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Für Peter Gautschi, Professor für Ge- schichtsdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Luzern, ist der Interviewter- min mit Zofinger Tagblatt und Luzerner Nachrichten ein Heimspiel: Er ist in der Zofinger Altstadt aufgewachsen und wohnt heute noch in der Thutstadt. Wie wichtig ist Geschichtsunterricht – und warum? Peter Gautschi: Sehr wichtig. Ge- schichtsunterricht trägt sowohl zur indi- viduellen als auch zur sozialen Identitäts- bildung bei. Zudem hilft er, ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln. Man lernt, mit Materialien aus der Vergangenheit umzugehen und zu beurteilen, was wahr und mit Fakten verbürgt ist. Das ist gera- de in der heutigen Zeit der «Fake News» ganz zentral. Aber Geschichte bildet nicht nur, sie unterhält auch. Das sieht man an den vielen geschichtlichen Kinofilmen und Büchern, die grossen Erfolg haben. Journalist Felix E. Müller warnte vor kurzem davor, dass ein vernachlässig- ter Geschichtsunterricht den Weg für Populismus und Nationalismus ebnen kann. Was ist dran an dieser These? Es ist sicher so, dass Geschichtsunterricht bei Menschen ein kritisches Bewusstsein ausbilden kann. Das erschwert es dann Populisten und Diktatoren, die Meinung anderer zu beeinflussen. Insofern hat Müller recht. Allerdings hängt es nicht nur vom Umfang des Geschichtsunter- richts ab, wie Müller geschrieben hat, sondern natürlich von der Art und Weise wie Geschichte vermittelt wird. Wir ha- ben heute in verschiedenen Ländern das Phänomen, dass Geschichtsunterricht da- zu beiträgt, Populisten und Diktatoren zu stärken. Das passiert, weil sie den Ge- schichtsunterricht missbrauchen, um ih- re einseitige und oft hetzerische Sicht der Dinge durchzusetzen. Das ist Gesinnungs- unterricht. Der 1. August 1291 als Geburtsdatum der Eidgenossenschaft, die Schlacht von Marignano als Ausgangspunkt der Neutralität: Es gibt einige Mythen, die bei genauer Betrachtung falsch sind. Was wird in der Schule unter- nommen, um solchen Verklärungen entgegenzutreten? Es gibt zwei Zugänge zur Vergangenheit. Wir können uns der Vergangenheit wis- senschaftlich nähern, nämlich mit Ge- schichte. Das ist ein bewusster Umgang mit Daten, Fakten, Erzählungen. Einen anderen Weg zur Vergangenheit eröffnen uns Erinnerung und auch Mythen. Dieser Weg führt weniger zu einem kritischen Bewusstsein, bildet dafür Identität aus, auch nationale Identität. Gerade Ende des 19. Jahrhunderts hat sich die Schweiz auf diese Weise neu erfunden. Für die Entstehung dieser Willensnation Schweiz waren die Mythen wichtig. Mythen haben also durchaus eine Funktion, und sie wa- ren auch während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wichtig, um ein Ge- meinschaftsgefühl gegen Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus zu erzeugen. Erinnerungen und Mythen hal- fen gegen die Angst vor diesen Ideolo- gien. In den 60er-Jahren wurden viele Menschen dann skeptischer gegenüber solcher Identitätsstiftung und meinten, dass falsche Feindbilder aufgebaut wür- den. Heute sehen wir, dass es beide Zu- gänge zur Vergangenheit braucht: Ge- schichte und Erinnerung. Wichtig ist al- lerdings der bewusste Umgang mit bei- dem. Hand aufs Herz: Wie gut ist der Ge- schichtsunterricht in der obligatori- schen Schule heute? In unseren grossen Videostudien und bei meinen Besuchen in Klassen sehe ich vie- le gute Geschichtsstunden, in denen die Schüler begeistert mitmachen. Wir kön- nen aufzeigen, dass im Geschichtsunter- richt viele relevante Themen wie bei- spielsweise der Kalte Krieg auf interessan- te Art und Weise und mit Einbezug von digitalen Medien vermittelt werden. Es gibt also viel mehr Gutes, als dies eine breite Öffentlichkeit vermutet. Ge- schichtsunterricht wird von den Schülern auch relativ positiv eingeschätzt. In unse- rer letzten grösseren Studie zur Beliebt- heit von Schulfächern kam Geschichte auf den vierten Platz, hinter Sport, Eng- lisch und Geografie. Wenn wir Schüler dann fragen, wieso Geschichte so beliebt sei, dann sagen sie: Geschichte gibt Ant- worten auf wichtige Fragen: Wie lebten die Menschen früher? Wofür kämpften sie? Was ist besser geworden und was schlechter? Kritiker mahnen, dass der Lehrplan 21 den Geschichtsunterricht schwä- che. Es gibt in der Sekundarschule I nicht einmal mehr