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Erinnerungen von einer Reise nachSt.Petersburg Im Jahr 1814 ,. n n Ulrich Freyherrn von Schlippenbach. " Hätt' ich du hohe Talent des Pausiaa Slücklich empfangen, Nachzubilden den Kranz, wär' ein Geschäfte des Tass. Goethe. , Erster Theil. 'M i tau, 18 I 6. Gedruckt bey J. F. Steffenhasen und Sohn.

Erinnerungen von einer Reise nach St. Petersburg im Jahr 1814 von Ulrich Freyherrn von Schlippenbach. Erster Theil

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Author: Schlippenbach, UlrichDate: 1816. Has version http://hdl.handle.net/10062/14433

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Page 1: Erinnerungen von einer Reise nach St. Petersburg im Jahr 1814 von Ulrich Freyherrn von Schlippenbach. Erster Theil

Erinnerungen

von einer

Reise nachSt.Petersburg Im Jahr 1814

,. n n

Ulrich Freyherrn von Schlippenbach.

"

Hätt' ich du hohe Talent des Pausiaa Slücklich empfangen,

Nachzubilden den Kranz, wär' ein Geschäfte des Tass.

Goethe. ,

Erster Theil.

'M i tau, 18 I 6. Gedruckt bey J. F. Steffenhasen und Sohn.

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Der Druck di(;,et Schrift wird untef d~r Be­dingung bewiIliset, daf!, f!leich nach deih 'Abdru<"ke und vor, der' öffentlichen Herilusilabe, ,6ieblm einbe~ bundene Exemplare derselben, zur vorschriftmäfsi_ gen Vertheilung, an diese Cemurkommittce emse­sandt werden.

Dorpat, den loten August 1815.

Kollegienrath, Professor F. \V. IT e z e 1, Ctntv r .

.., './-' ~"vl .

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Mitau, den lsten July 1814.

WC'!nn.du vielleicht in ebenpem Augen. blicl.; wo .mein Brief.djcherreidlt,:·in deinem ga:;tlichen ~aiise' einen meinet Landsleute bewirthellI:, der,' mit dein Lorbeer des Sieges ge!lChmückt, aus' ' Frankreich 'wiederkehrt; und er, im Gespräch ~it dir.,. begeistert- den NaA.l!;D.- seines grofseJ;:i Kaisers A~nt, von den Wundern- "seiner Ha.uptstadt spricht, und die Hoffnung, diese als Heimath wie­derzusehen, in seinen freudigen Blicken

schimmert: so wisse, clafs auch dein ent­fernter Freund im Begriff ist, nach jener grofsen Hesidenz zu eilen, und dahey den Vorsatz nährt, diese seine Reise dir in Brie­fen \ 'mitz.utheilen, die du deinem :Jlten Rheinc vorlesen kannst, damit er' den Na.' men' Alexandcrs und der nussen. recht oft höre, und' seiner Erretter nicht vergesse. L:.h weifs zwar. dllfs ihr Deutsr hen, im Ge­fühl der erwachteu Kraft neuer Nationalität,.

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nur euch selbst den Dank der Rettung zu­liedert und zusprecht; doch sagt redlich, wäre wohl ohne Rufsland , das im heiligsten höchsten Opfer seiner alten Zarenresidenz erst das Schicksal versöhnte, dann aber mit den gewaltigen Kräften seiner edlen Söhne drein schlug, sagt, wäre wohl eure Rettung möglich gewesen? und doch will bey euch der kl(;:;inste Staat ein Americus seyn, der nach sich die neue W dt tauft, die er nicht entdeckte; und eure Politiker möchten das Schicksal der Welt. so gern gleich dem Ey des Columbus dnhen und wenden, und, was Hufsland wirklich that, das Feststellen desselben, einem dtutschen Heere zumes­sen, indds manche sogar geradezu schlecht genug sind, der Kälte den Sieg. zuzuschrei­ben, welchen Muth und Vaterlandsliebe gewann ,da wir hier es doch wohl am besten wissen, dafs die Beresina nicht einmal zu­gefroren war, als Napoleon über sie floh; und so lange kein Strom starrt, wird doch wohl auch selbst ein französisches Heer nicht im Frost erstarren, da man sogar vermuthen sollte, dafs es; seiner Nationalität nach, dem Quecksilber gleichend, erst im stärksten Froste sich hämmern lasse.

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Weil ich aber weder dich, noch So man­chen andern deiner braven Landesbrüder, für so undankbar halte, so glaube ich, dafs Alles, was Rufslands gro~sen Monarchen und sein V olk betrifft, dir und jedem redlichen Deutschen höchst interessant und willkom­men seyn müsse; daher hoffe ich auch, mein Jahrelanges, Schweigen. als kein freyes Wort euch nahen durfte; am besten durch wiederholtes Schreiben zu versöhnen, indem ich dir recht viel von Rufslands l\Ionarchen und seinem Volke sage.

.. Wie einst die Griechen aus dem ver-brannten llion ihr Paladium nahmen, so erhielten auch die Deutschen. das ihrer neuen Freyheit und Nationalität aus dem

brennenden Moskwa, nur waren die' Grie­chen dort Feinde, hier die Russen rettende Freunde, die das htili/:,re Symbol zu den Deutschen hintrugen und weihten.

Doch' 'du hörst mich noch wie' ehemals auf meiner Stube in Leipzig zanken, ,und möchtest mich wohl gerne schon im Wag~ll sehen, um die Reise selbst, ohne Zugabe ab­weichender Räsonnemt:nts,zu vernehmetJ~ doch warte noch ein wenig, zur Reise; ge­hören Vorbereitungen eben so gut, als zu

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einer Bescllrcibung 'derselberi, und die eIn. gestreuten fremdartigen Bemerkungen und Gedanken wirst du ,dabey nicht los, da sie als Unterhaltung Jllit in den\Vagen hinein gehö'ren, und itl5 solche ihre Beziehung auf die Reise selbst' hinlänglich erha1ten.

Der Zweck inciiler Reise ist sehr ehren· voll ;:, ich soll nämlich, Namens der Kurlän. disch - Piltensch'~n Ritterschaft, "Sr.Maje. stät; tinserm Allergnädigsten Kaiser, die Hul" digungeu der Herzen meiner Adeisbttider, ihren Glückwunsch zum errungenen grofsen Sieg,-i.liren Dank'förFrierlen nnd. das Glück .lffid die Ruhe der Heirnath darbringen: so

-lautet meine Instruktion, der jedoch mein eigenes Herz einen vollen Hymnus des lau, .testen Preises, ,unterlegt, den ich gern mit geriihrter Seele'weit in die Weit hinausrufen :möchte, wo nur Alexander als rettender Engel erschien. , . " Glaube nicht, guter Bruder, daCs, wie ehe­mals im augenblicklichen Eritschlufs, es nur clea~Sattelns unserer Reitpferde bedurfte, um zu einer wochenlangen Reise bereitet zu Beyn; ich habe, wie du, Gepäck für's Leben mir besorgt, und zwey schwere Wagen fafsten mich und Weib und Kind, mit denen

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ich am Isten July Abends mein.- Haus. ver­Hefs, . ulld am Morgen;.' nachdl:ID ::ich ,die Nacht durchfahren, in Mitau' aulangtc>'~_~,:, ,,~

Du hast d(urland aus mt:iner Besc4rei.t bung kenpen gelernt; ,~) "was hier die, Zeit lrnd der Krit:g ver;indcrt hat, ist Sß ~nlg:

erf,rculich,.~. <1;&; , wünschtest du auch -hier­üher a:usf~hrUche Nachricht, ich <Hese mit einem infandum jubesrenovare. dolorem ab­schlagcn würde, und dich dahu bitte, hier mit \-Vcnigem dich zu begnügen.

Kurland ist das woWhabende Ländchen nicht mehr:, das es war, als du meine Lands" mannschaft. in Lt:ipzigdic reiche nalintest. Der Adel hat so viel. yedoren, seiuerAus. gaben waren so viele, seiner Einahmen so wenige, dafs gewifs die zehnte Güter, be­sitzende }<'amilie völlig verarmte, und die übrigen nur eines Drittels ihres ehemaligen Wohlstandes geniefsen. ,

An Handel war bisher gar_ nicht zu ·denken, und auch jetzt ist er wie aus dem langen Schlafe erwacht. als würste er llicht, ,ob er vorwärts oder rückwärts

."") MalHisehe Wanderunsen durch Kurland. ,.Riga,

bey H;qlm~nn •.

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schreiten soll. Künste und Wissen schar-ten, die eigentlich wie die Lilien nur blüheu sollten, ohne an's Kleiden zu den. ken •. vermögen dies dennoch nirgends, am wenigsten hier, wo das Klima allen Blüthen nicht günstig ist •.

Doch lafs mich nicht über schlechte Zei­ten klagen; es wäre Thorheit, jetzt keine besseren zu hoffen; ihre Morgenröthe bricht hervor, der belle Tag mufs folgen.

Obgleich ich die zwanzig ,Meilen, die ich von meinem Wohnorte bis Mitau habe, wohl hundertmal durchfahren bin; so merkte ich dieses mal auf die bekanntesten Gegen-

~ stände weit mehr als sonst, weil ich zur wei. tern Ferne eilend sie verliefs.

Man kann zuweilen einem bekannten Gegenstande erst dann ein recht warmes In. teresse abgewinnen, wenn man von ihm scheidet. Mit dem Leben sel,bst geht es uns so, und der innigste von allen Blicken ist sicher der scheidende _ vielleicht schon deshalb, weil man in ihm auch die Sehn­sucht nach dem kommenden des Wiederse­hens mit umfafst.

Alles Glück des Lebens hat nur die Gestalten zweyer Zustände, des Erringens

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,und d~5 Scheidens ,- oder, was dasselbe sagt, des Genusses und des Entbduens.

Ich dachte mir diese Strafse vor andert­halb Jahren, als der aus meinem Vater­lande fliehende Feind sie bedeckte, und, unter der siegrEichen Anführung des jetzi­gen Kriegsgouverneurs von Liv - und Kur­land, . Marquis Paulucci, mit einer so unglauhlichen Eile verfolgt ward, dars ihm keine Zeit zu Plünderungen übrig blieb. Von allen Giiternsalldtcn die Besitzer frey­willig eine solche Menge Fuhren, dafs die Infanterie mit Vorspann reisete. Die hes­ten Pferde des Adels, bisher mühsam in Wäldern versteckt, zogen die Kanonen im .. raschen Trahe dahin. Es war ein Triumph­zug, an dem alle redliche Herzen Theil nah­

men, mit Jubel empfangen, und begleitet: so aber ward der Feind erreicht und ge­schlagen, als er seine Verfolger noch weit hinter sich glaubte. Die feindlichen Kom­missaire , Intendanten und Kommandanten bemüheten sich vergeblich, ihrem Gepäck den Segen des Kontinentalsystems an zu­schliefsen. Auf dem Wege von Libau nach Memel war der Weg mit Kaffeboh. nen bestreut, und Zuckerfässer hauen ihre

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SiHsigkeit in den Schnee ausgegossen. Die ßedtckung,' aus Holländern bestehend, dachte wohl ihres Verlustes der Kolonien, und wollte hier die Früchte derst:lben nicht vertheidigen, inders der französische Be­fehlshaber entflohen war, als er einige rei· tende Weiber für Kosaken genommen hatte.

Du siehst, wie sehr ich dich zu meinem Reisegefährten gemacht habe, da ich 'dir, tun den Weg zu kürzen, Anekdoten er· zähle" Doch für heute genug; in Rigasetze ich meinen Brief fort, und sende ihn von dort an dich ab.

Riga, den !jten July.

Es war ein Bchöner heitrer Sommermorgen, an dem ich Mitan verlids. In den ruhigcll F"luthen der Aa spiegdte sich das alte herzog. liehe Schlafs, und l1ur in diesem Spiegel gewann es das alte Ansehen ehemaliger Pracht und Gräfse, da die verwitterten Stellen hier im Bilde nicht so bemerkbar waren, als in der Wirklichkeit. Es geht mit vielen Gegenständen des Lebens 60, die ihren Glanz, ihren Werth sogar, für uns

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vecloren haben, dars sie reflektirt werden müssen, um wied~r heller zu strahl~n. Das ganze Menschenleben reflektirt sich so ~ Ideal der Kunst, und so nur sicht man die I .. ticken, : die .eingeslmkencn und verwitter. ten Stellen nicht. Längst der Brücke waren die Lastböte schon mit arbeitenden Men, schen . bedeckt, .wld von den \Viesen her schallte der Gesang der kurländischen Hir. tinnen in langgedehntenTönen, die die beste K.omposition des· Chors im Wernerschen Kreuze an der Üatse(;: seyn würden, und des Pikollos hu, hahah~ hu sehr natürlich ausdrücken. Die Schanzen des Brücken­kopfs an der Aa, die hier die Ft:inde so mühsam durch die I,andleute Kurlands auf. führen lidsen , dienten jetzt nur, um den

Wiederhall der frohen Gesänge jener Hir­tinnen zu verstärken; inders waren sie zum Theil bereits eingesunken, und hin und wi~· der hatte schon ein Gräschen sich anzusie­deln versucht, sah·· aber so dünn und ein· sam in die frisch umher blühenden Wie· sen nieder, als hätte es sich gefürchtet, hier, in dem von wilden Menschen so durchwühl­ten Boden, tiefe Wurzel zu schlagen. Ist die Blüthe der Kunst, die lieblichste deli

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Menschenlebens, nicht eben so geneigt, sich da nur herrlich au c;ntfalten, wo sie ruhi­gen, nicht von innen oder aussen durchwühl­ten, Boden hat? auch sie fing in meinem Vaterlande herrlich zu keimen an; auch sie haben die Stürme des Krieges und sei­nes Gefolges im Wachsen zerstört. Wer­den die Zeiten wieder kommen, wo der Kranz wieder duftet, den die Musen zu winden begannen?

Mich beschäftigten allenthalben Erinne­rungen der letzten verflossenen Iahre. In Zennhoff, 8 Werst von Mitau, eim:m schön gelegenen Gute des Grafen Raczynski, waren alle Gebäude vom Feinde abgebrannt worden; manche hatte man schon wieder gebaut, aber mitten zwischen grünenden Bäumen und Hecken standen noch die nakten Schornsteine, wie Denkmale des wil­den Krieges, und warfen in den grünen Rasenplatz lange finstere Schatten als Stun­denzeiger einer vorübergezogenen schreck­lichen Zeit.

An der Eckau, einem Wasser, das zwi­schen Bach und Flurs die Mitte hält, hat­ten sich die Schanzen noch sehr gut erhalten, öie auch hier der Feind aufgeworfen hatte.

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Der Krug, in dem jetzt E:ine Menge froher Bauern schwärmten, war damals das Kom. mandanten-, Wacht~ und Blockhaus gf:wesen, wo vide Landleute, die man aus den fern. sten Gegenden Kurlands zum Schanzenbau hergetrieben, ihr Grab gefunden.

Der Feind zwang sie, länger hier zu arbeiten, als er selbst früher bestimmt hat. te, die mitgebrachten Nahrungsmittel rt:ich. ten nicht zu, manche entflohen, manche aber wurden erschossf:n, da man gerade ihre Flucht bemerkte, und noch mehrere starben durch Hunger und Ermattung bey einer so angestrengtt:n schweren Arbdt. Selbst diejenigen, welche endlich zur ~eimath wif:derkehrten, wurden gräfstentheils Opfer des Todes. Die lange Angst, die schwere Arbeit, der Hunger, und die Härte, mit der man sie Tag und Nacht viele Wochen lang der herbstlichen Witt6rung Preis gab, hatte ihre Kräfte erschöpft. Nervenfieber waren die unausbleiblichen Folgen, und verbreiteten sich immer weiter. Man kann diese Schanzen als grofse Altäre betrachten, auf welchen viele Hunderte armer Bauern geschlachtet worden. Wenn gleich selbst mancher deutsche Offizier von der heili-

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Sfi<n·"Pflicht d'~r Mensthhdt spr».<;h~

di~ kl.ine Lt:il,lt:igenschaft dulde, so mifshan; delte er nichts desto weniger auf <;:ille ,hier unerhörte W dse die Schanzarbeiter , ,9d(;['

'f?lche Bauern, die entweder iJm selbs.t, oder, 13<;-lagerungsgeschütz, M unitiqn und aller-. han.d !l~S .Rcquisi~ion t:[obt:rte Gegensti~de, lllit :schwachen schon von langen Iteis('l~

Ermj,i,dteten Pferdt:n fahren rnufsten. Es jf~ eine. Wahrheit" die ich zur ~hre des kur­ländischen. Adels la,ut aussprechen", dal'f~ daf!, tr9tz der grofsen Anstrengung" welche Cjlclj' P(:i~d von, ,den: kurländischcn Bauern, y(;:dangte, doch, d,ie dcr Privatbesitzer am

~c;nigstell gdiut:n hahen, wdl ~lie Ht:rrcn

{ür sie die Rcquisitiollt:n trugen, ihren V cr­lust an, Viel~ U1lq. ,PJcrpen ersct~tcn, und ihncn Saat und. Brot wil'dergahen, wo es dcr F,eind geraubt hatte. In solchen Gegt:Il­den freylich war kein Ersatz möglich, wc" wie, bey Zennho1f, dit: Gebäude des Guts­~esitzt:rs und der Bauern zuglt:ich abge­brannt, und sogar die Aecker und Wieseu .. durch Gruben in den Lagern, und bey dem, l1ast:Ilstt:chcn zu den Schanzen, für viclc J.ahre zerstört worden. Nur in dem glück­Üchen Englandgilt die Grofsmuth eines

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ganzen edlen Volkes 'als Ir ypothelc tür -den Einzelnen, besonders votn:Schicksal Gemif~ ]lanJdten. :

Bis hintet dem DorfeOlai, ungefah't zwey ,Meilen von Riga, sieht man "noch ei~ nigt! 'Spuren des Krieges, und hört die Ge~ schichte seirter Drangsale von den Ein1O'O'h~ nem {lieset 'sehr gutkultivirten Gegenden; Der V cstung näher festen ßtand zu fassen, hatte der Feind nicht gewagt, naclJdem'~i,

hey einer am l~ ten N oveinber verstlthtf!tI At~ take, bis zu 'einer versteckten Batte'rieo·geio(:rft grorset! Verlust erlitten, und sich' dkraüf eiligst -zurückgezogen hatte, als mim-schon in ' Riga, \ 'wo " der' K«iloneDd()ntt(!r~ ~eutli~h gehört ,urid sogar der aufilteigeirde, Baud! gesehen ward, kräftig entschlossen . war" ttn'l'

Bürgern die \Välle zu besetzen. ' Wie 'es dem Marquis'Pau:lucci,:ils Kriegs­

göuverneU'l'° von Riga;' der doch,' 'Wasm:m gewits 'Weifs, nicht mehr als I3,oooMann dienstfähiger Soldaten zwischen Riga und Dünamünde unter seinem Kommandohatte~ möglich wurde, 35,000 Mann Feinde ,bi_. auf' zwey' Meilen von der Vestung ,%1SL rückzuhalten , murs Jedem unbegreiflicih Ilcheinen, .. der' es nicht weifs, wie -sesCiliickt

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derFeind über die; ~igenrliche Zahl der Ri. gascnen Garnison getäuscht ward, so dafs er mit fester Zuversicht die Ankunft neuer Trup­pen in Riga glaubte. Freylich marschirten oft genug, Soldaten zur Stadt, bald zu diesem bald zu jenem Thore, IH~rein, aber es waren immer dieselben, und die ernsten Ueberfälle, wenn der Feind solche am w€nigsten er­wartete. Hersen auf eine grofse .Anzahl l\1ilitair schliefsen , welc!les ausser der Gar­nison. ~or der Stadt kampirte.· Es ist gewifs, dafs der Marschall Macdonald die Garnison in Ri~a I!§lbst auf 30,000 Mann geschätzt hat •. Die Vestungswerke der Rigaschen Vorstadt, (lder viehnf:hr der Brückenkopf des Düna­,trom$,· war noch ··nicht ganz vollendet, ;Lls schQ,Il der Feind bis Mitau vorgedrungen­war. ' Damals sah ich Riga, als der Feind wenig. ccTJlge darallf die Stadt Mitau über. schwemmte. Welch ein Damals, und J etz t! - Von dem Thurme der Dom­~ohe hingen gTofse schwarze an Schnüren befefltigte Bälle herab, welche bewegt wer­den konnten , und einen Telegraphen bilde­ten, um mit den englischen Kriegsschiffen, die auf der Rhede lagen, zu korrespondiren. Die B,älle hatt~n aus der Ferne das Ansehen

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grof!>Cr Kanonenkugeln, und" so erschiet nen sie mir auf der Spitze des Kirchen. thurms, wie Symbole der eisernen Kraft; durch welche der Russe Glauben und Va~ terland vertheidigen wollte.

Die Garnison sah ich damals beschäftigt, auf vielen Böten schon gefüllte Homben nach der Mitauschen Vorstadt zu führen. Die schöne Dünabrücke war von Schiffen entblöfst, man sah kein fröhliches Gesicht unter den Einwohnern, und jeder Anruf der Schildwachen tönte lauter und ernster durch die einsamen Strafsen , die kein Han. deI belebte.· Damals stand freylich die schöne Petersburger und Moskauer Vor. stadt noch, welche später fallt ganz ein Raub der Flammen wurden; aber schon da. mals sah man sie als rettungslos verloren an. Der Vernichtung geweiht, standen die Häuser beynahe schrecklicher noch da, als man sie späte. in ihren Ruinen erblickte. denn sie deuteten auf den kommenden Tag~ der sie den Flammen weihen würde; ach! er kam, mit furdttllllrer grausamer Gewalt. und unbeschreibliches Elend vieler Tau. send stiller friedlicher Menschen, mit ihm. Wenn ein vorausgesehenes, unabwendli.

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dies ~UngH1ci;~schehenrlitft,"ia-st dann, . 'auf den ödeI1;Trüm'mdrn,. erblickt man die bleiche.' aber ·dot.h. fr"undliche~ Gestalt der Hoffnung; vorde"m Schrecken des noch kommenden gewissen. J:aurm'crs entweicht ~ie mit schei..rem Fluge. Die Kriegsmars­regel, welche hier 8.ooRäuser, die Neben. gebäude, Kornmagazine und Buden nicht mitgerechnet, vernichtete, kann man, frey. lieh wohl ühereilt nennen; 1 da der Feind niemals 80 nahe kam , ·um die Vorstädte be. setzen Zu können; doch glaube ich gewifs, dafs weim de:rBrand der Vorstädte nicht früh. zeitig erfolgte; und schon hieraus alleih deI: entschiederie Vorsatr. der hartiJäckigsten Ver~ tliaidigung dd Vestung :seIbst. erwiesen wor­den wäre,' deJ:F~illd es, mit so überwiegen_ den' Kräften ,'Jlühner versudit haben' würde, siCh _der. Vestung zu nahen, die döch so sehwach. berretztwar. .\Väre aber Rig3i ge. nommen worden, vielleicht 'hätte der:ganze. Feläzugdes Jahres 18·I2.nicht BO herrlicl~

vollendet werden kön nen. i' .In. einem K.riege, elen die Gottheit selhat;sb slchtharlich ; als den der' unterdrückten, Menschheit gegen die Gewalt!..des .bösen ·Primips in ihr weihte, kann J)laIl' es ,,<ohl glaub~n, 11&& Riga'9. V Or-

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stadt,wle das heilige Moskwa und alle die Städte und Dörfer auf dem Schreckenswege, den N apaleon zog, nur als heilige Sühnopfer brannten - aus deren Asche der frische Lmi. beer des Sieges und endlich die herrliche Palme· des Friedens so prächtig entkeimte..

Der damalige Kriegs - und Generalgouver.: neur von Essen, welcher das Abbrennen der Rigaschen Vorstädte befahl, ist dieserhalb von sehr Vielen bitter getadelt worden; doch mancher edle und einsichtsvolle Rigaer, der die guten Eigenschaften dieses jetzt verstor­benen Mannes nicht übersah, entschuldigte ihn in· Betreff .. des· Brandes der Vorstädte selbst; wiewohl freylieh den Umstand, daf. die Einwohner, weIche früher mit der Hoff .. nung, die Gefahr würde vorüber gehen, getröstet worden, plötzlich ihre Häuser auflo­dern sahen, nur eine völlig entschiedene An­näherung des Feindes hätte rechtfertigen kön­nen. Es ist indefs gewifs, dafs Essen selbst hier, vielleicht gar absichtlich, getäuscht ward, und seinen Irrthum durch die bittersten Ge.­wissensbisse his an seinen Tod büfste, der ein Jahr später an demselben Tage erfolgte, als die Vorstadt Riga's in Feuer aufging. Iell­habe Essen viel gekannt, habe ihn geachtet,

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und miichte gern von seinem Andenken die ,Schmach einer bösen That löschen, welche nur der ahsichtlich, böse Wille be· stimmt. Er glaubte streng seine Pflicht zu erfüllen; er irrte hiebey, irrte schrecklich; dor h dort, wohin er sich vor das Gericht ewiger Gerechtigkuit stellte, gelten :llle Ent. schuldigungen, die sogar hier ein mensch· liches H(;rz uicht verwirft.

Als eier harte \Vinter des Jahres 1812 die Düna mit einer Eisdecke bdegt hatte, welche stark genug war, um die gröfsten Last(;n zu tragen, sdlien Riga's Lage noch bedenkli­cher, cla der Strom, d<:;r die Stadt von der

einen Seite m<:;hr als d(;r einfache 'fall deckt, nun eine offene zugängliche Fläche gewordeJ.l war; doch das Genie und der be· harrliche Muth findet immer Rettungsmittel, auch in der dringendsten Gefahr. Der Mar­quis Paulucci, welcht:r, als Esst:1l ausseI' Thätigkdt gesetzt ward, zum Kriegsgou­verneur von Riga vom Kaiser ernannt wor­den, lids Batterien von grofsen Eisblöcken auf dem Strome st:lbst errichten, und 30 KanonCllböte bilcleten starke Aussenwerke, während im Flufsbette täglich eine breite Strecke aufgeeist ward.

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Ob nicht irgend wo ein Politiker. wenn er diese Mittel zur Vertheidigung Riga 's erfährt, abermals ausruft: wie doch der Frost allenthalben die Russc;;n begünstigt hat und zu den Siegen derselben benutzt worden ist! Sage du aber solch c;;inem weisen Herrn, wenn du ihn unter dei­nen Bekannten findc;;st, dafs eben das ein Kennzeichen des Genies ist, das sich Darbietende auf das Zwecklichste und An­gemessenste zu benutzen. Die Russen, welche in Finnland, nur den Kompas zum Wegweiser habc;;nd, über ein gefrornes M(;er setzten, so wie d~, welche die 'Välle Riga's mit einem Eisspiegel bekleideten, andere vVälle von Eis aufthürrnten 'und eine V cstung im starrendtn Flusse bildeten, oder

Napoleons Heer uher Schn(;tfelder ver­folgten, thaten allenthalben nichts mehr, als dafs sie mit Kraft, l\Iuth und Gc;;ist die Natur se'lbst zu Ern:ichung ihrer durch Ehre und Vaterlandsliebe vorgezeichneten Zwecke benutzten. Das abc;;r ist eben das grofse Ve;rdit;nst des Fcldhurn , der ohne Kenntnifs und zweckliche Anwendung der Lokalil~it nimmer siegreich seyn kann und wird.

