONAUTICUM Deutsches Luftschiff- und Marinefliegermuseum Peter-Strasser-Platz 3 27637 Nordholz Telefon: 0 47 41 / 18 19-0 Telefax: 0 47 41 / 18 19-15 www.aeronauticum.de [email protected] 2. November 2008 bis 29. März 2009 Februar bis November täglich 10.00 bis 18.00 Uhr

Dezember bis Januar täglich 10.00 bis16.00 Uhr Eintritt: 6,50 Euro ermäßigt: 2,50 Euro Verkehrsanbindung:Anfahrtsskizze unter www.aeronauticum.de/deutsch/Bilder/pdf/anfahrt.pdf.

 Peenemünde Geschichte der Raketen-technikHistorisch-Technisches Informationszentrum Peenemünde Im Kraftwerk 17449 Peenemünde Telefon: 03 83 71 / 505-0 Telefax: 03 83 71 / 505-111 www.peenemuende.de [email protected] Dauerausstellung April bis September 10.00 bis 18.00 Uhr Oktober bis März 10.00 bis 16.00 Uhr (montags geschlossen) Eintritt: 6,00 Euro ermäßigt: 4,00 Euro Verkehrsanbindung: Das Museum ist unter ande-rem mit der Usedomer Bäder-bahn (UBB) erreichbar.

 Prora Verführt · Verleitet · Verheizt. Das kurze Leben des Nürnberger Hitler-jungen Paul B. Dokumentationszentrum Prora Objektstraße, Block 3 18609 Prora Telefon: 03 83 93 / 1 39 91 Telefax: 03 83 93 / 1 39 34 www.proradok.de/seiten_deutsch/aktuelles.html [email protected] 8. November 2008 bis 31. März 2009 Eintritt: 3,00 Euro ermäßigt: 2,00 Euro (Kinder unter 14 Jahre freier Eintritt) Verkehrsanbindung: Bahn: Regionalbahn von Stral-sund bzw. Binz bis Station »Prora-Nord« oder »Prora-Ost«; Pkw: Von Stralsund über den Rügendamm auf der B 196 und weiter auf der B 196a Richtung Binz nach Prora.

  Seelow

(bei Frankfurt/Oder) Die Schlacht um die Seelo-wer Höhen im April 1945 Gedenkstätte/Museum Seelower Höhen Küstriner Straße 28a 15306 Seelow Telefon: 0 33 46 / 597 Telefax: 0 33 46 / 598 www.gedenkstaette-seelower-hoehen.de gedenkstaette-seelower- [email protected] Dauerausstellung 10.00 bis 16.00 Uhr (montags geschlossen) Eintritt: 3,00 Euro ermäßigt: 1,50 Euro Verkehrsanbindung: Bahn/Bus: Von Berlin mit Regionalexpress RE 1 bis Bahnhof »Frankfurt (Oder)«, weiter mit OE 60 nach »See-low (Mark)«, 3 Minuten zu Fuß.

Sieg Fidel Castros in Kuba

5 Carl von Ossietzky (Mitte) mit seinen Verteidigern vor dem Reichsgericht Leipzig im Novem-ber 1931.

»Windiges aus der Deutschen Luftfahrt«

Ist heute von Kuba die Rede, denkt wohl jeder zuerst an Fidel Castro. Der »maximo lider« dominierte die Ent-wicklung der karibischen Insel im vergangenen Jahr-hundert wie kaum ein anderer Staatschef eines Landes.

Bereits 1953 versuchte Castro erstmals, den Diktator Fulgencio Batista zu stürzen. Dessen Regime zeichnete sich, unter dem Schutz der Vereinigten Staaten, primär durch Korruption, Unterdrückung, maßlose Dekadenz und schrankenlose Prostitution aus. Ein vom jungen Rechtsanwalt Castro geführter Überfall auf die Mon-cada-Kaserne in Santiago de Cuba scheiterte 1953 aber auf ganzer Linie. Vor Gericht gestellt und verurteilt, wurde er nach drei Jahren Haft ins Exil nach Mexiko