ein eigenes Fach Geschichte. Die Kritiker haben recht, was den Um- fang und die Bezeichnung von Ge- schichtsunterricht betrifft. Der neue Na- me des Faches «Räume, Zeiten, Gesell- schaften» ist weder anschlussfähig an die Wissenschaft noch an die Vorstellungs- welt der Kinder. Die Jugendlichen können sich vorstellen, was Geschichte ist, nicht aber was «Räume, Zeiten, Gesellschaften» sein soll. Wenn man allerdings die Kom- petenzen und Inhalte anschaut, sehe ich es im Gegenteil sogar, dass der Lehrplan 21 neue und wichtige Impulse setzt für ein fachspezifisches historisches Lernen. Inwiefern? Indem im Lehrplan ausgewiesen wird, dass es wichtig ist, parallel zur Weltge- schichte auch Schweizer Geschichte zu thematisieren. Dann wird neu verlangt, dass sich Schule mit Geschichte in der Öf- fentlichkeit, also mit Museen, Denkmä- lern oder Historienfilmen, beschäftigen muss. Und schliesslich ist auch die politi- sche Bildung ein wichtiger Bestandteil des neuen Lehrplans 21. Alles in allem ist das ein modernes Konzept, das sich durchaus auch im internationalen Ver- gleich sehen lassen kann. Können Lehrer selber Schwerpunkte legen? Klar. Erstens bestimmt der Lehrplan nur 80 Prozent der zur Verfügung stehenden Zeit. Von 15 möglichen Themen werden nur 12 vorgegeben. Es schreibt einem auch niemand vor, wie viel Zeit für jedes Thema zu verwenden ist. So können Leh- rer unterschiedliche Akzente setzen und verschiedene Medien nutzen. Allerdings ist es schon ein Problem der heutigen Schule, dass Politik und Bildungsadminis- tration den Unterricht viel stärker steu- ern als früher. Diese Übersteuerung, die nun mit dem Lehrplan 21 stattfindet, ist kein gutes Phänomen. Sie ist Ausdruck ei- ner neuen Misstrauenskultur, die das frü- here Vertrauensverhältnis zwischen Schulaufsicht, Schulleitung, Lehrern und Eltern abgelöst hat. Der Aargau wechselt zum System mit 6 Jahren Primarschule und 3 Jahren Oberstufe. Verliert oder gewinnt der Geschichtsunterricht damit? Er verliert jetzt und in den nächsten Jah- ren. Ich bedaure sehr, dass wir in der Schweiz generell zum System 6/3 überge- gangen sind. Ich sehe da eine Primarisie- rung der Volksschule. In anderen Län- dern dauert die Primarschule vier Jahre. Dort beginnt der Geschichtsunterricht dann schon in der 5. Klasse. Durch die Verlängerung der Primarschule im Aar- gau ist der fachspezifische Geschichtsunter- richt insbesondere an der Bezirksschule tat- sächlich hinausgeschoben und auch redu- ziert worden. Ich kritisiere das, glaube aber auch, dass mittelfristig Geschichtsunterricht wieder an Bedeutung zunimmt. Das kann man bereits heute in der Westschweiz sehen, wo er schon in der 3. Primarschulklasse be- ginnt. Man kann es auch im Kanton Obwal- den sehen, der mit einem neuen Themenheft zur Schweizer Geschichte das historische Lernen in der Primarschule fördert. Tun die Medien genügend für die Ver- mittlung von Geschichte? Ja. Insgesamt bin ich glücklich über die gros- se Bedeutung, die Geschichte in verschiede- nen Schweizer Medien hat. Angefangen beim Zofinger Tagblatt mit den vielen historischen Beiträgen von Kurt Blum, der einen wahren Schatz an interessanten Geschichten aus der Region präsentiert. Auf der nationalen Ebene hat das Schweizer Fernsehen spannende Ge- schichts-Dokumentationen und unterhaltsa- me Filme zu historischen Themen produ- ziert. Geschichte spielt schon eine grosse Rol- le, und das überrascht mich auch nicht, weil die Medien auf das öffentliche Interesse re- agieren. Geschichte boomt in der Gesell- schaft. Die Medien reagieren glücklicherwei- se schneller als die Schulpolitik darauf. Wir erleben die erste Generation, die ihr Geschichtsverständnis auch aus dem In- ternet beziehen kann. Ist das ein Gewinn oder eine Gefahr? Beides. Natürlich gibt es Gefahren. Nicht oh- ne Grund ist der Begriff «Fake-News» in aller Munde. Mit all diesen neuen Technologien und Informationskanälen kann man viel schneller Falschmeldungen produzieren und verbreiten. Früher konnte man sicherer sein, dass Medien verantwortungsvoller sind und kontrollierter mit News umgehen als nun Twitter und Facebook, wo es keinen Redak- tor gibt, welcher eine gesellschaftliche Ver- antwortung übernimmt. Es sind ungefilterte Informationen, die heute zum Problem wer- den. Das ist auch ein Grund, warum es wich- tig ist, dass man im