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Epidemiologie der Verschreibung von Medikamenten in Hamburg Eine deskriptive Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Verordnungen von Benzodiazepinen Marcus S. Martens Peter Raschke Rüdiger Holzbach Uwe Verthein PD Dr. Uwe Verthein Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS) Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf Martinistraße 52 20246 Hamburg Tel.: 040 / 7410 57901 oder 877959 Fax: 040 / 7410 58351 Email: [email protected] Hamburg, Juli 2011

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Epidemiologie der Verschreibung von Medikamenten in Hamburg

Eine deskriptive Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Verordnungen von Benzodiazepinen

Marcus S. Martens Peter Raschke Rüdiger Holzbach Uwe Verthein PD Dr. Uwe Verthein Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS) Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf Martinistraße 52 20246 Hamburg Tel.: 040 / 7410 57901 oder 877959 Fax: 040 / 7410 58351 Email: [email protected]

Hamburg, Juli 2011

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung .............................................................................................................................. 3 1.1 Zielsetzung ..................................................................................................................... 5

2. Methodik................................................................................................................................ 5 2.1 Datengrundlage............................................................................................................... 6 2.2 Auswertungen................................................................................................................. 8

2.2.1 Vergleichbarkeit und Äquivalenzdosis ................................................................... 8 2.2.2 Klassifikation problematischer Verschreibungssequenzen ................................... 10

3. Ergebnisse............................................................................................................................ 11 3.1 Kassenärztliche Verschreibungen im Stichjahr und Patientenjahr............................... 12

3.1.1 Epidemiologie im Stichjahr................................................................................... 12 3.1.2 Verschreibungssequenzen von Benzodiazepinen im Patientenjahr ...................... 17

3.2 Räumliche Analyse des Verschreibungsverhaltens mit Benzodiazepinen................... 29 3.3 Anteile von Benzodiazepinverschreibungen auf Privatrezepten und Kassenrezepten. 35

4. Resümee .............................................................................................................................. 39 4.1 Schlussfolgerungen und Empfehlungen ....................................................................... 42

5. Literatur ............................................................................................................................... 45

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1. Einleitung

Das Streben des Menschen nach der Steuerung seines Befindens von negativen hin zu positi-ven Gefühlen ist seit Jahrtausenden bekannt. Früher geschah dies häufig im Rahmen von ritu-ellen Handlungen und in Verbindung mit der Nutzung von Naturdrogen. Spätestens mit Be-ginn der Industrialisierung und der industriellen Produktion von Alkohol stand nahezu allen Menschen die tägliche Nutzung des „Wirkstoffs Alkohol“ zur Regulation der Befindlichkeit zur Verfügung. Die moralisierende Bewertung von „Alkoholexzessen“ führte später dazu, dass die gesellschaftliche Akzeptanz für ein solches „haltloses“ Verhalten sank (Spode 1993). Gerade die freie Verfügbarkeit und damit die individuell nicht limitierte Dosis, können zu Missbrauch und Abhängigkeit führen. Obwohl die Hauptgruppe der abhängig machenden Medikamente – Benzodiazepine und Non-Benzodiazepine – ähnlich wie Alkohol wirken (in niedriger Dosierung anregend und angstlö-send, in höheren Dosierungen beruhigend und schlafanstoßend), haben sie in der Gesellschaft ein völlig anderes Ansehen. Sie sind im Regelfall nicht frei verfügbar und werden von medi-zinischer Seite gegen ärztlich diagnostizierte Erkrankungen und Störungen eingesetzt. Die besondere Stellung des Arztes,1 sicherlich aber auch industrielle Interessen führten dazu, dass die bereits 1961 von Hollister erstmals beschriebenen Abhängigkeitssymptome erst seit 1984 als Warnhinweis bei Benzodiazepinverschreibungen in der „Roten Liste“ angeführt wurden. Obwohl diversen Publikationen zu entnehmen ist, dass es in Deutschland bis zu zwei Mil-lionen Medikamenten-Abhängige gibt, tauchen die Betroffenen kaum im Suchthilfesystem auf (Soyka et al. 2005; Rösner et al. 2008). Dem gegenüber zeigen Befragungen von Ärzten, dass diese um die Abhängigkeitsentwicklung der Substanzgruppe wissen und deshalb auch die einschlägigen Empfehlungen der Leitlinien mehrheitlich befürworten (Holzbach et al. eingereicht). Gleichzeitig konnte diese Untersuchung aber auch zeigen, dass die Akzeptanz der Leitlinien keinen direkten Einfluss auf das Verordnungsverhalten von Benzodiazepinen hat: Mehr als vier Fünftel stimmen den Leitlinien prinzipiell zu, aber die Befürworter und Gegner der Leitlinien unterscheiden sich nicht eindeutig in dem Anteil an Patienten, denen sie persönlich langfristig Benzodiazepine verschreiben. Diese scheinbaren Widersprüche lassen sich nachvollziehen, wenn in der (Fach-)Öffentlichkeit einseitig verstärkt die Abhängigkeits- und Suchtproblematik der Benzodiazepine in den Vordergrund gerückt wird, diese Diagnose andererseits aber meistens auf einer unzureichenden und teilweise falschen Datenlage beruht. Zunächst zur einseitigen Betrachtung der Abhängigkeitsentwicklung: Als Abhängigkeit wird von den meisten Ärzten eine Entwicklung verstanden, bei der die Patienten eigenmächtig die Dosis steigern und schließlich die Kontrolle über die eingenommene Menge verlieren. Dies wird sicherlich von allen Ärzten als sehr problematische und unbedingt zu verhindernde Ent-wicklung gesehen. In der Ärzteschaft weitgehend unbekannt ist allerdings die Tatsache, dass bereits lange vor der Entwicklung eines solchen Vollbildes einer Abhängigkeit Veränderun-gen auftreten, die als Nebenwirkungen im Verlauf bezeichnet werden können. „Wirkumkehr“ und „Apathiesyndrom“ sind typische Veränderungen, die in der Regel nicht als durch die Me-

1 Der besseren Lesbarkeit halber wird im Folgenden die männliche Bezeichnung gewählt. Dabei ist die weibli-

che Form selbstverständlich mitgemeint.

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dikamente verursacht erkannt werden (Dreiphasenmodell nach Holzbach 2009 – siehe Abbil-dung 1).

Abbildung 1 Drei-Phasenmodell des Benzodiazepin-Langzeitkonsums (nach Holzbach 2009)

Phase 1: Keine Dosissteigerung („Wirkumkehr“) Akzessorische Symptome: • Schlafstörungen • Ängste • Gereizte Verstimmungszustände Phase 2: Moderate Dosissteigerung („Apathie-Phase“) Patienten steigern Dosis leicht („2-3 Tabletten pro Tag“). Es treten Langzeitnebenwirkungen auf. Typische Trias: • Gefühlserleben abgeschwächt • Vergesslichkeit und geistige Leistungsminderung • Gestörtes Körpergefühl / verminderte körperliche Energie Akzessorische Symptome: • Fähigkeit zur Selbstkritik abgeschwächt • Überforderung in bzw. Vermeidung von neuen oder belastenden Situationen • Gereizte Verstimmungszustände • Konfliktvermeidung • Muskuläre Schwäche, ggf. mit Reflexverlust STURZGEFAHR! • Appetitlosigkeit • Vermeidung des Themas Tabletten / heimliche Einnahme Phase 3: Deutliche Dosissteigerung („Sucht-Phase“) Durch zusätzliche Quellen treten Kontrollverlust mit Intoxikationszeichen auf, begleitet von Abstumpfung und fehlender Selbstkritik. Die Suchtkriterien gemäß ICD 10 sind erfüllt: • Wunsch/Zwang, die Substanz zu konsumieren • Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich Beginn, Beendigung und Menge • Körperliche Entzugssymptome • Toleranz/Dosissteigerung • Erhöhter Zeitaufwand für Beschaffung und Erholung von der Substanz • Vernachlässigung anderer Interessen • Fortgesetzter Konsum trotz Folgeschäden Der zweite wesentliche Punkt, der die oben angesprochenen Diskrepanzen erklärt, wurde durch die jüngst vom Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS) durchgeführte Studie beschrieben (Holzbach et al. 2010). Durch die im Auftrag des Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) entwickelte Methode eines norddeutschen bzw. bundesweiten Medikamenten-Monitorings konnte anhand der Daten von rund 16 Millionen Bundesbürger gezeigt werden, dass die Zahl der Abhängigen erheblich niedriger ist, als bisher angenommen wurde. Andererseits gibt es eine sehr große Zahl an Be-

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troffenen, die durch die Langzeiteinnahme von Benzodiazepinen und Non-Benzodiazepinen entsprechend der Phase 1 und 2 (vgl. Abbildung 1) erheblich beeinträchtigt ist. Die nun von der Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz der Stadt Hamburg in Auftrag gegebene Untersuchung für den Hamburger Raum bietet in Verbindung mit der derzeitigen öffentlichen Diskussion eine besondere Chance, hier ein differenziertes Problembewusstsein zu schaffen. Die hier vorgelegte systematische Auswertung der Daten auf Basis der Methodik der erwähnten BfArM-Studie (Holzbach et al. 2010) ermöglicht einen genaueren Kenntnisstand und in deren Folge gezieltere Interventionen. Dies dürfte derzeit größere Aussicht auf Erfolg haben, da die hamburgweit initiierte Dachkampagne „Mit-Den-ken – Bewusster Umgang mit Medikamenten“ sich als eine entsprechende Plattform für kriti-sche Diskussionen nutzen lässt.

1.1 Zielsetzung

Der vorliegende Bericht verfolgt unterschiedliche Zielsetzungen: Zum Ersten geht es um die systematische Erfassung problematischer und ggf. missbräuchlicher Versorgung von Patien-ten mit Benzodiazepinen, der größten und gesundheitspolitisch relevantesten Medikamenten-gruppe mit Missbrauchspotential. Zum Zweiten erfolgt eine Identifizierung und Klassifizie-rung problematischer Verschreibungssequenzen über längere Zeiträume hinweg aus der Sicht der Patienten und der Ärzte. Dabei geht es auch um die Identifizierung von substituierten Pa-tienten und deren Versorgung mit Benzodiazepinen. Zudem soll eine Einschätzung des Um-fangs der Versorgung mit Benzodiazepinen von „Schmerzpatienten“ und von Patienten, die Antidepressiva erhalten, dargestellt werden. Und drittens beschreibt eine sozial-räumliche Analyse das regionale Verschreibungsverhalten für Hamburg anhand der Faktoren Ge-schlecht, Alter und Wohnbereich (4-stellige PLZ-Nummer). Abschließend werden in dieser Form erstmalig die Anteile von Benzodiazepinverschreibungen auf Privatrezepten und Kas-senrezepten analysiert.

2. Methodik

Durch die Darstellung der Epidemiologie problematischer Versorgung mit Benzodiazepinen ergibt sich insgesamt ein weites Feld neuer, systematischer und repräsentativer Erkenntnisse zum Verschreibungsverhalten (und damit der Einnahme) von Benzodiazepinen und verwand-ten Medikamentengruppen speziell für Hamburg, die für die Behörde, die Kammervertretun-gen von Ärzten und Apothekern sowie die Patientenberatung von Nutzen sein können. Durch eine Analyse zeitlicher Entwicklungen können die Verschreibungen innerhalb eines Beobachtungszeitraums von insgesamt zwei Jahren – von Juli 2005 bis Juni 2007 – in eine zeitliche Abfolge gebracht werden. Dies ermöglicht als erstes auf die epidemiologische Fra-gestellung einzugehen, wie viele Patienten in einem Stichjahr – von Juli 2005 bis Juni 2006 – mit Benzodiazepinen, Substitutionsmitteln, Schmerzmitteln und Antidepressiva versorgt wur-den.

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Auf dieser Grundlage können dann zweitens zunächst diejenigen Patienten identifiziert wer-den, die im Stichjahr überhaupt Benzodiazepine erhielten. Und für diese Patienten können dann ab der ersten Verschreibung von Benzodiazepinen im Stichjahr die Verschreibungen für die folgenden 12 Monate (Patientenjahr) dargestellt werden. Diese Rekonstruktion eines gan-zen Patientenjahres eines „Benzodiazepin-Patienten“ ermöglicht dann die Einschätzung problematischer Verschreibungssequenzen, da das Kernproblem bei Benzodiazepinen im Ausmaß dauerhafter Versorgung liegt. Insofern sollte bei der folgenden Lektüre immer genau zwischen den epidemiologischen Übersichten zum Stichjahr – von Juli 2005 bis Juni 2006 – und den Beurteilungen eines Pati-entenjahres unterschieden werden. Das Patientenjahr eines „Benzodiazepin-Patienten“, der im Juli 2005 erstmals (im Stichjahr beobachtbar) ein Benzodiazepin verschrieben bekam, endet gemäß der Systematik der vorliegenden Analyse im Juni 2006. Das Patientenjahr eines „Ben-zodiazepin-Patienten“, der im Juni 2006 erstmals (im Stichjahr beobachtbar) ein Benzodiaze-pin verschrieben bekam, endet in der Systematik der vorliegenden Analyse im Mai 2007. Inwieweit seitens der Patienten bei problematischen Verschreibungssequenzen ein „Ärzte-Hopping“ stattfindet, um eine Überversorgung mit Benzodiazepinen zu verdecken, kann im Rahmen einer institutionellen Analyse differenziert nach den Fachgruppen der verschreiben-den Ärzte und der betroffenen Krankenkasse überprüft werden. Durch eine sozial-räumliche Analyse des Verschreibungsverhaltens können Problemschwer-punkte für Hamburg identifiziert und für entsprechende Maßnahmen fokussiert werden. Ins-gesamt ergibt sich daraus auch die Möglichkeit einer epidemiologischen Gesamteinschätzung der Problemlage unter den Aspekten „Stadt-Land“ und zu anderen Bundesländern – hierzu wurden die Daten von Schleswig-Holstein und Bremen ausgewählt. Dieses Vorgehen, zunächst ein Stichjahr zu definieren, in denen die Patienten dargestellt wer-den können, die überhaupt mit Benzodiazepinen, Substitutionsmitteln, Schmerzmitteln und Antidepressiva versorgt wurden, und darauf aufbauend diejenigen „Benzodiazepin-Patienten“ während eines ganzen „Benzodiazepin-Behandlungsjahres“ zu klassifizieren, liefert einerseits objektive epidemiologische Daten der Versorgung in einem Stichjahr und zugleich konserva-tive Schätzungen problematischer Versorgung in einem Patientenjahr, da außerhalb des Pati-entenjahres weder die vorangehenden noch die folgenden Verschreibungen miteinbezogen werden.

