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Entschleunigung Silvia Strahm Bernet Vorbemerkungen 1. Als die Anfrage kam, war die erste Reaktion: absagen! Mit dem üblichen Grund: Keine Zeit. Wie alle, die etwas auf sich halten, müsste ich vielleicht selbstkritisch hinzufügen. Keine Zeit, über Zeit nachzudenken, keine Zeit, um über den (auch eigenen) Umgang mit Zeit nachzudenken. Dann, als zweites Argument: Ich bin geradezu die Falsche, weil ich es nicht schaffe, vernünftig mit Zeit, Ressourcen und Ruhepausen umzugehen. Ich lebe so- zusagen hochtourig. Und irgendwie mag ich es sogar, trotz Jammern und Stöhnen über zu viel zu Tun und zu wenig Zeit. Also bin ich eigentlich die falsche Besetzung, um über Entschleunigung nachzudenken. Warum habe ich also trotzdem zugesagt? Weil ich dachte, es könnte ja auch mir tatsäch- lich gut (und Not) tun, darüber nachzudenken. Und weil mich interessierte, was an ver- nünftigen Ideen da ist, um unsere Fetische Wachstum, Tempo, Zeiteinsparungen etc. zu kritisieren und allenfalls korrigierend umzulenken in ein verträglicheres, angemesseneres Tempo in Richtung Zukunft, die es dann vielleicht sogar noch gibt. 2. Ich habe zum Thema in einigen Büchern herumgestöbert und bin bei einem Buch ge- landet, dessen Hauptthesen ich heute Abend in Kurzform vorstellen möchte. Weil ich die Analysen gut finde und die Therapien zumindest interessant und diskussionswürdig. Ich habe sie in eine lose thematische Abfolge gebracht. Es wird kein stringenter Vortrag, es sind einzelne Blicke, ausgewählte Blickwinkel und Themen, die ich euch einfach mal vor- stelle und die nachher hoffentlich Stoff für Gespräche bieten. Zum Begriff Entschleunigung Entschleunigung ist ein schöner, ein beruhigender, ein mit Sehnsucht aufgeladener Be- griff. Aber er ist wahrscheinlich kein Begriff, zu dem einem Werber raten würden, wenn es um Programme, Kampagnen, Zieldefinitionen geht. Wir, d.h. die Mehrzahl der Men- schen in den Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften, funktionieren nicht (mehr) so. Wir werden angesprochen und sind ansprechbar auf Dynamik, Energie, Voranschreiten, Fortschritt; wir sind ungehalten, wenn etwas langsamer geht als gewohnt oder unser Zeitmanagement stört. Ein ganz typisches Beispiel für die Priorität (und auch die eigene Ansprechbarkeit auf Dynamik) war für mich das Bild des Bundesrates zum Jahreswechsel, das den Titel „Die glorreichen Sieben in Action“ trug (NLZ vom 3. Januar 2007, 5). Es war nicht das üblich arrangierte Gruppenbild, sondern das Bild eines sich in Bewegung befind- lichen Teams. Statisches wurde vermieden, Bewegung in den Vordergrund gerückt. Wohin sie Schreiten? Keine Ahnung. Die Hauptsache voran, und zwar mit viel Optimismus, Fri- sche, und offensichtlicher Zuversicht. Entschleunigung besitzt ein Begriffsumfeld, das aus Worten wie Bremsen, Abbremsen, Temporeduktion, Verlangsamen, langsam werden besteht. Diese Begriffe taugen gegen- wärtig noch kaum zum Werbeträger für Richtungsänderungen.(Werbeträger sind eher Be- griffe wie Relaxen, Wellness, Begriffe, die mit Gewinnen und nicht mit Verlusten assoziiert werden. Bremsen ist als Begriff völlig uncool, konservativ etc.) Der Begriff ist zwar schön und vielversprechend, aber auch tückisch. Er drückt eine Sehn- sucht aus und ist gleichzeitig ein Begriff gegen die Welt, wie sie ist und damit dem Vor- wurf der Naivität, des Konservativismus, ausgesetzt. Wer von Entschleunigung redet, wer Entschleunigung als Handlungs-Ziel definiert, muss sich gegen die Welt stemmen, hat also harte Arbeit vor sich und keineswegs ein Leben, das mehr Wohlbefinden garantiert. Nun aber zu den Thesen aus dem Buch, auf das ich mich stütze und euch so kurz wie möglich auf den Punkt bringen will:

Entschleunigung Silvia Strahm

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  • EntschleunigungSilvia Strahm Bernet

    Vorbemerkungen1. Als die Anfrage kam, war die erste Reaktion: absagen! Mit dem blichen Grund: Keine Zeit. Wie alle, die etwas auf sich halten, msste ich vielleicht selbstkritisch hinzufgen. Keine Zeit, ber Zeit nachzudenken, keine Zeit, um ber den (auch eigenen) Umgang mit Zeit nachzudenken. Dann, als zweites Argument: Ich bin geradezu die Falsche, weil ich es nicht schaffe, vernnftig mit Zeit, Ressourcen und Ruhepausen umzugehen. Ich lebe so-zusagen hochtourig. Und irgendwie mag ich es sogar, trotz Jammern und Sthnen ber zu viel zu Tun und zu wenig Zeit. Also bin ich eigentlich die falsche Besetzung, um ber Entschleunigung nachzudenken.

    Warum habe ich also trotzdem zugesagt? Weil ich dachte, es knnte ja auch mir tatsch-lich gut (und Not) tun, darber nachzudenken. Und weil mich interessierte, was an ver-nnftigen Ideen da ist, um unsere Fetische Wachstum, Tempo, Zeiteinsparungen etc. zu kritisieren und allenfalls korrigierend umzulenken in ein vertrglicheres, angemesseneres Tempo in Richtung Zukunft, die es dann vielleicht sogar noch gibt.

    2. Ich habe zum Thema in einigen Bchern herumgestbert und bin bei einem Buch ge-landet, dessen Hauptthesen ich heute Abend in Kurzform vorstellen mchte. Weil ich die Analysen gut finde und die Therapien zumindest interessant und diskussionswrdig. Ich habe sie in eine lose thematische Abfolge gebracht. Es wird kein stringenter Vortrag, es sind einzelne Blicke, ausgewhlte Blickwinkel und Themen, die ich euch einfach mal vor-stelle und die nachher hoffentlich Stoff fr Gesprche bieten.

    Zum Begriff EntschleunigungEntschleunigung ist ein schner, ein beruhigender, ein mit Sehnsucht aufgeladener Be-griff. Aber er ist wahrscheinlich kein Begriff, zu dem einem Werber raten wrden, wenn es um Programme, Kampagnen, Zieldefinitionen geht. Wir, d.h. die Mehrzahl der Men-schen in den Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften, funktionieren nicht (mehr) so. Wir werden angesprochen und sind ansprechbar auf Dynamik, Energie, Voranschreiten, Fortschritt; wir sind ungehalten, wenn etwas langsamer geht als gewohnt oder unser Zeitmanagement strt. Ein ganz typisches Beispiel fr die Prioritt (und auch die eigene Ansprechbarkeit auf Dynamik) war fr mich das Bild des Bundesrates zum Jahreswechsel, das den Titel Die glorreichen Sieben in Action trug (NLZ vom 3. Januar 2007, 5). Es war nicht das blich arrangierte Gruppenbild, sondern das Bild eines sich in Bewegung befind-lichen Teams. Statisches wurde vermieden, Bewegung in den Vordergrund gerckt. Wohin sie Schreiten? Keine Ahnung. Die Hauptsache voran, und zwar mit viel Optimismus, Fri-sche, und offensichtlicher Zuversicht.

    Entschleunigung besitzt ein Begriffsumfeld, das aus Worten wie Bremsen, Abbremsen, Temporeduktion, Verlangsamen, langsam werden besteht. Diese Begriffe taugen gegen-wrtig noch kaum zum Werbetrger fr Richtungsnderungen.(Werbetrger sind eher Be-griffe wie Relaxen, Wellness, Begriffe, die mit Gewinnen und nicht mit Verlusten assoziiert werden. Bremsen ist als Begriff vllig uncool, konservativ etc.)