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Während der Nähe des Feindes, haben sich Riga'e Einwohner, obgleich sie in ihren V orstädten so wichtige Verluste zu bedauern hatten, dennoch mit sehr vielem Eifer für die grofse Sache des Vaterlandes, mit Muth und Würde benommen. Die Opfer, die sie zum Unterhalte ihrer abgebrannten Mitbürger dar­brachten; die V crpflegung der vielen Kran­ken und .Hlessirten, selbst durch persönlichen :Besuch der Hospitäler von Seiten der ange­sehensten Bürger, deren mehrere durch An­steckung den Tod fanden; die Willigkeit, alle 'Leiden des Krieges standhaft zu ertragen; die freywilligen Gabtn jeder Art auf dem Altare des Vaterlandes dargebracht; die Ordnung ihrer Bürgerpatrouillen , von denen sich die angesehensten Männer nicht ausschlossen: alle diese einzelnen wahrhaft edlen Züge sind nicht nur würdig, die Blätter einer Geschichte des grofsen Weltkrieges zu schmücken, son­dern sie sind sei b s t die einer Bürgerkrone, welche die Achtung aller redlichen Russen dieser Stadt zuerkannt hat, die so den Namen einer Kaiserlichen, den sie in allen Ur­kunden zu führen ;-flegt, mit Recht verdient.

Zur Geschichte Riga's, während der Nähe des Feindes, ist ein recht gut ge-

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8chrieLenes Buch, bey Hartknoch in Leipo zig, so (;ben, unter dem Titel, Skiz­zen zu einer Geschichte des russisch­französischen Krieges im Jahr 1812, er· schienen, das einige recht interessante Notizen hat, nur bedaure ich, dafs der Verfasser, während der feindlichen Okku. pation von Kurland getrennt, manche diese Provinz betreffende Nachricht auS ganz falschen Quellen geschöpft haben murs. So nennt er z. ß., pag. Hg, unter den Mit­gliedern der französischen Regierungskom­mission , welche, wie er schreibt, Essen mit harten, aber verdienten Worten abgesetzt haben Boll, auch einen von Fölkersahm, da sich doch Niemand dieses Namena-, unter den vorn Feinde ernannten Beamten b(lfand,

und der bey der Russisch· Kaiserlichen Gou· vernements -Regierung angestellte Rath von Fölkersahm, bey Annäherung des Feindes, dem erhaltenen Befehle gemäfs, Mitau mit seiner zahlreichen Familie verlassen, sich nach Petersburg hin begeben hatte, und erst im Oktober IHI2 mit dem Generalgouver­neur Marquis Paulucci zurückkehrte.

Die Vestungswerkc der Mitauschen Vor­stadt haben keinen siegenden Feind in

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den Armeen Napoleons gefunden, aber die Düna selbst versuchte, die dgene Schutzwehr im Frühjahr I~I4 zu vernich­ten, und wirklich gdang es ihr, einige Aus­senwerke , wtnigstens zum Thtil, zu 'durch­wühlen, die Palisac\(:n wegzuspühlen, un4 überhaupt durch die Zerstörung vieler Spei­cher, Hanfmagazine und dem Ufer nahe belegener Häuser tinen Schaden von zwey Millionen Rubeln zu verursachen.

Es war, als wollte das Wasser von der einen Seite der Stadt dieselbe Kraft der Zer­störung beweisen, welche den Flammen ~uf der andern früher gelungen war. Wie reich mufs Riga gewesen styn, da ein solcher durch zwey mächtige Elemente hervorgebrachter Verlust, die übrigen Leiden der Zeit und des Krieges nicht tinmal gtn:chnet, dennoch den Wohlstand dtrselbcll wenigstens nicht ganz vernichten konnte; obgleich auch der kürzeste Auft:nthalt demjenigen, der diese blühende Stadt Vor etlva fünf oder sechs Jahren sah, die Bemerkung aufdringt , dafs daselbst lange nicht mehr jener allgemeine Wohlstand herrschet, der sich früher in allen gesellschaftlichen Kreisen eben 80 glän. zend als geschmakvoll aussprach.

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Da der Fuhrmann, den ich von Mitau bis Riga \lngenomm(;n, seine Pft.rde in dem tiefen Sande schonte, d(;r fast die ganze Strafse bedeckt, so war ich erst am Nach. mittage. in Riga angdangt. Ich sandte mei­nen Wagen nach dem Hotd, denn den herrlichen Spaziergang über die Diinabrücke wollte ich sogkich benutzen. Wie freund­lich hatt.e der erste, nicht einmal volle Aufblick des Friedws, hier schon Alles verändert! . die :Brücke" die ich vor zwey J aluen leer und finster, wie einen schwarzen über dem Strom gezogenen Strich., aah, hatte .jetzt gräfstentheils ihr prächtiges Geländer von grorsen und kleinen Schiffen schon wieder erhalten; allenthal­hen sah man den Strom hinunter Schiffe

vor Anker liegen, und in dcr Ferne, der :Bolderaa zu, ragten ebenfalls viele Masten hervor. Kleine Fischer - und Lastbäte durchkreuzten den Strom nach allen Rich­tungen, es war die~samk(;it des alten Handt:ls aufgelebt, wenn gleich noch lange nicht zur vollen Kraft genesen; denn ich weifs es wohl, dafs das, was ich jetzt sah, nur ein Miniaturbild der ehemaligen freyen und grafsen Schifffahrt war, aber der lange

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entbehrte Anblick hatte durch Neuheit frischen Reiz gewonnen. Meine Erinne­rung hatte das Bild bewahrt, als der Strom, öde und leer, nur die Böte der Soldaten "trug, welche Bomben und Kanonenkugeln zurq Brückenkopfe überführten; und in jenem Kontraste sah ich ihn jetzt wieder. Man freut sich des Genesenden nach langer schwerer Krankheit mehr, als des Gesun­den - und ein lebhafter blühender Han. deI ist ein recht sprechendes Bild des Le­hens eines kräftigen regen Mannes, und nimmt die innigsten Gefühle seiner Seele zur bild lichen Bezidmng: - den Muth im

Trotzen der Elemente, den Glauben an die Vorsehung, die auch den ~feeresfluthen ge­bietet, die Liebe im eilenden Fluge schwel­lender Segel bey der Rückkehr zur Heimath, das stille häusliche Glück im Ringen nacll Eigenthum, um WohlstalId im gdiebten }'amilienkreise herbeyzuführen. Die Freude, sie erschien nicht bildlich, sondern tönte leibhaftig mir eben von einem grofsen Lü­becker Schiff im lauten Chore entgegen, und aus den offenen Fenstern der Kajüte sahen so volle und roth glühende Gesichter nieder, dars man leicht sah, welch ein starker Geist

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der Lust in sie gtfahren sey, und hier üher den "Vassern schwehte.

Die Wälle der Stadt, die ihr grünes Haupt auf die Mauer fester Granitquadern stützen, und über welche die höher liegende Citadelle und das alte herrmeisterliche Schlofs mit seinen Thürmen hervorragt, gaben ebenfalls, von der Brücke aus, einen recht malerisch schönen Anblick; diesen hatte ich vor meine Seele gestellt, als ich in der von mir gedichteten Kantate, zur Feyer des Jubelfestes in Riga den 4ten July 1810, die Verse schrieb:

Seht hin, wie dort mit Windesflügel Der Düna Strom zum Met'te flieht, Doch fest in seiner Fluthen Spiegel, Das Bild von unsern Mauern sieht.

So spiegelt sich mit Kraft und ·Weihe Tief in des Zeitenstromes Grab Des Mannes fort~eerbte Treue. Selbst in der flücht'sen Woge ab.

\IV ~nn auch Jahrhunderte verflie[sen, Grünt an des Stromes nahen Rand, Wo ·Früchte reifen, Blüthen spriefsen, Ein schönes sesen reiches Land.

Den freyen PI;ltz vor den Thoren, zwischen den Wällen und dem Dünastrome, welcher

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2JUgltich als Marktplatz für die mit Böten t

und von du Mitauschtn Sc;ite landwärts, zur Stadt gebracht<..n Lt;bensmittel alkr Art benutzt wird, fand ich oben so, wie die Dünabrüc.ke, witdu mit einem sthr grürsen MCllschcngewühle angtJüllt; beson­"krs waren gtrade sthr viele Poltn -und J ... ithauer anwesend, welche mit Erstaunen, die 1\lengc der französischen. Kriegsgefa1,l.­gtnen zu br.:tracht<.:n schienen, die hier ihrcll klc:inen Einkauf an LdJcnsmittdn machtelJ, und d~gegcn Ketten und Ringe, von Pfer­clthaaren gedreht, Strohhüte und derglei­chen zum Verkauf allboltTl Gtsttrn ist

hier wieder dn Transport von 800 Mann 'aus dem Inuern dts Rc::ichs angekommen; auch litr berüchtigte Vendamme b<dindet sich in diesem Augenblick hic::r. Sonder­bar ist es, dars unter den Kriegsgefange­IJeIl sich viele W tiber hf:flndel1, die mit dc.m Feinde nach Rufsland geko~meD ware:n, alle traurigc::n Schicksale desscl­ben gethdlt und überlebt haben, und uun mit den Männern nach Frankreich zurückziehen. Bey eintm Transport vou 100 Mann, konnte man sicher 3 bis 4 \Veiber zählen; letztere (so artig ist der

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Russe seIhst gegen ein gefangenes schö~ nes Geschlecht) wurden gefahrtn, und er­hielten allenthalben Nahrungsmittel und Geschenke, so dafs vielleicht mancher arme Franzose, auf Spekulation, sich gern eine weibliche Bt:glt:it(;rin besorgt hätte. Einige haben auch wirklich in Riga, Mitau und andern Städten gröfstentheils aus der Klasse der deutschen und polni­nischen Dienstmägde geheirathilt. Die mch" resten Weiber. die ich sah. und die ge­borne Französinnen waren, fand ich alt und häfslich, und nur ein Faar konnte man hübsch nennen. Einige hatten zum Tlu:il noch ganz kleine Kinder bEY sich, und es rührte mich innig, (;inen Gefangenen zu sehn, der mit der eintn Hand auf dem langsam

fortrolltnden Wagen gestützt, auf dem seine Gefährtin safs. mit der andern ein kleines Kind an seine Brust drückte. welches, das Köpfchen an die Schulter des Vaters ge­lehnt, sanft tingeschlafen war. Der Gefan­gene, dn Mann von mehr'als 40 Jahren, mit einem starken schwarzen Backenbarte, und einem Gesichte, dem man es ansahe, wel­chen Stürmen er schon muthig entgegen ge­gangen war, hatte bey der Artillerie gedient,

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und war an der Gränze von Spanien gebür­tig. Ich fragte nach seinen Schicksalen; Er

erzählte sie mit einem finsteren Ernste, und als er die Leiden besonders im Anfange sei­ner Gefangenschaft schihkrte, blickte er mit festem Blick auf seine Gattin, als wollte er sagen, diese ist mein Zeuge; sie aber safs wie in trüben Erinnerungen verloren, und nickte nur zuweile;n mit dem Kopfe, in. dem sie ausrief: ah mon Dieu oui! Dil: :Menschlichkeit der russischen Bauern im Archangelschen Gouvernement, wo dieser Soldat, und die andern, die ihn begleite­ten, sich als Gefangene hatten aufhalten müssen, rülnnten alle sehr, und versicher­ten, an Spdse keinen l\fangel gefühlt zu haben. Das Kind, ein halbjähriger Knabe, war in eine1Il russischen Dorfe geboren, und hatte die Reise bis hidier mitgemacht. Wie' früh warf ihn srhon das Scliicksal in ..die I"luthen ducs leidtIlvolkn Lebens, und ,spühlte ihn fort von den Ufern der DülJa bis an die der Bidassoa; doch Vaterarme hiel­ten ihn, und in diesen darf das Kind ruhig .schlummern, so lange noch Athemzüge der liebenden Brust es wiegen. Wo ist eine ,Phantasie, und wäre es die eines Dante,

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welche eine Hölle zu schaffen vermöchte, die alle Leiden, a11' den Jammer umfassen könnte, den ein Me n s c h über J\;lillionen ausgofs ? und dieser eine lebt, lebt no eh! Die ewige Gerechtighit freylich nur kann ihn richten, aber die menschliche fordert Schutz ihres Geschlechts gegen ihn, und auch der Einzelne, der seiner Gewalt noch untergeben ist, hat Ansprüche auf die Ret­tung aus solcher Macht, die wahrlich hine andere, als die des bösesten aller bösen Geister ist.

Da ich noch einen Tag hier bleibe, so setze ich meinen Brief morgen Abend fort. Ich mufs meine Familie auf den Jahr­markt begleiten, und du sollst etwas "von der Rigaschen Messe gleich in dem Lacke

erhalten, den ich, um mein Schreiben an dich zu versiegeln, besonders kaufen will.

Den 3ten luly.

Ich betrachtete die verflossenen Stunden d~s heutigen und des gestrigen Tages, als hätte ich sie für dich zu verleben, so sehr suchte ich die mir gewordenenAnschauungen und Empfindungen zu bewahren, um sie dir in

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Wort und Schrift festgehaIten wiederzuge­ben. Um ahtr von Riga ttwas m{;hr, als blofs die erste.flüchtige Ansicht, geben zu können, bedarf es tin(;~ langun Auf(;nthalts; vidlticht ist mir solcher auf du Hückreise von Pt:tersburg möglich; jetzt also nur {;in­zdnt Blicke in dies Panorama der alten Hansestadt.

Du Jahrmarkt, den ich noch gestern mit meiner :Familie besuchte, ist in <:;incr wtiten, sich um die Domkirche herumzie­htndt:n Halle aufgestellt; nur weIJige Huden finden sich 3m Eingange, und man geht durch die off(;ne, jttzt noch zu einem Korn­magazine b{;lIu(z(C, Kirche selbst, wenn man die mit Wdaren all{;r Art gefüll­ten Han(;n besuchen will. Mir gefällt diese Einrichtung nir.ht; das Hdlige der Rt:ligion steht hier mit dtrn Gewerbe d{;s bürgerli­ch(;n Lebens, so wie {;s dtr gewöhnliche Sinn auffafst, in ei nu widerstrebenden Vtrbindung. DerseIhe Mund, der eben btym Gange durch die offtne Kirche ein leises Gebtt sprach, öffntte sich wohl im ersten Schritte zur anstofsenden Halle, um kein and(;res Gtber als das des Handels zu verkünden. Wenn \ der eine Blick sich

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zum A1tar erhob, fällt der zweyte vielleicht auf ein leichtfertiges Gemälde, da gerade am Eingange zwey italienische Bilderhänd­

l~r stdm. Wie die Grade der Wärme der leicht­

bewegliche und aufwallenrle Weingeist in dem der äussern Luft verschlossenen reinen Glase bezeichnet, so giebt es in der unschul­digtn reinen, vom äussern l.leben noch nicht gedrückten, Kinderbrust eine wichtige Beze:ichnung für alles moralisch Gute, und diese wirkt, sinkend und steigend, man könnte sagen, der Gei s t des Gefühls -ohne die Logik des Verstandes erst brau .. chen zu müssen. Auch hier machte ich die Bemerkung, als meine Kinder, mit tadeln.. der Verwundtrung , es nicht begreifen konnten, wie den Markt und' die Kirche eine Mauer vereinen könnte.

Mir schien diese ~1tsse, welche vier 'Vochen dauert, weniger von fremden als einht:imischen Krämern besucht; nur einige Buden, in denen Petersburger Kaut: leute, und andere, in denen Juden aus Kur­land und Li thauen handelten, bemerkte ich. ~uch sr,hienen mir die Waaren nicht a~ ders, und ,weder besser noch wohlfeiler zU

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!leyn, als man sie in den gewöhnlichen Laden in den Strafsen fmdet.

Die Strafsen in Riga sind, bis auf ein Paar, die indds nur sehr kurz sind, alle unge· mein eng, und von vier bis fünf Stockwerk hohen Häusern umgeben. Manchts kleine Gäfschen ist 50 schmal, dafs ein Wagen nicht durchfahren kann, und ein :l\fann mit ausg(;breittt(;n Armen sie allenfalls sperren könnte; und doch sollen hier ausbrechende }'euersbrünste sehr bald gelöscht werden, weil die Löschanstallen so trefnich von der Polizey unterhalten werden. Diese ist, nach dem Muster der Residenz, durch Anstellung

reitencltr Polizc:ysoldaten noch sehr vuvoll. kommt wordtn; eine Einrichtung, die be· 50nders hier, der engen Strafsen wegen, bey alleu öffentlichen Festlichkeiten dringend nö­thig ist, um das U(;herfahren der Fufsgänger zu verhüten. Auch diese, wie so manche andere sehr zweckliche Einrichtung, verdankt die Stadt Riga ihrem jetzigen Kriegs - und Generalgouverneur, dessen Eifer für alles Gute, wie seine Gerechtigkeit und l"rey. müthigkeit, ihm die allgemeinste Lit;be und ein ullhegränztes Vertrauen erworben haben. Dars wenigstens die Hauptstrafsen Riga's

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mit geringerer Gefahr als ehemals durchfah­ren werden können, auch das ist ein Ver­dienst des Kriegs - und Generalgouvcri1eurs. Es waren nämlich an manchen Häusern kleine Vorstübchen angebaut, die ungefähr die Form hölzerner Marktbuden hatten, und wohl aus solchen sich allmählig zu steinernen Zimmerchen entwickelt haben mochten; diese verengten die an sich schmalen Strafsen noch mehr, haben aber jetzt allmählig verschwinden müssen, und so ist z. B. die Kaufstrafse, nachdem auch die Häuser sich mit frischen ~arben ge­schmückt, eine recht hübsche breite Gasse geworden.

Ich habe bey dem Kriegs- und General­gouverneur mit dem weit und br(;it berüch~

tigten General VeIlllamme heute zu Mittage gespt:ist; er mag nicht viel über 40 Jahre alt seyn, unu ist von ansehnlicher Ge­stalt mit einem schwarzen feurigen Auge, krausen schwarzen Haaren und Bac.kenbart. Man sitht dem Manne die Grausamkeit nnd \Vildheit nicht a~, die sein ganzes LebLn so empörend bezeichn<:t habt:n, nur wenn er heftig spricht, was bey ihm oft gcschiehct, so öffnet sich sein Mund auf

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eine Weise, die man nicht anders als ein Zähneflt:tschen Ilenn~n kann. Da seht den Tieger, hätte ich beynahe laut gt:rufen, als ich zuerst dit:se Bemerkung machte. Wäh. lIeIld d~r Anwes(~nheit des Gt:neralsouver­neurs äusserte sich Vendamme sehr beschei. den, verbindlich sogar, und sprach kein Wort, das er nicht strellge, selbst vor der königlich franziisischt:1l Polizey in Paris, hätte verantworten könnt:n; als aber der General. gouvt:rneur durch Gt:schäfte abgerufen ward, da war der prahlende und hochmüthige Franzose glt:ich da. Er tadt:lte Napokons Feldzug nach Rufsland , indem er äusserte:

Ich sagte es ihm, dafs dt::r Feldzug übel enden würdt::; defshalb entfernte er mich; doch lids er mich, als es ihm schlecht ging, wieder kommen, denn er wt:ifs wohl, dafs ich einer der kriegerischsten unter seinen Generalen bin; ich sage nicht, dafs ich tadde, fuhr er fort, um jetzt in st::inem Unglücke Böses von ihm zu sprecht::n; ich bin selbst t:in zu grofst::r Mann, um es nicbt flir eine Ehre zu halten, sein Diener zu seyn. - Ich rich. tete an ihn die :Frage, o~ auch er auf seinen Gütern alliirte Truppen gehabt? Nein! ant· wortete er, darüber habe ich Nachricht,

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bey mir ist Niemand gewesen; inders, wären sie auch hingekommen, sie hätten dort mei­nen Wein getrunken, während ich in Rufsland Quas trank. _.Jemand in der Gesellschaft machte hierauf laut die Bemerkung, wie gesund der Quas wäre, obgleich der W dn das Blut leichter fliefsen läfst, als jenes Ge­tränk. Vendamme sprach fort, und schien diese deutsame Notiz gar nicht gehärt zu haben. Auf die Frage, ob du "Veinbau nicht durch den Krieg gelitten haben möchte, erwicderte er: der kann in Frankreich eben so wenig zerstört werden, als in Rufsland das Eis. - Als der Generalgouverneur von seinen Geschäften zurückkam, änderte ,\r en. damme (um den Ausdruck seines würdigen Mdsters zu wählen) sdne ganze Haltung.

Er hatte Tackt genug, um zu wissen, dafs jetzt sein U<:bermuth übel angewandt seyn würde, und aus dem kriegerischsten der grorsen Generale Napoleons war wieder ein schmeichelnder Hoffmann geworden, gegen den man so viel Artigkeit beobach­tete, als der General eines neu befreunde­ten Staates fordern konnte, der aber doch wohl merken mufste, wie wenig der Werih seiner Person hieran Theil hatte. - A.ls V cn-

:3 ,t

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damme 111 Riga anlangte, hatte ihn irgend Jemand, der ihn in Bremen gesehen, er­kann t; gleich hatte sich um seinen \-Vagen eine Menge Volks versammelt, die eben nicht die freundlichsten Erinnerungen in ihm zurückrief; Bremen und Breslau, waren der Prolog, dann folgte ein Chorus, wie ihn vielleicht die Eumeniden t:iglich in ,seiner Seele sprechen; nun aber wäre sicher der Epilog eil1es Steinregens gefolgt, wenn sich die Polizey nicht als Hegwschirm -dnge­funden hätte. Ein glaubhafter Mann ver­sicherte mir, dafs er Vendamme bey dieser Scene heftig zittern gesehen hätte, und wie er, ein Schnupftuch vor's Gesicht haltend, in das Hotel, wo der Wagen hit! t, .geeilt wäre. Kaum wurste sich Ven­damme unter dem Schutz der Polizey, so kam ihm die gallische Keckheit gleich wie­der, und den Polizeyoffizier, der ihn zu seinem Schutz begleitete, wenn \ er ausfuhr, schien er wie seinen Adjutanten zu betrach­ten, und ausserdem recht gern sich schen Im lassen, wo es nichts zu befürchten gab. So erschien er öfter im Koridor des Hotel de Petersbourg, wo ich neben seinen Zimmern logirte, und wo auch meine Familie ihn sah,

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und er mich sehr verbindlich anredete. Ich hätte ihn besucht, wie man eilJ(,n Tieger an der lütte sieht, aber ein Gdühl von Scham hielt mich ab, - und als ich forschen wollte, woher diese käme, da man doch ohne Bedenken in jede Menagerie geht; so schien mir solche ;tUS dem Widerspruch her­

zurühren, in welchem hier die Achtung für

den Stand dnes Heerführers einer gebildeten

Nation, für den Mann von einer so günsti­gen äussern Bildung, und für den Geist, den sein Umgang bezeichnet, mit der Verachtung seines moralischen Werthes und seiner wil­den roht:n blutgierigen Thierheit stünde. Das Selbstgefühl entfernt uns mit Ekel von einem blofs verächtlichen Gegenstande, aber

mit einer Art Scheu ,und Sc.ham von dem­

jenigen, dem wir in irgend einu Beziehung

den Werth nicht absprechen können, und wo das, was wir anzuerkennen gezwungen sind, uns in Verlegenheit setzt, wie wir uns in Beziehung auf den Gegepstand stellen sollen, über dessen Seyn keine Einigkeit in unserer Seele ist.

V endamme , der sehr reich seyn soll, hat mt;hrere hier anwesende deutsche Schif­fer ,anreden lassen, um zu Wasser nach

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einem französischen Hafen gebracht zu werden. Mehrere haben erwiedert, ihr Schiff solle kein solches Ungeheuer besu­deIn, das ihrem Vaterlande so viel.Böses gethan; endlich hat sich doch einer für eine sehr grofse Summe bereit gefunden, und in einigen Tagen segelt er, von mehrern französischen Offizieren, und ein Paar Französinnen, die sich ihm zugesellten, begkitet, nach Dieppe ab.

Der Schiffer hatte sicher den Glaubell der alten Seefahrer nicht, dafg ein Verbre­brecher auf einem Schiffe Sturm und Ge. witter errege, sonst würde er diese schwere

Last wohl kaum geladen haben, die nicht weniger als der Fluch von ganz Europa wiegt. Ich habe irgend wo i~ einer Geschichte Vendamme's gelesen, dafs er zur Zeit der Revolution sich mit unter denjenigen be. funden habe, die das blutige Herz der Prin­zessin Lamhalle verzehrten; ich "'kann nicht sagen, wie unbeschreiblich mich diese Vor. stellung in seiner Gegenwart peinigte; mir war, als sähe ich das blutende noch zuckende Herz . an seinen Lippen! und schauderte, und hätte ihm mit dem Chore aus Schillers Braut von Messina zurufen mögen:

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·\iVehe, wehe dem Mörder, wehe, Der sIch gesa't die tödtliche Saat. Ein ander(;s Antlitz eh" sie geschehen, Ein anderes zeigt die vollbrachte That.

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Vendamme weifs es, dafs man allenthal. ben die Gräuel seines Das(:yns kennt. Der Marquis Paulucci wollte sich an ihn mit der Frage wenden, ob es gegründet ,sey, dafs er schon qas MarschaUspatent in der Tasche gehabt als er gefangen worden, hatte aber kaum die Frage mit den Worten begonnen: Man sagt, dafs Sie - als ihn Vendamrne unterbrach - ja man sagt, dafs ich Menschenfleisch esse, und Blut trinke, aber das ist nicht gegründet. Der Marquis lächelte und erwiederte: man ist hier in Rufsland zu höflir.h, um über solche Dinge

seine Gäste zu befragen, sdbst wenn man auch etwas Aehnliches denkt;n sollte; und nun erfuhr Vendamme , wie das man 8 ag t gemeint gc:wesen, leugnete seine Würde als Marschall de poche; und entschuldigte sein voreiliges Unterbrechen, zu dem bey Abgang Alles, folglich selbst des bösen Gewissens, ihn wohl nur die Furcht verführt hatte, dafs, wenn in Riga seine Thaten zube­kannt würden, seine Abreise einen noch

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mifslichern Abschied erhalten könnte; als es der Grufs bey seiner Ankunft gewesen.

Dafs Vendamme aber ohne militairische Kenntnisse, nur ein blofser wilder tollküh­ner Soldat sey, der planlos in den F'eind dringt, ist völlig. grundlos, und durch das Zeughifs eines eben so talentvollen als kenntnifsreichen Feldherrn widerlegt.