Geschichtsunterricht ein kritisches Bewusstsein im Umgang mit diesen neuen Medien entwickelt. Wird das explizit geschult? Ja. Eine der wichtigsten Kompetenzen in Ge- schichte ist der bewusste Umgang mit Quel- len. Bei Texten und Bildern muss man immer feststellen wollen, von wem die Materialien stammen und welche Absichten dahinter sind. Gerade die Quellenkritik, die zum Handwerk der Geschichte gehört, ist etwas, das in der heutigen Gesellschaft absolut zen- tral ist. Dies wird ab dem ersten Jahr Ge- schichtsunterricht geschult. Der Geschichts- unterricht ist darum eine der besten Antwor- ten auf die Gefahren, die mit den neuen Me- dien auf uns zukommen. Und die Chancen? Ich sehe jeden Tag die grossen Vorteile, die die neuen Medien bieten. Ein Beispiel: Wir, das Institut Geschichtsdidaktik und Erinne- rungskulturen der PH Luzern, haben mit dem Bourbaki-Museum und der Filmfirma Docmine eine App kreiert, mit der man die Schüler auf spielerische Art an das Bourbaki- Panorama heranführen kann. Mit Tablet- Apps kann man Geschichte ausgezeichnet er- klären. Das führt zu reichhaltigeren und sinn- reicheren Lernprozessen als bisher. Wie beobachten Sie die aktuelle Entwick- lung mit den Umbrüchen wie im Nahen Osten, dem aufkommenden Nationalis- mus in Europa und den USA? Ist das eine Zeitenwende? Ja, ich glaube schon. Es gibt viele Kollegen, die von einer Zeitenwende sprechen. Sie ma- chen das fest an Populisten und Demagogen, denen es wieder gelingt, mit einfachen Paro- len die Leute zu verführen und hinter sich zu scharen. Sie tun dies mit Versprechen, die sie nie einlösen können. Und gleichzeitig berei- chern sie sich selber und sichern sich Macht. Wenn man sieht, wie auf der ganzen Welt De- mokratie und Freiheit einen schweren Stand haben, dann ist es umso wichtiger, dass man einsteht für Errungenschaften wie Demokra- tie, Freiheit, Frieden und soziale Gerechtig- keit. Wo stehen wir? Im Moment erleben wir eine Phase, in der wir in den Problemen der Gegenwart stark gefangen sind. Viele Menschen wünschen sich einfache Lösungen. Populisten und Dem- agogen geben vor, dass sie die einfachen Lö- sungen haben. Und sie bekommen Zuspruch. Aber einfache Lösungen gibt es nicht in unse- rer komplexen Welt. Es braucht ein differen- zierteres Denken. Die grossen Probleme der heutigen Gesellschaft – und wir haben grosse Probleme –, die lösen wir nicht mit besserer Technik, grösserem Wachstum, höheren Mauern oder einfachen Parolen. Sondern es braucht mehr Achtsamkeit für Menschen und Gesellschaften in Vergangenheit und Gegen- wart. Guter Geschichtsunterricht kann das vermitteln. Der Geschichtsunterricht in der Schweiz ist unter Druck. Im Lehrplan 21 wird er im Fach «Räume, Zeiten, Gesellschaften» integriert, die Stundenzahl sinkt. Geschichtsdidaktiker Peter Gautschi rechnet auf längere Frist mit einer Gegenbewegung im Bildungssystem. VON ANDRÉ WIDMER (TEXT UND BILDER) «Geschichte ist eine der besten Antworten» Peter Gautschi wurde 1959 in Zofingen geboren. Nach dem Diplom als Primar- und Reallehrer studierte er Geschichte, Deutsch sowie Französisch und wurde Be- zirkslehrer . Ab 1989 arbei- tete Gautschi neben seiner Tätigkeit als Lehrer auch in der Lehrerbildung, zuerst am Didaktikum in Aarau, danach als Vizedirektor an der Pädagogischen Hoch- schule der Fachhochschule Nordwestschweiz. Seit 2011 ist er Professor für Ge- schichtsdidaktik an der - dagogischen Hochschule in Luzern und Honorarprofes- sor in Freiburg im Breis- gau. Für seine Arbeit ist er mehrfach ausgezeichnet worden. Gautschi ist Mit- glied in verschiedenen in- ternationalen Gremien. Pe- ter Gautschi ist verheiratet und hat drei erwachsene Söhne. Peter Gautschi «Es gibt viele Kollegen, die von einer Zeiten- wende sprechen.» «Geschichtsunterricht trägt zur individuellen als auch zur sozialen Identitätsbildung bei.» Peter Gautschi: «Es braucht ein differenzierteres DenkenGeschichte der Stadt: Peter Gautschi beim Niklaus- Thut-Brunnen. Im Gebäude der ehemaligen Milchzentrale wuchs Peter Gautschi in Zofingen auf . Entweder/Oder Hund oder Katze? Klassik oder Rock? So entscheidet sich Geschichtsdidaktiker Peter Gautschi im Fragebogen. Käse Dessert Zug Auto Hund Katze Fisch Fleisch Tee Kaffee Rock Klassik Berge Strand Bilder: flaticon.com 27 Schweiz am Sonntag 11. März 2017 das interview zum wochenende