    Der Begriff ist zwar schn und vielversprechend, aber auch tckisch. Er drckt eine Sehn-sucht aus und ist gleichzeitig ein Begriff gegen die Welt, wie sie ist und damit dem Vor-wurf der Naivitt, des Konservativismus, ausgesetzt. Wer von Entschleunigung redet, wer Entschleunigung als Handlungs-Ziel definiert, muss sich gegen die Welt stemmen, hat also harte Arbeit vor sich und keineswegs ein Leben, das mehr Wohlbefinden garantiert.

    Nun aber zu den Thesen aus dem Buch, auf das ich mich sttze und euch so kurz wie mglich auf den Punkt bringen will:

  • Fritz Reheis, Entschleunigung. Abschied vom Turbokapitalismus, Riemann Verlag, Mnchen 2003.

    Wie sieht unsere Situation aus? Stichworte: Hamsterrad/rollende Lawine

    Fritz Reheis greift zur Beschreibung des Ist-Zustandes immer wieder zurck auf das Bild des Hamsterrades, das wir ja alle kennen: der Hamster rennt in seinem Rad, indem er rennt, bewegt er das Rad; weil das Rad sich bewegt, muss der Hamster rennen....usw.

    Wir verursachen eine Entwicklung und sind gleichzeitig ihre Opfer; anhalten ist keine Al-ternative. Was er rt, davon spter.

    Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk hat fr das Hamsterrad ein anderes, vorwrtsge-richteteres Bild verwendet: das Bild der Lawine. In dem von ihm herausgegebenen Buch: Vor der Jahrtausendwende: Berichte zur Lage der Zukunft, Bd.2, Frankfurt a. M. 1990, fragt er sich, ob es denkbar ist, dass Lawinen lernen knnen:

    Lawinen sind als solche unbelehrbar, und ihre Mobilmachungsrichtung geht unabgelenkt ins blinde Vorwrts...Wann leistet eine Lawine sich selbst soviel Widerstand, dass sie von sich aus gezwungen wird, andere Bewegungen als die des blinden oder halbintelligenten Nach-Vorn auszufhren? Dies ist bisher nur mit Mhe vorstellbar, weil wir noch ausser-stande sind, die Selbsterhaltung des Fortschritts mit selbstbremsenden Mechanismen zu-sammenzudenken. Denn seit wann wre Bremsen eine progressive Kategorie? Und doch wird man sich daran gewhnen mssen, dass fr einen reflexiv gewordenen Fortschritt das Sich-Anhalten-Knnen ein strkeres Kriterium bedeuten wird als das Weiter-Gehen-Mssen.(724)

    Reheis formuliert es anders: Nicht anhalten knnen, sondern Verlangsamen auf ein ange-messenes Mass. Fr ihn ist Entschleunigung kein Wert an sich, wie auch Beschleunigung kein Wert an sich ist. Wie auch immer wir mit Tempo umgehen, ob es uns gut tut oder belastet, anregt oder hemmt, es geht hier einfach um einen angemessenen Umgang mit Tempo, mit Geschwindigkeit und Vernderungen. Nur, was angemessen ist, das muss neu gedacht werden.

    Zurck zum Ist-ZustandBeschleunigung ist Teil dessen, was unsere Welt in Vielem angenehm, spannend und ent-lastend macht. So gesehen wrde Entschleunigen heissen: wir handeln, zumindest kurz-fristig gesehen, auch gegen eigene Interessen. Wir alle sind in Vielem NutzniesserInnen, ProfiteurInnen der Beschleunigung und zugleich ihre Opfer.

    Ein grosser Teil der technischen, die Welt prgenden, die Welt verndernden Entwicklun-gen waren solche, in denen es um Zeiteinsparungen, d.h. um Produktivittssteigerungen und daran gekoppelt auch um Zeitgewinn ging. In unserer mit Gertschaften aller Art be-stckten Alltagswelt sparen wir unablssig Zeit und erhhen gleichzeitig den Zeitdruck. Wir wissen nicht, wo die eingesparte Zeit bleibt. Wir sparen Zeit, aber wir haben trotz-dem nicht mehr Zeit. Wir heben zudem die Zeitstruktur des Nacheinander auf und ma-chen immer hufiger vieles gleichzeitig. Wir sind Simultanten:

    In unserem Umgang mit Zeit zeigt sich ein eigenartiger Widerspruch: Zwar sind wir un-ablssig bemht Zeit einzusparen. Wir rsten uns mit einem gigantischen Arsenal Zeit sparender Maschinen aus. Wir kochen mit Schnellkochtpfen, fahren mit Hochleistungsli-mousinen, kommunizieren mit Handys und Internet, produzieren auf Roboterstrassen usw. Wir streichen Pausen und schaffen das Warten ab, wo immer der Fluss der Nonstop-Aktivitten behindert werden knnte. Wir arbeiten rund um die Uhr, rund um die Woche, rund um das Jahr. Wir konsumieren, was das Zeug hlt, verlngern die Ladenffnungszei-ten, verkrzen die Sperrstunden und locken bereits im Herbst mit Schoko-Nikolusen und im Winter mit Schoko-Osterhasen. Wir ernhren uns im Winter von eingeflogenen Som-merfrchten. Wir machen im Sommer Winterurlaub und im Winter Sommerurlaub. Wir

  • tun lngst mehrere Dinge gleichzeitig, wir entwickeln uns zum Simultanten, wie der Mnchner Zeitforscher Karlheinz A. Geissler diesen Sozialcharakter treffend nennt. Wir essen whrend des Fernsehens, wir telefonieren whrend des Autofahrens, wir erholen uns beim Einkaufen im Erlebniskaufhaus, und manche kaufen und verkaufen angeblich ihre Aktien whrend des Mittagessens. Aber bei all dem Bemhen um Schnelligkeit, Pausenlosigkeit und Gleichzeitigkeit ist immer irgendwie unklar, wo die eingesparte Zeit eigentlich bleibt.(11)

    Wieso tun wir das?Neben genetischer Programmierung auf ein Kurzzeitdenken (diesen Aspekt lasse ich weg) gibt es einen Faktor, der mir sehr plausibel scheint: Marianne Gronemeyer hat hierzu ein spannendes Buch geschrieben, das im Titel bereits sagt, was Ursache ist, sein kann:

    Marianne Gronemeyer, Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedrfnisse und Zeitknappheit, Darmstadt 1996.

    Wir haben, so ihre These, sowohl die Zeitauffassung traditionaler Gesellschaften verlas-sen (zyklisch, dem Jahreszeitenlauf gemss strukturiert) als auch die religis/spirituell geprgte Auffassung von Zeit hinter uns gelassen. Die Grnde sind vielfltig, reichen weit zurck, bestehen bleibt die Diagnose: Unsere Jenseitshoffnung schwindet oder bleibt aus, deshalb werden alle Anstrengungen aufs Diesseits verlegt. Und hier wird es bereits wie-der schwierig:

    Als ein Lebewesen mit einer begrenzten Lebensspanne sieht er - der Mensch - sich einer verlockenden Flle von Weltmglichkeiten gegenber. Die Kluft zwischen Lebenszeit und Weltmglichkeit ist so tief beunruhigend, dass er darber in Panik zu geraten droht. An-gesichts des berangebots der Welt erfhrt er seine Zeitknappheit erst recht qulend und die Angst, das Meiste, das Wichtigste oder das Beste zu versumen, wird zum peinigen-den Grundgefhl des Lebens. Von immer mehr Weltdingen wird seine Begehrlichkeit an-gestachelt, immer mehr Mglichkeiten sind in der Reichweite seines Zugriffs und immer ungnstiger gestaltet sich die Bilanz zwischen den ergriffenen und den versumten Gele-genheiten ...Was dem Leben an Lnge abgeht, soll durch Schnelligkeit wettgemacht wer-den. Eile ist geboten, um dem in seine Lebensspanne eingezwngten Leben so viel Reali-tt wie irgend mglich zuzufhren.(103)

    Knnen wir das Ganze stoppen?Ein Ausstieg aus dem Hamsterrad ist kaum mglich oder nur schwer denkbar, gerade un-ter den herrschenden weltwirtschaftlichen Bedingungen. Hochentwickelte Industriegesell-schaften sind hochkomplexe Gebilde, die schnell aus dem Tritt geraten. Das Ganze scheint einem zwar, von aussen gesehen, vllig ver-rckt und ohne Zukunft, und dennoch ist es schwer vorstellbar, wie Alternativen aussehen knnten, die nicht noch katastropha-lere Folgen fr noch mehr Menschen haben als sie dieses Weiterrennen im Hamsterrad bis heute erzeugt. Peter Sloterdijk hat diesen Mangel an Vorstellbarkeit von Alternativen folgendermassen formuliert:

    Die Moderne kann nach sich nur noch das Schlimmste kommen sehen. Andererseits liegt das Schlimmste przise auf ihrem Kurs, den zu verlassen sie sich verbietet, weil sie keine Alternative zu ihr fr denkbar hlt. Sie kann sich somit weder berschreiten noch wirklich eine Zukunft fr sich vorstellen. Macht sie weiter wie bisher, so produziert sie das Schlimmste; hrt sie auf, das Schlimmste zu produzieren, so wre sie nicht mehr sie selbst, sondern etwas epochal Anderes. Da sie aber nach sich buchstblich nichts mehr sieht ausser der Sintflut, bleibt die Moderne zu sich selbst verurteilt. Durch ihren unaus-gesprochenen und unkorrigierbaren Glauben an sich selbst als letzte ra wird sie in einer trben linearen Prozessualitt fixiert, die nur noch den endlosen Aufschub des Endes vor sich zu sehen vermag, nicht mehr aber die Mglichkeit eines Novum.(aus: Peter Sloterdijk, Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, Frankfurt a. M. 1989, 292)

  • Also keine Alternativen?Dem ist nicht so. Reheis formuliert ein paar Ideen:

    fr den Bereich der konomie

    und auch fr das eigene Verhalten, das natrlich durchaus konomische Folgen hat.

    Alternativen wren:

    Die Dualwirtschaft: Ausgliederung erwerbswirtschaftlicher Ttigkeiten in den eigenwirt-schaftlichen Bereich (alle Arbeiten, die man nicht fremdbestimmt erledigen muss, selber tun Dienstleistungen, Handwerk etc.); auch die alten Tauschkonomien wren hier er-neut anzuschauen und weiterzuentwickeln. (Ein Tauschnetz gibt es ja auch hier in Luzern! Siehe: http://www.tauschnetz.ch)

    In Argentinien etwa, nach dem Zusammenbruch der Volkswirtschaft vor ein paar Jahren, sind viele solcher Tauschbrsen entstanden, die eine Art zweite konomie darstellten. (Siehe Reheis, 194). Der eigenwirtschaftliche Bereich unterliegt keinen Effizienzkriterien, dient der unmittelbaren Bedrfnisbefriedigung und steht nicht unter Zeitdruck (ist ja kei-nem Marktdruck ausgesetzt). Dualwirtschaft ist eine defensive, sanfte, sozialpdagogisch ausgerichtete Alternative zum Turbokapitalismus.

    Eine gerechte Marktwirtschaft: durch Einkommensreform (z.B. das Ernstnehmen des liberalen Konzeptes der Tauschgerechtigkeit Leistung und Gegenleistung mssen in ei-nem gleichwertigen Verhltnis stehen. Das beinhaltet auch einen anderen Umgang mit leistungslosen Einkommen (wie Erbschaften), mit privilegierten Marktchancen der Gros-sen und Schnellen (durch Geldreform und Eigentumsreform, d.h. vor allem auch durch Steuerpolitik)

    Konkrete Entschleunigungsideen: Es gibt, schreibt Reheis, wirkliche Alternativen zur herrschenden Geld- und Kapitallogik, man muss sie schlicht zur Kenntnis nehmen und weiterentwickeln. Die bisher formulierten Alternativen beruhen auf bewhrten und ver-trauten Prinzipien und Institutionen. Selbstbestimmung des Menschen und die Leitidee der Gerechtigkeit gehren dazu wie auch die alte, auf die christliche Soziallehre zurck-gehende Vorstellung der Subsidiaritt (wenn der Einzelne nicht weiterkommt, ist zu-nchst die Familie, dann die Gemeinde, dann der Kanton, dann das Land gefordert.) Auch Umverteilung durch gerechte Steuerpolitik gehrt hierhin.

    Es gibt bereits viele Initiativen, die sich mit Entschleunigungsideen beschftigen, sie um-setzen und versuchen, Sand anstatt l im Getriebe der Welt zu sein.