Als Vendamme sich eines Tages wäh­rend seines Aufenthalts in Riga bey dem Marquis Paulucci melden lids, fand er mehrere schöne und .seltene Karten in des­sen Arbf:itszimmer aufgeschlagen, wandte das G~spräch auf diese, und besah sie alle sorgfaltig und genau. Der Marquis, wel­cher von Vendamme's militairischen Kennt­nifs eben nicht vit:l Ausgezeichnetes gehört hatte, wollte ihn prüfen, und äusserte die :Meinung, die Hauptsache ware doch immer, geradezu ohne weitere Umsicht auf den Feind einzudringen und ihn so zu vernich­ten. Vendamme war fdn genug, um zu

. merken, da[s diese Behauptung hier nicht Ernst seyn könnte, und wandte sich mit einigem Eifer an den Marquis, indem er sagte: Sie haben, Herr General, einen zu .guten militairischen Ruf und in Ihren FcId-

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zLigen zu viel geleistet, als dars ich daran zweifcln sollte, dars Sie jctzt nur meiner _ spotten wollen. - Nun aber raisonnirte er über Kriegswissenschaft und alle Hülfsquel. len derselben, über einzclnt Operationen und deren Details, mit einer Kenntnifs und Klarheit, die ihn als denkenden und geschick. ten Heerführer bezeichneten; so dafs der Marquis Paulucci, selbst zu reich an Ver· dienst, um nicht das fl"(;mde zu achten, gegen mehrere seiner Bekannten äusserte, eine recht angenehme und interessante Unterhaltung gehabt zu haben, und wie er jetzt sich selbst überzeugt habe, dafsVendamme eben so viel militairisches Talent als Kenntnisse besitze.

Ich wollte anfangs diesen Brief von hier absenden, aber ich setze mein Reisejournal his

Dorpat fort, da die Post heute nicht abgeht.

Bey meiner Rückreise schreibe ich dir von Riga, das ich schon morgen früh verlasse, gewifs mehr. Ich mufs eilen, denn allgemein sagt man, die Rückkunft des Kaisers sey nahe, und ich möchte doch den schönen Tag nicht versäumen, wo seine Residenz ihn jubelnd nach so langer Trennung und nach einem so glücklichen Feldzuge begrüfs.t.

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I

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Uddern, den 5ten July 1814.

Welch' ein fürchterliches Gewitter habe ich hier erlebt, wo ich Fchon vor einigen Stun­den anlangte, und bleiben werde, bis der Regen, der in Strömen vom Himmel fallt, vorübcr zieht. Obgleich ich nicht vor Ge­witter furchtsam bin, so war das heutige doch so heftig, dafs es mir erst jetzt, da der Donner in gröfserer Ferne rollt, rnög-, . lieh wird, einige Zeileri zu schreiben. D(:nke dir, dars zwey Stunden lang keine Millute verflofs, in welcher nieht Blitze niederzuck­ten. Der Donner tobte fortwährend und un­unterbrochen, bald schwächer wie dn nahes

brausendes Meer, darm wieder in heftigen, schmetternden Schlägen. Ich hatte mich untcr einer Bedachung der Haustreppe ge­stellt, wie sie hier fast alle Posthäuser haben, und sah das grofse Schauspiel an. Von dem See Wirtzjerw, der, wie meine Karte mir zeigt, der Poststation gegenüber li.egt, stie­gen Riesenbilder schwarzer Wolken empor, und indem sie langsam höher und höher strebten, schleuderten sie zuckende Flam­men nieder, und spalteten mit feurigen Schwertern die Luft; ihre Stimme, die Gottes Allmacht pries, erschütterte die

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Erde, die bange mit allen ihren Sän­gern schwieg, inders Blüthcn, Halme und

. Zw(;igc sich ängstlich niederbeugten, als knieten sie und häten für die erschreckte Mutter, der kein Sonnenstrahl lächeln konnte, da die gräfslichen finstern JJilder, die nun am Himmel wandelten, der Sonne die Strahlen entwandt zu haben schienen,

um sie, als zerstörende Blitze gesammelt, in die Nacht zu ihren Füfsen herab zu werfen. Hier hätte ich so gern meines Freundes vom Berge *) herrliches Gedicht, das Ge­witter, gelesen. das 60 schön ist, dafs ich jeden I.eser bedaure, der es nicht kennt, und welches dem Liede Sch!llers ,"on der Glocke gleich zu stellen, ~eine innigste U eberzeugung gebietet. Doch ich habe

dir noch nichts von meiner Reise bis hie­

her gesagt, nachdem' ich erst gegen Mittag Riga verlassen hatte. da die dort sehr lang­sam expedirende Poststation mich mehr als 6 Stunden auf die Pferde warten liefs.

Unsere Wagen rollten durch die Allee der Petersburger Vorstadt, wo die jungen

"') Poesien von Rudolph vom Berge, Mitau. 1810.

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Bäume, in stillem in sich geschlossenem Lehen, Ruinen beschatten" die eine schreck­liche Nacht hier schuf. Mit Kraft strebt, schon manr.hf.s Haus wieder empor, manche freundliche schon vollendete \Vohnungstc!Jt, mit dem Baukranze geschmückt ~ erwartungs­voll da, welche Freuden und Leiden sich in ihr nun bilden werden, und mit Weh­muth wdlte mE;in Blick auf die netten Häu­tier, welche so lustig aus der Asche hervor­steigen. Jedes neue werdende Haus ist hier ein Denkmal eines alten durch Flam­men zerstörten, doch zugleich auch da~

eines hochgesinnten edlen ]\[annes, der zur

Auferstehung dieser \Vllhnstättt:n so kräftig mitwirkte. In wenig Jahren wird die Pe. tersburger und l\foskauE:r Vorstadt, nach einem von dem jet,-;igen Kriegs- und Gene­ralgouverneur Marquis Paulucci eIltwor­fenen Plane, schön und prächtig da fotdlIl, und, als J'unge Stadt, die alte Mutter Rioa t'> ,

mit ihrt:rTl zwar reichen, aber bunten altmo. dischen Schmucke, wdt ühertreffen.

Ich habe einen Freund gebeten, mir in Rücksicht auf die Stadt und die Vorstädte Notizen zu sammeln, und mit diesen in tier Hand werde ich bey meiner Rückkunft

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die Stadt betrachten, 'Welche seit 600 lahren so viele merkwürdige Schicksale erlebte, und aus wiederholten Unglücksfällen immer herr. lichtr htrvorgegangen ist.

Der Weg von Rig,a bis zur ersten Station Neutrmühltn geht durch ein wahres rothes Sandmeer , und selbst Berlin kann sich kei. ner stäubigern Umgebung rühmen. Ob­gkich.es in Riga gewifs nicht an Männern fehlt, die Geschmack und Gdd genug be· sitzen, um nahe bey der Stadt die unbebau­ten Plätze zu Wiesen und Gärten, selbst mit den gröfsten Kosten, umwandeln zu können: BO ist doch gerade dicht an der V orstadt·.der Sand so flüchtig, und so wenig zu nxiren, dafs man grofse Strecken sieht, wo auch hin Gr;ischen keimt, und die

letzten H;iuser von Sandhaufen umwtht sind,

die in einem trockenen Schneegestöber ent­standen; ein Umstand, der hier die W oh­nungen sehrunangene;hm und auch ungesund machen murs. Neuermühlt:n indt:fs, beson. ders aber ein nahts Landgütchen , dem man vorbey fährt, liegt an dnem Bache, die Berse genannt, recht angenehm. Der Bischof Albert erbaute hier im Jahr 1204 ein Schlafs, welches später VOll dem litllauischen Grofs-\

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fürsten Vitenes belagert ward, und das jetzt völlig in Ruinen versunken ist. Die Sta­tion wird von dem nur 11 "Verst entfern­ten Riga als Lustort häufig besucht; auch jetzt befanden sich einige Herren und Damen hier, und handelten eben mit vielem Eifer eine kritische Untersuchung ab, ob man hier :Beefsteeks oder Waffdn besser bereite. Wir entschlossen uns, die besprochenen .egen­stände ebenfalls genau zu prüfen, und fanden, dafs wenigstens die Zunge nicht wie man· cher neue Aestetiker entsch(;idet, der nur ein e Art des guten Geschmacks kennt, SOll­

dem dafs von zwey ganz vcrschi(;dcnen Din­

gen heyde g';lt, und hines das Bessere seyn kann.

Bey der zwcyten Station Hilchensfehr an der Aa, der in Livland heimathlichen Schwester der kurländischen Najade gl<::i­ehen Nam<::ns, nur etwas kleiner als diese, erblickt man, der Station gegenüb<::r, ein malerisch schön gelegenes I.andgut, wo di~ Wdlen des Stromes eine mit Laub bewach­sene Insel umspÜhlen, welche t:in kl<.:iner Park mit der Hoflage zu verbinden scheint.

Bey der Station Roop liegen, in kleiner Entfernung von einander, ein Paar alte

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Schlösser, in einer sehr schönen durch eine weite Ansicht begünstigten Gegend. Das dne Schlofs besonders hat sich als Ritter­burg in alter ehrwürdiger Gestalt mit Mauern und Thiirmen trefflich erhalten.

Ich bedauerte recht sehr, dafs ich diese beyden nachbarlichen Burgen nicht gen au be-5chaue'n konnte; desto fr:eyer aber belebten sie meine Phantasie im H.ückblick auf die Vorzeit, welche in Livland so vorzüglich das romantische Ansehen des Mittelalters hatte. Beyde Schlösser führen einen brü· derlichen Namen" Grofs- und Klein- Roop, und beyde sind von ein paar Männern der­selben Familie, von Rosen, erbaut worden. Ersteres im Jahr 1263, also eines der älte. sten Schlösser, unter denen, welche sich

noch bis jetzt erhalten habt:n. Ich hatte in meinem Wagen Zeit gel lUg , alle die Scenen vor meinen Blichn hervorzurufen, welche hier im Schritte der Zeit vorüber gezogen. Das stattliche Ansehen dieser Mauern, die noch stark und frisch da standen, versinn­lichte die Vergangenheit mir so hell, dafs ich ihr mattes Auge glänzen, ihre bleiche \Vangc in der Gluth der Gegenwart sich Töthen sah. Gewifs bewohnten .Brüder oder

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nahe Verwandte die Nachbarsburgen. Nur sehr verbündete Herzen konnten in der da­maligen Zeit, wo der Manrt mehr als jetzt auf sich sdbst allein da stand, den Plan ausführen, einander so nah ihre Vesten zu gründen.

Einen Götz von Rerlichingen dachte ich hier, mit seinem Sickingcn im vertrau­ten nachbarlichen Kreise, wie die Mänrter mit der Brust von Stahl und dem edlen Herzen in derselben die beharnischten Hände in einander schlugen, und alle Ge­fahren. wie alle Freuden des Leben!,! mit einander theilten, und was Schlegd so wahr

und illuig ausspricht, hallte in meiner Seele

wieder:

Eins war Europa in den grofsen Zeiten, Ein Vaterland, defs Boden hehr entsprossen, Was Edle kann in Tod und Leben leiten; Ein Ritterlhum schuf Kampfer zu Genossen, Für einen Glauben wollten alle streiten, Die Herzen waren Einer Lieb' erschlossen, Da war auch Eine Poesie erklungen, In Einem Sinn, nur in verschiednen Zungen. Nun ist der Vorzeit hohe Kraft zerronnen, Sie haben enge Weisheit sich enonnen, Man wagt es, sie der Barbarey zu zeihen. Was ühnma(;ht nicht begreift, sind TräumereYCII.

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Doch, mit unheiligem Gemüth bpgonnen, Will nichts. was göu!ith ist. von Art gedeihen. Ach! diese Zeit hat Glauben nicht noch Liebe: Wo wäre denn die Hoffnung, die ihr bliebe.

In der Station Lenzenhoff verweiltcn wir wohl eine Stunde in einem schattigen Gärtchen, das, einfach und anspruchlos, durch lieblic.he Laubengänge, und man­che Rasensitze unter hohen grünbelaub­tcn Riumen, ein recht idyllisches Ans<.;hen hatte; welches Bild noch mehr Lt.buldigkeit durch ein Paar gebildete junge Mädchen gewann, aus deren Händen wir Erdbeeren und frische Milch 'erhidten, und denll Un­terhaltung t:ben so artig als geistreich war.

l<:in in sich recht kontrastirt:ndes Leben führen doch die B(;wohncr t:incr Poststation auf dun L~lll(lt:: bald Linsam nur auf den

Kreis ihrer Familie besc.hränkt, da ihr Ge­schäft da,; V t:rrcisLn erschwt:rt; dann wieder plötzlich umgtben von Ptrsonen aus allen Stinden, v ornehmen und geringen, aus allen Nationt:n, fern und nah. Sicher ist hinc Sprache in Europa vorhanden, deren Laute nicht auf jedt:r dieser Stationen er­klungen. \Veil aber die erscheinenden frem­den GLslalten so schrlell wieder vorüber-

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ziehn, so ist es natürlich, dars sich kein in­niges Interesse an sie binden kann; beson­ders wenn Gewohnheit den ersten Eindruck der Neuheit t:ines solchen Vorübetfluges uno bekannter Menschen geschwächt hat. Daher kommt es dt:nn. dafs die' Postkomrnissaire die Reisenden so g1t:ichgültig vorübergellen lassen I als es Scblagldume (;in<:r Brücke thun, wo Wegegeld gezahlt wird; sie erhe­bt:n sich und sinken nieder, knarren wohl auch und poltern, doch Alles lIur in blofs mechanischer Existenz. Manche freylich thun mehr, besonders wenn sie der Rei

sende in ihrem Schlummt:r stört, oder

sie eine doppdte Zahlung zu erhaschen

hoff(11; dann wird neben dem Schlaghaume die Chikane als härtige Wache gestellt, wobt:y freylich die Rt:isenden, oft aber au(',h die Postkommissaire eht:n so übel fah­ren. Um das Umwt:chsdn der Banko. As. signatiol1t:n in Scheidemünze zu erl(;ichtern. habt:n die Postkommissaire in Liv- und Ehstland eine ihnen ganz eigcnthümliche Strafsenmünze erfunden. J edcr Stations­halter hat, auf Pergament oder starkem Papier gedruckt o(~r geschrieben, für dne

gewisse Summe klt:ine Zettel von 5 bis 100

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Kopeken in Umlauf gesetzt, welche auf allen Posthäusern als baarts G-cld genommen werden, . und selbst die Postillone und Handwerker bey nöthigen Reparaturen der Equipagcn gelten lassen. Auch aus der Dorpatschen Musse fand sich ein ähnlicher Zett~l untcr den Wechseln, und auch die­ser koursirte als baares Geld weiter. Für

den neisenden ist diese Einrichtung sehr bequem, und die Stationshalter wissen ihre kollegialische Münze bald einzulösen, denn trotz der Preistabellen an der Thüre, be­zahlt man das Geringste an Speise oder Ge­tränk nirgend so thel,er als hier.

Die \Vege sind durch ganz Livlarid sehr breit und gut unterhalten, was bey dem ge­wöhnlich sehr schlechten Angespann der

Postpferde , uml bey dLr Untauglichkeit

oer mehresten Postillone, ein grofses Glück für den Reisend<:ll ist. Da llie Gutsbesitzer Liv - und Ehstlands die Post ihrer Gouver­nements auf ihre Kosten unterhalten müssen, so werden auch die Postillone von den Gütern auf gewisse Jahre zum Dienst auf die Stationen hingegeben, und da man ge­wöhnlich nicht gerade die besten weggiebt, 80 ist es wohl natürlich, dafs mal» recht oft

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das Unglück hat, von betrunkenen, uner. fahr(;nen, ja sogar diebischen Postkuechten gtJahren zu werdt;n. So aber ist es ein Glück, dafs der vide Sand, dt:u man fast allt:nthalben findet, und von wdcht:m in dem altlivischen W o1'tt: Liiw (Sand) die Provinz den Namen erhalten haben soll, das Umwerfen erschwC:rt. Man hört sel­ten davon, obgl<::ich die Berge herunter, deren es indds schr wenige giebt, die Fahrt <::inzig nur dem schnf.;ll f(lrtrollen_ den Rade des Schicksals anvertraut zu seyn pflegt. Auch von dt:r gerühmten Schnelligkeit dcr russischcn Postt;n habe ich in Livland wt;lligstL!lS keine bedcu. tende Erfahrungen gemacht. Die Kou­riere reisen sehr schnell, und für sie sind besondere rasche Pferde bestimmt; clit: Rei­senden aber, die keinen doppt:lt besiegdten Kourierpafs aufzeigen können, werden oft stundenlang mit dem Angt:spann aufgt:halten , , und büommf.;n selbst bey doppelter Zahlung des Postgeldes elende Pfude; doch git:bt es Stationen, die hier auszunehmen sind, z. B. Lenzenhoff, Wolmar und Gulben.

In der vergangenen Nacht, wo mein

Wagen immer langsamer in dem tiefen

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Sande sich fort bewegte,. war ich und Alle, die mich hegleiteten, eingeschlafen; endlich erwachte ich. Alles schlief sanft, auch der llLtrllnkenc Postilron, übu dem Deichsel­pferde ~ingdehnt, und gewifs inögt:n die ermatteten Pf'c:rde auch nicht weniger tief geschlummert haben.

Mir erschien diese Waldscene wie ein allegorisches Bild der Geschichte manches Staats, den ein schlafender Führer durch die schwere Bahn der Zdt leitet, und wo, trotz des tieft:n Schlummers aller innern und äussern Kräfte, das Ziel dennoch aIl. mählig ohne bedeutenden Schaden erreicht wird, ja sogar am Ende das Trinkgt:ld und Lob und Ehre nicht fehlt.

Die Station \Volmar ist mehr als eine

Werst von dem Landstädtchen gltichen Na· mens entfernt, durch dessen eili.zige lange Hauptstrafse der Weg führt.

W olmar ward von dem dänischen Kö· nige "Voldemar im Jahr I218 zum Anden· ken eines in dieser Gegend über die Heiden erfochtenen Sieges erbaut, und nach sdnem N amen benannt. Die 'Sage herichtet, darg, als er in der Schlacht gegen die Heiden seine Fahne verloren, ihm eine andere, mit einem

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Kreuze bezeichnet, vom Himmel hera],· gefallen wäre, und er mit solcher den Sieg erfochten habe. Eben dieser Walde· mar der Zweyte baute auch die Stadt Pilten in Kurland, und nahm die Benennung der Stadt von einem Knaben (im Dänischen Pil. ten) her, der dort e btn stand, wo er bauen wollte. Der König W oldemar hat also ganz eigentlich auf allerhand Ztichen und Wun. dtr, nicht nur in Worten, sondern auch in Werktn, ge bau t. Die Stadt war bis zum Jahr 1561 ziemlich beträchtlich geworden, da aber ward sie von den Russen erobert und; ztrstört, und, obgleich nachher als

Lehn dcm schwedischen Kanzler Grafen Oxenstierna vom Könige Gustav Adolph verliehtn, und abermals befestiget, blieb sie dennoch immer so unbeträChtlich, dafs einst ein nach Petersburg reisender frtmdtr Gesandte, der Fackeln anstcck<:n lassen, um in der Nacht sicher fahren zu können, sich bey dem Polizeyaufsf:her, der ihn des. halb anhalten liefs, als er die Stadt passirte, ganz artig damit entschuldigt haben soll, dafs wenn er nur hätte wissen können, darg er durch eine Stadt führe, er sich diese Pali· zeywidrigkeit nicht erlaubt haben würde.

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Seit dem' Jahre 1783 ist \Volmar eine Kreis· stadt, und hat jetzt mehrere gute stt:inerne Gebäude, überhaupt wohl hundert Häuser. Die La<7e der Stadt an der A.a ist sehr schön,

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und die:: Aussicht von dem Kirchhofe nach ~inem blühenden frischen Garten, aus wel· chem hohe Ruin(;n, wahrscheinlich die eines alten Schlosses, oder der chemalig(.n Stadt.

mauern, hervorschauten, gt:fid mir so sehr, dars ich wohl eine Stunde hier verweilte, und des \Vechsels der Zeiten und Schick· sale dachte.

Nicht allenthalben kränzen frische Dlü· then die verwi.tterten Denksteine einer vor. über gegangenen Welt; oft werfen sie nur finstere Schatten in die Gegenwart, der sie ihre Grö[se nicht erhalten konnten.

Das Grab eint:s schwulischen Generals, an der Kirchhofsmauer , steht jenen Ruinen gegenüber. üb der hier ruhende Held nicht noch jene Zinnen bewohnte, dachte ich. Es brechen Herzen und Mauern, und die Denkmäler der Gräber selhst sinken diesen nach, und fallen endlich auch in Staub, wie der ist, den sie verewigen sollten.

In \Volmar selhst, und in der Umgebung der Stadt, wohnen viele zur Brüdergemeine

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ge11örende Personen; die Bauern unter die­sen sind die wohlhabendsten und gebildet­sten in Livland. Dt:r berühmte Graf Zin­sendorff lebte selbst hier eine "V eile , und interessirte sich ehen so. wie eine Generalin von Hallert, für die Anlcgung kostcllfreyel' deut~cher und lettischer Schulen. Es gieht mehrere sehr gute Handwerker in W olmarj und die hiesige Lakierfabrike soll die beste in Livland sf::yn. Auch dem Städtchen Walck fuhren wir, gleichsam die äusserste Ecke desse·lben berührend, vorüber. Es liegt an einem von schönem Gehölz umgebe­nen Bache, der sich vom Hügel, auf wel­

chem die Stadt sdbst erbaut ist, bis zum Thai herabzieht. Die Aussicht von der Landstrafse auf das nicht mehr als einige hundert Schritte entfernte Städtchen, ist sehr }it:blich, und letzteres schien mir recht freundlich und nett zu seyn. Nach HupeIs, wiewohl etwas alten, topographischen Nach­richt<:;n, hat Walck zwar nur hundert höl­zerne Häuser, aber V orrechte einer grofsen Stadt; doch schien mir, so vid ich den Ort aus der Ferne sehen konnte, die Zahl der Häuser nicht zugenommen zu

haben.

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Das Gewitter hat längst ::rusgetobet, und so E:ben sagt mir der Postkommissair , dafs die Pferde berdts angespannt wären, indefs ich llochimrner nicht zu schreiben auf~

gehört habe. Lebe wohl.

Kipen. den 8ten July 1814.

Bey einer Reise mit der Post, die man schon hunckrtmal in Liedern und ~üchem mit dem Leben und dessen eilf:nden Pfad ver­glichen hat, sind die Stationen feste Wohn­orte, besonders solche, wo man länger ver­weilt, und die Bahn, die man zurückgelegt hat, wie die, welche noch zu machen tihrig ist, mit sinnendem Blick be&chaut, Mein N arwascher Fuhrmann, der hier sein. Pferde füttert, hat den Ort, aus dem ich mf:in Rf:ist.jourl1al für dich fortsetze, 'ZU

einem solcht:n Lagerplatze gemacht, und in einem russischen Kabak sitze ich und schreibe an einem grofsen weifs gescheuer. ten Tische, der auf so starken Füfsen ruht, dafs man se:ine Bestimmung, schwankende Gäste zu unterstützen, ohne selbst fallen zu können, ihm offenbar ansieht.

Die' erfrischende Kühle nach dem fürch­terlichen Gewitter in Uddern machte die

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Fahrt bis Dorpat sehr angenehm. 'V'ährend die Luft heiter und frey die Zephyrflügd über volle. Saatfelder schwang, dafs di(;se sich wie im Tanze fegt(;n, lind die Sonne in den Thautropfen sich spi(;gdte, die an allen Blättern und Blüthen hingen, strahl ten am dunklen Rande des, Horizonts dann und wann noch einz<.:lne Blitze auf, die, üher einem fernt;n finstern Tannenwalde verbrei. tet, der wie ein Opferaltar rauchte, dcr Scene um uns her etwas Feyerliches und Heiliges ~ahen, wie es das Gemüth nur im gerührten Anschauen dtr Natnr und ihrer 'Vunder zu [mden vermag. Die Gegend mn: Dorpat hat sehr schOlle Ansichten und ist sehr angebaut. Wir fuhren mehreren Höfen vorhey, deren Namen ich nicht er­fahren konnte, l1a die ehstnische~ Postil­lone mir :lUf meine Fragen keine mir ver­ständliche Antwort zu gebtn im Stande waren.

Dorpat ist keine unbedeutende Stadt, und der Platz vor dem Ralhhause, und mdl' rere Gassen, haben gute massive, ja sogar prächtige Häuser. Die Strafsen sind breit, und auf den freyen, der Embach nahe gele­genen, Plätzen sind Boulevards angelegt, die recht angenehme Spaziergänge bilden.

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Seit hier eine Universität errichtet wor­den, hat Dorpat sehr vitl an Lebhaftigkeit und Erwt:rb gewonnen. Ausser den Pro­fessoren und Lehrern, sind gewöhnlicn gegen 300 Studenten hier, und überdem giebt es hier noch ein Gymnasium und mehrere Schul anstalten. Auch hier murs ich dich auf meine Rückreise verweisen, wenn du mehr von Dorpat trfahren willst, da ich nur wenige Stundcn in der Stadt bli(;b, um m<;ine Reise nach Petersburg so bald als möglich zu voll. enden~

Obgleich, die ehstnische Sprache sl:hon in Teilitz anfängt, BO gehört Dorpat doch noch zum livländischen Gouvernement, welches erst bey Nennal, der dritten Station hinter Dorpat, aufhört, und wo das ehst. nische GouvernemEnt angränzt. Unter allen Stationen von Riga bis, Petersburg ist hine so gut, als die in Torrna, wo der alte bie­dere Poslkommissair Andersolm SChOll seit vielen, Jahren sich durch die Trefflich­keit seiner Pferde und eine gute und billige Behandlung der H.eisenden auszeich­net. Von Torma aus kamen wir dem Pei· pussee immer naher, der bis Grofs - pun· gern sehr oft erblickt wird, und an dessen

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Ufern die Lal1dstrafse oft ganz nahe vorbey führt.