abgeschoben. Ende 1956 kehrten Castro und seine Getreuen, unter ihnen der Argentinier Ernesto »Che« Guevara, heimlich nach Kuba zurück und begannen in den Bergen im äußersten Südosten der Insel ihren Kampf von Neuem. Mit ihrer klassischen Sabotage- und Guerillataktik schwächten sie fortwährend die Armee Batistas, bis diese quasi in sich kollabierte. Jeder Machtbasis enthoben, floh Batista am 1. Januar 1959. Castros Truppen starteten einen Sieges- und Jubel-zug quer über die Insel und zogen am 8. Januar in Havanna ein. Die neue Regie-rung unter Castro, dessen Bruder Raoul und »Che« Guevara begann mit der revolutionären Umgestaltung des Landes. Die Beziehungen zu Washington ver-schlechterten sich massiv, Castro führte Kuba an die Seite der Sowjetunion. Tief-punkt war die Raketenkrise des Jahres 1962, als die Welt am Rand eines nuklearen Krieges stand. Bis heute besteht eine konsequente Wirtschaftsblockade seitens der USA. Castro regierte Kuba 48 Jahre. 2007 übergab er die Regierungsge-schäfte an seinen Bruder Raoul, 2008 trat er offiziell als Präsident zurück.

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5 Castro zieht unter dem Jubel der Bevölke-rung in Havanna ein.

Die Ausgabe der Wochenzeitschrift »Die Weltbühne« vom 12. März 1929 sorgte für Furore. Unter dem Titel »Windiges aus der deutschen Luftfahrt« wurden die Verbindungen zwischen Reichswehr, ziviler Luftfahrt und Flugzeugindustrie aufgezeigt. Der Friedensvertrag von Versailles (1919) hatte deutsche Luftstreitkräfte verboten. Die Reichswehr jedoch umging diese Bestim-mungen und sah sich durch diesen Artikel herausge-fordert. Daher wurde gegen den Autor Walter Kreiser (Pseudonym Heinz Jäger) und gegen den Herausgeber der »Weltbühne« Carl von Ossietzky am 1. August 1929 Strafantrag gestellt. Noch 1929 erfolgten Voruntersuchun-gen in Sachen Landesverrat und Verrat militärischer Geheimnisse. Allerdings versuchten Reichswehr, Justiz-ministerium und Auswärtiges Amt zunächst, das Ver-

fahren zu verschleppen, damit nicht noch weitere Details an die Öffentlichkeit gelangten. Vor dem Reichsgericht wurde schließlich im November 1931 der »Weltbühnenprozess« verhandelt. Herausgeber und Autor wurden zu je andert-halb Jahren Gefängnis verurteilt. Während sich Kreiser nach Frankreich ab-setzte, trat Ossietzky seine Haft am 10. Mai 1932 in Berlin-Tegel an. Er wurde am 22. Dezember 1932 im Rahmen einer Weihnachtsamnestie entlassen. Das NS- Regime ließ jedoch den überzeugten Pazifisten und Demokraten Ossietzky im Februar 1933 erneut verhaften und in ein Konzentrationslager einweisen. Folter und schlechte Haftbedingungen führten zu Tuberkulose, an deren Folgen er schließlich am 4. Mai 1938 starb. Am 23. November 1936 war Carl von Ossietzky rückwirkend der Friedensnobelpreis für das Jahr 1935 zuerkannt worden. Das NS-Regime untersagte ihm die Reise nach Oslo, sodass er den Nobelpreis nicht persönlich in Empfang nehmen konnte.