    Reheis nennt hier die SlowFood-bewegung, die sterreichische Grndung Tempus (=Verein zur Verzgerung der Zeit). Um auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen, treten die Zeitverzgerer mit sogenannten paradoxen Interventionen an die ffentlichkeit. Ein Beispiel dafr: Die Zeitverzgerer fordern Passanten in Fussgngerzonen durch Pla-kate dazu auf, eine bestimmte, sehr geringe Geschwindigkeit einzuhalten, und lassen sich fr deren berschreitungen Begrndungen geben. Oder die Zeitverzgerer legen sich zur Haupteinkaufszeit am Samstagvormittag im Herzen Mnchens in eine Hngematte und provozieren die Passanten mit dem Transparent: Ich habe Zeit. (226)

    Auch unzhlige christliche/kirchliche und gewerkschaftliche Initiativen gehren dazu. Er-whnt wird auch Attac mit der Idee der Tobin-Tax (die spekulative Verwendung von Devi-sen soll durch Umsatzsteuer uninteressanter gemacht werden. (siehe 231f.) Dies wrde die Weltwirtschaft stabilisieren; zudem auch Geld einbringen, das fr entwicklungs- und umweltpolitische Zwecke verwendet werden knnte. Die Tobin-Tax wrde zur Folge ha-ben: dass Bewegungen auf den Kapitalmrkten geringer ausfallen und wirtschaftliche Entscheidungen wieder kalkulierbarer wrden (auf und ab der Devisenpreise wrde ge-ringer). Die Investitionsstrme wrden in den eigenen Lndern bleiben, die globale Kon-kurrenz entschrfen und die regionalen Wirtschaftskreislufe strken. Mit sinkenden De-visenrisiken gingen wirtschaftliche Risiken allgemein zurck und damit auch das allgemei-ne Zinsniveau, was den globalen Wachstumszwang abschwchen wrde.)

  • Die Formulierung von Alternativen stellt er bei seinen Therapieanstzen unter den Ober-begriff: Kluge Lust, was soviel bedeutet wie: es geht sowohl um Lust, Glck, Zufrieden-heit und um Vernunft, Nachdenken, Planen. Das Nachdenken selbst ist bereits entschleu-nigend, weil es sich Zeit nimmt zu berprfen, was denn zum eigenen Glck wesentlich gehrt, wie das Leben lustvoll sein kann und doch mit Beschrnkung zurechtkommt.

    Dies mchte ich noch etwas ausfhren:

    Kluge Lust Zur klugen Lust gehrt

    1. Eine Neudefinition von Wohlstand

    Wohlstand, also das, was wir uns im Grunde alle wnschen, wird meist mit konomischen Begriffen umschrieben. Wohlstand hat aber zwei Seiten:

    eine objektive, die man sicherlich mit dem tatschlichen Einkommen eines Men-schen erfassen kann und

    eine subjektive, die das Mass innerer Zufriedenheit beschreibt.

    Die Frage ist: Wie kann beides sinnvoll zusammenfallen.

    Einer, der hier Spannendes gedacht hat, ist der indische Wirtschaftsnobelpreistrger Amartya Sen. Unter Wohlstand soll man nicht die Gter oder deren Wert verstehen, son-dern die Mglichkeiten und Fhigkeiten der Lebensgestaltung, ber die Menschen tat-schlich verfgen. Letztendlich entscheidet ber die Hhe des Wohlstandes bzw. des Le-bensstandartes die Wahlfreiheit als Teil der tatschlichen Mglichkeiten. Am besten ge-stellt ist derjenige, der selbst entscheiden kann, wie er seine Fhigkeiten realisiert, wel-che Mglichkeiten er zur Fhrung seines Lebens ergreift und welche nicht.

    Hier setzt Reheis auch an mit der Umkehrung der herrschenden Prioritten Geld und Zeit an; Zeitwohlstand soll materiellem Wohlstand vorausgehen.

    Was meint Zeitwohlstand?

    Damit ist natrlich nicht die Zwangsfreizeit der Arbeitslosen gemeint und auch nicht die freie Zeit der KonsumbrgerIn. Gemeint ist ein Wohlbefinden in der Zeit.