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Page 1: Entweder/Oder «Geschichte ist eine der besten Antworten ... · PDF filezu beiträgt, Populisten und Diktatoren zu stärken. Das passiert, weil sie den Ge- ... auf den vierten Platz,

Für Peter Gautschi, Professor für Ge-schichtsdidaktik an der PädagogischenHochschule Luzern, ist der Interviewter-min mit Zofinger Tagblatt und LuzernerNachrichten ein Heimspiel: Er ist in derZofinger Altstadt aufgewachsen undwohnt heute noch in der Thutstadt.

Wie wichtig ist Geschichtsunterricht –und warum?Peter Gautschi: Sehr wichtig. Ge-schichtsunterricht trägt sowohl zur indi-viduellen als auch zur sozialen Identitäts-bildung bei. Zudem hilft er, ein kritischesBewusstsein zu entwickeln. Man lernt,mit Materialien aus der Vergangenheitumzugehen und zu beurteilen, was wahrund mit Fakten verbürgt ist. Das ist gera-de in der heutigen Zeit der «Fake News»ganz zentral. Aber Geschichte bildet nichtnur, sie unterhält auch. Das sieht man anden vielen geschichtlichen Kinofilmenund Büchern, die grossen Erfolg haben.

Journalist Felix E. Müller warnte vorkurzem davor, dass ein vernachlässig-ter Geschichtsunterricht den Weg fürPopulismus und Nationalismus ebnenkann. Was ist dran an dieser These?Es ist sicher so, dass Geschichtsunterrichtbei Menschen ein kritisches Bewusstseinausbilden kann. Das erschwert es dannPopulisten und Diktatoren, die Meinunganderer zu beeinflussen. Insofern hatMüller recht. Allerdings hängt es nichtnur vom Umfang des Geschichtsunter-richts ab, wie Müller geschrieben hat,sondern natürlich von der Art und Weisewie Geschichte vermittelt wird. Wir ha-ben heute in verschiedenen Ländern dasPhänomen, dass Geschichtsunterricht da-zu beiträgt, Populisten und Diktatoren zustärken. Das passiert, weil sie den Ge-schichtsunterricht missbrauchen, um ih-re einseitige und oft hetzerische Sicht derDinge durchzusetzen. Das ist Gesinnungs-unterricht.