Wo man den Pcipussee zuerst von 'der Strafse aus sicht, liegt eill grofses von rus· sischen Bauern bewohntes Dorf. Auffal. lend ist d<::r Wechsel des \V ohlstandes, weI. chen man bey diesen Bauern bemerkt, mit der Armuth du Ehsten, deren \Volmun­gen unbeschreiblich. elend, und wahre Rauchhütten sind. So aber scheint die Be. hauptung wahr, wdche ich o[t machen hörte, dafs der Grund der Armuth der Ehsten ihre unendliche grofse, fast aUge. meine Liederlichkeit s(;yn soll, welche be­

sonders in der Liebe zum Trunke' keine Gräl1l~<::n kennt. Auch die gemeinen Rus­sen sind von einer entschiedenen NeigUTjg ~um Trunke nicht frey zu sprechen, dbch ist das Laster b<::y die5cr. weder so allge­mein, noch 50 thierisrh niedrig verbreitet, als bey den Ehsten, welche, ,"-:ie mir glaub­wÜrdige Männer, die in dortigen Geg<::nden lange gclebt, versichert hahen, gar kein anderes starkes Gefühl, als das der Liebe zum Branntwein, kenIl(;n; dies aber soll die vorzüglichste Ursache seyn, warum der ehstnische Adel, dessen Ausbildung und

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Charakter, voll Edelmuth und Ehre, bey uns in Kurland so allgemein anerkannt ist, trotz allen versuchten Verbesserungen und Einse hränkungen der Leibeigenschaft, noch keinen höheren Wohlstand verbreiten kön­nen. In solchem Fall ist jedes den Men. sehen berücksichtigende Gesetz ein Keim, der erst für die ferne Zukunft Blüthen und I,'rucht verspricht; doch wenn er auch der gegenwärtigen Generation zum Theil veJ:lo loren ist, so ist es dennoch immer der Mühe werth, gepflanzt zu haben, .schon des. halb, weil in allem Schönen, Guten und Wahren, nichts so schwer. 80 "Wenig loh­nend. und doch so verdienstlich, als' .der Anfang ist. Gewifs aber bleibt ea ~.dar. der Ehste nicht so wäre, wie man ihn jetzt

ilndet, wenn man vor hundert Jahren schon

so . viel Rücksicht auf ihn genommen hätte, als jetzt geschieht; ja es ist sogar aus der

alten ehstnischcn Geschichte zu vermuthen, dafs ein grofser fester Charakter urspriinglidl in dieser Nation ruht, und vit:lleicht ist sie deshalb so ,thier~sch tief herabgesunken, weil alle Kraft, s1ch frey und ed<.:! zu ent­falten, früher durch drückende Fesseln ge­bunden ward. Es geschieht aber wohl, daf.

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gerade die edelsten Naturen durch die Ge. w;ut der äussl:ren Verhältnisse so gewaltsam gespannt und verZtrrt werden, da[s sie es gerade sind, die am ungestaltttsten und wie drigsten erscheinen, weil tben die Kraft, die in ihnen lag, dem Hösen eben so viel Nahrung reicht, als sie dem Guten geben könnte.

Da der 'Veg tin!;st dem Peipussee gröfs. tentheils in so tiefem Sande fortgeht, da[s ein rasches Fahren unmöglich wird, so gin. gen wir grorse Strecken zu Fufse, und meine Kinder, welche das lange Sitztn im 'Vagen mehr gelangweilt, als die He;isc sonst er·

müdet hatte, sprangen lustig und froh an den Ufern de~ gro[sen Sees umher, und brachten so Leben in diese todle und öde Gegend. Der Peipussee ist 12 Mei. len lang, und 8 breit, und umfafst einige zum Theil bewohnte Inseln; man sieht hin genseitigt;s Ufer, und könnte sich an's Met.r VLrsetzt glauben, wären die Ufer nicht so niedrig, und das Wasser nahe an denselben nicht so s<.:icht, dafs man selbst im Sturme keine hohe Wellen bemerkt, ob· gleich kldoe Böte nicht selten stranden oder untergehen. An den flachesten Meeres.

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ufern hat der Wellenschlag eine Bahn in das Land hineingeschlagen, dem man es ansieht, dafs oft gewaltige Fluthen üb~r sie hinzogf.:n. Hier gleicht das Ufer mehr dem eines kleinen Baches, und ragt an viden Stellen nur in der Stärke einer Erdscholle hervor; in der p~lysischen wie in der mo­ralischen Natur aber, ist t:in halbes, ein Zwitterdaseyn in jtder Erschtinung unan;

geudlm. Du Peipussee soll 90 grofse und kleine Ströme in sich aufnthmt:n, und nur in die Narowa den einzigen Ausflufs haben. Treffliches Bild, dachte ich, eines reichen \ egoistischen Mannes, der, alles Frt:mde an j sich reissend \,ll1d, verschlingend, doch die. ses llllr in sich verschliLfst, und höchsten.IJ (kr eigenen l"arnilie den überstrümenden

Zllflufs, obgleich auch lIur ullgern, nicht frull1dlich und mild, sondern in tobt:ndem

. polt~rndem Sturze zuwendet, und dennoch nach und trübe bleibt. Der grorse Peipus hat für sich freylich d(;n Vortlu::il gewonnen, .111 Fischen das reichste Gewässer zu seyn, welches man in ganz Livland findet. })(;r finstere Tannen. und Fichtenwald , der in nakter Sandfläche wurzelt, und hier den See umzieht, wo man nur sehr selten eine

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elende Fischerhütte in der Ferne erblickt, und auch das Fahren im tiefsten Sande so beschwerlich ist, gaben dem Gallzen c::in tadtes finsteres Ansehen, zu welchem die Stationen Grofs - und Klein· Pllngern das Bild vollenden. Auf beyden fanden wir elende Pferde, auf der !t;tztern aber alle nur mög­lichen Mängel und die übelste' Behandlung, die ein Heisender nur irgendwo l~iden

kann. Da ein sehr heftiger Regen nieder­stürzte, und ich meine Leute, die im Freyen tlafsen, Bchonen wollte, beschlofs ich, in Klein -Pungern einige Stunckn zu bleiben. Erst halle man mir Pftrde ycrsprochen,

als man aber aus meinem freywilligell Ver­weilen schlofs, dafs ich hine grofsc Eile haben möchte, und wohl nicht kla~en

würde, wenn man mich recht lange aufhielt, waren keine Pferde mehr vorhanden, und das erste Versprechen wurde für einen blofsen Irrthum erklärt. Man wi(;s uns in das F~·em. denzimmer , das wir geh<:itzt fanden, weil man Brot gebacken hatte, welches wir rei· sende Adarnskinder hier in der heifsen Stube recht im Schweifs des Angesichts verzehren sollten. Keine Betten, nicht einmal Bett­stellen waren vorhanden; alle geforderten

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Lebensmittel entweder nicht zu haben, oder schlecht. Nahrung konnten wir nicht erhal­ten, sollten aber selbst als solche einerSchaar von Mücken dienen, welche in dem uns ange­wiesenen Zimmer so zahllos über uns her­fielen, dafs trotz der Ermüdung von der Reise der Schlaf ganz unmöglich war, und so mufsten wir, in der im Julymonat ge­heitzten, von Mückenschwärmen erfüllten Stube, von Nachts um 12 bis zu Mittage des andern Tages zubringen, wo ich mit ge. mietheten vom Postkommissair mir zugewie. senen Bauerpferden der Folter dieses Auf· enthaltes entfloh, den ich noch obendrein mit einer sehr theuren Zeche und dem Ver. lust einer mir gestohlenen Pfeife und eines Hutes zu bezahlen gezwungen war. Wie freUe ten wir uns daher, als wir endlich in Gewe anlangten, und aus der pungernschen Wüste heraus wieder in kultivirte Gegenden kamen.

Von Gewe bis Narwa hin sieht man meh· rere schön gebaute Edelhöfe ; vorzüglich schön und in gutem Styl erbaut ist einer der Station Waiwarra gegenüber auf eiuem Hügel gelegen, an dessen Abhange sich ein Wäldchen fortzieht. Zwischen den Stationen Schudley, Waiwarra und Narwa

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erblickt m~n den finnischen Meerbusen, und der Weg geht eine kurze Strecke nahe 'demselben vorbey. Man kann keine ma­lerisch schönere Meeresufer im Norden als diese erblicken, besonc!trs nahe' bey einem ' ehstIJischen ,Dörfchen einem -ge. mauerten - Gebäude gegenüber, das In

Form eines alten Schlosses hervorragt. Die :Meeresufer waren an du Stelle, wo wir- aus­stitgen, um die erhabene Ansicht zu ge­niefsen, gewifs an.80 Fufs hoch, und so ßChroff; - dafs es völlig unmöglich schien, sie herabzusteigen oder zu erklirn~en; doch sahen wir in der :Ferne, wo eill kkiner Bach sich in's Meer ergofs, jenseits desselben die Ufer in sanft€.n Abhängen sich f@rt zie­lleIl, und bis nahe an das Meer bin mit neu­lichem Gebüsch im frischesten Grün bedeckt, während mehrere Fischerböte sich auf den leichten Wellen des Meeres nahe am Ufer 'wiegten, und in der Ferne ein Paar Schiffe mit vollen Segeln nach Norden hineilten. 'Lange und sinnend blickte ich dieses erha­bene Schauspiel an. Eine Menge Erinne­rungen schöner Zeiten hatten mich wie im Kreise um~ingt, und hielten mich fest, dafs ich von ilmen so bald nicbt scheiden konnte.

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Dass«:lbe· ;Meer, das ich hier vor meinen Blicken sah, umspühlt auch die Gränze eine ... mir gehörigen Gutes, in dem ich so manche fielige Tage verlebte. Die Blüthenkränze; die mir dort die Freude so vi e lf ar b i g wand,. sind verwelkt, aber ihr Andenken lebt in meiner Seele auch dann noch fort, wenn gleich nur Dornen die Reste verblühtet

Rosen sind. In meiner Schreibtafel finde ich hier

folgende Gedanken notirt : "Das Meer ist ein Bild des allgemei­

nen Lebens; die einzelne Welle und jeder emporgeschleuderte Tropfen ist· das Be­sondere in ihm, entstehend· 'Und ~rÜ'ckkeh.;

rend zum weiten All; dem er entstammte. _

üb nicht schon deshalb der Anblick des

offenen Meeres das Herz ergreift und

mit erhabenen Gefühlen belebt, weil ein innerer Sinn in jeder Seele diese Deu­tung des grafsen Bildes ahnet, auch ob .. ne ihn auszusprechen. - Der Schauder, der die Seele ergreift, und von dem Kant meint, dars er das Gefühl;dcs Erha­benen immer begleite, wäre so' erklärt. Das Anschauen eines Bildes, in we:lcheJft alles. Seyn sicb 'in. einer weiten erofsen

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Ansicht offenbart, murs jede Seele gewal. tig erschüttern."

Unweit Narwa fanden wir einen Triumph. bogen zum Empfange des Kaisers errichtet, und ein anderer stand nahe bey der Stadt. Ersterer schien mir besonders edel und schön gedacht und ausgeführt zu seyn; auch die Inschrift;

"Gebet Gott was Gottes, und dem Kaiser " was des Kaisers ist."

ist die möglichst sinnreichste und treff­lichste da, wo der Triumph, welchen die russische Nation jetzt von den Ufern des Eismeeres bis zur Donau und Weichsel feyert, nur Dank zu Gott und Liebe zum grofsen Herrscher zur eigentlichen Seele haben mufs. Der zweyte Triumphbogen, nahe bey der Stadt, und nicht, wie der erste, weifs und licht, sondern von röthlich gel. ber Sandfarbe, war noch nicht ganz voll. endet. Eine zu dessen Vollendung noch gehörende grorse goldstrahlende Sonne ward uns durch mehrere bärtige Russen entgegen getragen, als wir eben anlangten. Ich glaube nicht, . dnfs der zwcyte Triumphbogen die Würde und das Geschmackvolle des er. steren erlangen wird. Obgleich beyde nur

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vorläufig auf hölzernen Gerüsten ausge­führt worden, so müssen sie doch sehr viel gekosttt haben, da alle Verzierungen, 5ta­tüen und Reliefs eben so künstlerisch schön erfunden. als vollendet waren.

Ehe ich dir von N arwa. dieser sehr alten in der nordischen Geschichte so berüllmten Stadt, etwas sage, noch einige Worte über

Liv- und Ehstlands BewohnCJ:_üpt;rhaupt. Dafs der Adel Liv und Ehstlandsfsehr

gebildet seyn müsse, kann dir nichts Neues seyn, da du in Leipzig. Göttingen und Jena so viele Edelleute aus diesen Provin­zen von ausgezeichneten Talenten und wis­senschaftlicher Ausbildung gekannt hast. Es ist freylich eine richtige, auch bey uns in Kurland geltende, Bemerkung, dafs meh­

rere, die im Auslande Geschmack für Kunst

und Literatur zeigten, und selbst wissen­schaftliche Kenntnisse mit Eifer zu erringen strebten, bey ihrer Rückkunft in dem Wir. ken und Treiben eines von landwirthschaft­lichen Geschäften völlig befangenen Altags­lebens so verloren gehn, dafs ihnen der Sinn für Kunst und Wissensch.1ft, und end­lich sogar die Erinnerung besessener Kennt­nisse schwindet. Diese Bemerkung ist wahr

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aber traurig, und findet sich eben auch in einem landwirthschaftlichen Bilde ausge. sprochen.

Ein Feld, das nur zur Rödung bestimmt, eilend von Strauch und wildem Unkraut ge­relmgt, geackert und besäet wird, kann eine frische reiche Saat tragen; doch das nächste Jahr, wo es nachgdassen, nicht mehr genützet wird, keimt das böse Gesträuch schon wieder empor und treibt oft noch höher als vorher. Anders aber ist es mit einem lange beackerten, gefurchten und mit Graben durchzogenen, bey uns B rus t­ac k er benannten, Felde. \Venn es auch Jahre lang nicht benutzt worden, man sicht doch, dafs es ein tragbares Getreidefeld war. Das niedere Gestripp will nicht gedei­hen, die Furchen und Gräben erkennt man ein ganzes Menschenalter hindurch noch. Eben so geht es, wo Kunst und Wissenschaft -lange und tief in das B ru s t fe I d die Fur­chen gezogen, und nicht blofse Rödung gemacht haben.

Die Damen in Liv- und :Ehstlanrl sind gröfstentheils sehr gebildet, und eben 50,

wie auch hier in Kurland , die Laren und Penaten des guten Geschmacks und der

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AusbildUl'!-g des Gciste.s und Herzens;' den zarten weibliclH'n Sinn kann das Gewerbe und die rohste Umgebung nicht so leich~ verhärten. S<:lbst das Klima, das hier nicht, wie im .schönen. Süden, so lange und anhal. tend allen Blüthen und Bäumen, den hei­terno Morgen und Aht:nl!en und so vie~

len lieblichen angebauten Gegtmlen die schöne lkstimmung auferlegt, die ~len­

schenhtfzen für Natur, und so auch für Künste zu erwE:ichen, hat mehr bösen Ein· flufs auf die l\1änner als auf die 'Veiber, in deren Gt:müth allt:s Schöne und Gute so leicht ,wiederhallt , dafs die gem<:inen rohen Laute nicht nachklingen, weil die reinere Stimmung nicht solchen Tönen ~ntspricl~t.

Unter Livlands Bewohnern giebt es viele

ausgezeichnete Männer, die st:lbst das Aus­

land durch ihre literairischen Werke mit Achtung kennt; noch mt:hrere könnten gleichen Ruhm erringen, aber, worüber schon der alte Hupe! in st;inu Nachricht von Liv- und Ehstland klagt, Wohlleben und Gemächlichkeit hindern 6ehr viele, und der jetzt mehr als jemals erschwerte Buch­handd und Eingang aller kritischen Blätter und J ournäle geb(.l~ für die Zukuuft noc,h

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weniger Hoffnung. - Musik und' Malerey hat in Liv - und Ehstland sehr viele Freunde und Kenner. Der im Jahr 1784 verstor­bene Kreismarschall, Freyherr von Budberg, war als Maler ein grofser Künstler, und doch noch gröfser als Mensch. Seine Land­Bchaftsgemälde, die Mengs und Deser be­wunderten, liefs er verkaufen und den Er­trag den Armen reichen, und wo er nur wirkte, im Kreise seiner Familie und sei­ner Leibeigenen, schuf er Freude und Glück. Auch sein Sohn, Baron Xarl W 01-demar von Budberg, den ich zu meinen hochgeachteten Freunden zähle, ist ein trefflichtr Maler und Zeichner, und in jeder Hinsicht ein höchst gebildeter, ach­tungswerther Mann.

Der Landschaftsmaler und Dichter Grafe ist selbst in Italien als Künstler be­rühmt, und auch der Thiermaler Baumann hat manche sehr gute Stücke geliefert.

Die Namen Rosenkampf, Mellin und Campenhausen kennst du gewifs auch; Er­sterer ist Redakteur der Gesetzgebungskom­mission in Petersburg, und, viden seiner Feinde zum Trotz, ein eben BO kenntnifs_ reicher Mann, als seine liebenswürdige

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11öchst gebildete Gemahlin eine seltene ~f.a­lerin und Tonkünstltrin zugleich.

Unsern biedern Freund Engdhardt habe ich früher in Riga, als Beysitzer des über­hofgerichts, jetzt aber nicht gesprochen; er war, als ich ihn sah, noch immer so gut und bieder als sonst, und ist überhaupt ein Mann, in dessen Seele Gefühle der Freundschaft nimmer veralten können. Auch Frau von Krüdner, Verfasserin der Valerie, ist eine Livländerin, und ein Paar Männer eben dieser Familie sind als Musiker höchst aus­gezeichnet. - Ich wünschte dir die Bekannt­schaft des ehstländischen Landeshauptmanns von Berg', um einen Mann kennen zu ler­nen, der die seltensten Eigenschaften, Fe­stigkeit und \Vürde in dem wichtigen Amte

als Repräsentant seiner Ritterschaft, mit An­spruchlosigkeit des Betragens, die seltensten Kenntnisse mit der höchsten Bescheidenheit, Gewandtheit in Geschäften mit ;unerschüt­terlicher Redlichkeit verbindet. Schon der Freyherr Adolph Knigge hat seiner unter dem Namen von Greb gedacht, und seine Verdienste bezeichnet.

üb der Adel in Liv- und Ehstland. wie JIupel ihn beschuldigt, zu grofsen Aufwand

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treibe, und sich nicht mehr, WIe im J ahT 1501, mit Hennepmoos mit Saffrall un~ Stockfisch mit Olie bey Gastmählern be­gnüge, weifs ich nieh t zu s<lgen, da ich selbst kein hiesiges Landgut besucht h<lbe; indefs höre ich allgemein behaüpten, d<lfs auch hier seit ungefähr 10 Jahren das Ver­mögen der EdcIkute so sehr sich. vermin­dert habe, dafs es nur noch sehr wenige wohlhabtnde, und nur ein Paar sehr reiche

Gutsbesitzer gebe. Nach Russows Chronik, die im 16ten

1ahrhundert geschriebcn ist, ward damals in Livland Ull sehr schwelgerisches

und üppiges Leben geführt, und Irl<ln trank bey Schmausereyen aus hölzernen Schaalen, grofs genug, Kinder darin zu haden. Die Prachtkleidung der Männer und Frauen best<lnd aus mit Gold, Sil­ber und Edelsteinttl besetzten kostharen pelzen und StoITt:n. Ein Voigt zu ~v cis­

. senstt;in trug eine Kette von feinem Golde, 21 Pfund schwcr, und sogar die Hemden bey den Brautgeschenken war(;n mit Gold und Perlen besetzt.

Es existirt ein alter Holzschnitt, der die Kleidung einer livländischen Dame und ihrer

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Tochter aus dem J6ten Jahrhundert dar­stellt; unten stehen folgende Vt::;rse:

Also gehen sie in Livland Die gewaltig.n Frawrn 2ur Hand Mit ihren Töchtern in solcher Zier Und ist bey ihn ein schön .Manier.

Die alten Moden haben, wie die Mittel, Gold und Edelsteine seihst an Brauthemden. zu wenden, längst aufgehört; nur die letzte

Zeile hat sich in Sitte und Gebrauch völlig wahr und schön erhalten.

Um mein Urtheil, dafs der Wohlstand und die Lage der kurischen Bauern den Wohlstand und die Lage der liv- und ehstIän­dischen weit übertreffe, nicht als parteyisch gelten zu lassen, habe ich in den Dör­fern und Gesinden, welche ich passirte, rriich

oft genug umgesehn, und von Livländern selbst Nachrichten eingezogen. Ich spreche hier freylich nur von den Gegenden, durch die ich reiste; aber für diese ist die Behaup­tung des im Allgemeinen weit gröfsern W ohl­standes der kurischen Bauern völlig wahr, obgleich letzteren ein etwas günstigeres Klima und weit besseres Ackerland zu Hülfe kömmt. In der Gegend von W olmar sah ich freylich Bauern, deren gute Kleidung,pferde

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und Viehbestand auf ziemlichen Wohlstand schliefsen liefsen ; doch auch hier fand ich die "Vohnungen enge und klein. Ein Gesillde hatte nicht m(:hr als zwey bis drey Gebäude, und Stall und Dreschtennc wann mit der Wohnung der Bauern selbst vereint, was in Kurland nirgends der Fall ist; vielmehr fin. det man hier wohl, wie z. B. im Talsenschcll und Erwaldenschen Kirchspiele und auf vie. len einztlnen Gütern, Bauergesinde, die ganz das Ansehen kleiner }<~delhöfe haben, wo die Gebäude rotb angestrichen und von schönen Alleen umgeben sind, das Wohnhaus aber, aus 5 his 6 guttn Zimrntrn bestehend, mit einem Schornsttin versehen .ist, und wo das Innere dem äusseren~Ansehen t:ntspricht, die Wanduhr irt der Stube des Wirths nicht fehlt, und dieser Sonntags in einer Chaise mit zwey schönen Pferden bespannt zur Kirche fahrt, und wo es nicht selten "Virthe gicht, die 10 bis 20 Pferde und 30 mil. chende Kühe besitzen. Doch ist der lettische Bauer auch in Livland wohlhabender als der ehstnische, dessen t:lende Hütte zu seiner bleichen Gestalt und der schwarzen Kleidung parst, und einen sehr traurigen Anblick gewährt.

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77 Doch, wie ich schon oben bemerkte, soll

die Ursache der Armuth der Ehsten nur die Schuld ihrer unverbesserlichen Liederlich. keit, nicht die der Gutsbesitzcr seyn, was um so wahrscheinlicher ist, da die Letten, welche unter gleichen gesetzlichen und öko. nomischen Verhältnissen in Livland leben, schon ein besseres Ansehen hahen und dnigermafsen mehr Wohlstand verrathen. -" Unter den Letten in Kur- und Livland bemerkte ich fast gleiche Sitten und Ge· bräuche, nur der Dialekt der Sprache ist ein wenig verschieden. r

Ob der AE.~Eglllll:~~ .in_~.~vl~d noch so grofs sey, als ihn Hupel im Jahr 1774 schil. dert, habe ich keine Gelegenheit zu bemer­ken gchabt. Damals soll es noch manche

U eberreste des Heidenthums, z. B. heilige Hayne und Opfertische, gegeben haben, wo die Letten undEhsten \Volle, Garn und sdbst Geld opferten, auch Tage sollen sie bey die. ser oder jener Arbeit ungünstig geglaubt, so z. B. in Livland am Donnerstage nicht ge­sponnen haben.

Ein Paar Gebräuche, wie Hupel sie b~ schreibt, sprechen eine zwar rohe, aber leb.. hafte Phantasie aus, wie sie. das spielende

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Kind zuweileri hat, das jederi Schmetterling anspricht! und von ihm des LE:bcns Deu­tung fragt.

Wenn der Ehste ein Haus bauen will, so legt er art der Stelle ein Blättchen hin, und sieht zu, ob dieses eine 'schwarze oder weifse Ameise zuerst hetritt; im letztern Falle war die Sttlle glücklich gewählt. Wohl ist die arhtitende ämsige Ameise ein pas­sendes' Symbol, welches bier ,der Fragende zum Genius st:iner Hütte erhob.

Wenn ein' livländischer Bauer an einem Gescl;würe oder Ausschlagt krank wird, so

glaubt cr, dars clits von irgend tiner Unglück

brinp:cndcll Stelle ht:rrührc. Er tragt dann Geld dahin, schabt von demselben etwas ab und erwartet nun. st:ine Heilung. Welche Ideen. mag" seine Seele wohl an einander gereiht haben, um den Glauben zu gewin. nen, dars der finstern Macht des Schicksals nur Si I be r zu opftrn sey, um alle Qual zu lösen und den Fluch zu versöhnen.

Bey den Hochzeitgebr;iuchen der Letten in Livland giebt die Schwiegermutter der jungen Frau, wenn sie das Haus des Man. nes betritt, eine Maulschelle, 'welche diese aber noch derber dem Mann wiedergiebt,

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wahrscheinlich als Ausspruch der ehelichen Pflicht, alle Gefühle mit einander redlich

zu thtilen. Zu den vielen Bemerkungen, welche

Geschichtschteibcr über den Urstamm der Letten schon' gemacht haben, sey es mir erlaubt, hier eine einzige hinzuzufügen, die ich zufällig David Francks altem und neuem

Mtklenburg Buch I. Kap. 30. verdauke.

Hier wird aus dem dort aufgezeichneten

altwcndisch~n Vater Unser völlig klar, dars die Letten und alten Weuden ganz dieselbe Sprache redeten, und also wohl sehr wahrscheinlich aus- einem. Volke ab. stammten. Ich überlasse ei' den Forschern der Geschichte, diese Hinweisung zube4

nutzen.

In Sitten und Gebräuchen weichen die

Ehsten von den Lett(;lI, wie' in ihrt;r Sprache,

völlig ab; diese ist SOl1oru als die lettische und hat viel Vokale. Die Kleidung der c:hstnischen "V<;ibcr und Mägde ist, wenn sie recht geschmückt erscheinen, sehr bunt, und das Oberkleid besonders mit vielen Schnörkeln ausgenäht. Auf der Brust tra,.. ~en sie ein silhernes Blech, das ungefähr wie eine umgekehrte Tasse ohne Henkel

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SO'

aussieht, und um dimLeib eine messingene Kette, die Männer aber einen breiten leder­nen Gürtel. Die Mädchen haben einen Kopfputz. oer ungefähr einer alten römi­schen Mauerkrone glt..icht, an welchem über dem Nacken eine Menge Bänder herabhän­gen. Ich fmde die Kleidung der Ehs'tinnen nichts wwjger als schön; sie hat, ich will nicht sagen, etwas \Vildes, doch so Fr~mdes, dafs man sie wenigstens anfangs nicht'3nderll als mit Erstaunen betrachtet.

Bey den Hochzeiten der Ehsten haben die' Brautführer Schärpen von weifsen Tü­ohern über die Schulter hängen, und blofse Degen in den Händen, mit welchen sie Kreuze in die Luft und in die Thüren hauen; dieser Gebrauch ist auch bey den Lett(;n in Kurland gewöhnlich; übrigens ist ein fast ununterbrochenes Trinken und Essen die Hauptsache bey der Hochzeit. welche oft erst 2 bis 3 Wochen nach der priesterlichen Trauung gefeyert wird.

Dafs es den Ehsten nicht an natürlichen Geistesanlagen fehle, beweist die Fertigkeit, wit der sie ihre, Lieder auf der Stelle dic'" ten, in wE:lchen mehr Sinn liegt, all in ähn. Hchen Gesängen der Letten.

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Hier sende ich dir eines, das mir nicht übel gerathen zu seyn scheint.

Schmücke dich, du holde Jungfrau, Mit dem Schmucke wie die Muttet EhmaJs festlich sich geschmückt, Lege Bänder an wie sie: Auf den Kopf das Band des Kummers, V or die Stirn das Band der Sorge, Auf der Scheitel das Trauertuch. Geh', bereite dich geschwinde, Geh', schon bricht der Morgen an, Und die Schlitten alle fahren, Thre Kufen tanzen schon.