    Meint Wohlstand traditionell Ausstattungswohlstand (also Besitz an Gtern), so meint Zeitwohlstand Vielfalt an Handlungsmglichkeiten, noch klarer: Freiheit des Willens. Also die Fhigkeit und die Mglichkeit, berhaupt whlen zu knnen. Im Grunde geht es bei allem auch um die alte Idee von Erich Fromm, in der das Sein ber dem Haben steht. Immer unter der Bedingung, dass das Haben die Grundlage bietet, aus der ja erst die Freiheit zum Sein erwchst.

    Hierhin gehrte auch eine alternative Zeitpolitik. Reheis spricht hier vom Schutz von Ei-genzeit, also von Zeit, die man nicht mit Erwerbsarbeit verbringt. Wichtig wre eine

    Entkoppelung von Einkommen und Arbeit und eine Prmie auf Faulheit. (Arbeit ist ja im-mer weniger dazu da, menschliche Bedrfnisse zu befriedigen, sondern um Probleme zu lsen, die durch vorausgehende Arbeit geschaffen wurden. Der innere Zusammenhang von Arbeit, gesellschaftlichem Nutzen und Entlhnung schwindet. Man kann so die Ent-lhnung genauso gut von der Arbeit lsen und als arbeitsloses Grundeinkommen definie-ren.)

    Zeitwohlstand in Form von Zeitinseln

    Es ist wichtig, sich Nischen zu schaffen, Zeitinseln. Kleine Fluchten. Dies alles aber nicht, wie in Managementratgebern geraten, als Mglichkeit zur Leistungssteigerung, sondern als Schaffung von Zonen, die einfach nur dem Wohlbefinden dienen. (Reheis, 78f)

  • Zu den Zeitinseln gehren nicht nur individuell gestaltete, sondern auch kulturell gewach-senen Fluchtmglichkeiten wie Wochenenden, Urlaub, Feierabend. In diesem Zusammen-hang bekommt natrlich auch der inzwischen hart umkmpfte Sonntag (und zunehmend der Feiertag) einen erhhten Stellenwert als nicht nur individuell genutzte, sondern als auch gesellschaftlich verordnete Pause, die klar macht: Wirtschaft, Leistung, Konsum sind nicht alles im Leben eines Menschen.(Dies klingt inzwischen beinahe schon roman-tisch; offensichtlich gibt es hier inzwischen keinen Konsens mehr)

    Solche Zeitinseln, wenn sie nicht wiederum mit Aktivitten/Konsum etc. ausgefllt wer-den, appellieren natrlich auch an etwas, das auf den ersten Blick mit unangenehmen Begriffen verbunden ist: etwa dem Begriff Verzicht. Der Begriff Verzicht ist ein Begriff, der sich wie der Begriff Entschleunigung gegen die Welt, vor allem die durchkonomisier-te, stemmt (gegen eine Welt, in der man sich auch in der erwerbsfreien Zeit marktkon-form verhalten, sprich konsumieren muss), um nicht zum Schdling zu mutieren. Wer Konsumverzicht bt, ist nicht nur nicht wirklich von dieser Welt, sondern verhlt sich auch geradezu destruktiv Sand im Getriebe zu sein ist dem Getriebe nicht zutrglich!)

    Reheis formuliert zum Thema Konsumverzicht ebenfalls ein paar Ideen: sie reichen von Information ber die Folgen des Konsums, Rckeroberung der Sinne durch Abrstung des Technikkonsums, Abschottung gegenber Werbung, Einfhrung eines Kauf-Nix-Tages, Safer Shopping bis hin zur Idee eines Kreditkarten-Kondoms.

    Zur klugen Lust gehrt

    2. Der Mssiggang

    Weil Musse

    1. die Voraussetzung ist fr Selbstreflexion, berhaupt von Denken,

    2. zweckfrei ist, ihr Sinn ruht im Verhalten selbst

    3. zu Wohlbefinden fhrt

    4. und mssiggngerisches Verhalten um sich selbst kreist, nicht linear ist. Warten, Wartenknnen ist ein wichtiges Element davon. Und zwar unbestimmtes Warten, ein Warten, in dem eben auch etwas Unerwartetes geschehen kann; Raum fr Neues, fr Kreativitt.