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8. Januar 19�9

12. März 1929

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30 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2008

Die nächsten beiden Ausgaben der Militär-geschichte thematisieren in größerem Um-fang den Zweiten Weltkrieg, Heft 2 befasst sich aus gegebenem Anlass vornehmlich mit Themen des Kriegsbeginns 1939. Im ersten Heft des Jahres 2009 schließt Markus Eikel mit seinem Beitrag über das Führerhaupt-quartier »Werwolf« im ukrainischen Winniza an den Aufsatz von Peter Lieb in der voran-gegangenen Ausgabe an, wo dieser fragte, ob die deutsche Besatzung 1918/19 in der Ukra-ine ein »Wegweiser zum Vernichtungskrieg« ab 1941 gewesen sei. Markus Eikel nimmt nunmehr die militärischen Entscheidungen an der Ostfront in den Blick, die im militäri-schen Lagezentrum in der Ukraine während des Zweiten Weltkrieges getroffen wurden. Bevor die Verlegung der obersten militäri-schen Führung von der ostpreußischen »Wolfs-schanze« nach Winniza erfolgen konnte, wurde das Gebiet um das Lagezentrum groß-räumig »gesäubert«; bis zur Ankunft Hitlers im Juli 1942 sollten alle Juden aus dem Raum Winniza verschwunden sein.

Ein weiterer Beitrag zum Zweiten Welt-krieg hat die Torpedo-Krise zum Inhalt, die im April 1940 mit dem britisch-deutschen Kampf um die Vorherrschaft in den norwegi-schen Gewässern ihren Höhepunkt erreichte. Die Besatzungen der deutschen U-Boote setzten sich mit den zahlreichen Torpedover-sagern nicht nur zusätzlichen Gefahren aus, diese nagten darüber hinaus am Selbstver-trauen der Offiziere und schwächten so die Kampfkraft der Truppe. Welche technischen Mängel und menschlichen Unzulänglich-keiten zu der Krise führten, die in letzter Kon-sequenz die verantwortlichen Männer vor dem Reichskriegsgericht unter Anklage sah, arbeitet Heinrich Schütz heraus.

Uwe Brammer widmet sich paramilitäri-schen Verbänden in der Weimarer Republik und knüpft so an die Ausführungen von Rü-diger Bergien an, der in Heft 3/2008 die Frei-korpsbewegung in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg beschrieben hat. Und schließlich zeichnet Christian Senne ein Bild von der Militärbeobachtertätigkeit eines deutschen Offiziers Ende des 19. Jahrhun-derts.

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Vorschau

Am 1. September 2008 übernahm das jüngst aufgestellte Ausbil-dungszentrum Heeresaufklä-

rungstruppe in Munster, das den Bei-namen »Heeresaufklärungsschule« führt, das neue Dienstgebäude des Ge-nerals der Heeresaufklärungstruppe und Kommandeurs Ausbildungszen-trum Heeresaufklärungstruppe (Oberst Karl-Ernst Graf Strachwitz) mit einer ganz besonderen Feier. In Munster fand an diesem Tag die Miniatur eines Reiterstandbildes des Bremer Bildhau-ers Ernst Moritz Gorsemann eine neue Heimat. Das Original des »Hannover-schen Ulans« steht seit 1922 in der Eilen-riede in Hannover und erinnert an das Preußische Ulanenregiment (1. Hanno-versches) Nr. 13. 1990 wurde die Minia-tur für die – 1994 aufgelöste – Panzer-brigade 3 in Nienburg geschaffen, die den Marsch der hannoverschen Garde du Corps (franz.: Leibgarde) als Parade-marsch führte. Auch das Aufklärungs-lehrbataillon 3 der Bundeswehr, das 2006 in Lüneburg seinen 50. Geburts-

tag feierte, sieht sich der Tradition der Hannoverschen Kavallerie verpflichtet.

Original und Kopie des Reiterstand-bildes verweisen auf die Entstehung eines deutschen Nationalstaates im 19. Jahrhundert und auf 200 Jahre wechselhafte Kavalleriegeschichte. Deren Anfänge reichen zurück bis ins Napoleonische Zeitalter. Während der französischen Besatzung des Kurfürs-tentums Hannover wurde 1803 in Eng-land »The King’s German Legion« auf-gestellt. Deren 1. Schweres (seit 1813: Leichtes) Dragoner-Regiment kämpfte unter dem Herzog von Wellington in den Napoleonischen Kriegen und kehrte am 24. Februar 1815 als Garde-Regiment in die nun königlich-hanno-versche Armee zurück. 1816 bestanden in Hannover die Garde du Corps und ein Gardekürassier-Regiment. Im preu-ßisch-österreichischen Krieg von 1866 erwarb hannoversche Kavallerie im siegreichen Gefecht von Langensalza (27. Juni) Ruhm und Ehre, als die Garde du Corps eine glänzende, aber blutig gescheiterte Attacke gegen die mit dem überlegenen Zündnadelgewehr ausge-stattete preußische Infanterie ritt. Ent-gegen dem hannoverschen Reglement weit vor der eigenen Linie reitend, führte Premierleutnant Graf Ernst von Wedel seine 1. Schwadron in Parade-formation gegen das feindliche Infan-teriekarree. Anders als die Mehrzahl seiner Ulanen überlebte Graf von We-del den Angriff schwer verwundet.