Unter ihren Spruchworten giebt es gleich~ falls manche, die richtige Beobachtung in bildlicher Beziehung auf die sie umgebende Welt beweisen. Z. B.

"Schätze den Hund nicht nach den Haa­ren, sondern nach den Zähntn. Gieb den

~

Dudelsack in eines Narren Hand, er zer-I5prengt ihn. Der Stumme (das Thier) murs wohl ziehen, was der Unvernünftige ihm auflegt. Von des Reichen Krankheit und des Armen Bier hört man weit."

Ihren Todten legen sie Geld in den Sarg, um unterwegs Bier zu kaufen, auch Pfeife und Tabak und dergleichen Sachen. "Bey ihrem kindlichen Glauben, dafs der

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Verstorbene IUlr die Reise in ein schöneres Vaterland angetreten habe, wohin auch sie gern folgen, ist es erklärbar, warwn ihre Trauer sehr kurz und leicht ist; und so sagen sie denn mit leisem Achselzucken: der Todte schritt aus der Mühe und Arbeit heraus, und hört dort den Ruf zur Frohne nicht mehr.

Der Ackerhau und die Viehzucht ist auch in Liv- und Ehstland, eben' so Wie in Kurland, der Haupterwerb des Landmanns jeden Standes, und wird schon wegen der Ue'bereinstimmung des Klimas auf eine sehr ähnliche W<:ise bewerkstelligt. Nur wird in Kurland der Branntweinsbraud nicht so in's Grofse getriehen, wie in Liv· und Ehst­land, wo alle Güter, die nur einigermafsen mit Waldungen versehen sind, nicht nur .da~ 8~lblit erbaute Getreide, sondern auch :viel erkauftes verbrennen, und bis nach Petersburg versenden; was den Bauern durch den Ruin ihrer Pferde nicht anders als nachtheilig seyn kann. Auch das soge­nannte Kuettisbrenl1en ist nur in Liv - une! Ehstland gebräuchlich. Man reinigt das Feld vom Gesträuch, pflügt es hierauf zwey_ mal, bedeckt es ziemlich eng mit Strauch-

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bünden, belegt diese mit Rasen, zündet das Ganze an und vertheilt die Asche überall.

Die ersten Jahre soll ein solches Ver­fahren grofse Erndten geben. Einige Land­wirthe in Liv- un~ Ehstland behaupten aber, das Kuettisbrennen verderbe das Land zum beständigen Acker, oder, wie es hier heifst, zum Brustfelde , für immer; andere versi­chern das Gegentheil.

Die Römer kannten schon das Anzünden der Felder, und glaubten, dadurch unfrucht­baren Acker zu verbessern. Virgil sagt:

"Saepe etiam steriles incendere profuit agros."

Mit dieser nur flüchtigen Nachric.ht über die Landbewohner dieser Provinzen magst du dich begnügen, und mir nun nach Narwa folgen, wo ich dich so lange vor den

Thoren bey der Sonne des zweytcn Triumphbogens stehen liefs; doch ich selbst stand ja nicht weniger lange da, bis nämlich der wachthabende Offizier meinen Pars zum Kommandanten geschickt hatte, und endlich die mir längst bekannte Nachricht, dafs er ganz richtig sey, zurück brachte.

Die Stadt Narwa, im Jahr 1223 vom dänischen Könige W oldemar dem 2ten er· baut, hat an den hohen Felsel1ufern der

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N arowa eine treffliche Lage. Die eigent­liche Stadt liegt im ehstländischen Gouverne­ment auf dem westlichen Ufer der Narowa, doch gehört jetzt auch Iwannogrod zu der­selben. Hier sind nur noch Ruinen der f:hema­ligen Vestung übrig, aber eine Menge Häu­ser erbaut worden, wdche man als die Vor­stadt von Narwa betrachten kann. Ich kenne keine Stadt, welche ein so altes ehr­würdiges Ansehen hat, wie Narwa. Sie ist als Stadt gerade so zu betrachten, wie manches· gut erhaltene Schlofs als B.itter­burg. Die Vestung, deren grüne Wälle auf ·bemoosten gro[sen Quadern ruhen, hat mit

der Rigaschen Admlichkeit, doch erblickt man dort in der Stadt selbst mehrere mo­derne Häuser, hier aber bemerkte ich we­nigstens. keines, w:ohl aber die mehresten sogar IIlit breiten dreyrahmigen l~en­stern, wie man sie vor 300 Jahren häufig hatte. Viele Häuser tragen Moos auf ihren Dächern und Mauern und alte verwitterte Inschriften und Schnörkel über den Thüren. Die Giebel ragen über das Dach in gezack­ten Mauern hervor; die hohen Stein treppen ~illd mit eisernen Geländern und messing­nen gescheuerten Knöpfen geziert; hin und

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wictlet schattet ein alter llaum in die Häu. ser l;inein, oder wölbt seine Zwt:ige über die Haustreppen. Die Kirchen, mit den immer spitzer zulailfenden hohen Thürmen, und dem alten breiten durch Wand. und Strebepfeiler ausgezackten Gemäuer, ent· sprechen demseihen Bilde ehrwürdiger Vor. zeit, und sdhst der massive "\Veinkranz,

den ich an ein Paar Häusern mit schwarz

geräucherten Blättern an einer breiten Eisen· stange hängen sah, mag wohl mehr als hun. dert Jahre die Freunde des Rebensaftes hier versammelt haben. Dennoch sah ich nir­gend bey diesen alten' ehrwürdigen Häusern verwitterte, in Ruinen fallende Stellen; sie waren erhalten, als hätte man sie sorgfältig, voll Liebe für die alte gute Zeit, bewahrt

und gepflegt; und ich kann nicht sagen, wie diese ehrwürdige Stadt ehen deshalb mehr mein Gemüth bewegte, als wenn ich hier Palläste im neusten Geschmack errichtet ge­funden hätte. Es ist nicht anders möglich, auch unter den Einwohnern mufs sich der alte Sinn biederer Treue noch erhalten hahen. Die Achtung der Vorzeit, welche sich hier allenthalben tiusspricht, kann nicht anders als wohlthätig auf den Charakter der Bewoh.

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ner gewirkt haben; den einzigen unter die­Sen, den ich in meinem Wirt11e, in einem grofsen Gebäude eint:r Kirche gegenüber, kennen lernte, fand ich dieser Vorstellung entsprechend; ich bin nie in einem Gast­hause mit mehr Gefälligkeit und Aufmerk­samkeit und mit einer gröfseren Billigkeit behandt:lt worden als hier. - Das Rathhaus, die Börse, die Stadtschule und einige andere öffentliche Gebäude. haben gleichfalls das al. terthümliche gut erhaltene Ansehen. Auf~ fallend aber ist am Ende der Stadf ein ge­krümmter steiler Bergesabhang , an welchem

die Strafse nach dem Thore an der N arowa herabzidlt; sie geht unter einer hölzernen Brücke durch, die das kaiserliche und alte herrmeistt:rliche Schlofs mit der Stadt verbin. det, und ich rathe Jeden, hiu zu Fufse zu gehen, wenn er nicht einen sehr geübten Kutscher und froinme Pfcrde hat. Wenn man an diesem ßergesabhange, der zwischen Häu. sern mit hohem schroffen Gemäuer sich herab senkt, auf einer für Fufsgänger bestimmtcn Treppe herabgestiegen und zumThore hin. ausgegangen ist, so tritt man auf eine über die N arowa führende Brücke, und hat eine so schöne ächt romantische Aussicht vor sich,

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als man nur irgend wo erblicken: kann. Oberhalb der Brücke, von der der grorse Wasserfall wohl noch zwey Werste entfernt ist, zieht der Flufs über ein gleichsam ab­hangiges Bett noch reissend und brausend dahin, indefs man ihn unterhalb der Brücke tiefer und ruhiger dahinsträmen , bedeu. tende Schiffe tragen und von der einen Seite

die Vestung, von der andern die ingerman.

ländische Vorstadt auf hohen Ufern die Einfassung bilden sieht. Dw Strom hinauf ist die Aussicht noch schöner, indem rechts, von seinen Wellen umspühlt, die schroffen bemoosten, Mauern d~r alten 'herrmeister. lichen Burg sich erheben, über welche ein grofser Thurm, der den Namen des langen Herrmann führt, hervorragt, links aber,

eben so nahe, die gräfstentheils zu Ruinen versunkene Vestung Iwannogrod erblickt wird, die der Zaar Iwan Wassiliewitsch er· baute. Es ist nicht unwichtig, die Bauart dieser alten Veste Iwannogrod mit der der gegenüber liegenden herrmeisterlichen Burg zu vergleichen, um eine beson. ders für die damalige Zeit noch so grorse Verschiedenheit der Nationalität beyder. feindlich, einander gegenüber stehenden

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Mächtetecht bildlich ausgesprochen zu sehen. Die russische Veste steht mit einer grorsen Kraft und Stärke da. Man sieht, es waren Männer, die sie bauten; doch Alles ist so viel als möglich gerundet und gedrückt, besonders aber an einc::r in der Vestung ste­henden griechischen Kapelle sieht man ganz offenbar den morgenländischen Geschmack, der allenthalbc::n mit dc::m des Ritterthums, welchen man nachbilden wollen, auf eine ganz eigene Weise verschwistc::rt worden; 50 dafs sich hieraus ein Ganzes bildete, das sich nicht besser als mit der Bauart der alten Mauren in Spanien, die ich aus Zeichnun. gen kenne, vergleichen läfst.

Die herrmeisterliche Burg, mit allen den eckigten, gezackten und unregelmäfsigen Mauern ~ spricht dagegen in den schroffen kühnen, in den Strom hineintretenden \Vän­den, so wie in den ungewöhnlich hohen Zinnen und Thürmen, den ächt romanti­schen Charakter der Ritterzeit aus, der frey, kühn und hoch, doch auch rauh und wild, besonders aber, nach dem Zeugnisse der Chroniken, hier in diesc::m Lande in Phan­tasie und Sitte 80 graus"m und ungezü­gelt war.

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Narwagehörte zur deutschen Hall~e, hat aber wenig Schutz von den Schwt=8terstäQ.t~ erhalten, als es mehreremal bald von d~ Russen und dann wieder von den Schweden, und wieder von den Russen belagert un~ erobert ward. Die letzte Eroberung ges'chaJ1 im Jahr 1704 unter dtm Kommando d~s

Feldmarschalls Ogilvy in Gegenwart Ka~­

sers Peter des Isten, von dem hieber folgende Anekdote erzählt wird. Der Ka,i­ser hatte gleich nach der Erstürmung uer Stadt das Plündern verbieten lassen, ritt selbst durch die Strafsen , um zu sehen, ob man seine Befehle erfüllte, und stach einen seiner Soldaten nieder, den er eb.en wüthen und plündern fand. Hierauf trat er -ip. des :Bürgermeisters Goette Stube, und warf d~p. noch blutigen Degen mit den Worten auf den Tisch: seyd nicht bange, das ist russi­sches, nicht deutsches Blut.

Von den hohen Wällen des Schlosses und der herrmeisterlichen Burg übersah ich eine weite Fläche, die das Schlachtfeld war, wo Karl der 12tc die Russen mit um mehr als die Hälfte geringerer Mannsch~t geschlagen hatte. Pcte,r inders versicherte mit der festen Zuversicht genialischer Kraft

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dars er das Siegen mit seinen 'Russen auch schon erlernen würde, und seine Meister­schaft bewies er nach überstandenen Lehr­jahren später bey Pultawa trefflich. - Kar! der I2te hat mit Napoleon in furchtbarer Kraft und auch im endlichen Schicksale manche Aehnlichkeit, nur hatte jener die romantische wilde Gröfse eines Ritters, wel­che auch erhabene Eigensdlaften in sich fafste, dieser aber nur die eines gefährlichen und schlauen Banditen, der allenfalls auch wohl den offenen Kampf muthig wagt, üfte· fef aber doch und lieber hinterlistig mit Gift und Dolch mordet.

Der Handel der Stadt Narwa ist nicht unwichtig. Durch, den Peipussee, in wel­chem die Welika Reh sich ergierst, hat diese Stadt Gemeinschaft zu Wasser mit den pleskowschen und wdikolukischen Gegenden, und selbst mit einem Theile von Lithauen. Die Narowa ist von der Stadt an bis zur Ostsee schiffbar, nur clie :Mündung ist versandet; so, dafs grofsc Schiffe auf der Rhede bleiben müssen, und nur kleine, die nicht tiefer als 6 bis 7 Fufs gehen, bis zur Stadt gelangen können. Die Bhede mufs nicht ganz günstig seyn, ua im

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August 1747, bey einem grafsen Sturme, in einer Nacht 21 Schiffe auf den Strand liefen. Unter den Kaufleuten hatten ehemals mir 29 das Recht mit Barken zu handeln, und hiefsen Grafshändler ; die andern, hier Mi­nuthändler genannt, waren gleichfalls auf eine gewisse Anzahl beschränkt. Dars diese Einrichtung noch ganz so wie ehemals fort.

währt, glaube ich nicht; übrigens hat sie

wohl am meisten dazu beygetragen , den alterthümlichen die Vorzeit achtenden Sinn in den alten und privilegirten Kaufmanns­häusern von Vater auf Sohn zu vererben. Der wichtige ausgehende Handel besteht in }'lachs, Hanf, Balken, Bretter und Getreide. Der eingehende bringt nur so viel an Kolo­

nial- und andern "Vaaren, als die Stadt selbst und deren nächste Umgebung verbraucht, und ist nicht beträchtlich. Die Anzahl der Schiffe, welche hier jährlich verladen wer­den, soll in manchen Jahren gegen 200 be­tragen.

Kaiser Peter wollte hier eine Haupt­niederlage persischer Waaren errichten, nachdem er einen Handelstraktat mit den Persern geschlossen hatte; doch ist vo~" diesen schönen Aussichten jetzt nichts, ala;

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<lie auf du altes grofses Haus mit Gewöl. ben und Kellern übrig geblieben, Jas noch gegenwärtig das Persianische heifst, a11or' ~eine dergleichen Waaren in sich schliefst.

Den merkwürdigen \Vasserfall det Na­rowa, zwey \Verste von der Stadt, soll meine Rückreise dir, beschreiben, _ wo ich mehr Zeit haben werde, ihn zu besuchen.

Um auf den illgermallländischen' Post· stationen nicht aufgehalten zu werden; in­<lern dort die Ent.chuldigung, keine PFerde zu haben, zu weit getrieben, und der Rei. sende g.ezwungen wird, gemiethete Pferde sehr theuer zn bezahlen, nahm ich gleich

in Narwa, wie die meititell Reisenden es ge. wöhnlich thun, einen :Fuhrmann bis Pelers­burg. Man fährt mit ,diesen . Leuten sehr schnell, a.~hnicht tlIeuer, und überdem ste­l~en sie mit anderen I,'uhrleuten iu d~n näher nach Petersburg gelegenen Dörfern in Ver­bindung, so dafs JlIan eiuigemal die Pferde wechstolt und selbst den Aufenthalt des Fut.

terns nur sehr selten hat. Es ist eine l"!"cw!e, einen Nationalrussen zum Kutscher zu ha­lJen; die beyden, welche mich führten, waren ein Paar junge schöne Männer und" pafsten

S~DZ zu dem. ::Bilde, Wtlches der Verfa~scr ..,

...... ,.

"

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der Bagatelles von diesen nordischen Wa­nenlenkern und ihren athlt;tischen Gestalten ~

·entwirft. Fast ununterbrochen sangen sie, und

wenn der eine Wagen etwas zurückgeblie_ ben', war und den andf:rn einholte, so be· grüfsten sich die beyden Kutscher sogleidt mit einem lauten Zuruf, und nun begann ein Doppelgesang, nur von Gesprächen mit den Pferden unterbrochen, die oft lange Perioden, selten Scheltworte, denen die Strafe folgte, gewöhnlich aber freund. Eche Anreden enthielten. Z., B.: Ihr Fül. j(nchen lauft 'schnell, es wird' so weit nicht sern, und der Herr wird ein gutes Bierg'eld geben. Drey Meilen von Narwa passiriett wir die Kreisstadt Jamlmrg an der Luga, welche nicht viel kleint:r als die N arowa ist, steile felsigte Ufer und ein Felsenbette wie diese hat. J amlmrg ist nicht grofs, ge­währte aber gerade an der Stelle, welche' die gröfste Zierde der Stadt hatte werden sol­len, einen sehr unangenehmen widrigen Ein. druck. Die Kaiserin Katharina wollte hier «iJle Militairschule anlegen, und hatte zu' tliesem Zwecke einen grofsen freren PlatJs lnit den schönsten Gebäuden um~eheß las-

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sen, die SChOll ganz v911enJet waren, jedoch, als die Kaisuin ihren Plan änderte, wieder verfielen, und jetzt als Ruinen da stehen, zum Theil auch schon ganz verfallen sind. Die Ruine eines alten Gebäudes der Vorzeit hat etwas Ehrwürdiges und Feyerli­ches, und der Blick weilt sinnend und ge­rührt auf solche Denksteine einer vorüb{;l-­gegangenen fernen Zt:it; doch die Trümmer neuer Gebäude sind wie Brandstäten nur schrech:nd und unangenehm, denn es ist nicht die Zeit, deren zerstörende Gewalt der Mensch, wie die Macht des allwaltenden Schicksals, wt:lche hier vernichtete, anerkennt

und als unabänderlich ehrt, sondern ent­weder die Schuld, das Unglück oder" der Zufall. Da denkt man aber immer den Men­schen selbst als eigenen Verderber , sogar auch da, wo er es nicht war. Es ist die Leiche eines SelbRtmörders, oder doch die frische eben verwesende, welche man schau­dernd erblickt; nicht der Grabhügel,bey-dem man sinnig und g(;rührt verweilt.

In einem Paar dit:s(;r noch bewohnbaren Gebäude, die aber auch schon verwittert aussehen, sind beträchtliche Tuch- und Baumwollenmanufakturen. Die Jamburger

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baumwollenen :Bettdecken werden in ganz Rufsland verführt, und sind sehr gut, warm und wohlfeil.

Die russischen Dörfer zu beyden Seiten der Strafse kontrastiren sehr mit denen, welche ich in Ehstland erblickte, man sieht ihnen offenbar weit gröfseren Wohlstand, Ordnung und Reinlichkeit der Bewohner an. Alle Häuser stehen mit dem Giebel nach der Strafse zu, und manche haben sogar zwey Stockwerke und eine Art Balkon unter dem Dache. Buntgeschnitzte Bretter fassen die Fenster, zuweilen sdbst das Dach ein. Die Häuser sind durchgängig von runden, in­wendig in den Stuben aber glatt behauenen Bdken erbaut. U eherhaupt ge~ährt das Innere einer russischen Bauerstube einen recht angenehmen Anblick. Die Tische, Bänke, ja die Wände sogar, sind weifs ge­waschen; die Fenstern nicht sehr grofs, aber rein und hell. Die Bttten sind hoch, reich gefüllt, und über einer bunten Decke liegt gewöhnlich ein rothes oder blaues Hauptküssen " wie zur Zierde aufgestellt. In weniger wohlhabenden ßautrhäusern sieht man dicht unter der überlage des Zim­mers eine Art Pritsche wie man sie in. den ,

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Wathstuben'der Soldaten findet, auf Welcher die Bewohner/ des Hauses alle zusammen schlafen, und im \Vinter, . wenn die Stuben stark geheitzt worden, eine unerträgliche Hitze empfinden müssen. Ein Ehrenplatz ist noch auf dem niedrigen breiten Ofen, wel. eher gewöhnlich von dem ältesten Hausbe . . wohner eingenommen wird. Mehrentheils 'Wohnt in solch einem Bauerhause nur eine Familie. Nebengebäude, ausser Stall und Kornscheure, sah ich nur wenige. Die Klei. dung der russischen \Veiher und Mädchen, selbst die, welche sie gewöhnlich bey ihren häuslichen Arbeitt:n tragtn, ist wohllassend und rc::inlich.

Da man den Kaiser bald erwartet, 60 fan­den wir eine sehr grofse Anzahl Bauern und Bäurinnen beschäftigt, die Wege auszubes. sem. Die kleinste Vertiefung auf utn erhöh­ten Dämmen ward mit grobem Grand und kleingestampften Granitstückchen gefüllt, da. her ist der Weg in Ingerrnanland allenthalben sehr gut. Die \Veiber und Mädchen waren eben so, wie, die Mälll1er, bey dieser Arbeit beschäftigt, und erstere entziehen sich hier überhaupt auch der schwereren Feldarbeit nicht. Wir sahen oft Weiber den l'flug trei.

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ben" und, Kom bder' Heu mähenulld Holz fiillen~' was in Kurland etwas sehrUngewöhn. liehes seyn würde. Wo wir auf der Land.. strafse einen Trupp arbeitender Menschen: fanden, oft waren 50 bis 60 beysammen. tönte. uns immer ein lauter Gesang im voll-· stimmigen Chore weiblicher und männlicher. Stimmen entgegen, der besonders in der Ferne sehr lieblich erschallte. Auch meh. rere von der bereits zurückgekehrten und verabschiedeten Landwehr erblickte ich· unter den arbeitenden Landleuten. Dafa sie nicht wenig und mit Recht darauf stolz waren, die Vertheidiger ihres Vaterlandes gewesen zu seyn, als diesem Gefahr. drohte, sah man schon daran, dafs, obgleich aUe

übrigen ohne Hüte und Mützen waren,. 'Um an dem heifsen Tage leichter zu arbei.· ten, sie die ihrigen, mit dem Kreuz geschmückt, dennoch aufbt;halten hatten. Einer, der seine Mütze weit von sich weg­gelegt hatte, setzte sie sich schnell auf den Kopf, als er die Wagen kommen sah, damit nur ja der fremde Reisende den Ht:lden. bemerke. Mich rührte dieser Zug einer .. durch wahrhaftes Verdienst entschuldigten EUelkeit, und ich unterlids nicht, einen"

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98 achtung5VOllen Grufs; -aus dem Wagen her. aus, gt!rade- an den Landwehrmann zu rich. tt:n. Wer es weifs,. mit. welchem altrorni­sehen HeIdenmuth die' Landwehr dieser Gegenden bey Polozk gestritten, und wie ganze niedt!Tg~schmett(;rte Vorderreihen die Nachfolgenden nicht abhalten kÖIlnt:n, gegen die hinter Wällt:n aufgcstdlten Batterien der Feinde vorzudringen, der kann ohne Ehrfurcht keinen dieser Männer sehen, in deren Brust die heiligsten Gefühle, für Religion und Vaterland so mächtig lebten, dars selbst die ungewohnten Schnellen dea

Todes sie nicht aus derst:lben verscheuchen

konnttn. Jetzt sind diese Helden wieder ru­hige friedliche Landbewohner , und das Me­tallkreuz auf ihrer Mütze, welches sie fort­während mit der Inschrift: für Gott, Kaiser und Vaterland, tragen dürft:n, bedarf nicht der strahlenden Diamanten, um eines der glänzendsten Ehrenzeichen zu seyn, die je.

mals ächtes Verdienst belohnte. Welche

treffliche Menschen sind die gemeinen Rus. sen! es ist nicht möglich, sie mit unbefange. nem Blick zu beobachten, ohne sie herzlich lieb zu gewinnen. Kraft, Muth, C...ewandt.

heit, Frohsinn, Gutmütbigkcit und rreue

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sind hier wahrhafte Nationaltugenden ~ die man ununterbrochen zu bemerken Gt:legen. heit findet; und dabey ist dem Ruslien.das Leben in der Idee nicht fremd, wt:lches lIonst gewöhnlich das gemeine Volk nicht kennt. Der Russe kann in Rt:ligion ünd.in Liebe, für Weib und Kind, für Monarchen und Vaterland zur höchsten, Alles hin. opfernden Begeisterung gelangen. Diesem unverdorbenen Sohn der Natur ist das Heiligste und Höchste nicht fremd, das 80

oft die Brust verläfst, in welcher ein nur halb gebildeter Verstand alle \\T ärme tödter, die ein schwacher Strahl der WissenSchaft und Kunst in ihr erregen wollen.

Es ist wahr, dafs nur die voUendete Bil­dung sich erst mil der Natur vc;;rsöhnt und diese veredelt, und aus ihr wieder Kräfte zum hoheren Aufschwunge erhalt; diejeni­ge, welche in blofsen l;'ormen kbt, .er­härtet dagegen das Huz. Nur die höchste I

Gluth reinigt die edlc;;n Mt;taUe von nit:de­ren Schlacken, und macht sie so htdl und glänzend, wie man sie oft von der Natur tielhst in gediegenen Stufw gt;schafft;n findet.

Unter den jungen Mannern und Weibern bemerkte ich viele schöne, ausdruCbv.QUe

.. 7*

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Gesichter; do'ch wahi- ist es auch ,dafs inan nichts : Faltenreicllt:res und Verzogtneres ·sehen kann, 'als mam'hes Antlitz :~ilH::r recht alten Uussin. In diesem Augenblick steht ~ine; mir zur St-ite, und trägt einen grofsen 'l'opf.mit siedendem Wasser hintin, welches meine Damen brauchen wollen, um Thee und Kaffe zu brauen. Ich kann c.li'c Haut dieser. alten Russin an Farbe und Gestalt ·n'\ll[' mit der Schale einer Netzmclone ver. gleichen., Die viden warmen Dampfbäder, 'lvelche die Russen wenigstens einmal in der 'Voche brauchen, sollen die Haut dniger Weiber so sehr erschlaffen, bey den Män.

nern aber st:ltner diese Wirkung haben. ·Unter ihnen fand ich Grtise mit silberweifsen Haaren und Bart, auf deren vollen Wan. gen nicht einmal das Roth der Jugend ganz -verlösc.ht war. Ich sah einen solchtn Greis .drey scheu gewordene Pferde mit einer Kraft bändigen, dafs sie plötzlich und zitternd stille standen, und eingedenk der Strafe, die ihrem Muthwillen folgte, einen zweyten -Versuch, sich frey zu machen, nicht mehr .wagten.

Noch murs ich dich auf die Posthäuser aufw,erksam mach«;;n, welche von N irWa an

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Jjis Petersburg auf Kosten des jetzigen Kaisers erhaut worden. Es sind seh.Öne ge, schmackvolle Gebäude, alle in ci t1,e pi Styl von Stein erbaut, Ul;td von Ställt:n und Wa; genremist:n in einem weiten Hofraume umt ringt. Alle Zimmer sind auf Kaisediche Kosten; und einige j für vornehm,e: R~isenl de hestimmte, sehr gut möblirt ,a\1~h mit

schönen . Kupferstichen, welche russi8.ch~

Gegenden darstellen, geschmückt, Die Postkommissaire haben mit der Bt:wir~h'Q~g der Reisenden hier nichts zu thun; rli~se is~

deutschen Gastwirthen ·anvertraut, und sehr gut, obgleich theuer.: ,Die' Fuhrl~ufe ; aus Narwakehren nicht gern in.' diese • .' zu, gleich als Gasthöfe dienende,' PosthäuS~lt

ein, sondern bleiben lieber in ächt russischen

Dörfern und Kabacken, wo sie die Wirthe schon kennen, und sie mit vieler Herzlich. keit und tiefen wiederholten Komplimenten begrüfsen. In solchen Kabacken . ~tehen für die gemeinen Reisenden fertige Speisen; die nicht leicht ve;:rderbtn, auf htil7.~rntn oder thönernen Tellern immt:r bereit, . un4 ich brauche nur in die Vors tube hiuauszu, treten, um dir den minzen Küchenzettel eines 80lchen Restaur~tcurs an de;' Heer-

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strafse Qufzmchreiben; nur, dafs du derglei. chen künstliche Namen nie,ht finden wirst, wie sie die Wohlgeschmackskünstler in der Residenz ihren Zubereitungen geben. Gesal· zener Stöhr, gesalzene kleine Dorsche und Strömlinge, Sauerkohl, Schinken und Pö. kelfleisch, saure Gurken und Piroggen, eine Art kleiner Kuchen mit gehacktem Fleisch oder gekäster Milch gefüllt.