Der 1. August 1291 als Geburtsdatumder Eidgenossenschaft, die Schlachtvon Marignano als Ausgangspunktder Neutralität: Es gibt einige Mythen,die bei genauer Betrachtung falschsind. Was wird in der Schule unter-nommen, um solchen Verklärungenentgegenzutreten?Es gibt zwei Zugänge zur Vergangenheit.Wir können uns der Vergangenheit wis-senschaftlich nähern, nämlich mit Ge-schichte. Das ist ein bewusster Umgangmit Daten, Fakten, Erzählungen. Einenanderen Weg zur Vergangenheit eröffnenuns Erinnerung und auch Mythen. DieserWeg führt weniger zu einem kritischenBewusstsein, bildet dafür Identität aus,

auch nationale Identität. Gerade Endedes 19. Jahrhunderts hat sich die Schweizauf diese Weise neu erfunden. Für dieEntstehung dieser Willensnation Schweizwaren die Mythen wichtig. Mythen habenalso durchaus eine Funktion, und sie wa-ren auch während der ersten Hälfte des20. Jahrhunderts wichtig, um ein Ge-meinschaftsgefühl gegen Kommunismus,Faschismus und Nationalsozialismus zuerzeugen. Erinnerungen und Mythen hal-fen gegen die Angst vor diesen Ideolo-gien. In den 60er-Jahren wurden vieleMenschen dann skeptischer gegenübersolcher Identitätsstiftung und meinten,dass falsche Feindbilder aufgebaut wür-den. Heute sehen wir, dass es beide Zu-gänge zur Vergangenheit braucht: Ge-schichte und Erinnerung. Wichtig ist al-lerdings der bewusste Umgang mit bei-dem.

Hand aufs Herz: Wie gut ist der Ge-schichtsunterricht in der obligatori-schen Schule heute?In unseren grossen Videostudien und beimeinen Besuchen in Klassen sehe ich vie-le gute Geschichtsstunden, in denen dieSchüler begeistert mitmachen. Wir kön-nen aufzeigen, dass im Geschichtsunter-richt viele relevante Themen wie bei-spielsweise der Kalte Krieg auf interessan-te Art und Weise und mit Einbezug vondigitalen Medien vermittelt werden. Esgibt also viel mehr Gutes, als dies einebreite Öffentlichkeit vermutet. Ge-schichtsunterricht wird von den Schülernauch relativ positiv eingeschätzt. In unse-rer letzten grösseren Studie zur Beliebt-heit von Schulfächern kam Geschichteauf den vierten Platz, hinter Sport, Eng-lisch und Geografie. Wenn wir Schülerdann fragen, wieso Geschichte so beliebtsei, dann sagen sie: Geschichte gibt Ant-worten auf wichtige Fragen: Wie lebtendie Menschen früher? Wofür kämpftensie? Was ist besser geworden und wasschlechter?

Kritiker mahnen, dass der Lehrplan21 den Geschichtsunterricht schwä-che. Es gibt in der Sekundarschule Inicht einmal mehr ein eigenes FachGeschichte.

Die Kritiker haben recht, was den Um-fang und die Bezeichnung von Ge-schichtsunterricht betrifft. Der neue Na-me des Faches «Räume, Zeiten, Gesell-schaften» ist weder anschlussfähig an dieWissenschaft noch an die Vorstellungs-welt der Kinder. Die Jugendlichen könnensich vorstellen, was Geschichte ist, nichtaber was «Räume, Zeiten, Gesellschaften»sein soll. Wenn man allerdings die Kom-petenzen und Inhalte anschaut, sehe iches im Gegenteil sogar, dass der Lehrplan21 neue und wichtige Impulse setzt fürein fachspezifisches historisches Lernen.

Inwiefern?Indem im Lehrplan ausgewiesen wird,dass es wichtig ist, parallel zur Weltge-schichte auch Schweizer Geschichte zuthematisieren. Dann wird neu verlangt,dass sich Schule mit Geschichte in der Öf-fentlichkeit, also mit Museen, Denkmä-lern oder Historienfilmen, beschäftigenmuss. Und schliesslich ist auch die politi-sche Bildung ein wichtiger Bestandteildes neuen Lehrplans 21. Alles in allem istdas ein modernes Konzept, das sichdurchaus auch im internationalen Ver-gleich sehen lassen kann.

Können Lehrer selber Schwerpunktelegen?