Die hannoversche Armee musste trotz ihres (später mitunter stark in sei-ner Bedeutung überhöhten) Erfolges bei Langensalza bereits am 29. Juni 1866 gegenüber den preußischen Truppen kapitulieren. Das Königreich Hannover wurde annektiert und zur preußischen Provinz Hannover. Als Preußisches Ulanen-Regiment Nr. 13 (1. Hannoversches) ging die Garde du Corps in der preußischen Armee auf. Die hannoverschen Gardekürassiere hingegen dienten fortan als Ulanen-Regiment Nr. 14 (2. Hannoversches).

Hannoversche Kavallerie zeichnete sich 1870 in der letzten großen Reiter-schlacht der Weltgeschichte bei Vion-ville und Mars-la-Tour (nahe Metz) aus. An der Spitze der 13er Ulanen fiel ihr Oberst Friedrich von Schack, aus Wolken in Mecklenburg-Schwerin stammend, der dem zahlenmäßig weit überlegenen französischen Gegner eine für den weiteren Verlauf des Krieges bedeutende Niederlage beigebracht hatte. Oberst von Schack wurde am 20. August 1870 in Mars-la-Tour beige-setzt. Graf Ernst von Wedel, der Held von Langensalza, erhielt übrigens bei »seinen«, nun preußischen Ulanen den Ehrentitel eines Obersten »à la suite« (der Titel berechtigt zum Tragen einer Regimentsuniform, beinhaltet jedoch kein dienstliche Stellung).

Kaiser Wilhelm II. ernannte sich am 13. September 1889 selbst zum Chef des ruhmreichen Ulanen-Regiments Nr. 13. Dieses trug fortan an der Fell-mütze, Tschapka genannt, den Garde-stern, auf den Schabracken (Sattel-decken), den Stern des schwarzen Adlerordens und auf den Schulterstü-cken den Namenszug des Kaisers. Ab 1899 durften die »Königsulanen« wie-der die Tradition der hannoverschen Garde du Corps fortführen. Im Ersten Weltkrieg kämpften sie, aufgeteilt in zwei Halbregimenter, sowohl an der Westfront als auch auf dem östlichen Kriegsschauplatz. 1918 endete die Ge-schichte der hannoverschen Ulanen. Die Tradition der beiden Regimenter übernahmen in der Reichswehr die 1. und 2. Eskadron des 13. Reiter-Regi-mentes, das bis 1939 bestand, als seine Schwadronen in diversen Aufklärungs-abteilungen der Wehrmacht aufgingen. Eine Traditionskameradschaft »König-sulanen-Regiment (1. Hannoversches) 13 1889 e.V.« ging nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Panzergrenadierba-taillon 11 (später 13) der Bundeswehr eine Patenschaft ein, die bis zur Auflö-sung der Kameradschaft in den 1980er Jahren bestand. Die Panzergrenadiere pflegten die Tradition bis zur Auflö-sung des Bataillons 1992 am Standort Wesendorf.

Bernhard Chiari

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Vom Preußischen Ulanenregiment (1. Hannoversches) Nr. 13 zum Ausbildungszentrum der Heeres-aufklärungstruppe in Munster

6 Reiterstandbild des Bremer Bildhauers Ernst Moritz Gorsemann (1886–1960) in der Eilenriede in Hannover, Aufnahme von 1927 von Wilhelm Ackermann.

Militärgeschichte im Bild

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