2.1 Datengrundlage

Die Datengrundlage für eine spezifische Analyse der Versorgung der Hamburger Wohnbe-völkerung mit rezeptierten Medikamenten beruht auf dem bereits einleitend genannten umfas-senderen Forschungsprojekt für das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Der Erhebungszeitraum reichte vom Juli 2005 bis zum Juni 2007. Die bisherigen Analysen zeigen innerhalb dieses Zeitraumes keine gravierenden Tendenzen oder Brüche, so dass angenommen werden kann, dass der beobachtete Zeitraum weiterhin repräsentativ für die Struktur der aktuellen Situation ist (vgl. Holzbach et al. 2010). Gesetzlich Krankenversicherte erhalten vom behandelnden Arzt ein so genanntes Kassenre-zept, dass in den öffentlichen Apotheken eingelöst werden kann. Da die Apotheken nicht mit

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jeder einzelnen Krankenkasse selber abrechnen können, reichen die Apotheken die eingelös-ten Rezepte an große Apothekenrechenzentren weiter (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2 Gewinnung von Verschreibungsdaten aus Kassenrezepten

In Deutschland gibt es fünf solcher Apothekenabrechnungszentren, die jeweils regional eine sehr hohe Abdeckung aufweisen. In dieser Untersuchung wurde mit dem Norddeutschen Apothekenrechenzentrum (NARZ) in Bremen kooperiert, das über sieben Bundesländer (Nie-dersachsen, Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Nordrhein-Westfalen) rund 16 Millionen Bundesbürger erfasst und eine Abdeckungs-quote von bis zu 88 Prozent aller Apotheken im jeweiligen Bundesland erreicht. Die Quote für Hamburg liegt bei 83,3 Prozent. Insofern kann ein fast vollständiges Abbild über die Ab-gabe und Verschreibungspraxis von Medikamenten auf Basis der eingereichten kassenärztli-chen Rezepte für Hamburg und die zum Vergleich herangezogenen Bundesländer Schleswig-Holstein und Bremen geliefert werden. Eine wesentliche Aufgabe der Rechenzentren ist es, die in Papierform vorliegenden Daten zu digitalisieren. Basierend auf diesen Daten kann eine anonymisierte Datenbank extrahiert werden, in der ein eindeutiger Code pro Kassenversi-chertem, das Alter, der Wohnort und (indirekt) das Geschlecht der einlösenden Person ent-halten sind. Darüber hinaus können der verordnende Arzt (inklusive Ort und Fachrichtung) sowie die einlösende Apotheke bestimmt werden. Die jeweils verschriebenen Medikamente können in ihrer Darreichungsform (z. B. Tropfen), der Stärke, der Einzeldosis und der Ge-samtdosis identifiziert werden. Mit dieser Methodik konnten in der Zeitspanne von Juli 2005 bis Mai 2007 mehrere Hundertmillionen Rezepte personenbezogen in anonymisierter Form ausgewertet werden. Darüber hinaus konnten in ausgewählten Apotheken die Abgabenmengen von Benzodiazepi-nen auf Privatrezepten erfasst werden, so dass Einschätzungen darüber möglich sind, in wel-chem Umfang von kassenärztlichen Verschreibungen auf Verschreibungen per Privatrezept ausgewichen wird. Aufgrund dieser beiden unterschiedlichen Datengrundlagen – ad personam vorliegende kassenärztlichen Rezepte und den Abgaben der Apotheken – wird die Auswer-tung der Privatrezepte in einem gesonderten Ergebniskapitel vorgenommen.

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2.2 Auswertungen

Um eine Aussage über den Verlauf der Einnahme machen zu können, wurde kein einfaches Querschnitts-Design zu einem bestimmten Stichtag gewählt, sondern als Bezugsgröße das sogenannte „Patientenjahr“ eingeführt. Unter „Patientenjahr“ wird der Zeitraum von 12 Mo-naten ab erster Verordnung eines Benzodiazepins verstanden (siehe oben). Entsprechend gibt es in dem Zeitraum von Juni 2005 bis Mai 2007 Patienten, die bereits im ersten Monat der Studie mit ihrem „Patientenjahr“ beginnen, weil sie sich in einer kontinuierlich laufenden Behandlung befinden, andere Patienten tauchen erst Monate später auf, weil sie zu diesem Zeitpunkt erstmalig ein Benzodiazepin verordnet bekommen haben. Der zweite methodische „Kunstgriff“, der gewählt wurde, ist der deskriptive Ansatz im Hin-blick auf die Verschreibungsdaten. Anhand der verordneten Gesamtmenge und dem Zeitraum der Verordnung, kann für jeden Patienten die damit mögliche durchschnittliche Tagesdosis und die Dauer der Behandlung nach folgenden Formeln ermittelt werden: Durchschnittliche Tages-Dosis = (GM R1 + GM R2 + ….. + GM Rn-1) ÷ (DRn – DR1) Verordnungsdauer = (GM R1 + GM R2 + ….. + GM Rn) ÷ DTD DRn = Verordnungs-Datum von Rezept Rn DRn – DR1 = Abstand in Tagen zwischen ersten und letztem Rezept DTD = Durchschnittliche Tagesdosis GM = Gesamt-Wirkstoffmenge eines Rezeptes (z. B. 20 Tabletten à 2 mg = 40 mg) n = Anzahl Rezepte, die an den Patienten im Jahr verordnet wurden.

2.2.1 Vergleichbarkeit und Äquivalenzdosis

Es gibt eine Fülle verschiedener Benzodiazepine für unterschiedliche Indikationen, mit unter-schiedlichen Wirkungen und differierenden Wirkmengen. Da in dieser Untersuchung weder die Diagnose noch die entsprechende Therapieempfehlung vorlagen, geht es nicht um die An-gemessenheit der Maßnahme bzw. Verordnung im engeren Sinne. Im Mittelpunkt steht, ob die entsprechend verschriebene Wirkmenge, auf Dauer oder im Übermaß verordnet, als prob-lematisch oder missbräuchlich beurteilt werden kann. Für diese Beurteilung bedarf es einer vergleichbaren und messbaren Einschätzung der in den verschiedenen Medikamenten einge-setzten „Wirkmenge“. Hierzu gibt es differierende Konzepte, von denen zwei hervorzuheben sind. Zum einen die von der WHO festgelegte „Defined daily dose (DDD)“, zum anderen die von Wissenschaft-lern und Praktikern benutzte „(Diazepam-)Äquivalenzdosis (10 mg)“. Defined daily dose (DDD): Die von der WHO definierte DDD stellt die durchschnittliche Erhaltungsdosis für Erwachsene bei der Hauptindikation einer Substanz dar. (The DDD is the assumed average maintenance dose per day for a drug used for its main indication in adults.) Dabei werden folgende Grundprinzipien beachtet: • DDD werden nur für Substanzen mit ATC-Code festgelegt,

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• es wird die Gesamtdosis pro Tag gemäß der Applikationsart des ATC-Codes genannt, • die DDD bezieht sich im Regelfall auf eine Monotherapie mit der Substanz, • die DDD wird frühestens nach Zulassung und Markteinführung in wenigstens einem Land

herausgegeben, • für Substanzen zur Behandlung seltener Erkrankungen mit individuellen Dosierungserfor-

dernissen werden keine DDDs festgelegt, • DDD werden nicht für Externa, Seren, Impfstoffe, Anästhetica, Kontrastmittel, und Krebs-

therapien erstellt, • die Dosis bezieht sich auf eine erwachsene Person mit 70kg Körpergewicht, • die DDD stellt die mittlere Dosis einer Erhaltungstherapie dar. Zur Ermittlung der DDD werden von dem Collaborating Centre for Drug Statistics Methodo-logy alle verfügbaren Quellen aus verschiedenen Ländern genutzt, wobei häufig ein Kom-promiss aus unterschiedlichen Vorgaben und lokalen Gepflogenheiten resultiert. (The DDD is nearly always a compromise based on a review of the available information including doses used in various countries when this information is available. The DDD is sometimes a dose that is rarely if ever prescribed, because it is an average of two or more commonly used dose sizes.) Hierbei besteht allzu häufig das Problem, dass Substanzen wie z. B. Diazepam oder Loraze-pam ein breites Zulassungsspektrum haben. Es ist somit schwer, für solche Substanzen die Hauptindikation bzw. die übliche mittlere Erhaltungsdosis festzulegen. Äquivalenzdosis (10mg Diazepam): Alle Benzodiazepine (und Non-Benzodiazepine) wirken dosisabhängig muskelentspannend, anxiolytisch, antikonvulsiv und hypnotisch. Dies lässt sich durch unterschiedliche Affinitäten der Substanzen zu den verschiedenen GABA-Rezeptoren und deren Verteilung im ZNS bzw. in der Peripherie erklären. Es liegt auf der Hand, dass nicht alle Benzodiazepine experimentell in ihrer Wirkstärke auf einzelne Indikationen oder in ihrer generellen Wirkung miteinander verglichen werden kön-nen. Eine Mischung aus Indikationsspektrum, verfügbaren Dosierungen und klinischer Erfah-rung sind Grundlage von Äquivalenztabellen, die es ermöglichen, die Wirkung einzelner Ben-zodiazepine miteinander zu vergleichen. Dies erscheint sinnvoll, da in epidemiologischen Untersuchungen die individuelle Indikation häufig nicht bekannt ist und Benzodiazepine nicht nur gemäß ihrem Zulassungs-Spektrum verwendet werden. Beim Vergleich unterschiedlicher Äquivalenztabellen zeigt sich, dass es mehrheitlich (bei 16 der 25 verfügbaren Substanzen) Übereinstimmungen gibt, bei vier Substanzen aber erhebliche Unterschiede in der Äquiva-lenzdosis zu Tage treten. Daraus ergibt sich, dass die DDD besonders geeignet für gesundheitsökonomische Fragestel-lungen erscheinen (z. B. bei welcher Erkrankung werden welche DDD zu welchen Kosten verwendet) oder wenn keine anderen Bezugsgrößen für den Vergleich unterschiedlicher Prä-parate zur Verfügung stehen. Für die Verwendung der DDD spricht ferner, dass sie durch ein größeres, unabhängiges Gremium erstellt wurden und es keine parallelen Ansätze mit abwei-chenden Ergebnissen gibt.

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Der Vorteil der Äquivalenzdosis gegenüber der DDD bei den Benzodiazepinen ist die genau-ere Darstellung der klinischen Wirkstärke, unabhängig von einer Hauptindikation. Darüber sind Vergleiche zwischen den einzelnen Substanzen möglich (z. B. kann die Frage des Ab-hängigkeitsrisikos nur auf der Grundlage gleicher Wirkstärke beurteilt werden); auch Kombi-nationsbehandlungen mit mehreren Substanzen sind darstellbar, und die reale Anwendung der Benzodiazepine unabhängig von ihrer Indikation findet Berücksichtigung. Beide Strategien der Herstellung von Vergleichbarkeit von Benzodiazepindosen haben offen-sichtlich ihre Vor- und Nachteile: Internationale Anerkennung, gesundheitsökonomische Be-deutung einerseits, klinische Relevanz andererseits. In allen folgenden Auswertungen werden daher beide Methoden der Vergleichbarkeit angewandt und dargestellt, so dass je nach Wert-schätzung und Fragestellung ein eigenständiges Urteil möglich ist. In Bezug auf die Äquivalenzdosis (10 mg Diazepam) bestehen jedoch Unsicherheiten. Das „Clinical Handbook of Psychotropic Drugs“ (Virani et al. 2009) und die „Deutsche Leitlinie“ (Poser et al. 2005) urteilen unterschiedlich, und der Mitautor dieser Studie, Dr. Rüdiger Holzbach, kommt bei bestimmten Substanzen auch zu anderen Einschätzungen. Daher wur-den alle diese drei Ansätze entlang der Hauptfragestellung – Ausmaß problematischer Ver-schreibungen – parallel gerechnet. Die Klassifikation von Herrn Holzbach erbrachte schließ-lich das konservativste Ergebnis. Daher wurde seine Klassifikation ausgewählt und den DDD gegenübergestellt.

2.2.2 Klassifikation problematischer Verschreibungssequenzen

Die generelle Regel bei der Verschreibung von Benzodiazepinen lautet verkürzt: möglichst nicht (zu) lange und in möglichst geringen Dosen. Daher gilt die ärztliche Leitlinie, nach einer Verschreibungsdauer von höchstens zwei Monaten keine weiteren Verschreibungen in den folgenden Wochen vorzunehmen. Das ist die Basis der nachfolgenden Klassifikation. Genü-gen die Verschreibungssequenzen diesen Anforderungen – unabhängig von der Verschrei-bungshöhe – so liegen sie („farbcodiert“) im grünen Bereich. So sehr sich diese Verschrei-bungssequenzen in einem Patientenjahr davon in Dauer und Verschreibungshöhe (Tagesdosis gemäß DDD oder Äquivalenzdosis) entfernen, desto mehr changieren die Signalfarben prob-lematischer Verschreibungen in Grau, Gelb, Orange, Rot oder Schwarz. Im Einzelnen gilt die folgende Farbcodierung der Gefährdungsstufen (siehe Abbildung 3): Die Farbe „Grün“ entspricht weitgehend den Empfehlungen der Ärztekammern und betont die kurze Verschreibungsdauer von bis zu zwei Monaten – unabhängig von der Tagesdosis. Die Farbe „Grau“ weist auf einen längeren Verschreibungsraum hin (> 2 Monate), aber mit einer geringen durchschnittlichen Tagesdosis (< 0,5 DDD). Es ist gleichsam ein „intermittie-render“ Bereich unterschiedlicher Dosierungsstrategien, die im Durchschnitt gering bleiben. Die Farbe „Gelb“ ist die erste problematische Stufe der Gefährdung, da sie die empfohlene Grenze von zwei Monaten überschreitet, aber die durchschnittliche Tagesdosis noch zwischen 0,5 und 1 DDD liegt. Allerdings gibt es in diesen Fällen keine Fortsetzung der Verschreibun-gen über die ersten sechs Monate hinweg. Die Farbe „Orange“ ist die zweite problematische Stufe der Gefährdung. Auch sie über-schreitet die empfohlene Grenze von zwei Monaten, aber die durchschnittliche Tagesdosis liegt bereits über einer Tagesdosis (Stufe a) oder sogar über der doppelten Tagesdosis (Stufe

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b). Allerdings gibt es auch in diesen Fällen keine Fortsetzung der Verschreibungen über die ersten sechs Monate hinweg. Die Farbe „Rot“ ist die erste hochproblematische Stufe der Gefährdung, da die Dauer-Ver-sorgung mit Benzodiazepinen die Grenze von sechs Monaten überschreitet. Die durchschnitt-liche Tagesdosis liegt zwar noch zwischen 0,5 und 1 DDD, aber die Verschreibungspraxis hält über sechs Monate, in der Regel – wie die empirische Analyse zeigt – über ein ganzes Patientenjahr hinweg an. Die Farbe „Schwarz“ ist die zweite hochproblematische Stufe der Gefährdung, da die Dauer-Versorgung mit Benzodiazepinen die Grenze von sechs Monaten überschreitet und die durch-schnittliche Tagesdosis bereits über einer Tagesdosis DDD (Stufe a) oder sogar über der dop-pelten Tagesdosis DDD (Stufe b) liegt. Die Dauer-Versorgung mit Benzodiazepinen über-schreitet nicht nur diese Halbjahresgrenze, sondern dauert – wie die empirische Analyse zeigt – sowohl auf der Stufe a als auch auf der Stufe b über ein ganzes Patientenjahr hinweg an.

Abbildung 3 Definition der Gefährdungsstufen und deren Farbcodierung nach Dauer und Dosierung an-hand DDD und Diazepam-Äquivalenten

Gefährdungs-Stufen Dauer Dosis, DDD / Diazepam-Äquivalenz

Leitlinienkonform < 8 Wochen Dosis unabhängig

Intermittierend > 8 Wochen Rezeptabstände so, dass sich pro Tag < 0,5 DDD / < 5 mg ergeben

Stufe 1 2-6 Monate 0,5-1 DDD / 5-10 mg

Stufe 2a 2-6 Monate 1-2 DDD / 10-20 mg

Stufe 2b 2-6 Monate > 2 DDD / > 20 mg

Stufe 3a > 6 Monate 0,5-1 DDD / < 10 mg

Stufe 4a > 6 Monate 1-2 DDD / 10-20 mg

Stufe 4b > 6 Monate > 2 DDD / > 20 mg

3. Ergebnisse

Die Ergebnisdarstellung unterteilt sich in mehrere Abschnitte, die sich an den in Abschnitt 1.1 genannten Zielsetzungen orientieren. Es folgt zunächst, im Hauptteil dieses Berichts, die Übersicht kassenärztlicher Verschreibungen für Hamburg und die Vergleichsregionen Schleswig-Holstein und Bremen. Hierbei geht es um die Identifizierung und Klassifizierung problematischer Verschreibungssequenzen über längere Zeiträume. Die Beschreibung von substituierten Patienten und deren Versorgung mit Benzodiazepinen sowie die Einschätzung

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des Umfangs der Versorgung mit Benzodiazepinen von „Schmerzpatienten“ und Patienten, die Antidepressiva erhalten, sind in diesen grundlegenden Ergebnisabschnitt, der sich in zwei Unterkapitel unterteilt, integriert. Anschließend erfolgt die Darstellung der sozial-räumlichen Deskription von Benzodiazepinverschreibungen. Die Benzodiazepinverordnungen auf Privat-rezept werden im dritten Abschnitt ausgewertet.