Klar. Erstens bestimmt der Lehrplan nur80 Prozent der zur Verfügung stehendenZeit. Von 15 möglichen Themen werdennur 12 vorgegeben. Es schreibt einemauch niemand vor, wie viel Zeit für jedesThema zu verwenden ist. So können Leh-rer unterschiedliche Akzente setzen undverschiedene Medien nutzen. Allerdingsist es schon ein Problem der heutigenSchule, dass Politik und Bildungsadminis-tration den Unterricht viel stärker steu-ern als früher. Diese Übersteuerung, dienun mit dem Lehrplan 21 stattfindet, istkein gutes Phänomen. Sie ist Ausdruck ei-ner neuen Misstrauenskultur, die das frü-here Vertrauensverhältnis zwischenSchulaufsicht, Schulleitung, Lehrern undEltern abgelöst hat.

Der Aargau wechselt zum System mit6 Jahren Primarschule und 3 JahrenOberstufe. Verliert oder gewinnt derGeschichtsunterricht damit?Er verliert jetzt und in den nächsten Jah-ren. Ich bedaure sehr, dass wir in derSchweiz generell zum System 6/3 überge-gangen sind. Ich sehe da eine Primarisie-rung der Volksschule. In anderen Län-dern dauert die Primarschule vier Jahre.Dort beginnt der Geschichtsunterrichtdann schon in der 5. Klasse. Durch dieVerlängerung der Primarschule im Aar-

gau ist der fachspezifische Geschichtsunter-richt insbesondere an der Bezirksschule tat-sächlich hinausgeschoben und auch redu-ziert worden. Ich kritisiere das, glaube aberauch, dass mittelfristig Geschichtsunterrichtwieder an Bedeutung zunimmt. Das kannman bereits heute in der Westschweiz sehen,wo er schon in der 3. Primarschulklasse be-ginnt. Man kann es auch im Kanton Obwal-den sehen, der mit einem neuen Themenheftzur Schweizer Geschichte das historischeLernen in der Primarschule fördert.

Tun die Medien genügend für die Ver-mittlung von Geschichte?Ja. Insgesamt bin ich glücklich über die gros-se Bedeutung, die Geschichte in verschiede-nen Schweizer Medien hat. Angefangen beimZofinger Tagblatt mit den vielen historischenBeiträgen von Kurt Blum, der einen wahrenSchatz an interessanten Geschichten aus derRegion präsentiert. Auf der nationalen Ebenehat das Schweizer Fernsehen spannende Ge-schichts-Dokumentationen und unterhaltsa-me Filme zu historischen Themen produ-ziert. Geschichte spielt schon eine grosse Rol-le, und das überrascht mich auch nicht, weildie Medien auf das öffentliche Interesse re-agieren. Geschichte boomt in der Gesell-schaft. Die Medien reagieren glücklicherwei-se schneller als die Schulpolitik darauf.

Wir erleben die erste Generation, die ihrGeschichtsverständnis auch aus dem In-ternet beziehen kann. Ist das ein Gewinnoder eine Gefahr?Beides. Natürlich gibt es Gefahren. Nicht oh-ne Grund ist der Begriff «Fake-News» in allerMunde. Mit all diesen neuen Technologienund Informationskanälen kann man vielschneller Falschmeldungen produzieren undverbreiten. Früher konnte man sicherer sein,dass Medien verantwortungsvoller sind undkontrollierter mit News umgehen als nunTwitter und Facebook, wo es keinen Redak-tor gibt, welcher eine gesellschaftliche Ver-antwortung übernimmt. Es sind ungefilterteInformationen, die heute zum Problem wer-den. Das ist auch ein Grund, warum es wich-tig ist, dass man im Geschichtsunterricht einkritisches Bewusstsein im Umgang mit diesenneuen Medien entwickelt.

Wird das explizit geschult?Ja. Eine der wichtigsten Kompetenzen in Ge-schichte ist der bewusste Umgang mit Quel-len. Bei Texten und Bildern muss man immerfeststellen wollen, von wem die Materialienstammen und welche Absichten dahintersind. Gerade die Quellenkritik, die zumHandwerk der Geschichte gehört, ist etwas,das in der heutigen Gesellschaft absolut zen-tral ist. Dies wird ab dem ersten Jahr Ge-schichtsunterricht geschult. Der Geschichts-unterricht ist darum eine der besten Antwor-ten auf die Gefahren, die mit den neuen Me-dien auf uns zukommen.