Hier"'hast 'du Alles, was i'eh in kleinen Tellern, auf einem hinter einem Gitter ver. schlossenen Tisch, bemerkt habe; doch damit dich nur ja kein Appetit nach diesen Speisen quäle, soll~t du zugleich erfahren, dars ich diE.' Zubereitung eben nicht als sehr appetit. lieh {lTeisen kann, und besonders die schwar. zen TeUern ihren Inhalt nicht empfehlen.

Der Kaffe ist fertig, und unsere Fuhrleute haben Ichon ein ganzes Lied, auf dem Kutsch. bock ge'lehnt, ihren Pferden vorgesungen.

Mein Bediente mahnt mich, mit seinem hier ganz fremd tönenden lettischen Zeens. kungs, die Reisechatulle wegzupacken. Lebe wohl!, Die Fortsetzung dieser Blätter aus der Residenz, die ich noch heute zeitig zu erreichen hoffe.

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St. Pctersburg. den lot,en July 1814.

Von den Ufern der stolzen Newa her1 &en.

det dein Fr(;und den Geufs zum fernen deut­sehen' Rhein, und - trinkt hier, in einem goldenen ,Wein ,,' den, seine gtünen Berge geboren, aus heller kristallt:ne;r Schale deim. WoJa1lseyn und das :der biedern, Dt:U!schen. In einem Zirkd thenre-r Freunde, zum Theil auch der von Leipzig,her btJcannten, feyere ich.meine glückliche Ankunft in c!lt:r Resi. denz~ c.und während die Ungeduld;.mt:iner lGnder~ ',die Herrlichkeiten der Kaiserstadt zu beschauen, meine Gesellschaft, zu einer Pliomenade auf d~JJi Boulevard bewogen, 8chreibe ich dir sthon wieder :einige Worte und schliefse so den langen Brief, den ich in Kipen begonnen, damit ihn die" heutige Post dir schon entgegen tragen möge.

Gestern Nachmittag kam ,ich hier an, und hielt meinen Einzug, nicht unter bild-1 ich em Donner der Kanonen, sondern unter dem wir k H ehe n einer Batterie fin­sterer RiesenwolkcD, der jedoch, über dem finnischen Meerbusen her, noch fern genug ertönte, um das Anschauen der herrlicheIl VorhaUen Petersburgs durch keine :Schreck bilder zu stören.

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Schon ·vor Strelna, : einem artigen Stä.dt. ehen, das .man aber doch . vor den Schön. heiten des Kaiserlichen . Lustschlosses und .eines Parks kaum bemerkt, kündenEinzelne Gärten . und' Schlösser ~:, die hin und' her in uer Feme :erblickt wdderi, die Näheeincr grorsen Stadt an, Ul~d: immer erwartungs. voller drängt sich der' ·Blick den' Bildern entgegen, die noch ,kommen sollen. L' End . . lich erWeitert sich., in . Strelna _die:' ,Aus­sicht, und mit eineinniale treten aUe Wun. xIer der Natur und Kunst vor demerataunten Wanderer hin.

Ein grofser herrlicher Pallast erhebt sich in einer von frischem Laube umgü'rteten Fläche, und hinter derselben das Meer von .vielen Schiffen durchkreuzt.. Der Park mit vollem. dünklem Laube, die frischen Wie . • en . von ,den' gelben Grandpfaden wie von Goldquel.l:en . durchzogen, der Landsee zur Rechten ,dessen Ufer und Ins~ln Tempel schmiicken, . dann wieder' ein kleiner Hafen der in's MeEr hineinreicht, und selbst die herrliche Landstrafse voll glänzender Equi. pagen, LaltwagEn und Pilger. die auf und niederzieh'n: alles dieses zusammea·urnfafst eine Ansicht, ein Blick.

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, Welch' einen 'EindrucK 'diekes . schöne Ganile auf, jun§eJ ;;Gt;muther machte hatte icWhier recht zu beobach~en, Gelegenhei!a. Ich; lids meineu:Wagen halten,. und nun sah ; ich, wie" meine' Kinder,. denen soldit Pracht und Gröfsft noch neu 'und unhekarint .ar:, I :mit weitgt:öffnetcn gle~clIsQm dürsten:. d-en~Augen, : in die herrliche Aussicht hin.

~inschauten, ;i.md die Bilder alle wie in

die' Seele tranken. 0, mtJin ~Freund! e. ist eine schöne; Zeit; die ,Z'(:itr der Jugen~ blüthe, wo Alles, w:!.s N~tur und Kunst Schörles und Herrliches hat, die zarte Seele in.sichnuffa5Set,·wie dio ,Knospe den näh'> lenden Thau und den wärmendt:n Strahl der Sonne,. 'nur um sich reibst in helleren,

schöner<:n :Farben und höherem Schmucke zu 'entfalt<:n. ,)

Von 'Strelna bis St. Petersburgs hohem Triumphthore ,I' also clrey deutsche MeileR !Weit ,. durchfährt, man keine Vorstadt, son· dern zugleich Park und Stadt, doch beydt:1 in einem ganz anderen, schöneren, erhabe­.l'ler.en· Sinne, ,ahi man sonst irgendwo unter ,diesen Namen.' begreift. Palläste h~nge9. 'tlicht 'durch Mauern, sondern durch die Schönsten lieblichsten _ Gärten . ~us;unm~n.

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IO~

Hier sieht than' an einem' Hügel ein 'I..ust· schlöfs auf !ttolzen Matmorsäulen ruhen, deren Postamente in einerReihe aufgestellter iBlumen von .. d6;n mannigfaltigsten Faröen ,ich verlieren~ -: Da .wogen 'leichte Gondeln, mit vielen Plaggen geschmlickt'~ über einenil von Gebüsch olalnd Blumen unitkränzten See; den zahme S.chwäne wieder an einer andern Stelle durchziehen. Dort ist ein enrster tiefer Tannenhay.n. und leine Schatten um. hüllen einen, ,'Eempel, , als wäre er stiller Trauer geweiht:. Gleich nebenan jUbe::lt die laute Freude auf einer grünen schönen Wiese, wo schöne liebliche Kinder tanzen und spielen.

Einem Pallaste gegenüber schüttet hier ~ine Fontaine in wei.t€n Bogen ihr sprudeln_ des Wasser in ein Marmorbecken. Dort ilt wieder eine Meierey, die 7,U einem Dörf· chen im holländischen Geschmack gehört, und da wiedt:r eine schöne Kirche, von den Wohnungen der Geistlichen umgeben.

So wechselt mit jedem Umschwunge des Rades die AQsicht, und immer ist sie anders, und, schnell wieder entschwindend, weifg di.e Erinnerung nicht, wo sie das Schönste unter dem viden Schönen erblickte.

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Wer diese Wunder nicht sah,: bnn keine Vorstdlung einer solchen LuStfahl't in st:in Bt:wufstseyn aufnehmen, am wenilt sten aber sie hier im Norden verwirklicht denken. Der Reichthum der mehresten Grofsen des Reichs, wekhe in dc::r Näh. von Petersburg ihre Sommerwohnung eben so geschmackvoll als prächtig 'erbauen und schmücken, macht es allein möglich, hier in diesen an sich nichts wehiger als frucht'­baren Gegenden solche treffliche Schöpftiri. gen zu bilden, wo die mühsamste Kunst die lit:blichste' Natur hervorruft.

Wir sahen hier in einem solchen Lust­erte eben einen nicht kIemen, sOhdem. ziemlich beträchtlichen See -gra ben. Die Inseln, die man in dem künftigen Bette delt­selben schon mit jungem Gebüsch bepflanzt bemerkte, und die jetzt als grüne Hügel in dem ausgehöhlten, zum Theil sandigen, zum Thdl schwarzen morastigen Boden hervoi­ragten, hatten ein ganz eigenes fremdes Ansehen. Mich erinnerte dieser Anblick, sonderbar genug und wie im Sprunge' der Phantasie, an die Charakteristik manche. Gelehrten, an dem im schlechten Geistes­bOden alle Anlagen mühsam und schwet

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~o-gegrab~n 'und dennoch nur der natürliche Gtund herausgewürfen worden, um an des,. Ben S!elle Wass~r aufzunehmen. Die Insel~ ~hen 'waren zum Uebersetzen stehen geblie­ben. Mei~ reim entfesselter Griechling, ich. 8!th in -diesem8ilde Dich.

In .dem Hoftel de Londresfand ich ein aehr gutes Logis, wo VOll einem Balkon; der. gerade die Ecke der News~ischen Per. lIpekltiy~ ~innimJ1lt, eine trefl1i.c:he Aussicht ist, u.ud ·hier .. · \vo, ich die weite Strafse der Persnektive, den schönen freyen Platz vor dem Winterpallaste , elen Boulevard vor der Admiralität, und diese selbst mit einem ,Blicke üQerschaue, b(;finde ich mich wie in einer Loge, .aus der ich täglich das int~r~ essanteste, e~g· wechselnde Schauspiel des lebhaflest~n ·GewÜhles einer Residenz er­blicken kann" und ich will mich hier eines Tages ein Paar Stunden hersetzen, und dir, was mir vorüberwandtlt, in einem mit Schriftzügen meiner Hand gezeichneten Gemälde fest zu halten suchen. U ebrigens wirst .du diesmal von Petersburg selbst, seinen Merkwiirdigkeiten und Kunstschätzen ~chr wenig erfahren; ich verweise dich auf ein von ,mir v!";rfafstct! Buch: Leb e n sb I ü;

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log

tlHin in Südenund Norden, inW.ahll* lu! i tun d T rau m, das nächstens ersche.int und manche Erinnerung aus diesuResi.. denz, besonders aus früherer Zeit,. wo i.ch hier mehrere Monate verlebte, bewahrt; 'obgleich du auch dort ktine auch nur halb genügende Beschreibung dieses einzig schö­llen Ortes finden wirst, wozu tin jahrelan. ger und nur dem Zwecke der sorgfältigsten

Beobachtung' gcwtihter Aufcnthalt gehört.

Jetzt aber, wo ich nur einige WOCMD hier. zu bleiben denke, und in diesen selbst man" ches Geschäft meine Zeit beschränkt, ich allcb meine Freunde und Bekannte zu besuchen habe, und also höchstens, was ·mir im flüchtJ.; gen Momente hegegnet, auffassen kann, jetzt erwarte nur, . dann und wann den blofsflil,

Hinblick auf Alles, was mich umgit:bt,ange­

deutet zu finden. N ur von dem Zweck mein~s Hierseyns, von dem Empfange unsers liochgcfeyerten Monarchen, voh den Ft:sten bey Stiller Rückkunft, die sich schon. jetzt in allerhand Gerüst~n zu Illuminatio­nen, die man errichtet sieht, verkündeot von dem Juhel des Volks, im Wiedersehen seincs geliebten Herrschers, nur von' a}Jen diesen, . gewifs auch. von deinem dea.Bet·

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rer Europas feyerladen Herzel1 mit inniger 'I'hdlnahme erfafst~n, Gegemtändt.:n wer4e ich dir eine genauere Darstt:llung, so viel ab es mir möglich. ist ~ übersenden.

Noch ist der Kaiser nicht hier; man er. wartt:t ihn täglich, und immer sehe ich auf den mir schräg übtr gdegenen Winterpallast. (Tb nicht die' Fahne mit dem Adler ~ufsland9 wehet, welche, weIln der Kaiser in seiner Residenz lebt. fortwährend do\-t aufgerichtet ist. ' Doch sicher wird der Jubel des Volks ihn früher verkünden, das sich schon jetzt um jeden im PaUaste ankommenden Kou. rier versammelt, und nach dem theuren Vater fragt.

Ich schliefse diesen langen Brief, dem du übrigens die, Müdigkeit von der Reise ansehen wirst. Gebe Gott, dars er diese nicht 80 sehr in sieh aufgenommen hat, um auch dich beym Lesen zu ermüden. Lebe wohl!

Petersburg, den l.3ten July 1814.

Die Fahne weht vom Winterpallaste, ein frischer Morgenwind entfaltet sie weit, als wollte er dieses Palladium recht vor ein glückliches Volk ausbreiten, das in dicht

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gedrängter Menge den Paradeplatzvor dem $chloilse, den: Boulevard und die Ufer der Nelf'a. umringt. Der Kaiser mufs hier od~ doch in der' Nähe der Residt:nz angelangt seyn; aber warm? noch ist, es nach Peters. burger Sitte so früh des Morgens: erse 9 Uhr Vormittags.' Ich mufs hin, in den ge.

drangten Haufen mich einmischen; dort er.

fahre ich wohl, ob heute wirklich Petersburg

d.en Einzug seines Monarchen ft;yert.

N a.c h m i tt • 8 ..

Ja, er ist hier, der geliebte Monarch! hier in seiner Residenz, wo ihn keine Feycrlich. keit empfangen konnte. weil der liebende Vater seine Kinder noch im Schlummu überraschte. Heute ist er, des Morgen. früh um 7 Uhr, in einer Kutsche ange.

kommen, von Niemandt.n erkannt. Bey der Kasanschen Kirche ist er ausgestiegen, und hat sogleich einen GeistlicheIl dahin berufen lassen. Während er dort mit voller Andacht sdn Gebet verrichtet, verbrt:itet sich alle mählig die Nachricht seiner Ankunft. Schon umringten grofse Volkshaufen die Kirche, und begrüfsten ihn in stürmischer Freu~ als er die Kirche verliefs und zum Wint~ pallaste sich begab. N ur~ töntt: e. wallen

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Strafsen :-d.er: Kaiser ist l1ier!_ iJder auch flur mit lauwm Freudengescbrtiy ::e r ist· h i e r! Freunde ruten es mit eWt:r :r.ärtliGhcn._ Um. armung t:inandü zu; aus dE:n -Häusern eilen, Manner und Wtiher im leichten MQrgen­anzuge hervor; der Scblof:;platz ist mit vie­len tausend Menschen augdüUt; jedes Auge blickt zum· Palais hinauf. ob es nicht ir. gendwo den geliebten Herrscher am :Fen. ster erbl"*-en werde. Endlich erscheint Al e x an d e 1:.. Ach! keine Sprache zt:ich­!let das Entzücken; welches ihn jetztem­pfing. Ein Hurrahruf durchhallte in einem­so erschütterndtn Tone die Luft, als stürmte ein brausendes Meer in einer einzi. gen grofsen Woge gen Himmel.

Der Kaiser schien gerührt, als er ~ sein Volk begr.üfsend , dessen ungeheuchcIten aus yolletn Herzen strömenden Jubel be­merkte.Bis zum Nachmittage blieb der platz nicht leer, und als der Kaiser sich nach seinem gt::wöhnlicht::n Sommeraufent_ halte, dem Lustschlosse Kamminoi Ostrow, das eigentlich mehr an die Stadt gränzt, als ausserhalb derselben gelegen ist, hinbegab, begleitete und begegnete ihn allenthalben ein gleicher lauter Ruf der Freude.

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.. Vorgesterrt ward hier der Befehl des Kaisds an den Polir;eyminister; . General eh' Ch\;f Waesmitinoff, bekannt gemacht, dafÄ 1itine V orbereitungcm zu seinem Empfange sf~tt firiaen solIton. . Ich schreibe dir ihn ab; 'V.reHer'das hescheidene von Milde und cl,rilftlicher. Demudl erfüllte Heu unserlt :Monarchen beurkundet.

"Sergey Kosmitsch!

Es ist zu n'leiner Kenntnifs gelangt§ dars verschiedene Vorhereitungen zu md­

'nem Jt:mpfange gemacht werdw.· Ictl h:ibe 'dieselben 'von jeher 'gehafst, und hain:!; .~~ für dill "st:gE:nwä'trige Zeit am

.; ':ilJerwenigst<:n schicklich.' 'Del' ,~ItE!ro

höchste allein ist die UrsacHe det ;grofat:tt Ereignisse, die dem blutigen Krieg~ in

, Europa ein Ende machtw; vor Ihm mü'S:: , ~(;n wir alle uns dt:müthigen. - Macheti r··Sie überall meinen unveränderlichen WH .. :' len bekannt, dafs kdne Vorbereicungeii , 7.U tneineffi Empfange gemacht wüde::n~ ," SeiHten Sie Bdt:hle an die Gouverneurs;: ; daC8 kdner von ihnen sich in dieser Hin­" sicht von seinem Posten entfernt:ll snU~ SI Auf [hre eigene V e::rantwortlichkeit ilbtir-'

trage ich die gen aue Erfüllung die"8 8

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Befehls. Verbleibe Ihnen übrigens für immer wohlg~Ildgt.

Alexander." Wie dieser Ukas zu verstthell sey, war

gest~rn das a.1lgtmeine Gc;spräch. Dafs der Kaiser seint:r Unt~rthant:n Freude und dt:ren la~te festliche At:usserung vt:rbeten habe, konnte Niemand glaubt:Il; t.ben so wenig, als man dem Herzen Gefühle gt:bitten kann, kann man die~em. was es mit voller Innig­hit e~pfind(:t, verwt:hren. Nur der Em­pfang, wie man ihn anfangs beabsichtigt hat, wo die Ministtr, der Stnat, alle hoht:n Dikasterien und Beamte, die Deputirten der Gouvernemeuts den Kaist:r an der, unwtit der Stadt, auf dem Wege von Strelna erbauten schönen Triumphpforte . empfan­gen, u{)(l in feyt:rlicher Ordnung bis zu sei­nem Pallaste durch die Stadt begleiten wol­len, nur dieser ist von dem Monarchen ab­gelehnt worden; ktine Festlichkeit aber, mit der hier Jeder für sich mehr sein eige­nes freudiges Gefühl, als die Huldigung des Monarchen aussprechen möchte. So ist der Ukas durch das Herz Alexanders selbst am besten kommentirt, und gewif, richtig verstanden worden, und ich sehe so

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eben ein paar Gerüste ror Illumination wie­der eilig aufrichten, welche man gestern schon abzunehmen angerang~n hatte; doch soll erst morgen, wenn der Kaiser, von sei­ner Familie und allen seinen Thron umrin. genden Grofsen begleitet, dem feyerlichen Hochamte in der Kasanschen Kirche beyge. wob.nt hat, das eigentliche Fest seim:r An. kunft beginnen, und das Volk nimmt mit Begeisterung die W t:isung seines Monar· chen entgegen, im Gebet, im Dank gegen den Allerhöchsten, die Feyer dieses grofsen achänen Tages zU' beginnen, um sie dann erst in lauter jubelnder Freude verhallen zu lassen.

Mit Ungeduld sieht hier Alles dem mor.

gend~n Tage entgegen; möge er mit hcllem heiterem Himmel ersch~inen, und auf stillet linder Luft der Ruf des Entzückens eine!l grorsen Volks mit weiten Schwingen ruhen können, ohne eilend vom Sturme fortgetra­gen zu werden! doch, würde ihn dieser ir­gend wohin entführen können, wo er Her­Zen fände, welche diesen Jubel nicht wie~ derhallen ?

Die Ankunft des Kaisers in Pawlowsk und daa Wiedersehen aein<:r erhabenen Mut"

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ter hat mir ein Augenzeuge höchst rührend beschriLben. Die Kaiserin Mutt<:r hatte die Nachricht der nahen Ankunft ihrt:s Sohnefi IIcholl Morgens früh erhalten.

Ein solches reiches Gdühl eines vollse­ligen Mutt(;rherzens macht auch PalläRte zu enge. Die Kaiserin MutH:r mufstc in's Freye unter Gottes schönem Himmel hin­;tus <:ilen.·. Voll Unruhe und Sehnsucht blickt sie bald in die FenJe hinaus, woh<:r sie den theuren Sohn erwartet, hald wieder mi,t gerührtem dankbaren Blick zu Gott empor,. der diesen Sohn zum Heil der Welt ihr gab. Endlich kömmt eine Equipage im eiknuen Lauf die Strafse herunter gefahren; sie ist so klein, man vermuthet nicht, dafs sie den Kaiser trage; doch war er es, und eilt mit ausgelireiteten Armen der Mutter entgegen, die mit heifsen Frcudenthränen, fast bis zur Ohnmacht von der Seligh:it ~ieses Moments erschüttert, an das Herz des tlumren Sohms sinkt. Alle Anwesende des kaiserlichen Hofes waren heyrn Anblick dieser Scene tid gerührt. Die höchste Würde der Menschht:it h<ltte hier die des höchsten Standes weit ubcrstrahlt. Hier, in der schönen freyen Natur, waren keine

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Schranke:n des Thrones, wnren alle Schleyer gesunhn, wdche mit Gold, Purpur oder Ordensbänder das Herz der Grofsen der Erde verhüllen, - nur dtr lieh{;nde Sohn, die glückliche Mutter waren glblkben, und fühknde Menschen fr(;Uten sich dieses An­blicks, und segneten mit ldsem Gebt:t die heilige Stunde die ses Wiedersehens.

Ht:il dem Staate, wo das Diadem eine Stirne kränzt, in der Gtdan ken irdischer Gröfse nicht die zarten Gefühle der Me'l1sch­lichkeit aus dem Herzen verdrängen! da nur kann der Unterthan in seinem stillen, häuslichen, bürgerlichen Familienglück dem Monarchen wichtig seyn, wo dieses Glück ihm seIhst als das Höchste und Schönste gilt.

Theile du mit mir die Erwartungen

des morgenden Tages, auch WEnn dieser selbst dir längst schon beym Empfange meill{;S Briefes entschwunden ist. Die nächste Post bringt dir ihn im flüchtiCTt:n

'- ::> :Bilde nach; doch dt:ine Phantasie wird die "\Vahrhcit des Anschauens. dein Alexan­dern so innig ergcbenls Herz die· Fülle Unserer Empfindung zu erset~en suchen.

Ll.:bc wohl!

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uS

Petersburg, den 14tenJuly 181.4.

Der heutige Tag, wie ich ihn erI~bte, er allein sey der Inhalt meines Briefes. Mit allen den erhabenen Gdühlen, Auschautln­gen und Gedanken, die er brachte, steht er in einem Menschenleben unter den übri­gen seines gleichen da, wie in ebener Flache ein ho her Berg, ,auf dem man, freyer ath· mend. die niedere Luft der Erde unter sich, doch in weiter Aussicht auf lIic hinaus die Pfade alle erkennt, die man kam, und wohin man strebt.

Ja, es giebt Momente im Menschenleben, wo man, in ho her Begei-~erung, die Schwere des Körpers nicht mt:hr empfindet,' und schon die ätherischen Schwingen spriefsen fühlt, die ein!!t den ätherischen Leib er. heben 80llen. Doch lafs mich versuchen, dir ,ubig und besonnen zu sagen, Alles, was ich wahrnah,m. Wie und was ich dabey empfand, töne dann im Liede wie ein Nachklang aus meiner Seele in die dei­ne über.'

Der heutige Morgen war so schön, linde und heiter, als je einer sich in der stillen tie. fen Fluth der Newa gespiegelt hatte, und hauchte den Athem so leise auf Wimpel

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und Flaggen der Schiffe, dafs sie nur sanft erzitterten und ihre Farbt:n enthüllten. Ich \rar sehr frühe aufgestanden, so früh, dars Goldammer und andue kltine Vögel in dt:n Lindenbäumen des Boulevards zwit· scherten und hin Geräusch ihren Gesang libertönte, noch die Menge dt:r Spaziergän_ ger sie verscheuchte; nur dann und wann schritt ein russischer Bauer oder ein Soldat

die Strafse dnher. Gegen 8 Uhr des Mor.

gens erst fing die Strafse an, mehr belebt zu werden, immer mehr sammelte sich das Volk von allen Seiten her, und gegen 10

Uhr waren vom Winterpalai. bis zur Ka­san sehen Kirche die groraen Plätze und die breiten Strafsen so von Menschen an. gefüllt, dafs ich meinen Weg zur Kirche

zu Fufse machen mufste, weil das Fahren von der Polizey untersagt worden, um nicht die Fufsgänger möglicher G.dahr auszu· setzen. Als ich die Kirche betrat, fand ich noch wenig Menschen dort versammelt, und hatte Zeit, noch einmal das Innere die· ses schönen Tempels zu betra.chtt:n. Die porphyrähnlichen hell geschliffenen Granit· säulen, aus einem Kern, 35 Fufs hoch und 3j Fufs im. Durchschnitt, mit Kapitälern,

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Basen und Verzierungen von reich vergol­deter Bronze, 52 an der Zahl, erschiulCn mir noch prächtiger und schöm:r als S'tzen eines Tl:mpds, der Rufslands . höchste T1'o. phäen und das Grab stines grofsl:n Helden, Kutusows Grab, bewahrt. Da hingcn die Hunderte der Fahnen, Adler, Schlüssel der Vestungen, von Gold, Silber und Eis(;n, aus allen Ländern g<::sammelt, weIche Na­poleon erst umerjochen durfte, ehe ihn die Strafe in Rufsland errdchte. Alle di(;se Trophäen sind nur in den Jahren des letz. ten Krieges gcsammdt; sie sind so neu,

und doch ihr Andenken auch du ff,;fIl6teIl

Nachwelt , als das Gröfseste und Heiligste, gewifs. UntC:r allen diesen Dt:nkmalen seiner Siege, in einem Kriege, der zwischen dem höchsten Ruhm, und der Vernichtllng seines Vaterlandes entschied, ruht Kutusow. Wie einfach, anspruchlos , und doch so würdig ist dieses Grab! So kann nur das höchste Verdienst ein Denkmal erhal ten. Aller Prunk würde es entstellen; hier aber spricht die Geschichte sdbst in jeder füh­lenden Seele den Kommentar zur Idee aus, welche diese Stätte eben so zart als erhahen im Bilde des Adlers uQlschwebt. Eine ein-

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fache polirte Marmorplatte vcrscllliefst das Grab, wdches eine kichte Umzäunung von Eisenstäben beschränkt; an der Wand lehnt eine vergoldete Platte, die nichts weiter als Fürsten Kutusows Smolenskoi Namen und dessen Geburts- und Sterbe­jahr zur Inschrift hat; über letzterem aber trägt ein Adh:r, indem er einen Lorbeer­kranz hinaus auf das Grab reicht, eine ewig

brennende Lampe, als schwebte er alls der Wand hervor. Höher, an derselben Wand, wie allenthalben umher, hängen leise gesenkt die feindlichen Adler und Fahnen: Mehr erblickst du hier nichts, keine prun­kende Inschrift. keine Statue·, und doch, wenn du im Adler, der die brennende Lampe und dtn Lorbeer über das Grab

reicht, das sprechelIde bekannte Symbol Rufslands erhnnst, so weifs ich nicht, ob die Idee inniger und häftiger ausgesprochen werden könne, welche icb mir ungefähr in folgende Worte kleidete:

"Ruhe hier, Held, von eroberten Fah­nen, den Denkmalen deiner 8iene umge-'" , ben; selbst an deinem Grabe senken si~

sich noch. Rufsland reicht eine I~orbeer. krone ul1sterblicht:n Ruhms über ddn Grab

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hinaus, und bewahrt dein Andenken flam. mend, unausIoschlich und ewig. "

Eben daher aber, dafs jeder die Wahr­heit dieses Sinnes in seiner Seele finden, sie in die eigenen Worte und Gedanken kleiden, und aus dem alkgorischen Bilde in seine Sprache übersetzen kann, eben deshalb ist ein solches deutungsvolles Denkmal so vor­züglich schön und würdig, und spricht wie Gottes Stimme ,zum Herzen.