3.1 Kassenärztliche Verschreibungen im Stichjahr und Patientenjahr

Die kassenärztlichen Verschreibungen von Benzodiazepinen bilden für gesundheits-epide-miologische Analysen eine umfassende und objektive Datengrundlage. Dies gilt umso mehr, wenn ad personam festgestellt werden kann, wie viele der „Benzodiazepin-Patienten“ in ei-nem Stichjahr auch Substitutionsmittel, Schmerzmedikamente oder Antidepressiva erhielten. Von Interesse ist ebenso, wenn festgehalten werden kann, wie viele der Patienten im Stichjahr überhaupt Substitutionsmittel, Schmerzmedikamente oder Antidepressiva erhielten. Dadurch wird nicht nur die Gesamtmedikation, sondern auch die Ko-Medikation zu Benzodiazepin-verschreibungen erfassbar (siehe Abschnitt 3.1.1). Auch für Verlaufsanalysen stellen die kas-senärztlichen Verschreibungen eine objektive Datengrundlage dar, wenn ad personam festge-stellt werden kann, in welchem Umfang und mit welcher Dauer die „Benzodiazepin-Patien-ten“ in einem Patientenjahr versorgt werden, dies ggf. in problematischer Weise geschieht und ob dies bestimmte Patientengruppen betrifft (siehe Abschnitt 3.1.2).

3.1.1 Epidemiologie im Stichjahr

Im so genannten Stichjahr von Juli 2005 bis Juni 2006 wurde erhoben, wie viele Patienten mit Benzodiazepinen, Substitutionsmitteln, Schmerzmitteln und Antidepressiva entsprechend einer Stoffliste gemäß ATC Konvention versorgt wurden. Für dieses Stichjahr kann darge-stellt werden, wie viele Patienten in Hamburg wie oft die entsprechenden Verschreibungen erhielten. Dies wurde auch in den Vergleichs-Bundesländern Schleswig-Holstein und Bremen erhoben und durch den Bezug auf die Bevölkerungszahl eine Vergleichbarkeit hergestellt (siehe Tabelle 1).

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Tabelle 1 Verschreibungen von Benzodiazepinen, Substitutionsmitteln, opiathaltigen Schmerzmitteln und Antidepressiva im Stichjahr (Juli 2005 bis Juni 2006) nach Bundesland

Bundesland

Wirkstoff Hamburg Bremen Schleswig-Holstein

Benzodiazepine

N Verschreibungen 294.143 96.215 481.914

für N Patienten 78.456 23.467 127.761

Verschreibungen pro Patient 3,7 4,1 3,8

Patienten pro 1.000 Einwohner 46 36 46

Substitutionsmittel

N Verschreibungen 34.164 1.945 9.627

für N Patienten 2.185 274 993

Verschreibungen pro Patient 15,6 7,1 9,7

Patienten pro 1.000 Einwohner 1,3 0,4 0,4

Opiathaltige Schmerzmittel

N Verschreibungen 193.747 75.215 332.976

für N Patienten 47.301 17.470 78.246

Verschreibungen pro Patient 4,1 4,3 4,3

Patienten pro 1.000 Einwohner 28 26 28

Antidepressiva

N Verschreibungen 238.945 78.450 375.268

für N Patienten 76.294 25.186 112.421

Verschreibungen pro Patient 3,1 3,1 3,3

Patienten pro 1.000 Einwohner 45 38 40

Bezüglich der Versorgung mit Benzodiazepinen in Hamburg ergibt sich, dass 78.456 Patien-ten 294.143 kassenärztliche Verschreibungen erhielten, im Durchschnitt also 3,7 Verschrei-bungen im Stichjahr. Bezogen auf die Hamburger Bevölkerung erhielten 46 von 1.000 Ein-

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wohnern mindestens ein Rezept für Benzodiazepine von einem Arzt, was 4,6% aller Hambur-ger Bürger entspricht.2 Für die Versorgung mit Antidepressiva gelten ähnliche epidemiologische Werte von 4,5% der Hamburger Einwohner, die im Stichjahr eine kassenärztliche Verschreibung erhielten. Auch die Häufigkeit der Verschreibungen pro Patient liegt mit durchschnittlich 3,1 in einem noch vergleichbaren Bereich. Die Verschreibungen von opiathaltigen Schmerzmitteln liegen hinge-gen niedriger bei 2,8% bezogen auf die Hamburger Wohnbevölkerung. Wie zu erwarten, ist der Anteil der Substituierten in Hamburg an der Wohnbevölkerung wesentlich geringer und gleichzeitig ihre Verschreibungsdichte mit durchschnittlich 15,6 deutlich höher als bei den anderen Medikamentengruppen.3 Bei der Bewertung des ver-gleichsweise geringen Anteils der Substituierten sollten allerdings die Spezifika des Hambur-ger Versorgungssystems von Opiatabhängigen mit berücksichtigt werden (ein Großteil der Patienten wird in vier Drogenambulanzen behandelt). In dieser Untersuchung geht es nicht um eine „Hochrechnung“ auf die Substituierten in Hamburg, sondern in welchem Maße Sub-stituierte bei niedergelassenen Ärzten Benzodiazepine verordnet bekommen (siehe Tabelle 2). Beim Vergleich mit dem umgebenden Flächenstaat Schleswig-Holstein und dem Stadtstaat Bremen ergeben sich keine bemerkenswerten Unterschiede hinsichtlich der Medikamenten-gruppen von Benzodiazepinen, Schmerzmitteln und Antidepressiva. Hinsichtlich der Ver-gleichbarkeit der Verschreibungshäufigkeit von Substitutionsmitteln muss die Ausgabe- und Abrechnungspraxis der verschreibenden Ärzte in den Bundesländern berücksichtigt werden. Hier gibt es eine Vielzahl von Varianten: Take-home-Verschreibungen mit Rezeptausstellung auf den Namen des Patienten, Take-home-Vergabe ohne namentliche Rezeptausstellung, son-dern auf Praxisbedarf, Apothekenvergabe mit namentlichem Rezept, Abgabe in der Ambu-lanz/Praxis auf Praxisbedarfrezept, Abgabe in der Ambulanz/Praxis vertraglich geregelt und abgerechnet über die Kassenärztliche Vereinigung ohne Rezept und weitere Möglichkeiten. Nur Rezepte, die auf den Namen eines substituierten Patienten ausgestellt werden, können vom NARZ erfasst und einem Versicherten zugeordnet werden. Da jedoch die namentliche Ausstellung von Substitutionsrezepten kein Standard ist, kann somit auf Basis dieser Daten-grundlage nicht auf die Verbreitung der Substitutionsbehandlung an sich geschlossen werden. Nach den Daten des Substitutionsregisters des BfArM liegen die Substituiertenzahlen im Jahr 2005 (Stichtag 1.10.2005) deutlich über den hier genannten. So waren damals in Hamburg 3.858, in Bremen 1.539 und in Schleswig-Holstein 2.790 Substitutionspatienten beim BfArM gemeldet (Drogenbeauftragte 2006). Bezogen auf 1.000 Einwohner waren es im Jahr 2005 in Hamburg 2,2, in Bremen 2,3 und in Schleswig-Holstein 1,0 Patienten – insbesondere für Bremen liegt in der vorliegenden Untersuchung also eine deutliche Unterschätzung vor. In-wieweit es sich bei den hier einbezogenen Substituierten um eine systematisch verzerrte Teil-gruppe handelt oder ob die berücksichtigten Patienten eine durchaus repräsentative Unter-gruppe darstellen, kann aus den zur Verfügung stehenden Daten nicht beurteilt werden. Im 2 Hierbei handelt es sich noch nicht um die auf die reale Hamburger Einwohnerzahl hochgerechnete Rate (sie-

he hierzu Kapitel 4). 3 Der Benzodiazepin(bei-)gebrauch unter Substituierten, der sowohl auf verschriebene als auch nicht verschrie-

bene Medikamente zurückzuführen ist, wird in der Untersuchung von Eiroa-Orosa et al. (2010) ausführlich problematisiert und diskutiert. Dabei geht es zum einen um einen negativen Einfluss fortbestehenden Benzo-diazepinkonsums auf das Behandlungsergebnis sowie zum anderen um die Frage einer kontrollierten Ver-schreibung über längere Zeiträume hinweg für substituierte Patienten mit komorbiden Störungen.

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Zentrum des Interesses dieser Studie steht, ob und in welchem Maße Substituierte auch mit Benzodiazepinen versorgt werden (siehe Tabelle 2).

Tabelle 2 Verschreibungen von Benzodiazepinen aus der Perspektive der Patienten mit Substitutions-mitteln, opiathaltigen Schmerzmitteln oder Antidepressiva im Stichjahr (Juli 2005 bis Juni 2006) nach Bundesland

Bundesland

Im Stichjahr Hamburg Bremen Schleswig-Holstein

Substitutionsmittel

N Patienten 2.185 274 993 davon: mit Verschreibungen von Benzodiazepinen (in %) 20,5% 27,0% 24,8%

Anzahl der Tagesdosen pro Patient in DDD 345 299 509

Anzahl der Tagesdosen pro Patient in Diazepam-Äquivalenten (10 mg) 450 336 567

Opiathaltige Schmerzmittel

N Patienten 47.301 17.470 78.246 davon: mit Verschreibungen von Benzodiazepinen (in %) 25,9% 22,6% 27,7%

Anzahl der Tagesdosen pro Patient in DDD 124 136 117

Anzahl der Tagesdosen pro Patient in Diazepam-Äquivalenten (10 mg) 135 148 126

Antidepressiva

N Patienten 76.294 25.186 112.421 davon: mit Verschreibungen von Benzodiazepinen (in %) 28,1% 24,3% 26,5%

Anzahl der Tagesdosen pro Patient in DDD 126 127 120

Anzahl der Tagesdosen pro Patient in Diazepam-Äquivalenten (10 mg) 132 135 123

Benzodiazepine insgesamt

N Patienten 78.456 23.467 127.761 davon: nur mit Verschreibungen von Benzodiazepinen (in %) 58,1% 55,0% 59,3%

Anzahl der Tagesdosen pro Patient in DDD 51 68 53

Anzahl der Tagesdosen pro Patient in Diazepam-Äquivalenten (10 mg) 59 78 60

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In Tabelle 2 ist (im unteren Teil) zunächst sichtbar, wie viele der 78.456 Hamburger Patienten überhaupt keine anderen Verschreibungen von Substitutionsmitteln, Schmerzmitteln oder An-tidepressiva haben. Es sind 58,1%, die allein mit Benzodiazepinverordnungen dokumentiert sind. Zum anderen zeigt die Tabelle den jeweiligen Anteil der „Benzodiazepin-Patienten“, die auch Substitutionsmittel, Schmerzmittel und/oder Antidepressiva erhalten. Erstaunlicherweise variieren diese Anteile nur gering. Bei den Substituierten erhalten nur 20,5% der Patienten auch Benzodiazepine, bei den Patienten mit Schmerzmitteln bzw. mit Antidepressiva betragen die Anteile 25,9% bzw. 28,1%. In einer ersten Interpretation kann dies dahingehend gedeutet werden, dass die „Begleit-Me-dikation“ mit Benzodiazepinen, zumindest bei den genannten Patientengruppen, die entweder substituiert oder mit Schmerzmitteln oder Antidepressiva behandelt werden, nicht die Regel ist. Überwiegend erscheint die Benzodiazepinbehandlung als eine originäre Therapieform, die bei den genannten 58% der „Benzodiazepin-Patienten“ angewandt wird. Dies wird unterstrichen durch einen Blick auf die durchschnittlich verschriebenen Tagesdosen (in DDD bzw. in Diazepam-Äquivalenten). Hier zeigen sich sehr deutliche Unterschiede zwi-schen den Patientengruppen. Am geringsten ist die Dosis, wenn nur Benzodiazepine ver-schrieben wurden: durchschnittlich 51 bzw. 59 Tagesdosen pro Patient im Stichjahr. Außeror-dentlich hoch liegt sie bei den Substituierten mit 345 bzw. 450 Tagesdosen. Das entspricht etwa dem Achtfachen und gibt damit einen Hinweis auf die spezifische (psychische) Prob-lemlage dieser Klientel. Eine vergleichsweise hohe Tagesdosis weisen auch die Patienten mit der Ko-Medikation von Schmerzmitteln (124 bzw. 135) oder Antidepressiva (126 bzw. 132) auf. Sie ist etwa doppelt so hoch wie bei den Patienten, denen nur Benzodiazepine verschrie-ben werden. Dies unterstreicht die besondere Behandlungsbedürftigkeit der Schmerzmittel- und Antidepressiva-Patienten, denen zusätzlich Benzodiazepine verordnet werden. Im Ländervergleich ergeben sich analoge Tendenzen, wobei die Diskrepanzen bei den Sub-stituierten – niedrigere Benzodiazepindosen in Bremen, höhere in Schleswig-Holstein – nur vor dem Hintergrund der oben genannten Einschränkungen der Stichprobenzusammensetzung sowie des länderspezifischen Versorgungssystems beurteilt werden können. Die Tabelle 3 gibt einen zusammenfassenden Überblick, auch im Vergleich der Bundesländer, über alle Patienten mit Verschreibungen von Benzodiazepinen und Non-Benzodiazepinen im Stichjahr. Die durchschnittlich verschriebene Tagesdosis (in DDD bzw. in Diazepam-Äqui-valenten) liegt in Hamburg insgesamt bei 77 bzw. 85 Tagesdosen und in Schleswig-Holstein in entsprechender Höhe. In Bremen liegen diese Werte etwas höher – 89 bzw. 98 Tagesdosen – ohne dass hier beurteilt werden kann, ob dies an unterschiedlichen Einstellungen der ver-schreibenden Ärzte liegt, an der Versorgungsstrategie der Patienten oder an spezifischen Be-dingungen des Versorgungssystems. In jedem Falle sind die Unterschiede nicht so gravierend, um von Sonderwegen sprechen zu können. Dies gilt auch bezüglich der Verschreibungen von Benzodiazepinen und Non-Benzodiazepi-nen. In Hamburg liegt dieses Verhältnis bei 76,5% zu 23,5%. Ähnlich auch in Schleswig-Hol-stein. In Bremen verschiebt sich diese Relation mit 81,8% zu 18,2% etwas zugunsten der Benzodiazepine.