Und die Chancen?Ich sehe jeden Tag die grossen Vorteile, diedie neuen Medien bieten. Ein Beispiel: Wir,das Institut Geschichtsdidaktik und Erinne-rungskulturen der PH Luzern, haben mitdem Bourbaki-Museum und der FilmfirmaDocmine eine App kreiert, mit der man dieSchüler auf spielerische Art an das Bourbaki-

Panorama heranführen kann. Mit Tablet-Apps kann man Geschichte ausgezeichnet er-klären. Das führt zu reichhaltigeren und sinn-reicheren Lernprozessen als bisher.

Wie beobachten Sie die aktuelle Entwick-lung mit den Umbrüchen wie im NahenOsten, dem aufkommenden Nationalis-mus in Europa und den USA? Ist das eineZeitenwende?Ja, ich glaube schon. Es gibt viele Kollegen,die von einer Zeitenwende sprechen. Sie ma-chen das fest an Populisten und Demagogen,denen es wieder gelingt, mit einfachen Paro-len die Leute zu verführen und hinter sich zuscharen. Sie tun dies mit Versprechen, die sienie einlösen können. Und gleichzeitig berei-chern sie sich selber und sichern sich Macht.Wenn man sieht, wie auf der ganzen Welt De-mokratie und Freiheit einen schweren Standhaben, dann ist es umso wichtiger, dass maneinsteht für Errungenschaften wie Demokra-tie, Freiheit, Frieden und soziale Gerechtig-keit.

Wo stehen wir?Im Moment erleben wir eine Phase, in derwir in den Problemen der Gegenwart starkgefangen sind. Viele Menschen wünschensich einfache Lösungen. Populisten und Dem-agogen geben vor, dass sie die einfachen Lö-sungen haben. Und sie bekommen Zuspruch.Aber einfache Lösungen gibt es nicht in unse-rer komplexen Welt. Es braucht ein differen-zierteres Denken. Die grossen Probleme derheutigen Gesellschaft – und wir haben grosseProbleme –, die lösen wir nicht mit bessererTechnik, grösserem Wachstum, höherenMauern oder einfachen Parolen. Sondern esbraucht mehr Achtsamkeit für Menschen undGesellschaften in Vergangenheit und Gegen-wart. Guter Geschichtsunterricht kann dasvermitteln.

Der Geschichtsunterricht in der Schweiz ist unter Druck.Im Lehrplan 21 wird er im Fach «Räume, Zeiten,Gesellschaften» integriert, die Stundenzahl sinkt.Geschichtsdidaktiker Peter Gautschi rechnet auf längereFrist mit einer Gegenbewegung im Bildungssystem.VON ANDRÉ WIDMER (TEXT UND BILDER)

«Geschichte ist eine der besten Antworten»

Peter Gautschi wurde 1959in Zofingen geboren. Nachdem Diplom als Primar-und Reallehrer studierte erGeschichte, Deutsch sowieFranzösisch und wurde Be-zirkslehrer. Ab 1989 arbei-tete Gautschi neben seinerTätigkeit als Lehrer auch inder Lehrerbildung, zuerstam Didaktikum in Aarau,danach als Vizedirektor ander Pädagogischen Hoch-schule der FachhochschuleNordwestschweiz. Seit 2011ist er Professor für Ge-schichtsdidaktik an der Pä-dagogischen Hochschule inLuzern und Honorarprofes-sor in Freiburg im Breis-gau. Für seine Arbeit ist ermehrfach ausgezeichnetworden. Gautschi ist Mit-glied in verschiedenen in-ternationalen Gremien. Pe-ter Gautschi ist verheiratetund hat drei erwachseneSöhne.

Peter Gautschi

«Es gibt viele Kollegen,die von einer Zeiten-wende sprechen.»

«Geschichtsunterrichtträgt zur individuellenals auch zur sozialenIdentitätsbildung bei.»

Peter Gautschi: «Es braucht eindifferenzierteres Denken.»

Geschichte der Stadt: Peter Gautschi beimNiklaus-Thut-Brunnen.

Im Gebäude der ehemaligen Milchzentralewuchs Peter Gautschi in Zofingen auf.

Entweder/Oder

Hund oder Katze? Klassikoder Rock? So entscheidet sichGeschichtsdidaktiker PeterGautschi im Fragebogen.

KäseDessert

ZugAuto

Hund Katze

FischFleisch

TeeKaffee

RockKlassik

BergeStrand

Bilder: flaticon

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27 Schweiz am Sonntag11. März 2017das interview zum wochenende