In die Fcyer dieses erhabenen Tages gehört Kutusows Grab ganz vorzüglich mit hinein, und nur nellen und an dem­selben konnte sie ganz würdig beginnen; daher habe ich seine :Beschreibung vor­angeschickt, und blickte selbst während der ganzen Ceremonie zuweilen auf dasselbe 11in, als erwartete ich, dafs der verklärte Held sich aufrichten und seine Stimrpe in den Chor mischen würde, der Lob und Dank dem Allmächtigen sang.

Immer angefüllter ward die Kirche; die vorne~mst(;n Kriegs- und Civilbeamten des Staates, die nicht zum Gefolge des Kaisen gehörten, erschienen schon früher, und die polizey mufste dafür Borgen, dafs keine ZU grofse Menge des Volks hinein drang, da

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sonst kein Platt fi.ir den Kaiser, deRsen Fa. milie und Hof übrig gewesen wäre. Nun trat dtr Metropolit, an der Spitze der vor. nthmen Geistlichkeit, aus dem verdeckten Allerht:iligsten du Kirche hervor, und auf einer mitten in der Kirche angebrachten, mit kostbaren Teppicht:n bekleideten Erhö. hung begann Ersterer, sich zur Feyer dieses Tages zu bereiten, indern er, dtm Kultus der griechischen Kirche gemäfs, hitr da~ priesterliche Uebergewand und den Haupt. schmuck anlegte. In diesem Ceremoniel sprach sich mir ein schöner bildlicher Sinn aus, wie ich ihn in allen feyerlichen Hand­lungen vorzüglich erhaben finde.

An gtweihter Stätte, gleichsam die ir· (lische Hülle abstrtifend, ist es ein heiliges reines Gewand, das den ehrwürdigen Geist· lichen, Angesichts des Volks, bekleidet;. eben 60 entsinken in seiner Seele die Bil· der der nie dem Welt, und nur ein hohes reines Lehen erhtbt sich in der Seele, die voll Andacht ihr Gebet zu Gott wendet •.

Bald darauf verkündete ein H urrahruf, der wie ein plötzlich ausgebrochene:r Sturm die Luft durchbrauste, dafs der Kaiser, den 'Viuterpallast verlassend, sich zur Kuche

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herbegebe. Doch höre lieber, was die Begeisterung, in der Stunde nach B<;endi. gung des Gottesdienstes in der Kirche, dem eigenen Herzen vorgesungen, und in flüch· tigen Zügen aufbewahrt wurde.

In den weiten Säulenhallen Lispelt leise das Gebet; Manner sah ich niederfallen, Und der Hohepriester steht Am Altar mit feuchten Blicken. 'Wo er. Segen ihm zu st:hicken, Auf zu Gottes Himmel fl~ht.

Ein Gewand von Gold und Seide Wir~ dem Greise all/!'f·lhan,

.und es schli~rst dem h,'il'f!t'n Eleide

Sich der Schmu, k ,le5 Hauptes an.

Srine greisen Locken heben, Uot:h der Andacht hohe Gluth 'Strahlt aus seinen Blicken Leben, Strahlet Gott ergeb'nen Muth.!

Die Glocken tönen von luftigen Zinnell, J!:s drängt sich Volk in deli Tempel mit Macht. Welch' ein Fest wird hier hq;inllell, '\IV elch' ein Opfer hier vollhracht ~ Welch' ein Jubelruf erschallet Von der Ncwa Marmorslrand, Dafs der Tempel wiederhallet ?

Und der Kreis der Priester wallet Zu des Thores Stufenrand.

Alexander naht, lind seines Volln Entzücken Führt ihn jubelnd in den Tempel ein.

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O! Er nahet mit gerührten Blirken, Um sein Herz voll Demuth Gott zu '\Veih'D. Glücklichste der Mütter! Ihm zur Seite \Yalle mit Eum heiligen Altar, Dafs der Mutter Segen Ihn begleite, Dem so reich der Segen Gottes war. "H er r Erb arm er! tönt im Chorgesange. Und kein Auge, das nicht Thrimen füllt, Keine Brust, die nicht voll Andacht schwillt Bey dH Stimmen feyerlichem Klange. Und es beben die ersiegten Fahnen, Die gddmt an Ji( htom \lVillldm stfhn, Wie wenn Rufslands grorse Heldenahnen Mit df~ GeistHhauche sie umwehn. Suchend drijngt der Blick sich hin zum Steine, DH Kutu50w.Büll.. deckt, Dafs auch hier. lein Beldenseilt .recheine •. Vom Gebet der Völker auferWeckt; . Rund umher um jedem heil'gen Bildo Strahlt, wieMOTgenroth, ein heller S<.hein. Und es s(hw~ht in jener \Velt Gefilde Mit dem .Himmelsstrahl die Seele fin. Was im ew!sen Himmel und auf Erden Hohes, Heiliges der Geist umschliefst, Sollte im Gebet vereinet werden, Das aus an,!a, htvollem Herzen fliefst.

Kanonenschall bTailset im Sturm durch die Luft, Sem Donner verhallet im r,rofs~n Gebet, . Hier, wo eine Welt zu dem Ewigen ruft Uno Segen dem Frieden der Ecde erfleht.

Gr"fs und mächtig, Heilig ist Gott!

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Segnend, segnend Giebt er Frieden seiner Welt. Und die Tage sind vorüber, Wo des rauhen :Kri~Ss Trompete. Weit durch Land und Meere schallte. Holfnullg, Freude Ist als helle Morgenröthe Nun erwacht, Und es feyHn Dank{!ebete Das Entfl.ehn der Schreckensnacht.

Grof. und mächtig. Htilig ist Gott! Segnend. segnend Blickt er nieder auf sein Volk. Dem er gütig den Beherrs( her Als der Gnade Bad gegeben. Alexand.r. Dich empfangen Dankgebete ; Dir von Gott Gebenedeyten. Heil Dir, Heill Gottes aJ1macht half Dir streiten. Friede ward der Weh zu Th~iJ.

Neu gestärkt in Glauben, Lieb' und Treue. Noch zum Himmel aufgewandt den Blick. Führt den Herrscher j~tzt sein Volk zurück. Und Begeist'rung huldigt Ihm auf'. Neue.

Greise, Männer, :Kinder rufen J\lexander Ehr' und Preis. Bis zu des Pallastes Stufen Folget jauchzend Ihm der Krei ••

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Und die Lust weifs nicht zu enden, Hüte fliegen durch die Luft, Wo mit weit gerei(hten Händen Braus~nd lauter Jubel ruft. Freudenzähren 8eh' ich fallen. Feinde reichen sich die Hand; Freude rirs von Allen, Allen Jedes Standes Scheidewand. Sie nur will im Herzen wallen, Sie nur ist das "fofse Band; Und die Jubeltöne SI halJen Bis hinaus in's ferne Land.

o schöner Tag, 0 Tag der hohen Wonne. o Friedenstag voll Majestät! o Feit der Freude. wie el nie die SOllne Auf Erden lah, 0 Fest! 10 heifs erfleht.

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Heil Dir, Monarch! ein Glück iat Dirg8worden Das grofs, so wie Dein Friede. iat. • Wo Dich vom Süden bis zum Norden lVIit Jubel jedes Herz bq;rü[st.

Und uns. des gTOrSen weiten Reiches BrudEr. Uni murs der Tag dem Bund der Pfli( hten weihn: Kniet am Altar des Vaterlandes nieder. Schwört. Alexandefs wHth zu seyn.

Wenn du auch in diesem Liede nur ein blofses Schattenbild der t;rhabenen und grofsen Feyer dieses schonen Tages er­blickst, so will ich doch noch einige helJere Punkte durch meine Erzählung hineinzu­bringen suchen, damit deine Phantasie' sC)

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viel als möglich die Vorstellung des GanZEn gewinne, das in st.inem volkn Eindruck uno ausloschlieh in rndnu Seele kbt.

Ich hatte mich nahe au eine Säule in der Mitte eier Kirche hingestdlt, so dafs ich nicht nur den feyerlichen Zug neben mir vorüber wallen, 50ndun auch das Ganze der Cenmonie selbst sehr gut bemerken konnte. Als der Kaiser an den Stufen dnes der Thore dieses herrlichen Tempels von dem Metropoliten und der ganzen hohtn Geist. lichkeit empfangen worden, und, stine M ut­ter am Arme führwd, durch die gedrängten

Reihen aller hitr versammelten Menschen

zum Altare in feyulicher Stille vorschritt, sah man offenbar die tiefste innigste Rüh­rung auf seinem Gesichte ausgedrückt, ja die Thräne sogar, die in sdnt:m Auge müh­sam verhalten bebte, war mir sichtbar; und hier erschien er mir am Gröfsten, mit die­sem Ordcnszt.icI!t:n fühlender Seelen der ·,AlImacht menschlich, her3l1ich huldigend, ohne den Stolz und Hochmuth irdischer Gewalt. Jetzt begann der Chorgesang, der in den russischen Kirchen ohne alle [nstIU . .mentalbcgkitung 60 tnfflich ist. Die Ge­

bete~ oft auch im Chore gesprochen, hallten

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in tiefen Tönen einer erschütternden Bars­stimme, und dazwischen, das oft wiederkeh_ rende, Hur t:rbarme dich, in wdchem. helle reine Klänge. als hätt(;n Engel mit­gesungen, einfielen. Als ab(;r der Hoch. gesang im vollsten Chore ,gegen das Ende der gottesdienstlichen Handlung, wie im. Sturme der Harmonie sich erhob, und .die Kanonenschlage mit lautem Donn(;r hinein·

fiden, Alles, die Knie beugend, Gott, dem ewigen grofsen Gott, den Dank seines Her· zens mit tief erschütterter Sede aussprach -da sah ich um mich kein einziges Angesicht,. das nicht mit heirsen Thränen der innigsten Rührung bedeckt war. Die Mehresten standen bItich da ,. als hätte sich alles Leben hin zum innigb(;wegttn Herzen gedrängt,

Um nur da in heiligen hohen Gefühlen ein volles seliges ßt:wufstseyn zu ht:wah· ren. Diese Feyer war eines solcht:n Frie. dens, eines solchen vorübergezogent:n Krie­ges würdig.

Als der Kaiser aus der Kirche trat, und sich zu Pferde setzte, empfing ihn abermals sein treues Volk. Unaussprechlich, unbe. schreiblich war dieser Jubt:!. Als hätte er aus dem Heiligthum sichtbarlich den Segen

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des Allerhöchsten mitgebratht, und brlichte ihn jetzt wieder aufs NLue den Seinen zu, 10 stürmten Männer, Kinder und Greise unaufhaltsam ihm entgegen. Im Augen­blick war der Monarch von der Begleitung 8einer Generale und Adjutanten getrennt; diese mufsten weit zurückbleiben; ihn umgab die wogende Menge so nahe, dafs das Plüd kaum fortschreiten konnte. Ich bemerkte ,se'lbst wie er still hielt, als ein alter Russe sich vor seinem Pferde bückte und die im lubE:! in die Luft geworfene Mütze wieder aufhob. Mit freundlichen "V orten bat er,

ihm Platz zu mach<.n, und duldete manchen herzlichen Kufs, den sein Kleid, seine Füfse, se:in Pferd sogar, von dieser in Frt:ude völlig trunkenen Menge erhielt. Keine Polizcy konnte hier das Entzüch:n mäfsigen; es war unaufhaltsam, alle Schranken der Ge­walt überfliegend losgebrochen, und Män­ner mit Ordenssternen liefen mitten unter dem Volke mit gleichem Jauchzen hin. An allen Ft:nstern standen Damen, Hersen Tücher herabwehen, und mischten ihre Stim­men in den all~em{;in'en Ruf der Freude. -

o Bruder! ich kann, ich vermag nicht, dir diese Scenen darzustellen; nimm den

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Willen hin, er ist hier Alles. In meiner Set:le bleibt dieser Tag unauslöschlich; ich habe ihn erlebt, wo Tausende, viele viele Tausende zugleich, ein Gefühl, ein e Freude so gewaltig, wahr und innig erfüllte, dafs Jeder sich damals gliicklich fühlte, nur Freudenthränen die Augen füllten, und alle Nachtstücke des einzelnen Lebens, im

vollen Licht des allgemeinen grofsc::n "Voh. le9, wie bange Träume heym frohen Erwa. chen niedergesunken waren.

Ausser dem kenne ich heute nichts, Wovon ich mit dir noch sprechen könnte; nimm d'arin, dars ich jetzt, noch am Aben. de dieses Tages, dir diese Zdlen schrieb, den vollen Beweis der Litbe

deines Freundes.

Petersburg, Jen 20sten July.

Noch murs ich dir, als Nachtrag zu meinem Schreiben vom 14ten, einige Worte über die Illumination der Residenz sagen, die am Abende bis tief in die Nacht hinein statt fand.

Gewöhnlich habe ich Illuminationen in den Städten überall recht artig gefunden.

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Es nimmt sich gut aus, wenn die Häuser, wi(; W dlmachtsbud(;J), mit Lämpchen ver­ziert sind, und hin und wieder t;in buntes Bildc.hen aus den Fenstern herunter sieht, auch wohl dann und wann sich ein witziger Einfall erblicken lä[st, oder wegen zu gros­ser N aivetät der Inschriften und auf eine komische W (;ise mifsratht;ner Ztichnung, das Anschau<.n solch!;r Bildert:phemeren amüsirt.

Hier in Petcrshurg ist es ein anderer Fall; gerade die bunten Bilderehen , die man hin und wi(;(kr wohl auch erblickt, und wären sie, wie ich hier m(;hrere sah,

recht sinnig und schön gedacht, stören den erhabenen grofsc::n Anblick, d(;n die wie in I<'lammen getauchte herrliche Resi­denz auf eine unendlich wunderbare und zauberische Weise gewährt. Die grofsen weiten Strafsen , wo alle die Palläste ihre Architektur in flammendtn Umrissen nach­bilden; du tausendfache Scht;in, der, wie z B. in dtr Puspdtive, selbst das I,aub der schonen jungtn Lindenbäume auf den Pro­Jn(;naden miu<;n in dl:r Strafse mit einem Goldglanze färbt, und das frische Grün, durch die tiefer versenkt<;n Schatten, noch

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höher erhebt; dann hin und wieder die grofsen hellen Sterne, Arkaden und Por­tale, alle aus lauter Gluth gewebt: schon diese Ansicht ist herrlich und grofs. Doch: ist Alles das nur noch ein Schattenbild gegen den Anblick der Illumination der Admiralität, der Palläste an beyden Ufern der Newa, und der Vt:stung mitten in der­

selben. Hier mufs man an den Zauber eiuer Feenwelt glauben.

Die Admiralität, mit ihren Wällen hinter dem grünen Laube des sie umringenden Boulevards, hat sich bis zur Spitze des hohen Thurmes mit Flammenguirlanden be­kränzt; von den Wällen, in allen Flanken mit hellen Strichen bezeichnet, hängen grofse in einander geschlungene glühende Anker herab, und in der Ft:rne, recht zum Kontraste, steht, von leuchtenden Hausern umringt, die grofse lsaakskirche, mitteIl in dt'ID weiten freyen Platze, ernst grofs und finster da, und nur hin unu wieder spiegelt sich in dem Marmor, der ihre Wände deckt, ein entfernter Strahl rund umher wieder, vom tiefen Dunkel begrällzt. Es ist das liild dt:r t:rnsten EwifIkeit im Dunkel der ..., , Zukunft gehüllt, doch fest auf Religion und

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Glauben gegründet. Bis hieher dringen die Strahlen irdischer Flammen nicht; nur im Rdlex dieses erhabenen Gebäudes kann hin und wieder ~in Punkt sich verklären, und wirft das Licht dem Anschauen zurück, das aus diesem auf ihn strömte.

Die N ewa aber, still und tief und hinei­lend zum Meere,- hier ist sie nur das grofse :Bild du Zeit und ihrer Geschichte, - sie nimmt aus dem Mom<;nte der sie umgür­tenden, unzählbaren Flammen die Gluth freundlich entgegen; sie schmückt, sanft er­röthend, ihre Wogen wit dtn Rosen des Au­

gen blicks , und tragt sie auf tanzenden klei­nen Wellen fort. - Die Gegenwart, der Punkt, wo jeder Wandtrer steht und l,in­blickt, ist ihm gerade der h<;116te, hinter ihm und vor ihm werden die Pfade von tie­fem Dunkel verschütttt, nur einzelne roth­lieh goldene Streifen ziehen auch in der Ferne hin und her, wie grofse Begebenhei­ten, in dtnen selbst die ruhige, kalt fort­schreitende Zeit sich zum warmen Leben ~u erhellen scheint.

Mitten im Strome selbst aber erhebt sich, von Wällen umringt, deren grünes Dach auf Mauern von grofsen Granitqua-

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dem ruht, die N ewavestung. Ihre kleinsten Umrisse sind in die fmstere Nacht hinein mit Flammenzüaen gezdc.lmet, die sich weit

~

umher, wie ein glühender Teppich, noch über die sie umspühlende Fluth breiten, W1d dort wie mit lauter Fünkchen ihr schö­nes Bild wiederholen.

Wohl eine Stunde habe ich am Quai ge­standen, und dieses wahrhafte Zauhcrbild betrachtet. Tausende mir unbekannter Men. sehen wogten auf und nieder; die Nacht war heiter und warm~ ein tiefes unaussprech­liches Gefühl, wie es kein Gesang aus einer Brust heraus:mtönen vermöchte, regte sich in meiner Seele. Alles, was Natur und Kunst Schönes und Erhabenes, Alles. was die W dt, die Schicksale ihrer Völker und Menschen Grofses, was die Ahnung des Ewigen in ihr und jenseits derselben nur Feyerliches und Rührendes haben kann: alles das zog wie in zusammen hallenden Klängen durch mein Gemüth, das keine Sprache, keinen Ausdruck für diesen Ein­klang finden konnte.

Den Boulevard herauf, ging ich endlich zur grofsen Brücke, die heym Pallaste des Senats über die Newa führt. Dort ist der

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Platz der berühmten Statue Peters des Gros_ sen. Um das eiserne Gitter, und zu dl;n Füfsen des :Felsens,' auf welchem das eherne Riesenbild sich erhebt, waren brennende Lampen gestellt, aus welchen hervor die Statue auf dem Fdsen in die Nacht hindn ragte. In solchem Sinne, umringt von dem Glanze, d~n sein irdischu Walten einst hervorrit:f, lebt Pett:rs Geist selbst noch hier unter diesen Wundern, die er auf Felsen gründete, ewig fort, und mir war, als stände dit:sel' Ahnherr der russi­lichen Monarchen und ihrt:r Gräfse hier in verklärter Gestalt vor meinen Blicken, und

als atlunete sein Bild. Der wt:chsdnrlt: Schein der Flammen flatterte über das Gesicht hin, und gab diesem den Ausdruck des regen Lebens; die ausgestreckte, sein Volk, das hier von allen Stiten vorüberzog , segnende Hand, war am hellstt;n bdt:uchtet, weil sie, frey sich erhebend, den Schein der Flammen zu den Füfsen des Felsens von allen Seiten empfangen konnte. -

Es war t:in sinniges Spiel des Zufalls, und schien mir sagen zu wollen:

"Der Glanz, die Pracht deiner Nach­welt, sie flammte nur unter deiner segne:n-

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den Hand empor, und spiegelt sich noch in d~in~m Bildt:. "

Erst g(;gen I Uhr Nachts kam meine Fa. milie, wdr.he im Wagen das Sch;mspiel dit:sl:r ~inzigen Illumination sl:hen müssen, zurück. Ich hatte es freylich blsser zu Fufse gehabt; doch· für Damt:!1 sind sol­che Nachtpromenaden nicht ganz rathsam, da hit:r das Parterre der Zuschauer die­selbe Freyh~it genidst, wdcht: in den Schau~ spielhäusern erst das Paradies sich zueignet.

V orgestern war Parade der hier zurück­gebliebenen Feldinfant~ri~ -Regimenter und der Res~rven der Garden. Da ich die Pa. rade jedesm,il aus den Fenstern m~inelf

Logis ganz übersehen kann, so freue ich mich recht darauf, dieses schöne Schauspiel

oft erblicken zu kiinnen, da gewöhnlich alle Sonntage grofse Parade zu seyn pfkgt, auch die Fufsgarden schon zu Wasser in Kronstadt angelangt sind, und wohl bald hier einmarschiren werden.

Das Namensfest der Kaiserin }.Iutter wircl am 22slen July in Peterhoff gewöhnlich mit einer Maskerade und Illumination gefey­ert, welche das Schönste und Prächtigste seyn soll, was man in dieser R~sidenz und

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deren Umgebung nur fmden kann. Mir ist es unglaublich, dafs; wie man mir doch all. gemein versichert, die Illumination in Peter­hoff die der Residenz weit übertreffe. Ist aber das wircklich der Fall, dann weifs ich nicht, was ich dir werde sagen können, da schon, was ich hier erblickte, kein Aus­druck erreicht. Sage, wie arm ist doch die Sprache, nicht einmal das Gefühl und den Gedanken vermag sie ganz aufzufassen! doch wenn das Auge sah, das Ohr hörte, wo vermag sie da zu melden, wie dadurch das I-lt;rz so innig bewegt ward.

Nach eillf::r altrussischen Sitte hat der Addsmarschall des Petersburgschen Gou. vernements, von den Vornehmsten des Adels begleitet, dem Kaiser Brod und Salz, in goldenen, mit allegorischen Bildern sehr reich verzierten Gefäfst:n, überreicht; die . ßeschreibung derselben fiudc ich in eint:Dl öffentlichw Blatte, und schreibe sie dir wört­lich ab, ohne mir irgend eine weitere Be­merkung hit:rübtr zu (;rlauben.

I) Zur Bezeichnung der dem Aller­durchlauchtigsten Gesalbten zur Beendigung des blutigen Krieges eingegebenen heiligen göttlichen W eishc.:it, ist in der Mitte der

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Schüssel, in Gestalt eines mit Sternen be, säHen Drey<:ks, der Namt:l1szug Sr. Kai. sc:rlich(;n Majestät mit Lorbeeren gekrönt, auf dem Wagt:balken (;iner Wage ruhend, dargestellt, deren Zunge die Ziffer I bedeu­tet, umgeben auf lichten ,Wolken von Ge· nien I welche das hdlige Krt:uz, Lorbt:eren, Palmen, Oelzwf::ige und Blumen halten, die Sinnbilder des fest bewahrenden christ­

lichen Glaubens, und von den triumphiren­den Tugt;nden ,. Milde und Gnade, die sich in ihrer ganzen Erhabenheit bey Erfechtung der namhaften Siege gezeigt, und Europa den erwünschten Frieden geschenkt haben, df::ssen Folgen Glück, Wohlfahrt und all­gemeine Frf;llde ist, die sich in Sonnen­strJhkn von dem Allerhöchsten N ameus_

zuge nach allen Gegtnden rler Welt hin verbreiten. - Auf der 'Vage bt;nnden sich auf der einen Seite dit: Kronen und Scepter der europäischen Mächte, und auf der ari. dern das russische Gest;tzbuch, bedt;ckt von dem Adler des Rt;ichs nebst dem Sceptet in einer Hand, deren drey empor gehobene Finger die Untadelhaftigkeit, Unerschütter­lichkeit und Gerechtigkeit, und die zwey Zusammen gebogenen die Sanftmuth und

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Menschenliebe bedeuten, welche der ent. gegtn gesetzten St:ite das Gleichgewic,:ht haI. ten und den Fürsten Europens ihre vorige Würde wiedt:r zurück gehen.

2) Auf dem Rande der Schüssel sind auf Emaille abgtobildet, die Wappen der Kreise des Gouvt:rnements St. Petersburg, welrht:s durch die glückliche Rückkunft Sr. Kaiserlichen Majestät friedliche Tage und hohes Glück erlangt hat, und um dies zu bezt:ichnen, sind sie mit Lorbeeren, Pal. men, Ot:lzweigen und Blumt:n umgt:ben. Zwischen clt:n Wapen sind die Trophäen der Kriegsrüstungen der Garclt:infanterie, Kaval. lt;rie, Artilkrie ulld der Landwehr, die an <len Siegen Tht:il gt:Ilommt:n, desgleichen Altäre angebracht, die mit Schildereyen vuziert sind, die den vier Jahreszeiten ent­sprechen, als mit Kornährt:n, Früchten, Hausvieh u. s. w., deren Ueberflufs dem Vaterlande zum Opfer geweihet worden. Auf dt;n Altären selbst sind in Basrdiefs dargesttllt, auf dem ersten der Flt:ifs in Ge­stalt der Ceres; auf dt:m zwcyten dt:r Feuer· eift:r, in Gestalt eines Kriegers der gewe. sentn Landwehr; auf dem dritten, der Eifer der Söhne dt:s' Vaterlandes, die ihren U e.

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'berflufs d:lrbringen; und auf dem vierten, die Opferung Abrahams. - Die brennen. den Herzen und dt:r Storch, der sich seine Federn ausrupft, bedtuttn den Eiftr und die' kindliche Liebe zum Vattorlande; die Helme, Schilde und dito übrigen Rüstungen aber den Dienst treUtr Unttrthalien. -Alles dieses ist am Rande der Schüssd von 16 Lorbetrzwdgen um!:(;b<.n, die durch Rost:tten mit einanc:l<:r vereilJigt sind. Der Durchmesser der Schüsst:l hält 1.3 W (;Tschok.