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Tabelle 3 Verschreibungen von Benzodiazepinen und Non-Benzodiazepinen im Stichjahr (Juli 2005 bis Juni 2006) nach Bundesländern

Bundesland

Benzodiazepine insgesamt Hamburg Bremen Schleswig-Holstein

N Verschreibungen 294.143 96.215 481.914

für N Patienten 78.456 23.467 127.761

Durchschnitt: Verschreibungen pro Patient 3,7 4,1 3,8

Durchschnitt: Anzahl der Tagesdosen pro Patient in DDD

77 89 76

Durchschnitt: Anzahl der Tagesdosen pro Patient in Diazepam-Äquivalenten (10 mg)

85 98 82

Durchschnitt: Patienten pro 1.000 Einwohner 46 36 46

davon:

Anteil der Verschreibungen mit Benzodiazepinen (in %) 76,5% 81,8% 77,4%

Anteil der Verschreibungen mit Non-Benzodiazepinen (in %) 23,5% 18,2% 22,6%

3.1.2 Verschreibungssequenzen von Benzodiazepinen im Patientenjahr

Für die Darstellung von Sequenzen innerhalb von 12 Monaten ist die erste Verschreibung eines Benzodiazepins für einen Patienten im Stichjahr der Ausgangspunkt. Danach werden alle weiteren Verschreibungen für diesen Patienten ad personam in den folgenden 12 Monaten registriert. Auf diese Weise kann eine Verschreibungssequenz pro Patient im Verlauf eines Patientenjahres festgehalten werden. Diese Verlaufskette von Verschreibungen ist die Grund-lage, um eine mögliche missbräuchliche Versorgung mit Benzodiazepinen klassifizieren zu können. Die generelle Regel beim Einsatz von Benzodiazepinen lautet verkürzt: möglichst über kurze Zeit und in möglichst geringen Dosen. Daher gilt die ärztliche Leitlinie, nach einer Verschrei-bungsdauer von höchstens zwei Monaten keine weiteren Verordnungen in den folgenden Wo-chen vorzunehmen. Das ist die Basis der oben ausgeführten Klassifikation, die „farbcodiert“ den Warnstufen „grün“ (unproblematisch) über „grau“, „gelb“, „orange“, „rot“ bis „schwarz“ (hoch problematisch) folgt.

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Zur besseren Lesbarkeit und Erleichterung von Interpretationen werden darüber hinaus die Stufen „gelb und orange“ zusammengefasst, da ihnen bei unterschiedlicher Dosierung die-selbe Verschreibungsdauer von zwei bis sechs Monaten zugrunde liegt. Dies gilt auch für die Gruppe „rot und schwarz“, denen die Verschreibungsdauer von über sechs Monaten gemein-sam ist. Auch alle vier genannten Gruppen „gelb“ bis „schwarz“ werden noch einmal zusam-mengefasst, da diesen eine Verschreibungsdauer von mehr als zwei Monaten zugrunde liegt. Besonders hervorgehoben wird schließlich noch die Gruppe der „Hochdosierungen“, bei de-nen über mindestens zwei Monate eine zweifache Tagesdosis verschrieben wurde. Dies be-trifft, wie die Daten in der Realität zeigen, besonders lange Verschreibungszeiten über sechs Monate. Sie stellen also die höchstproblematische Patientengruppe dar. Die Tabelle 4 gibt einen ersten umfassenden Überblick über die Epidemiologie problemati-scher Verschreibungssequenzen auf der Basis des Stichjahrs für Hamburg. Ausgangspunkt sind die bereits in den voran gegangenen Tabellen dargestellten 78.456 Patienten, die im Stichjahr mindestens einmal ein Benzodiazepinpräparat kassenärztlich verschrieben erhielten. Der Verlauf ihres jeweils folgenden Patientenjahres konnte bei 51,1% (gemäß DDD) oder bei 50,7% (gemäß Diazepam-Äquivalenten) dem Signalbereich „grün“ zugeordnet werden. Das heißt, dass bei der Hälfte aller Hamburger „Benzodiazepin-Patienten“ unter Berücksichtigung eines ganzen Patientenjahres die Leitlinien der Ärztekammern eingehalten wurden. Wie zu ersehen, liegen die Werte für DDD und Diazepam-Äquivalente eng beieinander. Dies gilt im Großen und Ganzen auch für alle weiteren Analysen. Daher werden im folgenden nur noch die Referenzwerte für die DDD zitiert, in den Tabellen sind aber immer beide Werte angege-ben, die gegebenenfalls auch kommentiert werden. Das besondere Augenmerk gilt natürlich den problematischen Versorgungssequenzen. Hin-sichtlich der „schwarz“ codierten Warnstufe betrifft dies immerhin 5,5% der „Benzodiazepin-Patienten“, und bezüglich der „rot“ codierten Warnstufe sind es 7,6%, bei denen ein proble-matisches Verschreibungsverhalten vorhanden ist (siehe Tabelle 4). Insgesamt liegt also bei 13,2% der Patienten eine tendenzielle Dauerversorgung mit relevant hoher Dosierung vor. Bei ihnen liegt die Dauer der Verschreibungen, die sie durchschnittlich in etwa 3-wöchentlichem Rhythmus erhalten (15,4 Verschreibungen pro Jahr), auf ein Patientenjahr gesehen bei 344 Tagen – also dauerhaft. Deutlich geringer sind diese Werte bei den Patienten, die mit „gelb“ oder mit „orange“ codiert wurden. Sie erhalten etwa jeden zweiten Monat eine Verschreibung (5,1 pro Jahr) und der Behandlungszeitraum begrenzt sich auf ca. ein Drittel des Patientenjahres (112 Tage). Aller-dings ist der Anteil dieser Patienten mit 2,4% erheblich geringer als der mit besonders prob-lematischen Versorgungssequenzen („rot/schwarz“). Die Frage, die sich hier stellt, geht einer-seits in die Richtung, ob sich diese Patienten im Übergang zu einer Dauerversorgung befin-den, oder es geschafft haben, noch rechtzeitig „abzubremsen“. Da es sich gerade in diesen Fällen um eine konservative Schätzung handelt – die Verschreibungen vor und nach dem Pa-tientenjahr gehen in dieser Analyse nicht ein –, dürfte eine pessimistische Einschätzung da-hingehend, dass diese Patienten eine längere Verschreibungsphase mit ggf. höheren Dosie-rungen noch vor sich haben (oder schon hinter sich hatten), vermutlich realitätsnäher sein. Für eine Gesamtaussage erscheint daher eine Zusammenfassung der Gefährdungsklassen von „gelb“ bis „schwarz“ angemessen. Davon sind 15,6% der Hamburger „Benzodiazepin-Pati-enten“ betroffen, wenn man die DDD als Dosiseinheit zugrunde legt, bzw. 16,3% bei Klassi-

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fizierung nach Diazepam-Äquivalenzdosen. Im Durchschnitt kommt es dabei zu etwa monat-lichen Verschreibungen (13,8 bzw. 12,9 pro Jahr) über zehn Monate hinweg (308 Tage). Eine besondere Aufmerksamkeit verdient die Gruppe der so genannten Hochdosierten. Sie erhalten in ihrem Behandlungszeitraum mehr als die doppelte Tagesdosis, und es werden nur diejenigen einbezogen, deren Behandlungszeitraum sich über mehr als zwei Monate erstreckt. Insgesamt ist dies nur eine relativ kleine Gruppe von Patienten (1,7% bzw. 1,9%). In der Re-alität allerdings zeigt die Datenlage, dass sich ihr Behandlungszeitraum im Durchschnitt über fast das ganze Jahr erstreckt (320 bzw. 317 Tage), wobei diese Patienten ihre Verschreibun-gen im Ein- bis Zwei-Wochen-Rhythmus erhalten (31,0 bzw. 27,2 Verschreibungen pro Jahr). Die verbleibende Restgruppe mit „grauer“ Farbcodierung macht ein Drittel aller Hamburger „Benzodiazepin-Patienten“ aus und stellt die zweitgrößte Gruppe dar (siehe Tabelle 4). Sie erhält im Durchschnitt nur 4,3 Verschreibungen, aber ihr Behandlungszeitraum erstreckt sich dennoch über das ganze Behandlungsjahr (367 Tage), wobei die Verschreibungsmenge unter einer halben Tagesdosis liegt. Bei diesen Patienten bestehen möglicherweise „Verzweigungs-situationen“, die entweder in eine gelungene therapeutische Moderierung von Problemen führen oder aber auch den Einstieg in eine eventuelle Niedrigdosis-Abhängigkeit bedeuten können.

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Tabelle 4 Gefährdungsstufen von Benzodiazepin-Verschreibungssequenzen im Patientenjahr gemäß der Farbcodierung in Hamburg

Farbcodierung Tages-dosis gemäß

Anzahl der

Patienten

Anteil der Patienten

Anzahl Verschrei-

bungen

Verschrei-bungs-

dauer in Tagen

Anteil der Frauen

Durch-schnitts-

alter

DDD 40.077 51,1% 1,1 12 67,7% 53,0 grün

D-Äquiv. 39.781 50,7% 1,1 16 67,7% 53,0

DDD 26.116 33,3% 4,3 367 72,2% 62,4 grau

D-Äquiv. 25.922 33,0% 4,5 364 71,6% 62,4

DDD 1.289 1,6% 4,0 113 64,8% 63,1 gelb

D-Äquiv. 1.289 1,6% 4,0 114 67,2% 62,8

DDD 631 0,8% 7,3 111 59,7% 59,6 orange

D-Äquiv. 734 0,9% 6,3 110 60,6% 59,5

DDD 5.992 7,6% 10,9 343 69,4% 65,4 rot

D-Äquiv. 6.163 7,9% 10,7 345 71,2% 65,8

DDD 4.351 5,5% 21,6 344 63,6% 61,2 schwarz

D-Äquiv. 4.567 5,8% 19,3 346 63,6% 60,5

78.456 100,0% 3,7

DDD 176 69,4% 57,8 Insgesamt

D-Äquiv. 178 69,4% 57,8

Zusammenfassungen:

DDD 1.920 2,4% 5,1 112 63,3% 62,0 gelb/orange (2-6 Monate)

D-Äquiv. 2.023 2,6% 4,8 113 65,0% 61,6

DDD 10.343 13,2% 15,4 344 66,9% 63,6 rot/schwarz (über 6 Monate)

D-Äquiv. 10.730 13,7% 14,4 345 67,9% 63,6

DDD 12.263 15,6% 13,8 308 66,6% 63,4 gelb bis schwarz (2 Monate u. länger)

D-Äquiv. 12.753 16,3% 12,9 308 67,6% 63,3

DDD 1.305 1,7% 31,0 320 69,8% 57,8 Hochdosierungen (> 2mal Tagesdosis) D-Äquiv. 1.484 1,9% 27,2 317 69,9% 57,8

Die Tabelle 4 liefert darüber hinaus Hinweise auf die epidemiologische Verbreitung proble-matischer Verschreibungen. Zwei Drittel der problematischen Verschreibungsfälle sind Frau-en. Dieser Anteil liegt über alle Gefährdungsstufen von „gelb“ bis „schwarz“ hinweg aller-dings auf einem ähnlichen Niveau und unterscheidet sich auch nicht wesentlich von den weni-ger gefährdeten Gruppen „grün“ und „grau“. Die Frauen sind grundsätzlich zu einem deutlich größeren Anteil unter Patienten mit problematischen wie auch nicht problematischen Benzo-diazepinverschreibungen vertreten.

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Ferner ist in Tabelle 4 ersichtlich, ob sich die Vermutung bestätigt, dass mit zunehmendem Alter die Akzeptanz oder die Zuflucht in problematische Verschreibungssequenzen anwächst. Die Antwort ist zunächst ein „Ja“. Die Patienten im „grünen“ Bereich sind im Durchschnitt knapp zehn Jahre jünger als die Patienten in der Übergangssituation „grau“ oder jenen im Risikobereich von „gelb bis schwarz“. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass das Durchschnittsalter in den Bereichen von „grau“ bis „schwarz“ nicht sonderlich variiert. Das bedeutet einerseits, dass vornehmlich die Älteren ab 60 Jahren von dem Problem intensiver (Über-)Versorgung mit Benzodiazepinen betroffen sind. Hinsichtlich der gestuften (Sucht-) Gefährdung problematischer Verordnungen ist im Durchschnitt aber keine lineare Altersent-wicklung auszumachen, so dass andererseits kein Automatismus einer „altersgradierten“ Ver-sorgung mit Benzodiazepinen zu erkennen ist. Aus klinischer Perspektive öffnet dies den Blick auf eine altergerechte Diagnostik seitens der Ärzte und einer ggf. edukativen Bewusst-seinsbildung seitens der Patienten im Sinne des Erhalts von Lebensqualität im Alter. Insbe-sondere die (kleine) Gruppe der Hochdosierten liegt mit ihrem Altersdurchschnitt auf dem (im Vergleich zu den Risikogruppen niedrigeren) Niveau der Gesamtgruppe aller Hamburger Benzodiazepin-Patienten, was noch einmal zeigt, dass problematische Verschreibungs-Kon-stellationen offensichtlich unabhängig vom Älterwerden auftreten können. Im Rahmen eines zusammenfassenden Vergleichs des Benzodiazepin-Verschreibungsverhal-tens über die drei Bundesländer Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein hinweg können die oben in Tabelle 4 dargestellten Ergebnisse differenziert analysiert werden. Dieser Ver-gleich ist in der nachfolgenden Tabelle 5 dargestellt. Es wird zum einen der Anteil problema-tischer Verschreibungssequenzen von „gelb“ bis „schwarz“ sowie zum anderen die durch-schnittlich verschriebene Tagesdosis (DDD und Diazepam-Äquivalente) und die durchschnitt-liche Versorgungsdauer im Patientenjahr verglichen. Es fällt auf, dass die Unterschiede im Sinne der vorliegenden Analyse vernachlässigbar sind. Lediglich für Bremen mit einem um gut drei Prozentpunkte höheren Wert zeigt sich insgesamt ein etwas problematischeres Ver-schreibungsverhalten von Benzodiazepinen. Die Validität und Repräsentativität der Hambur-ger Ergebnisse bleibt davon unberührt.

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Tabelle 5 Patienten mit problematischen Verschreibungssequenzen („gelb“ bis „schwarz“) im Verlauf eines Patientenjahres in den Bundesländern Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein

Anzahl der Patienten

Problematische Verschreibungs-sequenzen (gelb bis schwarz) in %

gemäß Alle Patienten

Anteil problema-tischer Verschrei-

bungen an der Bevölkerung

Bundesland DDD Diazepam-Äquivalente N in %

Hamburg 15,6% 16,3% 78.456 0,75% Bremen 19,0% 19,7% 23.467 0,70% Schleswig-Holstein 15,8% 16,2% 127.761 0,74% Durchschnittliche Tagesdosis im Behandlungszeitraum

Problematische Verschreibungs-

sequenzen (gelb bis schwarz) gemäß

N betroffene Patienten gemäß

Bundesland DDD Diazepam-Äquivalente DDD Diazepam-

Äquivalente Hamburg 1,2 1,2 12.263 12.753 Bremen 1,1 1,2 4.451 4.628 Schleswig-Holstein 1,1 1,2 20.247 20.659 Durchschnittliche Versorgungsdauer im Patientenjahr

Problematische Verschreibungs-

sequenzen (gelb bis schwarz) gemäß

N betroffene Patienten gemäß

Bundesland DDD Diazepam-Äquivalente DDD

Diazepam-Äquivalente

Hamburg 308 308 12.263 12.753 Bremen 314 318 4.451 4.628 Schleswig-Holstein 313 315 20.247 20.659 Die bereits auf Basis der Daten in Tabelle 4 diskutierte Frage eines Zusammenhangs zwischen problematischer Benzodiazepinverordnung und dem Lebensalter soll anhand einer differen-zierteren Darstellung nachfolgend genauer untersucht werden. In Tabelle 6 ist aufgezeigt, in welcher Altersstufe es zu welchem Anteil zu problematischen Verschreibungssequenzen kommt. Dabei wird zugleich deutlich, dass die obige in Tabelle 4 erfolgte zusammenfassende Darstellung mit Zuordnung des Durchschnittsalters nur bedingt geeignet ist, Schlussfolgerun-gen zum Verschreibungsverhalten in bestimmten Altersgruppen zu ziehen.