    Warten setzt wache Aufmerksamkeit voraus, sozusagen der aktive Teil des Nichtstuns. Man kann es auch vernehmende Vernunft nennen. Nochmals kurz zusammengefasst:

    Was knnen wir tun?

    Wir knnen /mssen die Wirtschaft neu programmieren, d.h.

    wir mssen uns umorientieren vom Ziel der Produktion zum Ziel der Reproduktion

    von der Herrschaft der Programmzeiten der Geldverwertungszwnge zur Herr-schaft der Eigenzeiten von Mensch, Gesellschaft, Kultur und Natur.

    uns zur Wehr setzen gegen die konomisierung aller Lebensbereiche

    Eines der Grundprobleme bei der Beurteilung von Alternativen und anderen Denkzu-gngen ist die gegenwrtig vorherrschende Deutung der Welt in ausschliesslich konomi-schen Kategorien. Tonangebend fr die Beschreibung und die Weiterentwicklung unserer Gesellschaften, also auch fr die Zukunftsentwrfe, ist der wirtschaftliche Zugang, und vor allem der Geldmassstab. Was etwas wert ist, bemisst sich am Geldwert. Ob etwas Sinn macht oder nicht, sagen Kostenstellenrechnungen und Kostentransparenz. Alles wird in monetren Zusammenhngen beurteilt. D.h. Entschleunigung bedeutet nicht nur, uns gegen den herrschende Umgang mit Zeit und Geschwindigkeit zu stellen, privat und ge-sellschaftlich, sondern auch gegen den Trend zur Beurteilung aller Lebensbereiche an-hand von Marktkategorien, d.h. vor allem des Faktors Geld.

  • Entschleunigung meint nicht generelle Verlangsamung, sondern Zurckschalten auf angemessenere Geschwindigkeiten. Der Ausstieg aus dem Turbokapitalismus, der immer mehr totalitre Zge annimmt, heisst nicht Verzicht auf Bedrfnisbefriedi-gung. Es heisst vielmehr , sich nicht lnger aufreiben, sondern sich Zeit lassen. Es geht uns so nicht nur besser, weil wir weniger zerstren, sondern weil wir neue Formen und Intensitten des Geniessens entdecken.

    Im privaten Bereich rt uns Reheis zu einem

    Drei-Listen-Konzept:

    1. Liste: Was ist mir wichtig?

    2. Liste: Worauf verwende ich meine Zeit?

    3. Liste: Wann versuche ich mit anderen zusammen Bedingungen herbeizufhren, die die Diskrepanz zwischen der ersten und der zweiten Liste zu verringern helfen?

    Wenn wir davon ausgehen knnten, dass, wo es frher fr qualitative Vernderungen Jahrhunderte brauchte, heute vielleicht sogar das Entschleunigen beschleunigt funktio-niert, wrde uns ein wenig Hoffnung bleiben, dass Kurskorrekturen mglich sind.

    Eine Bekannte hat mir fr Neujahr die folgenden Stze Drrenmatts geschickt, die mir hier als vorlufiger Schluss gut zu passen scheinen:

    Das Mgliche ist beinahe unendlich, das Wirkliche streng begrenzt, weil doch nur eine von allen Mglichkeiten zur Wirklichkeit werden kann. Das Wirkliche ist nur ein Sonderfall des Mglichen und deshalb auch anders denkbar. Daraus folgt, dass wir das Wirkliche umzudenken haben, um ins Mgliche vorzustossen.

    Einfhrungsreferat von Silvia Strahm Bernetam Jahreszeitenpalaver (#2 Winter), 8. Januar 2007

    nchstes Jahreszeitenpalaver (#3 Frhling):Grne Politik - Kernthemen und Werte - Heute, morgen und bermorgen?mit Christian SagerMontag, 7. Mai 2007, 18:30 Uhr, in der Stadtbibliothek

    Grne Stadt Luzern

    Neustadtstrasse 34, Postfach 31, 6000 Luzern 4,

    EntschleunigungVorbemerkungenZum Begriff EntschleunigungWie sieht unsere Situation aus? Stichworte: Hamsterrad/rollende LawineWieso tun wir das?Knnen wir das Ganze stoppen?Also keine Alternativen?Kluge Lust Was meint Zeitwohlstand?Zeitwohlstand in Form von Zeitinseln2. Der Mssiggang