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Bei den bis zu 40-jährigen Patienten dominiert die unproblematische Verschreibung („grün“) eindeutig und liegt mit 71,6% (DDD) sehr hoch. Danach sinkt dieser Anteil kontinuierlich mit zunehmendem Alter. Bei den 50- bis 60-Jährigen liegt er noch bei 51,1%, aber bei den über 80-jährigen Hamburger Patienten betrifft es nur noch 32,8%. Parallel dazu wächst vor allem der „graue“ Bereich – als ein „intermittierender“ Bereich unterschiedlicher Dosierungsstrate-gien (bis zu einer halben Tagesdosis) auch über längere Zeiträume hinweg – kontinuierlich mit dem Lebensalter. Liegt hier der Anteil bei den Jüngeren (bis 40 Jahre) nur bei 20,2%, so nimmt er bei den Älteren kontinuierlich zu auf 44,3% bei den über 80-jährigen Patienten. Wie bereits angedeutet, befinden sich Patienten in dieser „grauen“ Verschreibungszone mögli-cherweise auf dem Weg zu problematischeren Verordnungen von Benzodiazepinen. Darauf verweist der wachsende Anteil problematischer Verschreibungssequenzen von „gelb“ bis „schwarz“. Bei den Jüngeren liegt er moderat noch bei 8,2% und damit deutlich unter dem Gesamtwert von 15,6% (vgl. Tabelle 4). Danach steigt auch dieser Anteil kontinuierlich mit dem Alter und erreicht bei den über 80-jährigen Patienten den Höchstwert von 22,8%. Dieser Anstieg beruht vor allem auf den wachsenden Anteilen im „roten“ Bereich, der für eine konti-nuierliche Dauerversorgung von Tagesdosen zwischen 0,5 und 1 DDD steht. Diese Steige-rungsrate mit zunehmendem Alter trifft interessanterweise nicht für die Hochdosierungen (über 2 Tagesdosen) zu. Bei diesen Patienten liegen offensichtlich andere, altersunabhängige Indikationen oder Verschreibungsstrategien vor.

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Tabelle 6 Gefährdungsstufen von Verschreibungssequenzen im Patientenjahr gemäß der Farbcodierung in Hamburg nach Altersgruppen

Alter der Patienten

Farbcodierung Tages-dosis gemäß

bis zu 40 Jahre alt

40 bis <50 Jahre alt

50 bis <60 Jahre alt

60 bis <70 Jahre alt

70 bis <80 Jahre alt

80 Jahre und älter

DDD 71,6% 59,9% 51,1% 45,6% 38,9% 32,8% grün

D-Äquiv. 71,2% 59,4% 50,7% 45,3% 38,5% 32,5% DDD 20,2% 27,1% 33,6% 36,9% 41,7% 44,3%

grau D-Äquiv. 20,2% 27,1% 33,3% 36,5% 40,5% 44,7% DDD 1,1% 1,3% 1,4% 1,7% 1,9% 2,6%

gelb D-Äquiv. 1,1% 1,4% 1,5% 1,7% 2,0% 2,4% DDD 0,8% 0,7% 0,6% 0,8% 0,8% 1,1%

orange D-Äquiv. 0,9% 0,8% 0,7% 1,1% 1,0% 1,1% DDD 2,9% 5,4% 7,4% 8,7% 10,5% 12,5%

rot D-Äquiv. 2,8% 5,3% 7,5% 8,9% 11,3% 13,1% DDD 3,3% 5,6% 5,7% 6,3% 6,2% 6,6%

schwarz D-Äquiv. 3,7% 6,0% 6,2% 6,5% 6,6% 6,2%

Insgesamt 100,0% 100,0% 100,0% 100,0% 100,0% 100,0% N-Patienten 15.120 12.484 12.796 14.550 12.403 10.472 Anteil der Patienten 19,4% 16,0% 16,4% 18,7% 15,9% 13,5%

Zusammenfassungen:

DDD 1,9% 2,0% 2,1% 2,5% 2,7% 3,7% gelb/orange (2-6 Monate)

D-Äquiv. 2,0% 2,2% 2,2% 2,8% 3,0% 3,5%

DDD 6,3% 11,0% 13,2% 15,0% 16,7% 19,1% rot/schwarz (über 6 Monate)

D-Äquiv. 6,6% 11,3% 13,7% 15,4% 17,9% 19,3%

DDD 8,2% 13,0% 15,2% 17,5% 19,4% 22,8% gelb bis schwarz (2 Monate u. länger)

D-Äquiv. 8,6% 13,5% 15,9% 18,2% 20,9% 22,8%

DDD 1,7% 2,3% 1,7% 1,6% 1,4% 1,1% Hochdosierungen (> 2mal Tagesdosis) D-Äquiv. 2,1% 2,6% 2,0% 2,0% 1,5% 1,0% Es wurde bereits dargestellt, zu welchen Anteilen und wie oft im Stichjahr die Versorgung mit Benzodiazepinen eine Ko-Medikation ist (vgl. Tabelle 2). Nachfolgend soll genauer dargelegt werden, inwieweit es bei Substituierten und Patienten, die Schmerzmittel oder Antidepressiva erhalten, zu problematischen Verschreibungssequenzen gekommen ist. Eine erste Beobachtung ist, dass die meisten Patienten, die Benzodiazepine erhalten, aber im jeweiligen Vergleich keine Substitutionsmittel, Schmerzmittel oder Antidepressiva, im „grü-

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nen“ Bereich blieben, diese Anteile liegen jeweils über der Hälfte (nach DDD 51,2%, 54,1% bzw. 57,9%). Wurden parallel dazu Substitutionsmittel, Schmerzmittel oder Antidepressiva verschrieben, liegen die Anteile im „grünen“ Bereich deutlich niedriger bei 25,7%, 35,3% bzw. 33,4% (siehe Tabelle 7). Spiegelverkehrt stellt sich die Situation bei den problematischen Verschreibungssequenzen dar („gelb“ bis „schwarz“). Liegt eine Ko-Medikation vor, so ist der Anteil problematischer Verschreibungssequenzen immer wesentlich höher als bei einer bloßen Verschreibung von Benzodiazepinen. Bei der zusätzlichen Verschreibung von Substitutionsmitteln liegt der Problemanteil insgesamt bei 48,7%. Hier muss allerdings berücksichtigt werden, dass es sich zahlenmäßig um eine recht kleine Gruppe handelt. Bei den Patienten mit Schmerzmitteln oder Antidepressiva ist dieser Anteil mit 26,1% bzw. 25,8% zwar deutlich niedriger als bei den Substituierten, aber noch wesentlich höher im Vergleich zu den Patienten ohne Ko-Medika-tion (13,6% bzw. 11,7%). Diese erheblichen Differenzen in den Anteilen problematischer Verschreibungssequenzen – je nachdem es zu einer Ko-Medikation kommt oder nicht – be-ruht vor allem auf den Problemgruppen „rot“ und „schwarz“, bei denen die Dauerversorgung mit Benzodiazepinen typisch ist. Im „grauen“ Gefährdungsbereich dagegen sind die Unterschiede zwischen „Benzodiazepin-Patienten“ mit und ohne Ko-Medikation weniger ausgeprägt.

Tabelle 7 Gefährdungsstufen von Verschreibungssequenzen im Patientenjahr gemäß der Farbcodierung in Hamburg nach Art der Ko-Medikation

Ko-Medikation von „Benzodiazepin-Patienten“ mit Substitutionsmittel Schmerzmitteln Antidepressiva

Farbcodierung Tages-dosis gemäß

ja nein ja nein ja nein

DDD 25,7% 51,2% 35,3% 54,1% 33,4% 57,9% grün

D-Äquiv. 25,7% 50,8% 34,8% 53,7% 33,1% 57,5% DDD 25,7% 33,3% 38,6% 32,3% 40,8% 30,4%

grau D-Äquiv. 24,1% 33,1% 36,9% 32,3% 41,4% 29,8% DDD 8,2% 2,4% 4,1% 2,1% 3,7% 2,0% gelb/orange

(2-6 Monate) D-Äquiv. 8,8% 2,5% 4,7% 2,2% 3,6% 2,2%

DDD 40,5% 13,0% 22,0% 11,5% 22,1% 9,7% rot/schwarz (über 6 Monate) D-Äquiv. 41,4% 13,5% 23,6% 11,8% 21,9% 10,5%

Insgesamt 100,0% 100,0% 100,0% 100,0% 100,0% 100,0%

N Patienten 452 78.004 12.399 66.057 21.848 56.608 Jeweiliger Anteil der Patienten 0,6% 99,4% 15,8% 84,2% 27,8% 72,2%

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An dieser Stelle wird hinsichtlich der Beurteilung des Verschreibungsverhaltens ein Perspek-tivwechsel vollzogen. Bisher wurden die Verschreibungssequenzen aus der Sicht der Patien-ten analysiert, die ihre kassenärztlichen Rezepte in den Apotheken einlösten. Die Verantwor-tung für möglicherweise problematische Verschreibungen liegt zunächst beim Patienten. Sie können durch Ärztewechsel sich eine gewünschte Kette verschreibender Ärzte „organisieren“, um aus ihrer Sicht mit Benzodiazepinen problemlos (weiter) versorgt zu werden. Dieses sa-lopp als „Ärzte-Hopping“ bezeichnete Verhalten soll anhand der nachfolgenden Tabelle un-tersucht werden. Natürlich liegt ein Großteil der Verantwortung auf Seiten der Ärzte, wenn sie ein und demsel-ben Patienten fortlaufend Benzodiazepine so verschreiben, so dass es zu einer problemati-schen Versorgung (z. B. gemäß der oben eingeführten Klassifikation) kommt. Aus der ärztli-chen Perspektive steht somit die Frage im Mittelpunkt, inwieweit generiere oder unterstütze ich als Arzt bei meinem Patienten eine problematische Verschreibungssequenz, unter der An-nahme, dass sie oder er in der Lage ist, sich noch weitere Benzodiazepine zu besorgen oder verschreiben zu lassen. In diesem Sinne können die von ein und demselben Arzt für ein und denselben Patienten ärztlich verordneten Verschreibungssequenzen nach dem obigen Klassi-fikationsmuster von „grün“ bis „schwarz“ beurteilt werden. Diese Klassifikation aus ärztlicher Perspektive kann verglichen werden mit der Klassifikation aus der Perspektive des Patienten (vgl. Tabelle 4). Im Idealfall sollte im „grünen“ Bereich die Übereinstimmung zwischen der Beurteilung aus ärztlicher Sicht und aus Sicht des Patienten identisch sein, also 100% betra-gen. Für den „schwarzen“ Bereich sollte die Übereinstimmungsquote bei 0% liegen, d. h. kein einzelner Arzt verschreibt dauerhaft relevante Dosen von Benzodiazepinen für einen und demselben seiner Patienten, aber es gibt Patienten, die sich eine solche Verschreibungskette bei verschienen Ärzten organisieren. In Tabelle 8 ist dargestellt, dass der „Idealfall“ mit 100% im „grünen“ Bereich zutrifft. Im „grauen“ Bereich sinkt die Quote auf 87,8%, was als eine durchaus nachvollziehbare Über-einstimmungsrate angesehen werden kann. In diesem Bereich bedarf es in der Regel keines „Ärzte-Hoppings“, um eine erhöhte Versorgung mit Benzodiazepinen sicherzustellen. Kri-tisch wird es bei den Übereinstimmungsquoten für die Problembereiche von „gelb“ bis „schwarz“. Hier sinken nicht – wie im Idealfall erwünscht – die Übereinstimmungsquoten, sondern bleiben zwischen 80% bis 90% relativ konstant und vor allem sehr hoch. Dies gilt insbesondere für die besonderen Problembereiche „rot“ und „schwarz“ mit einer (zusammen-gefassten) Übereinstimmungsquote von 85,8% sowie für den Bereich der Hochdosierungen mit 95,6%. Seitens der Patienten bedarf es also keines „Ärzte-Hoppings“, da in der Regel be-reits die Benzodiazepin-Versorgung durch denselben verschreibenden Arzt garantiert ist. Diese Übereinstimmungsraten gelten in gleicher Weise für männliche und weibliche sowie auch für jüngere und ältere Patienten, was aufgrund der wenig übersichtlichen Zahlenfülle hier nicht im einzelnen tabellarisch dargestellt werden muss. Das gilt auch für die „Benzodia-zepin-Patienten“ mit Ko-Medikation. Bei Substituierten und Patienten, die Schmerzmittel oder Antidepressiva erhalten, liegen die Übereinstimmungsquoten auf einem ähnlich hohen Niveau.

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Tabelle 8 Übereinstimmungsquoten in den Gefährdungsstufen von Verschreibungssequenzen im Pati-entenjahr seitens des Patienten und der verschreibenden Ärzte in Hamburg gemäß der Farb-codierung

Gefährdungsstufe des Patienten Tagesdosis gemäß Übereinstimmungsquotea) DDD 100,0%

grün D-Äquiv. 100,0% DDD 87,8%

grau D-Äquiv. 88,2% DDD 80,9%

gelb D-Äquiv. 75,9% DDD 77,3%

orange D-Äquiv. 80,5% DDD 85,8%

rot D-Äquiv. 84,3% DDD 85,8%

schwarz D-Äquiv. 87,5% DDD 93,6%

Insgesamt D-Äquiv. 93,6%

Zusammenfassungen: gelb/orange (2-6 Monate) DDD 79,7% D-Äquiv. 77,6% rot/schwarz (über 6 Monate) DDD 85,8% D-Äquiv. 85,7%

DDD 95,6% Hochdosierungen (> 2mal Tagesdosis)

D-Äquiv. 95,4% a) Erläuterung: Es ist der Prozentanteil dargestellt, in wie vielen Fällen durch das sukzessive Verschreibungs-

verhalten bei einem und demselben Arzt dieser Patient die maximale Gefährdungsstufe erreicht. Abweichun-gen der Übereinstimmungsquote von 100% zeigen an, wie viele Patienten sich bei anderen zusätzlichen Ärzten versorgen, um ihre Gefährdungsstufe zu erreichen.

Abschließend soll der Frage nachgegangen werden, ob sich das Verschreibungsverhalten von Benzodiazepinen in den Fachgruppen der Ärzte unterschiedlich darstellt. Hierzu wurden die Internisten, Neurologen/Nervenärzte und Allgemeinärzte (im Vergleich zu den übrigen Ärztegruppen) besonders betrachtet. Die Anteile der Gefährdungsstufen von „grün“ bis „schwarz“, sind hier wieder aus der Perspektive der Patienten dargestellt. Aufgeschlüsselt wird dies nach den Ärzte-Fachgruppen, die sie behandelt haben bzw. von denen sie Benzodia-zepine verschrieben erhielten. Wie Tabelle 9 zunächst zeigt (siehe letzte Zeile), wurden drei Fünftel der Hamburger Patien-ten (u. a.) bei den Allgemein-Ärzten mit Benzodiazepinen versorgt. Jeweils etwa ein Viertel erhielt auch bei Internisten bzw. Neurologen/Nervenärzten Benzodiazepine verschrieben. Bei

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den übrigen Arztgruppen waren 21% der knapp 78.500 Hamburger „Benzodiazepin-Patien-ten“ in Behandlung. Wird auf die Risikoklassifikation gesehen, so ist bei den „anderen Ärzten“ der „grüne“ Be-reich mit 81,4% stark ausgeprägt und der problematische Bereich („gelb“ bis „schwarz“) mit insgesamt 6,4% sehr gering besetzt. Auf der anderen Seite liegen die Neurologen/Nervenärzte mit 45,1% vergleichsweise gering im „grünen“ Bereich und mit zusammen genommen 26,2% am höchsten im problematischen Bereich. Auch bei den Patienten mit Hochdosierungen (über 2 Tagesdosen) ist diese Ärztegruppe mit einem Patientenanteil von 2,5% am stärksten vertre-ten. Dazwischen befinden sich die Internisten und – entgegen manch pessimistischerer Ver-mutung – auch die Allgemeinmediziner. Im „grünen“ Bereich liegen ihre Werte bei 56,7% bzw. 58,1%, im problematischen Bereich („gelb“ bis „schwarz“) bei 14,7% bzw. 15,5%. Bei den problematischen Fällen sind also nicht die Allgemeinmediziner überproportional be-teiligt. Es muss allerdings berücksichtigt werden, dass die Allgemeinärzte den mit Abstand größten Teil der Hamburger „Benzodiazepin-Patienten“ behandeln, so dass sich das Problem der suchtgefährdenden Verschreibungssequenzen in der Gesamtheit bei ihnen zahlenmäßig am stärksten niederschlägt. Erheblich überproportional sind dagegen die Patienten mit prob-lematischen Verschreibungssequenzen bei den Neurologen/Nervenärzten vertreten. Als be-sonders zuständige Fachgruppe dürften sie im Umgang mit Psychopharmaka im Allgemeinen sowie mit Benzodiazepinen im Besonderen über eine besondere Expertise verfügen. Vor die-sem Hintergrund stellt sich erneut die Frage, welche fachlichen Gründe dafür sprechen, so deutlich von den ärztlichen Leitlinien abzuweichen.

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Tabelle 9 Verschreibungspraxis problematischer Verschreibungssequenzen im Patientenjahr gemäß der Farbcodierung in Hamburg nach Fachgruppe der Ärzte

Fachgruppe der verschreibenden Ärzte

Farbcodierung Tagesdosis gemäß Internisten Neurologen/

Nervenärzte Allgemein-

Ärzte andere Ärzte

DDD 56,7% 45,1% 58,1% 81,4% grün

D-Äquiv. 55,8% 44,2% 57,3% 80,8% DDD 28,6% 28,6% 26,4% 12,3%

grau D-Äquiv. 29,1% 30,3% 26,9% 11,9% DDD 5,1% 8,5% 5,1% 2,6% gelb/orange

(2-6 Monate)

D-Äquiv. 5,2% 7,8% 4,9% 3,1%

DDD 9,6% 17,8% 10,4% 3,8% rot/schwarz (über 6 Monate)

D-Äquiv. 9,9% 17,8% 10,9% 4,3%

DDD 1,0% 2,5% 1,4% 1,1% Hochdosierung

D-Äquiv. 1,0% 2,9% 1,7% 1,4%

N Patienten 18.992 17.743 46.618 16.802 Jeweiliger Anteil der Patienten (N=78.456) 24,2% 22,6% 59,4% 21,4%

3.2 Räumliche Analyse des Verschreibungsverhaltens mit Benzodiazepinen

Nachfolgend soll der Versuch unternommen werden, die epidemiologischen Ergebnisse der Benzodiazepinverschreibungen einer räumlichen Analyse für den Stadtbereich Hamburg zu unterziehen. In dem Datensatz wurde zu jedem Patienten die vierstellige Postleitzahl abge-speichert. Auf Grundlage dieser räumlichen Zuordnung können für Hamburg Aussagen zur regionalen Versorgung der Wohnbevölkerung mit (kassenärztlich verschriebenen) Benzodia-zepinen getroffen werden. Ferner wird in diesem Kapitel exemplarisch gezeigt, welche Möglichkeiten für ein auf Ham-burg bezogenes räumliches Monitoring solcher epidemiologischer Kenndaten prinzipiell be-stehen. Die Daten wurden grafisch aufbereitet, wobei die mittlere Kategorie sich jeweils am Median des untersuchten Merkmals orientiert und die Farben Grün/Dunkelgrün und Orange/ Rot – nicht zu verwechseln mit der Farbcodierung der Gefährdungsstufen – gleichgroße Abweichungen nach oben und unten repräsentieren. Schaut man zunächst auf das Durchschnittsalter, ergeben sich nach den Hamburger vierstelli-gen Postleitzahlbereichen 15 Regionen, in den das mittlere Alter der Patienten mit Benzodia-zepinverschreibungen zwischen 56,6 Jahren und 59,4 Jahren liegt (siehe Abbildung 4, gelbe Regionen). Dabei sind deutliche Abweichungen nach unten und oben auszumachen. Im äu-ßersten Westen Hamburgs finden sich Altersmittelwerte von bis zu 65 Jahren (Abbildung 4,

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rote Regionen) und in zentralen Gebieten (Altona/ St. Pauli) von nur knapp 51 Jahren (Abbil-dung 4, dunkelgrüne Region). Inwieweit die hohen Alterswerte mit in den Regionen ansässigen Alten- und Pflegeheimen korrespondieren, ist eine Hypothese, die nicht im Rahmen dieser Untersuchung geklärt wer-den kann. Dennoch fällt auf, dass die älteren „Benzodiazepin-Patienten“ verstärkt am Stadt-rand leben. Dies dürften Regionen sein, in denen sich einerseits vermehrt Alten- und Pflege-heime befinden, die aber andererseits von vielen Menschen vorrangig als „Alterssitz“ ausge-sucht werden. Die jüngeren Patienten, denen Benzodiazepine verordnet werden, leben zent-raler im inneren Stadtbereich.

Abbildung 4 Mittleres Alter der Patienten mit Benzodiazepinverschreibungen nach vierstelligen Postleit-zahlbereichen in Hamburg

Wie schon weiter oben beschrieben (vgl. Tabelle 6), ist der Anteil unter den älteren Hambur-ger „Benzodiazepin-Patienten“ in den problematischen Gefährdungsstufen prozentual erhöht. Werden wiederum die Gefährdungsstufen gelb bis schwarz zusammengezogen, so stellt sich das mittlere Alter pro Postleitzahlengebiet wie in Abbildung 5 dar. Auffällig ist, dass in Ab-bildung 4 und 5 fast identische Gebiete farbgleich markiert werden. Die Verteilung der Ham-burger „Benzodiazepin-Patienten“ mit von den Leitlinien abweichenden Verschreibungsse-quenzen folgt im Prinzip der Altersverteilung. Die höher dosierten und zeitlich längeren Ver-ordnungen erhalten die Patienten, die in den Randgebieten wohnen. Leitlinienkonforme Benzodiazepinverschreibungen werden vermehrt in den zentralen Gebieten Hamburg durch-

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geführt. Auch hier stellt sich erneut die Frage nach Überrepräsentanz von Alten- und Pflege-heimen in den rot/orange markierten Regionen.

Abbildung 5 Das mittlere Patientenalter der Gefährdungsstufen gelb bis schwarz differenziert nach den vierstelligen Postleitzahlbereichen für Hamburg

In Abbildung 6 sind die prozentualen Anteile der Hamburger „Benzodiazepin-Patienten“ mit den Gefährdungsstufen „gelb“ bis „schwarz“ regional dargestellt. Es zeigt sich, dass in den meisten Postleitzahlgebieten der entsprechende Anteil dem Median aller Patienten entspricht; 18 Regionen sind gelb einfärbt. Im Gegensatz zu den vorherigen am Alter der Patienten orientierten Darstellungen zeigen sich jetzt die gößeren Patientenanteile mit riskantem Verschreibungsverhalten vermehrt in zentraleren Regionen Hamburgs sowie im Harburger Raum und in dem westlichen Bereich um Eidelstedt/Lurup. Überwiegend bzw. zu einem größeren Anteil leitlinienkonform werden Benzodiazepine im Norden Hamburgs sowie im (dünn besiedelten) „Alten Land“ verschrieben. Auffällig zeigt sich erneut, wie schon in den obigen Abbildungen, eine östliche Region im Bezirk Bergedorf. Dort liegt der Anteil an den Gefährdungsstufen „gelb“ bis „schwarz“ gut sieben Prozentpunkte oberhalb des beobachteten mittleren Werts. Unter zu Hilfenahme weiterer sozialräumlicher Indikatoren, denen man in einer gesonderten Untersuchung nachgehen sollte, könnte sich dieses Phänomen klären lassen. Zunächst jedoch liegt nahe, dass in diesem Postleitzahlengebiet mehrere Alten- und Pflegeheime angesiedelt sind, wie schon der oben beschriebene erhöhte Altersmittelwert andeutet.

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Abbildung 6 Der relative Anteil von Patienten mit Benzodiazepinverschreibungen in den Gefährdungs-stufen „gelb“ bis „schwarz“ nach den vierstelligen Postleitzahlregionen in Hamburg

Je nach Postleitzahlengebiet erhalten zwischen 3,3% und 5,4% der Wohnbevölkerung im Be-obachtungszeitraum Benzodiazepine auf Kassenrezept. Wie sich in Abbildung 7 erkennen lässt, ist es die schon bekannte Region im äußersten Westen, in der vermehrt alte Menschen (mit riskanten Benzodiazepinverschreibungen) leben, sowie der Eidelstedter/Luruper Raum, in denen besonders viele Einwohner Benzodiazepine überhaupt verordnet bekommen. Dies trifft auch für die im „mittleren Osten“ Hamburgs wohnenden Menschen zu; einer Region, die bisher nicht durch eine Häufung von problematischen Verschreibungssequenzen („gelb“ bis „schwarz“) aufgefallen ist. Vergleichsweise weniger Benzodiazepine werden im Nordosten Hamburgs verschrieben. Da hier sozial-strukturelle und -ökonomische Merkmale der in den Postleitzahlgebieten lebenden Menschen sowie andere Faktoren wie z. B. Arzt-Patienten-Re-lation oder die Facharztdichte unberücksichtigt bleiben, können das Verteilungsbild bzw. die gefundenen Unterschiede in den Hamburger Regionen nicht plausibel interpretiert werden. Auch hier dürfte es sich lohnen, einen genaueren Blick in die Regionalstatistiken zu werfen, um diese ggf. mit den vorliegenden Verschreibungsdaten zu verknüpfen, so dass sich für Hamburg relevante Hypothesen eingehender untersuchen lassen.

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Abbildung 7 Prozentualer Anteil an kassenärztlichen Benzodiazepinverschreibungen für die Hamburger Wohnbevölkerung differenziert nach vierstelligen Postleitzahlgebieten

In der räumlichen Analyse bezogen auf die vierstelligen Postleitzahlgebiete finden sich teil-weise große Abweichungen hinsichtlich der relativen Anteile von Benzodiazepinverschrei-bungen für Männer und Frauen. Schaut man zunächst auf den Anteil an Benzodiazepinver-ordnungen überhaupt, zeigt sich, wie der Abbildung 8 zu entnehmen ist, dass die Frauenan-teile zwischen 60% und 82% variieren. Hervorzuheben ist wiederum die Region im äußersten Westen Hamburgs, in der offensichtlich besonders viele weibliche Patienten Benzodiazepine verschrieben bekommen. Aber auch in dem Gebiet im Bergedorfer Raum, in dem der Anteil an Patienten mit problematischen Verschreibungssequenzen besonders hoch war, ist die Ver-schreibungsrate von Benzodiazepinen unter den Frauen erhöht.

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Abbildung 8 Der prozentuale Anteil an Benzodiazepinverschreibungen für weibliche Patienten differen-ziert nach vierstelligen Postleitzahlgebieten

Bringt man die Informationen zum Geschlecht und dem relativen Anteil an riskanten Benzodiazepinverschreibungen in den Gefährdungsstufen „gelb“ bis „schwarz“ zusammen, stellt sich die räumliche Verteilung wie in Abbildung 9 dar. Erneut fällt die Region im Westen Hamburgs auf: Hier ist ein besonders hoher Anteil an Frauen mit problematischen Ver-schreibungssequenzen vorhanden. Ein eher geringer Frauanteil mit riskanten Benzodiaze-pinverordnungen zeigt sich (wiederum) in mittleren Regionen Hamburgs. Diese räumliche Verteilung korrespondiert am ehesten mit den Altersdaten aus Abbildung 4 und 5. Das macht Sinn, wenn man bedenkt, dass Frauen im Durchschnitt älter werden als die Männer, und – nach den vorliegenden Daten – das Alter bei der (Viel-)Verschreibung von Benzodiazepinen eine Rolle spielt. Dennoch können die hier präsentierten Ergebnisse zur räumlichen Verteilung ausgewählter epidemiologischer Aspekte der (problematischen) Benzodiazepinverscheibung nur vorder-gründige Erkennisse liefern. Diese konnten zwar erstmalig in dieser systematisierten Form für Hamburg gewonnen und dargestellt werden, es bleiben aber Interpretationsspielräume, die nur mit genaueren Kenntnissen zur regionalen Sozialstruktur der Hamburger Wohnbevölkerung gefüllt werden können.

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Abbildung 9 Der Anteil weiblicher Patienten mit Benzodiazepinverschreibungen in den Gefährdungsstufen „gelb“ bis „schwarz“ nach den vierstelligen Postleitzahlregionen in Hamburg

3.3 Anteile von Benzodiazepinverschreibungen auf Privatrezepten und Kassenrezepten

Im Folgenden wird analysiert, zu welchen Anteilen verschiedene verschreibungspflichtige Arzneimittel auf Kassenrezept, Privatrezept oder ohne Rezept, beispielsweise gegen Vorlage des Arztausweises, in den Apotheken ausgegeben werden. Für die Analysen wurden die EDV-gestützten Warenwirtschaftssysteme von 65 Apotheken im gesamten Bundesgebiet für den Zeitraum Juli 2005 bis Juni 2007 ausgewertet.4 Analysiert wurden Arzneimittel mit Miss-brauchpotential, sowie als Kontrollsubstanzen das Antibiotikum Amoxicillin und alle ver-schreibungspflichtigen Antidepressiva nach ATC N06A. Im Jahr 2008 waren 10,5% der Krankenversicherten in einer privaten Vollkrankenversiche-rung zu finden. Dieser Wert kann als Referenz und Erwartungsgröße für die Arzneimittelab-gabe auf Privatrezept in Apotheken gelten. Tabelle 10 zeigt für unterschiedliche Medikamentengruppen die Anteile für die drei Abgabe-arten auf. Für die Kontrollgruppe der Antidepressiva findet sich ein Wert von knapp 13% für die Abgabe auf Privatrezept. Dieser Wert liegt sehr nahe bei dem Erwartungswert, gemessen

4 Wie einleitend erwähnt, findet diese Analyse auf Basis bundesweiter Daten statt. Eine allein auf Hamburg

bezogene Auswertung wäre nicht aussagekräftig genug, da sich unter den 65 Apotheken nur vier Hamburger befinden.

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an der Zahl der Privatversicherten. Für die Benzodiazepine findet sich ein deutlich höherer Wert von gut 28%, und für die sogenannten Non-Benzodiazepine liegt der Anteilswert sogar bei 42%. Abgesehen von den codeinhaltigen Substanzen (26%) finden sich in keiner der ana-lysierten Arzneimittelgruppen mit Missbrauchpotential so hohe Anteile von Verschreibungen auf Privatrezept im Vergleich zu Kassenrezepten. Auch wenn es nicht auszuschließen ist, dass Privatversicherte (aus unterschiedlichen, indivi-duellen Gründen) relativ häufiger Benzodiazepine verschrieben bekommen, deutet sich in dem stark erhöhten Wert der rezeptierten Apothekenabgaben für Benzodiazepine und Non-Benzodiazepine eine Versorgung von gesetzlich krankenversicherten Patienten mit Privatre-zepten an. Hierfür dürfte es nur zwei Erklärungen geben: Erstens der gesetzlich versicherte „Kassenpatient“ möchte nicht gegenüber seiner Krankenkasse als Benzodiazepin-Gebraucher auffällig werden. Oder zweitens, der verschreibende Arzt möchte nicht gegenüber der gesetz-lichen Krankenkasse mit (zu) hohen Benzodiazepinverschreibungen auffällig (und ggf. re-gresspflichtig) werden – beispielsweise weil die Verschreibungen in Höhe und Dauer den fachlichen Leitlinien widersprechen könnten. Da der Anteil verschreibungspflichtiger Antidepressiva auf Privatrezept der erwarteten Grö-ßenordnung entspricht, und unter der Annahme, dass das Ausmaß seelischer Erkrankungen und ihre pharmakologische Behandlung sich bei Privatpatienten nicht grundsätzlich von de-nen der gesetzlich Versicherten unterscheidet, kann davon ausgegangen werden, dass ein gro-ßer Teil der Privatrezepte für Benzodiazepine und Non-Benzodiazepine für gesetzlich Kran-kenversicherte ausgestellt wird. Es sei ferner darauf hingewiesen, dass das Verhältnis von Kassenrezepten zu Privatrezepten bei den weiteren Substanzen mit Missbrauchpotential (289.000 Apothekenabgaben) in etwa gleicher Größenordnung zu finden ist, wie das Verhält-nis von Kassenrezepten zu Privatrezepten bei Antidepressiva. Auch bei den opioidhaltigen Schmerzmitteln zeigt sich ein entsprechendes Verhältnis der Kassen- und Privatrezepte. Es spricht also vieles dafür, dass die Benzodiazepine und sogenannten Non-Benzodiazepine eine Sonderstellung bezüglich der Verschreibung auf Privatrezept einnehmen. Nach den Er-gebnissen dieser Studie dürften für diese Substanzen zwischen einem und zwei Drittel der Privatrezepte für gesetzlich krankenversicherte Patienten ausgestellt werden.

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Tabelle 10 Ausgegebene Arzneimittel (ohne die Menge zu berücksichtigen) nach der Art der Ausgabe

Art des Rezepts Kassenrezept Privatrezept Ohne Rezept Gesamt

Anzahl Zeilen% Anzahl Zeilen% Anzahl Zeilen% Anzahl Zeilen%Benzodiazepine 48.900 70,1% 19.342 27,7% 1.538 2,2% 69.780 100,0%Non-Benzodiazepine 19.778 56,0% 14.860 42,1% 691 2,0% 35.329 100,0%Substitutionsmittel 3.494 93,6% 196 5,3% 41 1,1% 3.731 100,0%Morphine 6.638 95,6% 262 3,8% 41 0,6% 6.941 100,0%Opioide 60.977 86,0% 8.891 12,5% 1.035 1,5% 70.903 100,0%Codein 20.004 71,9% 7.293 26,2% 541 1,9% 27.838 100,0%Psychoanaleptika 6.367 87,1% 931 12,7% 10 0,1% 7.308 100,0%weitere Substanzen mit Missbrauchpotential 245.411 84,9% 38.905 13,5% 4.577 1,6% 288.893 100,0%

Antibiotika 40.666 78,2% 10.746 20,7% 588 1,1% 52.000 100,0%Antidepressiva 72.651 86,1% 10.802 12,8% 882 1,0% 84.335 100,0%

Werden die Stoffgruppen der Benzodiazepine und Non-Benzodiazepine genauer betrachtet, so finden sich bei den einzelnen Medikamenten relevante Unterschiede in den Verschreibungen zu Lasten von Kassen- und Privatrezepten (siehe Tabelle 11). Dem Erwartungswert an Privat-Verordnungen nähern sich die Verschreibungen von Clonazepam, Lorazepam, Prazepam und Tetrazepam an. Deutlich überproportional auf Privatrezepten verschrieben werden die Benzo-diazepine Bromazepam und Oxazepam. Auch das insgesamt vergleichsweise häufig ver-schriebene Diazepam wird zu einem „verdächtig“ hohen Anteil auf Privatrezepten verordnet. Bei den Non-Benzodiazepinen nehmen Zolpidem und Zopiclon eine Sonderstellung mit ei-nem Verschreibungsanteil auf Privatrezepten von 48% bzw. 37% ein. Die gängige These, dass insbesondere bei Privatverschreibungen, aber auch generell vermehrt auf die so genannten „Z-Drugs“ ausgewichen wird (vgl. Hoffmann et al. 2006), erfährt aus den hier präsentierten Da-ten eine erneute Bestätigung.

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Tabelle 11 Ausgegebene Benzodiazepine und Non-Benzodiazepine (ohne ATC N05CD) nach der Art der Ausgabe

Art des Rezepts Kassenrezept Privatrezept Ohne Rezept Gesamt Anzahl Zeilen% Anzahl Zeilen% Anzahl Zeilen% Anzahl Zeilen%Alprazolam 1.945 79,4% 467 19,1% 39 1,6% 2.451 100,0%Bromazepam 7.229 58,3% 4.913 39,6% 249 2,0% 12.391 100,0%Chlordiazepoxid 217 65,0% 100 29,9% 17 5,1% 334 100,0%Clobazam 655 77,9% 151 18,0% 35 4,2% 841 100,0%Clonazepam 1.150 88,5% 133 10,2% 16 1,2% 1.299 100,0%Diazepam 9.487 67,6% 4.002 28,5% 536 3,8% 14.025 100,0%Dikalium clorazepat 1.212 77,0% 333 21,1% 30 1,9% 1.575 100,0%Lorazepam 8.837 81,1% 1.869 17,1% 193 1,8% 10.899 100,0%Medazepam 499 77,1% 136 21,0% 12 1,9% 647 100,0%Nordazepam 5 55,6% 3 33,3% 1 11,1% 9 100,0%Oxazepam 7.587 57,7% 5.331 40,5% 241 1,8% 13.159 100,0%Prazepam 392 84,8% 65 14,1% 5 1,1% 462 100,0%Tetrazepam 9.685 82,9% 1.839 15,7% 164 1,4% 11.688 100,0%Zaleplon 116 69,5% 48 28,7% 3 1,8% 167 100,0%Zolpidem 8.107 50,1% 7.753 47,9% 332 2,1% 16.192 100,0%Zopiclon 11.555 60,9% 7.059 37,2% 356 1,9% 18.970 100,0%Gesamt 68.678 65,3% 34.202 32,5% 2.229 2,1% 105.109 100,0%

Die Kundschaft von Apotheken ist häufig einerseits durch die Wohnortnähe zur Apotheke bestimmt und andererseits durch die Nähe zum verschreibenden Arzt. Leben in einem be-stimmten Gebiet vermehrt Privatpatienten (höhere Einkommen in einer Wohnregion) oder verschreibt ein Arzt durch seine Patientenstruktur mehr an Privatrezepten, so müssten für alle analysierten Substanzen durch Quotientenbildung zwischen dem relativen Anteil an Benzodi-azepinrezepten auf Kassenrezept und dem relativen Anteil an Antidepressiva oder Antibiotika auf Kassenrezept ein erwarteter Wert um Eins festzustellen sein. Ein Wert von Eins würde bedeuten, dass ein gleich hoher relativer Anteil von Benzodiazepinrezepten auf Kassenrezept verschrieben wird wie von Antibiotika oder Antidepressiva. Dies ist in Tabelle 12 dargestellt. Sie gibt die Verteilung des oben definierten Quotienten für alle 65 untersuchten Apotheken wieder. Es zeigt sich, dass es durchaus eine Tendenz zu ei-nem 1:1-Verhältnis gibt, jedoch finden sich überwiegend (deutliche) Abweichungen nach unten. Der Quotient „bis 0,5“ für das relative Rezept-Verhältnis von Benzodiazepinen zu jenem von Antidepressiva, der bei vier Apotheken ausgemacht werden kann, bedeutet nichts anderes, als dass Benzodiazepine (mindestens) doppelt so häufig zu Lasten von Privatrezepten verschrieben werden als Antidepressiva. Wird ein Quotient von 0,8 als Schwellenwert angesetzt, was mindestens 20% Abweichung zwischen der Verschreibungsart von Benzodiazepinen und dem Vergleichsarzneimittel be-deutet, so liegen 60% der Apotheken (N=39) innerhalb dieses Bereichs im Vergleich zu Anti-depressiva und 38% der Apotheken (N=25) bezüglich des Verschreibungsverhältnisses im Vergleich zu Amoxicillin. In Bezug auf die „Vergleichssubstanz“ der Antidepressiva ist (un-ter Berücksichtigung dieses Schwellenwerts) somit die Mehrheit der Apotheken betroffen.

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Die Gepflogenheit, Benzodiazepine im Vergleich zu anderen Substanzen vermehrt auf Privat-rezepten auszugeben, ist somit weit verbreitet. Die Annahme, dass die relativ erhöhte Ver-schreibung von Benzodiazepinen auf Privatrezepten durch wenige bestimmte oder gar nur eine Apotheke verursacht würde, ist nicht zutreffend.

Tabelle 12 Verhältnis der relativen Anteile von ausgegebenen Benzodiazepinen auf Kassenrezept zu den relativen Anteilen der ausgegebenen Antibiotika (Amoxicillin) und Antidepressiva (N06A) auf Kassenrezept pro Apotheke

Benzodiazepine zu Antidepressiva (N06A) Benzodiazepine zu Antibiotika (Amoxicillin)

Quotient Anzahl Anzahl der Spalten (%) Anzahl Anzahl der Spalten (%)

bis 0,5 4 6,2% 2 3,1% bis 0,6 9 13,8% 5 7,7% bis 0,7 12 18,5% 10 15,4% bis 0,8 14 21,5% 8 12,3% bis 0,9 7 10,8% 14 21,5% bis 1 13 20,0% 9 13,8% bis 1,1 5 7,7% 9 13,8% bis 1,4 1 1,5% 8 12,3% Gesamt 65 100,0% 65 100,0%

4. Resümee

Im Untersuchungszeitraum, dem so genannten Stichjahr (von Juli 2005 bis Juni 2006), er-hielten für die Region Hamburg 78.456 Patienten Benzodiazepine, die ihnen auf insgesamt fast 300.000 Rezepten verschrieben wurden. Hochgerechnet auf der Grundlage der Erfassung von 83,3% der Hamburger Apotheken5 im Rahmen der Untersuchung bedeutet dies, dass 5,2% der Hamburger Bevölkerung für knapp 80 Tage mit einer Tagesdosis nach DDD ver-sorgt wurden. Die Benzodiazepine wurden dabei mit 76,5% deutlich häufiger als die Non-Benzodiazepine mit 23,5% verschrieben. Bezogen auf die Frage, inwieweit der Einsatz der Benzodiazepine und Non-Benzodiazepine leitliniengerecht erfolgte – die Dauer der Behandlung sollte vier bis maximal acht Wochen nicht überschreiten –, zeigt sich, dass das für gut die Hälfte der Hamburger „Benzodiazepin-Patienten“ zutrifft. Andererseits werden rund 31.000 Hamburger Patienten (hochgerechnet aus 26.116 in der Stichprobe) mit niedrigen Dosierungen länger als acht Wochen behandelt – ver-bunden mit dem Risiko für entsprechende Nebenwirkungen. Weitaus kritischer sind weitere 5 Hier liegt die Annahme zugrunde, dass die 83,3% der erfassten Hamburger Apotheken den Bevölkerungsan-

teil repräsentieren. Diese Annahme ist sicherlich bezogen auf einzelne (größere oder kleinere) Apotheken (insbesondere der fehlenden, unbekannten 16,7%) mit Fehlerabweichungen behaftet, in der Gesamtheit aller einbezogenen Apotheken dürfte dieser Fehler aber vernachlässigbar sein. Für Hamburgs Wohnbevölkerung wird die Zahl von 1,77 Millionen Einwohnern (Stand: Dezember 2007) angenommen.

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14.700 Personen zu sehen (exakt 14.721, hochgerechnet aus 12.263 Patienten in der Stich-probe), die mit höheren Dosierungen (Gefährdungsstufe „gelb“ bis „schwarz“) über längere Zeiträume behandelt werden. Die zentrale Übersicht hierzu ist noch einmal in Tabelle 13 zu-sammenfassend dargestellt.

Tabelle 13 Anzahl an Patienten nach Gefährdungsstufen gemäß der Farbcodierung (Tagesdosis nach DDD) in Hamburg, hochgerechnet auf die Wohnbevölkerung

Farbcodierung Anzahl der Patientena)

Anteil der Patienten

Anzahl Verschrei-

bungen

Verschrei-bungs-

dauer in Tagen

Anteil der Frauen

Durch-schnitts-

alter

grün 48.112 51,1% 1,1 12 67,7% 53,0

grau 31.352 33,3% 4,3 367 72,2% 62,4

gelb 1.547 1,6% 4,0 113 64,8% 63,1

orange 758 0,8% 7,3 111 59,7% 59,6

rot 7.193 7,6% 10,9 343 69,4% 65,4

schwarz 5.223 5,5% 21,6 344 63,6% 61,2

Insgesamt 94.185 100,0% 3,7 176 69,4% 57,8 a) Zahlen hochgerechnet aus der Stichprobe mit 83,3% Apothekenabdeckung auf die Gesamt-Bevölkerung

Hamburgs. Während in den Risikostufen „gelb“ und „orange“ etwa für ein Drittel des Jahres Medikation verabreicht wird, ist es bei der Stufe „rot“ und „schwarz“ eine nahezu durchgängige Ver-schreibung über zwölf Monate. Wie in anderen Studien zeigt sich ein deutliches Überwiegen der Frauen (rund zwei Drittel der Betroffenen). Besonders problematisch ist der Anteil älterer Menschen, die mit Benzodiazepinen bzw. Non-Benzodiazepinen über längere Zeit behandelt werden. Ein Drittel aller Verschreibungen geht an Menschen über 70 Jahre, die entsprechend ihres Anteils an der Bevölkerung somit deutlich überrepräsentiert sind. Dies ist umso dramati-scher, da die Nebenwirkungen der Langzeiteinnahme ähnlich zu Veränderungen im Alter sind, insbesondere die nachlassende Gedächtnisleistung und die fehlende körperliche Energie. Hier werden ältere Menschen durch den sich überlagernden oder sogar potenzierenden Effekt der beiden Entwicklungen in der Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, beein-trächtigt. Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang war, ob ein behandelnder Arzt aufgrund des so genannten „Ärzte-Hoppings“ überhaupt die Möglichkeit hat, einen problematischen Umgang von Patienten mit Benzodiazepinen zu erkennen. Dazu wurde berechnet, inwieweit bei Ver-schreibungen durch mehrere Ärzte (entweder parallel oder nacheinander) der einzelne Arzt überhaupt die Gefährdung seines Patienten erkennen kann. Dabei zeigte sich, dass nur ein kleinerer Teil der Patienten überhaupt verschiedene Ärzte hat, die ihm die Benzodiazepin-Medikation verschreiben. Insgesamt kann bei rund 90% aller Patienten mindestens ein Arzt

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die jeweilige Gefährdung seines Patienten erkennen. Interessanterweise liegt dieser Anteil gerade bei den höheren Dosierungen (Gefährdungsstufe „rot“ und „schwarz“) besonders hoch. Auch die Analyse nach unterschiedlichen ärztlichen Fachgruppen (hier Internisten, Allge-meinärzte, Neurologen/Nervenärzte sowie „andere Ärzte“) erbringt wichtige Erkenntnisse. Zunächst ist es so, dass die große Gruppe der Allgemeinärzte für drei Fünftel aller Hamburger „Benzodiazepin-Patienten“ die Rezepte ausstellt. Die Gruppe der Internisten ist für ein Viertel der mit Benzodiazepinen versorgten Patienten verantwortlich, Neurologen und Nervenärzte für 22,6% und die „anderen Ärzte“ für 21,4%. Am häufigsten leitliniengerecht behandeln die „anderen Ärzte“ mit über 80% im „grünen“ Bereich. Allgemeinärzte und Internisten erreichen dies nur bei etwa 56% bis 58% und Neurologen und Nervenärzte sogar nur bei ca. 45% aller Behandlungsfälle. Dementsprechend sind es vornehmlich die Neurologen und Nervenärzte, die bei der höher dosierten Langzeitverschreibung (Gefährdungsstufe „rot“ und „schwarz“) mit knapp 18% der Hamburger „Benzodiazepin-Patienten“ den größten Anteil ausmachen. Dabei darf dieser hohe Anteil an Langzeitverschreibungen bei Psychiatern und Neurologen jedoch nicht zu eiligen Schlüssen veranlassen, da die Patienten mit komplexen psychiatri-schen Begleit- bzw. Grunderkrankungen naturgemäß verstärkt in den Praxen dieser Fachärzte anzutreffen sein dürften. Der gewählte methodische Ansatz erlaubt ferner über die weitere Verordnung der Medikation einen gewissen Rückschluss darauf, welche Subgruppe der Patienten mit Benzodiazepinen behandelt wird. Durch die Identifizierung von Patienten mit Antidepressiva ergeben sich Hinweise auf Störungen im Bereich von Schlafstörungen, Depressionen, Ängsten und Burn-out. Bei Patienten mit opiathaltigen Schmerzmitteln kann von einer erheblichen Belastung und Stress durch akute oder chronische Schmerzen ausgegangen werden. Die kleinste derart zu identifizierende Gruppe stellt diejenigen mit Verschreibung von Substitutionsmitteln dar (etwa 2.200 Patienten in der Stichprobe).6 Ein Fünftel von ihnen bekommt neben dem Substitutionsmittel noch mindestens ein Benzodiazepin. Bei den rund 47.300 Hamburger Schmerzpatienten ist ebenfalls eine Ko-Medikation von Benzodiazepinen bei 26% der Betrof-fenen festzustellen. Diejenigen, die ein Antidepressivum erhalten, bekommen zu 28% auch noch Benzodiazepine verschrieben. Während Substituierte nahezu das ganze Jahr über Ben-zodiazepine erhalten, sind es bei den Schmerzpatienten und bei Patienten mit einem Antide-pressiva jeweils gut 130 Tage. Hier ergeben sich im Vergleich zu den anderen norddeutschen Bundesländern, bis auf den Bereich der Substitution, keine wesentlichen Unterschiede. In einem weiteren Schritt wurde geprüft, inwieweit die Zugehörigkeit zu einer der drei Sub-gruppen (Substitution, opiathaltige Schmerzmittel, Antidepressiva), einen Unterschied im Hinblick auf die Risikostufe ergibt. Erwartungsgemäß ist unter den (insgesamt wenigen) Sub-stituierten, die zusätzliche Benzodiazepine bekommen, nur ein relativ kleiner Teil „im grünen Bereich“. Entsprechend hoch ist der Anteil der Patienten, die substituiert werden und im „ro-ten“ und „schwarzen“ Gefährdungsbereich Benzodiazepine verschrieben bekommen (rund 40 Prozent). Anders verhält es sich bei den „Benzodiazepin-Patienten“ mit Schmerzmitteln und

6 Diese Gruppe entspricht nicht der aller ca. 5.000 Hamburger Substituierten, da in dieser Analyse – abgesehen

von der mit 83,3% nicht ganz vollständigen Erfassung – nur Rezepte mit Take-Home-Verschreibungen be-rücksichtigt sind und die Patienten der vier Hamburger Drogenambulanzen nicht enthalten sind.

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Antidepressiva. Hier kann jeweils von einer groben Drittelung im Hinblick auf die „grüne“, „graue“ und die übrigen Gefährdungsstufen ausgegangen werden. Die in dieser Studie erfolgten Auswertungen für Hamburg zeigen, dass der Stadtstaat im Ver-gleich zu den anderen zwei untersuchten Bundesländern, keine Sonderstellung einnimmt. Es zeigt sich auch, dass bisherige bundesweit genannte Zahlen, auf Hamburg herunter gebro-chen, zu einer deutlichen, bis zu dreifachen Überschätzung des Problems der Medikamenten-Abhängigkeit führen würden.7 Dies geht als ein deutlich positives Resultat der vorliegenden Studie hervor, ist aber kein Anlass zur Entwarnung, da die Gruppe mit von Nebenwirkungen und Abhängigkeitssymptomen Betroffenen eine für Hamburg nach wie vor bedeutsame Zahl ergibt. Das fehlende Wissen um die Langzeitnebenwirkungen, die Symptome der Grunder-krankungen imitieren und dadurch zu falschen Schlüssen veranlassen, ist offensichtlich (zu) gering. Dies dürfte eine große Aufklärungsanstrengung im Kontext der Kampagne „Mit-Den-ken – Bewusster Umgang mit Medikamenten“ erfordern.

4.1 Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Abschließend können die nachfolgenden Schlussfolgerungen und Empfehlungen, die aus den zuvor präsentierten Ergebnissen sowie aktuellen Erkenntnissen ableitbar sind, gegeben wer-den: • Insbesondere in der Ärzteschaft und unter den Apothekern ist vermehrte Aufklärung über

die Risiken einer Benzodiazepin-Dauermedikation wichtig. Hier wurden bereits erste Schritte im Rahmen der Kampagne „Mit-Denken – Bewusster Umgang mit Medikamen-ten“ unternommen. Die Hamburger Ärztekammer in Zusammenarbeit mit der Apotheker-kammer und der Kassenärztlichen Vereinigung ist mit Handlungsempfehlungen zur Ver-ordnung von Benzodiazepinen und deren Analoga an die Ärzteschaft herangetreten. Es geht aber auch um die Diskussion von Behandlungsalternativen sowie die multiprofessio-nelle Kooperation verschiedener Fachrichtungen bei schwierigen Fällen, in denen eine Langzeitverschreibung ggf. alternativlos erscheint, da ansonsten andere Nachteile über-wiegen würden. Dies gilt besonders vor dem Hintergrund der ansteigenden Verschreibun-gen auf Privatrezept, da hier von Seiten der Behandler offensichtlich kein anderer Ausweg als die Beibehaltung der Medikation (oder Neuverordnung höherer Dosen über einen län-geren Zeitraum) bei den betroffenen Patienten gesehen wird. Dies kann auch zu einer offe-nen Diskussion über den Zweck und die Angemessenheit der einschlägigen Leitlinien füh-ren, die von den beteiligten Verbänden und standesrechtlichen Vertretern geführt werden sollte. Ggf. käme man zu dem Resultat, dass hier ein Überarbeitungsbedarf besteht und

7 Laut Deutscher Hauptstelle für Suchtfragen (und dem aktuellen Suchtbericht der Bundesregierung) sind nach

Schätzungen bundesweit 1,4 bis 1,9 Millionen Menschen medikamentenabhängig (Drogenbeauftragte 2011). Bezogen auf die Großstadt Hamburg mit 1,77 Millionen Einwohnern ergeben sich daraus Zahlen zwischen 30.000 und 41.000 Betroffenen. Wenngleich hier nicht zwischen verschiedenen Medikamentenarten unter-schieden wird, ist davon auszugehen, dass die Benzodiazepine aufgrund ihrer Verbreitung und ihres Miss-brauchspotentials für den Großteil der Medikamentenabhängigen verantwortlich sind. Die anhand der Ge-fährdungsstufen „gelb“ bis „schwarz“ in dieser Studie berechneten 14.700 Hamburger Personen stellen (auch unter Berücksichtigung der Patienten mit Privat-Verschreibungen) allerdings eine erheblich geringere Betrof-fenengruppe dar.

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Anpassungen notwendig sind, wenn es um die Behandlung spezifischer Problem- und Symptomkonstellationen bei einzelnen Patienten geht.

• Eine große Herausforderung stellt der Medikamentenmissbrauch insbesondere von Benzodiazepinen für die Altenhilfe dar. Die Ergebnisse dieser Studie konnten zeigen, dass der Anteil älterer Menschen über 70 Jahre mit Benzodiazepin-Verordnungen mit knapp 30% überproportional hoch ist und dass sie in besonderem Maße von hoch dosierten Ben-zodiazepin-Langzeitverschreibungen betroffen sind. Von diesen dürfte sich ein Großteil in ambulanter oder stationärer Pflege befinden. Hier geht es zunächst um Aufklärung über das Thema „Sucht im Alter“ bzw. Medikamenten-Missbrauch im Allgemeinen sowie im Besonderen über die erweiterten Möglichkeiten der Behandlung von Schlafstörungen (oder Komorbiditäten), die mit einer Benzodiazepin-Dauermedikation auf Kosten der Lebens-qualität durchgeführt würde. Auch scheint der Einsatz diagnostischer Hilfsmittel zur Ent-deckung von medikamenten-bezogenen Problemen hilfreich und nützlich.

• Im Vergleich zur großen Zahl an Personen, die überhaupt Benzodiazepine verschrieben bekommen, hat es die Suchthilfe auf den ersten Blick – gerade im Vergleich zu den Alko-holabhängigen – mit einer relativ kleinen Gruppe von Betroffenen zu tun. Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass die Zahl von fast 15.000 Benzodiazepin-Dauerkonsumenten, von denen mindestens ein Drittel eine Abhängigkeit entwickelt haben dürfte, im (oberen) Be-reich der Anzahl Hamburger Opiatabhängiger liegt, für die in den letzten 15 bis 20 Jahren ein gut zugängliches und effektives Unterstützungs- und Behandlungssystem geschaffen wurde. Zieht man das zunehmende Ausweichen bei Benzodiazepin-Verschreibungen auf Privatrezepte in Betracht, dürfte die Zahl Betroffener deutlich höher liegen. Hier stellt sich die Frage, ob die Bedarfe der Medikamentenabhängigen richtig erkannt und den Betroffe-nen angemessene Angebote unterbreitet werden. Offensichtlich bestehen hier für viele Medikamentenabhängige (zu) hohe Zugangsschwellen oder (falsche) Erwartungen, nicht angemessene Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Beratende, akzeptierende Ansätze, wie sie sich im Bereich der illegalen Drogen durchgesetzt haben, könnten hier zu einer größe-ren Inanspruchnahme führen. Insbesondere für die von Problemen mit Benzodiazepinen besonders betroffenen älteren Menschen scheinen die Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe keine „Attraktivität“ zu besitzen. Ferner gilt es den Blick zu schärfen für die spezifischen Probleme der so genannten Niedrigdosis-Abhängigkeit oder anderen unerwünschten bzw. nicht-intendierten Wirkungen des Medikamentengebrauchs. Auch diagnostische Hilfsmit-tel wie z. B. der „Lippstädter Benzo-Check (LBC)“ (Holzbach 2011) sollten bei Verdacht auf Medikamentenmissbrauch eingesetzt werden. Andererseits kann davon ausgegangen werden, dass sich die meisten Menschen mit problematischem Benzodiazepingebrauch im Versorgungssystem der psychiatrischen, psychosomatischen und allgemeinen Medizin aus-reichend behandelt fühlen (was insbesondere hinsichtlich ihrer Grunderkrankung gelten dürfte). Da es nach den vorliegenden Ergebnissen dieser Studie aber zutrifft, dass eine Vielzahl von Betroffenen gerade aus dieser „Quelle“ Benzodiazepine z. T. über die Maßen verordnet bekommt, besteht bei der Behandlung von Problemen mit diesen Medikamenten ein Interessenkonflikt, bei dem ggf. nur vom spezialisierten System der Suchtkrankenhilfe lösungsorientiert interveniert werden kann.

• Ein besonderer Bedarf besteht an weiterer Forschung. Hier geht es zunächst – als direkte Konsequenz der vorliegenden Studie – um eine genauere Untersuchung der Verschrei-

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bungspraktiken unter Pflegebedürftigen sowie in Altenheimen. Es ist notwendig hier zu systematischen Erkenntnissen zu kommen, um eine Abwägung von Risiken und Nutzen der ggf. erhöhten und lang anhaltenden Benzodiazepinverordnungen bei alten Menschen treffen zu können. Die vorliegenden Daten zeigen ferner, dass ein einmal begonnener (problematischer) Langzeitkonsum nur selten beendet wird, sondern sich im Durchschnitt über ein ganzes Jahr hinzieht. Berücksichtigt man die Beschränkungen des Untersu-chungsdesigns, dürften sich real sogar noch längere Verschreibungszeiten ergeben. Auch hier ist es notwendig, mehr über die Motive, Bedarfe, Indikationen und Symptomatiken von Patientenseite zu erfahren. Zudem müssen die langfristigen Effekte dieser medika-mentösen Intervention, nicht nur bezogen auf die Symptombehandlung, wissenschaftlich evaluiert werden, um zu einer Aussage der Rationalität und des Stellenwerts solcher Lang-zeitverschreibungen zu kommen. Schließlich ist es offensichtlich, dass Medikamentenab-hängige – deren Schätzung sich mittlerweile auf fast 2 Millionen Menschen in Deutschland beläuft und von denen der Großteil Benzodiazepine nehmen dürfte – von der professionel-len Suchthilfe kaum erreicht werden (siehe oben). Hier ist es notwendig, generell die Probleme und Bedarfe der Betroffenen zu untersuchen und ggf. neue Versorgungsstruktu-ren zu schaffen, so dass notwendige (zugängliche und effektive) Hilfen für Medikamenten-abhängige zur Verfügung stehen. Letztlich ist auch über die Ursachen der Medikamenten-abhängigkeit wenig bekannt. Sollte es so sein, dass es sich beim Großteil der Betroffenen um iatrogene Störungen handelt, sind entsprechende versorgungspolitische Konsequenzen zu ziehen. Hier besteht dringender Forschungsbedarf, da unter den gegebenen Umständen davon auszugehen ist, dass sich die Zahl an Medikamentenabhängigen zukünftig noch er-höhen dürfte.

• Letztlich sind gesundheitspolitisch Schlussfolgerungen dahin gehend zu ziehen, dass man sich der Frage des bewussten Umgangs mit Psychopharmaka bei alten Menschen stellen muss. Das in der vorliegenden Studie untersuchte Phänomen der Benzodiazepin-Dauerver-schreibung bekommt in der älter werdenden Gesellschaft eine zunehmende Bedeutung. Immer mehr Menschen leben in institutionalisierten Pflegeverhältnissen und sind damit auf die Unterstützung Professioneller angewiesen bzw. abhängig vom jeweiligen Pflegesys-tem. In der Ausbildung der professionellen Pfleger und Behandler muss die Frage der Me-dikalisierung altersspezifischer Probleme und Symptomatiken einen besonderen Stellen-wert einnehmen. Hier stellt sich für die Gesellschaft generell die Frage, inwieweit im Um-gang mit älteren Menschen die vermeintlich einfache und schnelle Versorgungs- bzw. Pflegeleistung einer „passenden“ Medikation gegenüber anderen, in der Regel zeitaufwän-digeren Betreuungs- und Zuwendungsleistungen abzuwägen ist. Letztlich ist hier auch die gesundheitsökonomische Dimension von Bedeutung, ob sich mögliche Beeinträchtigungen der Lebensqualität bei dauermedikalisierten älteren Patienten gegenüber Alternativleistun-gen als kostenintensiver und ggf. weniger effizient erweisen.

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