3) Das S::llzfafs hat die Gtstalt einer an­tiken Sehaale, umgt:ben mit Basrt:lit:fs, wel. ehe auf der eint:n Seite den Triumphzug Sr. Majestät, des Kaisers, in Paris, nebst dem Gefolge und den Truppt:n, und auf der andern St:ite das Lagt:r der veruündt.ten Truppen aufdtn Anhbhc:n von Montmar­tre bey Paris darstellen; die Basrdilfs sind durch die zwey mit Loruter(;n gtkrönten Gestirne des März - und des 1\1a ymonats, be· rühmt durch die ß(;sitznahme von Paris und die Abschlidsung des FriedLns, von einander getrennt; im t;r~tt.n sitht man den Wic:lder, und im ZWLyttn Kastor und Pol­lux. Die Schaale hält t:in doppdtcr Adlel: n 't den kaiserlichen Kront:n, in dem dnrn

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Schnabel Fama's Trompete mit einem Oel­zweige, und in dem andern den Lorhter. kranz des Siegers, ebenfaIIs mit t:inem Ocl­zweige, desglt:ichen in du eint:n Klaue den Donner, das Sinnbild der Gewalt, und in dt:r andern das Füllhorn, das Zt:ichen der durch den erwünschtt:n FriE:de:n erlangten Wohlfahrt, haltend. Alle die Schildereyen, nebst der Schüssel und dem Salzfasse , sind von Gold von der 848ten Probe verfertigt, mit der Inschrift auf der Schüssel und dem Salzfasse : "Von dem Adel de:s Gouverne_ ments St. Petersburg. Im Jahr 1814."

Auf eine sehr edle und würdige \Veise feyern vide Grofse und Vornehme, die Rückkehr des Kail;t~rs durch Stiftungen für Arme und vorzüglich für Invaliden, durch Freylas8ung von Bauern, oder Erlassung ihrer Schuldt:n und Abgaben. Die Ge-5cht:nke, welche der Graf Romanzow mit allen seinen Pensionen, und allen ihm und seiner Familie von auswärtigen Ho~n ge. schenktt:n ßrillantt:n, zum Besten der Inva­liden dargebracht, sollen Hundert Tausende von Rubeln betragen; andere von 20 bis 30,000 Rubeln, zu gleich edlt:n Zwecken, sind nicht selten.

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Den Beynamen des Ge segneten, welchen der Reichsrath, der Synod und der versammelte Senat für den Kaiser Alexander dekretirt haben, hat dieser nicht angenommen. Die hiuüber verhandt.lten Aktenstücke sind so würdig, so schön, so er­haben in Gedanken und Gefühl, dafs ich sie dir hier in Abschrift und Uebusetzung

beyltge.

"Der heiligste dirigirende Synod, der Reichsrath und der dirigirtnde Senat, welche den ~nsterhlichen Ruhm, den sich die russische N:ftion erworben, der uner­schütterlichf:n Festigkeit und der Seelen­gröfse Sr. Kaiserlichen Majestät, welche dur<:h ihre Stimme und ihr ßeyspiel aUe

.stände bekbt<:n, zuzuse hrdbtn haht:n, und

bewogen, nicht von sklavischtm Bestrehen, sondern von herzlichtn Gdühkn, die alle wahre Söhne des Vaterlandes entflammen, beschlossen einstimmig: I) Sr. Majestät, dem Kaist:r, im Namen des triumphirenden Rufslands allerunterthänigst Glück zu wün' sclH::n und aurs Lebhafteste 1.11 dallhn, für' alles das Grofse, was Sie zur Vermehrung des Ruhms und der Wohlfahrt Ihrt:s Reichs Vollführt haben. 2) Seinem gt:lu.:iligten

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Namen den Titel des Gesegneten heyzule. gen, der um so mehr der Bescheidulheit und frommen Dt:muth Sr. Majestät, des Kai. sers, angemesst;n ist, da St;ine grofsen Tha­tt;n augenscht;inlich mit dt;m Schutz der gött~ lichen Vorsicht bezeichnet gewesen sind.> 3) Um den gegenwärtigen Ruhm Rufslands und di<; innig<; Dankbarkeit gegen den Ur~ heber dessdben für die späteste Nachkom·' menschaft aufzubewahren, eine -MedaiIte' zn prägen, und in der Residenzstadt ein Denk­mal zu errichten, mit der Inschrift: "Alexan­der d<;m GesegnC;ten, dem Kaist:r von ganz

Rufsland , nem grofsmüthigt;n Wiederher. stdler der Reiche, von dem dankbart:n Rufs. lalld." Und um das Vorhahen auszuführen, allen Korporationen und Ständen im Reiche ohne Ausnahme insgesammt den Weg zur frc::ywilligcn Darbringung von ihrem Eigen­thume, nach Mafsgabe des Eifers und des V c::rmögens eines Jeden, zu öffnen."

- ·Um zu allen diesem die Allerhöchste Ge"­nehmigung Sr. Majestät auszuwirken, wurden als Dc::putirte abgefertigt, die Herren Mitglie-. der des R<;ichsraths, der wirkliche Gehti­merath von der rsten Klasse. Senateur und Ritter Fürst Alexander ßoriszowitsch Kura- .

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kin, der General von der :Kavallerie und Ritter Alexander Petrowitsch Tor'maslow, und der Hofmeister, Senateur und Ritter, Graf Alexander Nikolajewitsch Solty kow, denen übertragen ward, zu den Füfsen Sr. Kaist:rlichen ·Majestät die durch die Unter.' schrift der' siHnmtlichen, in der ausseror. dentlichen Versammlung zugegen gewc;se. nen, Mitglieder bestätigte allerunterthänigste Bittschrift, folgenden Inhalts, niederzulegen:

Allerdurchlauchtigster , Grofs. mächtigster, I

G ro fs e r Herr und K ais er, SeI bst. herrscher von ganz Rufsland!

"Nachdem dem Allerhöchsten Gott, der seine Gnade übtr Dich so wunderbar geor. fenbaret hat, Lob, Ehre, Ruhm und Dank dargebracht worden, wenckt sich das üher Dich entzückte, durch Deinen Ruhm über alle Reiche erhabene, durch Dich glückliche Rufsland heute zu Dir, Gesalbtt:r des Herrn! und bringt durch Deinen heiligsteR Synod, Reichsrath und Senat, welche shill'rnt~ lieh die Knie vor Dir bt:ugen, Dir das a11': gemeine Opfer Deiner treuen Untt:rthaneni das Opfer der durch Deine grofsen, in 'dt:u

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Jahrbüchern der "''"eIt kein Beyspiel 113ben. den, Thaten entzückten Ht:rzen dar. - Hore, Allergnädigster Herr! den Ruf Deinu Kin. d(;r, und empfange gnädig den aus der Tide ihres Herzens emporgesandt:n Dank. Aber wie danken wir Dir würdig für die uner­,schütter1iche Festigkeit, mit wt:lc her Du Dich auf die Liebe und die Ergebenht:it Deiner Unterthanen verlassen und, sie da. durch erhebend, nicht anstandest, den Frie. den mit dem tückischen Feindt: zu verwt!r_ fen, der durch das gt.lungene Eindringen in unsere Gränzen stolz gewordt:n war? _

Womit danktn wir Dir, der Du die Sicher­

hdt umers Vaterlandes durch die Wieder­herstellung der Selbstständigkeit der an das­selbe angränzenden Staaten befestigt hast? -Welches Lob kann hinreichend seyn für Dich, der Du uns 311 dem vtrwegellell Feinde nicht nur durch Deinen siegreichen Einzug in seine Hauptstadt, sondern auch durch die vollkommene Stürzung dieses .chrecklichen Unterdrückers von Europa, der die Throne erschütterte und seinem eie serne~ Scepter alle Vblhr und Staaten zu unterwerfen wähnte. gerochen hast P - In. dem wir Dich hochpreisen als Sieger, seg-

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nen wir auch- Deine Gnade, die, '\ror dem Angesicht der ganzen Welt, durch grofs­I,Düthtige Verzeihung der U eberwundenen und durch ihre Btfreyung von dem Joche des Tyrannen bezeichnet wordtn ist. Wer von den Erdenkönigen kommt Dir, Grafser, gleich ? Wer von ihnen, der die Waffen erhob zur Vt:rtheidigung des Vatt:rlandes, hat sie von t:inem Eude Europens bis zum jlndt:rn getragen, nicht um persönlichen Ruhm zu erwt:rben, sondtrn um fremde, von dem Joche unerschütterlicher Herrsch­sucht schutzlos niedt.rgedrückte V blker zu retten, und um ihnen ihre rechtmäfsigen Fürsten wieder zu gebtn? Wer hat es ver­mocht, durch seine Weisheit Und durei. sanfte U eb~rzeugung, während der gröfsten Starke, die ft:indlichen Nationen sich zu Sf:incn Bundesgenossen. zu machen, indem f;r dadurch ihr eigenes Wohl schun> - Dein~

Thatel1, Herr! wt:rdenmit Oeinel1\ Namen, Alexandt:r. des Grofsen, dea grofsmüthigen Beschützers' Europens, des Wit:d$"her~teJ.. lers der rechtma[sigE;.l1, Regierungen, vel­ewigt werden. ScbQn legt Dir die .gan:r:e Welt, staunend überdeil1e Gro[se und der &timme der unparte;i~hell NaclllvlCllt.zu.

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vorkommen(), alle diese Titel 'bey. - Du aber, würdiger AusHwählter des Allerhöch. sten, der' Du alle Deine grofsen Thatt:n ein~ zig seiner aJlgütigen Versehung zuschreibst, findtst 'hin Wohlgefalltn am Lübesopfer und versthlitfsest unsern Mt'ind durch Dt;ine Demuth. - Dir gehorsamend, Ht;rr! kranken wir Deine Bescheidenheit nicht mit ·I .. obesjubel, aber es wollen die allgemeinen ,Se~nutlgen Ddner .und der fremden Völker, und der Segen Göttes; der stets mit Dir ist, 1:llld sich i~ allen Deinen Beginnen offenba. ret, die Kühnheit Deiner Dir ergebene~ Kinder rechtrertigen, die Dir den von Allen einstimmig bestätigten Titel; welcher der 'Güte Deines Herzens, unsern Gefühlen gegen Dich entspricht. und ohne dessen Er. werbung keine wahre Gröfse Statt findet, den Tiid: der Gesegnete, darbr'ingen - Ei. frigst flelien wir Dich an, verwirf nicht dies Opfer, das Dir von Deinen Söhnen darge­bracht, wlm. - Damit aber die Gefühle unsrer ,Dankbarkeit, . ·die wir Dir hierdurch zu .erkennt"n geben ,nicht stumm seyn 'Vor der Nachwett, so wünschten wir, sie durch ein sichthares Zeichen, obgleic~ Deiner, unsterblicher .Monanh, nicht würdig genug~

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zu bezeichnen, und deswegen flehen wir Dich, Gesegneter, an, Du wollest lins nicht untersagen, in Deiner Residenzstadt für das kommende Zeitalter ~in Denkmal zu errich­ten, das Deine grofsen Thaten verkündige: es setze nicht etwa dem Ruhme Deines un­vergefslichen Namens: irgend etwas' hinzu~ :tber es rechtfertige uns vor unsern N ach~ kommen. Ja, mögen sie uns nicht einst

Gefühllosigkeit vorwerfen gegen die durcb Dich über uns ausgegossenen Wohlthaten, und möge den Söhnen unsrer Söhne dies Denkmal bis auf die spätesten· Zeiten ein Beweis unserer I.iebe· u~d unsrer gränzell4 losen Ergebenheit gegen Dich seyn."

Se. Kaiserliche Majutät habt:n die aUe~ unterthänigste Bittschrift der drey Reichs­

korporationen allergnädigst anzunehmen, und auf dieselbe mit einem Allerhöchsten Ukas, folgenden Inhalts, zu antworten ge­ruhet:

Ukas an den heiligsten dirigiren­den Synod, den Reichsrath und den d i ri g ire n den Sen a t. "Bey der Mir vom heiligsten Synod, vom

Reichsrath und vom dirigirenden Senat zu­gesandten Bittschrift wegen eine_ mir in der

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Residenzstadt zu errichtenden Denkmals und wegen Annahme des Zunamens: der Geseg. nete, konnte Ich im InnHsten meiner Seele nichts als die gröfste Zufritdenheit empfin. den, indem Ich von' der einen Seite wirk. lieh den göttlichen Segen, der sich über Uns so vollkommen offenbart hat, und von der andern die Gefühle der russischen Reichs. korporationen erblicke, die Mir den für Mich aUerschmeichelhaftesten Namen dar. bringen: denn alle Bemühungen und Ge. danken Meiner Seele sind nur dahin gerich. tet, durch heifse Gebete Gottes Segen auf Mich und das Mir anvertraute Volk herab zu erflehen, und von Meinen getreuen, Mir geliebten Unterthanen, wie überhaupt von dem ganzen menschlichen Geschlechte, gesegnet zu werden. Dies ist das höchste Ziel Meiner Wünsche und Meiner Glück. seligkeit! Doch bey allem Meinem Bestre. ben, dahin zu gelangen, erlaube Ich Mir, als Mensch, nicht den kühnen Gedanken, dafs Ich jenes Ziel schon erreicht hätte, und diesen Zunamen dreist annehmen und füh. ren könnte. Ich halte dies um so mehr mit Meinen Grundsätzen und Meiner Denkungsart nicht übereinstimmend, da

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Ich, Meine getreuen Unterthanen stets und bt:y jeder- Gdt:genheit zu den Gf::fühlen­der Bt:scht:idf::nht:it und der Demuth deS' Gdstes lt:nkt:nd, Selbst zuerst ein diesem: witdt:rsprech<:ndes Beyspiel geben würde. Indt:m Ich dit:st:m zufolge df::n Rei<"hskor.: po rationen M<.ine vollkommene Erkt;nnt.­lidlkf::it zu f::rkt'nnf::n gt;be, hitte Ich sie, ihr Vorhabf:n nicht in Ausführung zu hring<.n.

M ogt: sidl f::in Dtnkmal für Mich in euren Gdlihlt:n erheben, wie es in dt:n Mt:inigen gegtn euch dastt:ht! Möge Mich rndn Volk in seinem Herzen segnen, wie Ich es st:gne in dt:m Meinigen! Möge RufsJand glücklich seyn, und möge über Mich und über Rufs. " land dt:r Segen Gottes walten!"

Der heiligste dirigirende Synod, der Reichsrath und der dirigirt:nde St;nat, welche mit Ehrfurcht sich dem Allerhcchsten Wil· len Sr. Kaiserlichtn Majt:stät unterwerfen, haben beschlossen: I) diesen Allerhöch~

sten Ukas, als ein neues Unterpfand des Wohlwollens Sr. Majestät gegen Ihr Volk, 80 auch die alleruntt:rthänigste, von diesen drey Korporationen im Namen des trium· phirenden und dankbaren Rufslands über. reichte Bittschrift, nebst allen gehabtep Ab·

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sichten der ausserordentlichcn Versammlung, zur allgemeinen K~nntnifs zu bringc.n; 2) den Original ukas , zusammt mit den Verhand. lungen der ausserordentlichen Versammlung und der Moskowischen Senatsdepartements bey eben dieser Gelegenheit, zum Anden· ken für, die Nachwelt, in einer besondern Kap~el bey der Generalversammlung des c:lirigirenden Senats aufzubewahren.

D~ese Verhandlungen gehen nicht Rufs· land allein an; wo Segen über Alexander gerufen wird, da mufs jedes fühlende Herz von der "V<::ichsel bis zum Rhein und weit üb<::r Rhaetiws hohe Alpen hinaus mit ein­stimmen, und ich bin überzeugt, dafs es keinen redlichen Deutschen giebt, den die 60 kräftig, so rührend, mit dem kindlichen Du, und doch so ehrerbietig ausgespro. chene Bitte der Reichskorporationtn Hufs­lands· n.icht innig bewegen wird, und der nicht in Gedank~n Wünsche seiner 5et;le der Bitte des russischen Volks anschlidst. Die Antwort des Kaisers dagegen, in we]. eher sich ein so von Gottesfurcht, Demuth und Bescheidenheit erfülltes Gemüth, eine solche reine Gröfse, hey dem gefühlvollsten menschenliebenden Herzen ausspricht, habe

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ich ohne· Thräncn nicht lesen können, und lauter noch soll mein Hurrah mit ertöneno wenn ich den Monarchen von s<:inem Volke lIlit diesem Freudenruf wieder empfangen höre, obgleich ich, im Innern meiner Seele; und selbst hier in mtinem Briefe an dich; diesem Allerhöchstf:n Ukas den Gf:horsam "ersagt habe. Nie wird IDf:in Herz aufhö" ren, Alexandern den Beynamen des Gestgne.

ten zu gtben, was auch in den mehresten Privatgesellschaften in Petersburg laut ge~

schieht, wo Jeder sich freut, den schönen :ßeynamen aua~usprechen. Welch ein Kon· trast mit der erzwungenen Huldigung eines Tyrannen, wo, von Polizey weg~n·, jeder Zuruf geboten wird; hier das GegcliltheiJ., hier wird der Monarch, seinem eigenen Wil­len t.mgegen, gcfeyert I und selbst sein Be. fehl. kann es Dicht hindern, dafs I gleichsam verstohlen, die Namen des Grofsen, des Gebenedeyhten, des Gesegneten ihm mit einer Begdsterung beygelegt worden, die Inan selbst gesehen haben mufs, um sie ganz und voll zu würdigen.

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Petersburg. den !l4sten July.

Ich habe das zauberische Fest des 225ten July in dem Kaiserlichen J,ustschlosse Pe· terhoff gesehen. Mt:ine· Freunde hatten Recht, dafs die Illumillation in PeterhofF die der Rtsidenz weit übertreffe; doch ich hatte es auch, als ich dir schrit:b. dafs kein Ausdruck, auch nur in den flüchtigsten Um· rissen. das Erblickte würde darstt:llen kon·

I' • • nen. W t:nn ich dessen ungeachtet (hr eme Art ßeschrdbung mittheile, so geschit:ht es nur mit der Bedingung, dafs du dt:ine Phan. tasie, mit völlig ungezügt.ltt:r Gewalt, sc::lbst

übt:r die Gränzc.n tintr Möglichkt:it, wie sie alle deine Erfahrung nur hnnt, hin. ausschwtben, und dort Bildt:r eim:r Feen· wdt beschauen lässest; vielleicht hast du dann in deiner Idee etwas dem ähnlich r w'a!t hier mein wahrts volles Rewufstseyn wirk. lich in sich aufnahm.

Ich hahe hier die Btkanntschaft einer sehr liebenswürdigt:n Familie gemachl, in deren .chöntm Kreise ich schon einige frohe Tage verlt:bte. Es ist der Kaufmann K ... e, in dem ich einen durch Welt- und Menschen. kenntnifs, durch Reisen und Geschmack ge. bildeten, sehr interessanten Mann kennen

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lernte. Seine liebenswürdige Gattin (sie ist c:ine Deutsche, aus Hamburg gehürtig) bE:sitzt nicht nur alle Kenntnisse und Talente, die €!in edles Weib schmücken können, sondern auch ein inniges zartt:s, für Kunst und Natur und für alles Gute warmes Gemtith. Mit dieser Familie nun, die ihrt:n Sommerauf­enthalt in dem 12 W t:rst von dt:r Residtnz gt:legenen Landgute Ligowa, auf dt;r Strafse

nach Strt:lna, gewählt hatte, war die gemein.

schaftliche Fahrt nach Pt:terhoff vt:rabredet worden, welche gegt:n Abend statt fand, so dafs, als wir in Peterhoff anlangten; die Sonne schon untergegangen war, und in dem hell erltmchteten grofst:n Schlosse schon die Tanzmusik begonnen hatte. Mehr als 14000 Maskeradenbillets sollen bey dit:sem

Feste ausgetheilt wordt:n seYll; die weit gröfsere Anzahl, seIhst der vornehmern Be­wohner PetersLurgs, nimmt keine Billette, welche zu erhaltt:n keine Schwierigkeit hat, sondern bringt den Abend und die Nacht im Garten st:lbst zu, von wt:lchem das Schlofs rund umgeben ist. Man schätzte die Anzahl der anwesenden Personen auS allen Ständen über 50000, wdche nicht nur aus dt:r Residenz, 60ndern auch auS den

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benachbarten kleinen Städten, . und Vom Lande her sich versammelt hatten; so darg schon eine halbe l\1tile vor dem F'lecktn, der, wie das Schlofs, P(:!t:rhoff heifst, alle Plätze in Wald und Wiesen einem Bivouac glicht:n, so zahlreich sah man allenthalben pferde und Wagen hingestellt, und die Wächtt:r an lodernde::D Nachtfeuern sich wäl,"men. Ein Zimmer in einem schlechten :Bauerhause kostet hier bey solchen Fes­ten für eine Nacht 400, und oft ein Miethwagen in Petershurg hundt:rt und mehr Rubel, blofs um die Fahrt bis Peterhoff llin und zurück zu machen. Ich ging mit meiner Gtsdlschaft in den Schlofshof und von da in den grofsen und weiten Garten hinein, wo ich mich allenthalben von einer summenden Menge auf und nieder wandeln. der Menschen umringt fand. Immer tiefer brach die Nacht herein, und nur die auf. strömenden Strahlen der grofsen herrlichen Fontainen haschten im schndl vorüberrau­lichenden Moment die Funken auf, welche aus dem hell erlt:uchteten Schlosse her echimmerten. Die grofsen herrlichen Bäume, die bald in geraden Allt;en zum nahen See. gestade oder zu einzelnen Partien des Gar.

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tens führen, dann aber wieder sich zu einem lieblichen WahJe gruppiren , und in diesen Schatten die viden, zwar ohne I,arven, doch in Dominos von aUen Farben gt:hüU; ten Wanderer, gaben dem Ganzen einen' schauerlichen Effekt, welchen die leichten,

(

am Strande anspühlenden \VeUen mit ihreh sanften Klagelallten vermehrten, indtfs von dem Schlosse her, unter dem Brausen der Kaskaden und Fontaintn, f:;inzelne Akkorde

der Tanzmusik vorüberflogen. Wir gingen die Terrassen zum Schlofs wieder hinauf, das sich auf emer' Höhe von ungdähr 80 Fufs, über dem' Thai, in dem der gttöfste Theil des Gartens sich bis zum Meere hiIi~' zieht, erht:bt. Noch trocknes Fufses betra' ten wir das Bette der grofsen Kaskade, die. erst, wenn die Illumination angezündet wor. den, 'geöffnet werden konnte, WEil der Was~ serstrom übt:r hell (;rleuchtete Hallen nieder­strömt. Hit:r ruhten wir an einem Gelän­der, ' wo wir noch t:in freyeri Plätzchen fan;. den, um von dem Drücken der fortzit:hen­den Menge ein' 'wenig auszuruhen. Wir hatten nicht lange verweilt, als bey denl Schlosse urey Raketten in die Höhe stiegen, welche das Signal gaben, dafs nun die nlu~

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mination angezündet werden sollte. Acht. hundert Menschen sollen zu dit::sem Ge­schäfte für den Tag bestimmt und geübt war· den seyn. In höchstens fünf Minuten war Alles um uns her verändert; statt der dun.­klen Nacht, hatte sich du Flammenmeer übt:r den ganzen Garten ausgegossen, und das Auge wufste nicht, wo~in es zuerst die erstaunten Blicke wenden soHte. Lafs es mich versuchen, das, was von dem Schlosse aus, an dessc::n Mittelthore wir uns n<lhe befanden als diese Zauber begannen, nun im Moment vor unstrn Blicken erstand, wenigstens in dem Totaltindruck dir zu zeichnen, elen es auf mich machte; dt:nn, wie , schon gt:sagt, eine Beschreibung des Ange. schauten ist eben so unmöglich, als eine Zeichnung mit Flammen.

Stumm und ktines Gespräches fähig, im Ansch<luen du Wunder, die sich aus den Schatten mit leuchtender Gluth empor ran­gen, standen wir und sahen auf die nun plötz­lich völlig sichtbare M enge herab, welche, wohin wir das Auge wandttJJ, in dicht ge· drängten Gruppen alle Terrassen, Trtppen,

\ Alleen und freyt:n Plätze füllte. Dieses plötzliche Enthüllen eine~ dunklen Welf,

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und diese ;ihre Verklärung in Glanz und Licht, hatte ein übt:rirdisch~s hohes und doch schauerlich~s Gefühl in mir geweckt, als wäre ich gestorben, und allt: die dunklen Gt:stalten vor wenig Minuten um mich her hätten mich in d~r bangen Todesstunde wie Schatten umgauktlt, nun aber wäre der Glanz des neuen Lebens aufgt:gangtn, und mein erstaunter Hlick grüfste das EI ysium. Auch meine Gelit;btt:n wann um mich, auch

si<; war!;:n der finstern Erde nicht gebli~ben. Hdtig drückte ich meinen Alb~rt an die Brust, und es rührte mich tief, dafs ich seine Händchen gt:faltet, sein Gesichl bleich, und das Auge starr und wie erschreckt auf die nie geahnten Flammenbild(;r gewandt fand, die sich riesenhaft von allen Seiten

erhoben. Nun stürmte die plotzlich geöfF­nete Kaskade vor uns hin. Aus aUtn gros­sen und klt:inen vergoldeten, ehernen und marmorn~n Hil(lern, aus den Wand~1l und Pf~ilern stürzte Wasser hervor, verb:md !lich in einem weiten Becken, und fiel nun über vierfar.h flammende Hallen zu einern tideren Bassin nit:der, in dessen Mitte die Statue eines Herkul~s oder Simsons steht,

den Rachen eines Löwens aufreifst:nd, aus

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welchem eine breite 30 Fufs holle Fontaine in die Höhe brauste, während rund umher kleinere Springhrunnen in glockenförmigen Abtheilungen herabströmten, ohne dafs je. doch das Wasser die hellen I,ampen berühr. te, welche in der Höhlung dit:ser Abthdlun. gen aufgestellt word(;n, so aber, im unbesrdf. lichen Verein, die kühle Fluth eine sichere Decke der heifsen Flamme ward, ihren Schimmer, ohne sie zu beschädigen, in sicb. trank, und rund umher wiederstrahlte. l\hh. rere Bassins, in deT(~n Mitte (;blnfalls huhe Fontaint:n ihre Ströme emporschleuderten,

waren von Halbkreisen umgtben, die mit Lichtstrahlen in die Luft gezeichnet zu seyn schienen, und das dunkle Laub des Gar· tens zum Hintergrunde hatten. Am Ende eines Kanals, der sich in's Meer dehnte, dem Schlosse gegenüber, war ein kolossaler Namemzug der Kaisuin Mutter mitten in einem in lauter Strahlen sich ausdehnenden Kreise, und allenthalben, in jeder Allee, um jeden Platz, schlangt:n sich Guirlanden von Licht und schientn sdbst die Mt:n. schenmenge zu durchweben, welche dicht gedrängt, wohin man nur sah, sich fortbe. wegte', und auf und nieder strömte.

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Der Kaiser €rslIhien heute in rother Uniform der Kilvalleriegarde gekleidet; ihn erhlickte das Volk auf der Höhe vor dem. Schlosse - welch ein Jubel ertönte nun wie. dtr, und hallte aus den fernsten Gängen des Gartens zurück.! - Wir beschlossen, den uno tern t'"heil des Gartens zu besuchen, mit dem. Vorsatz, nicht eher zurück zu sehen, bis wir bis zum Kanal herabgestiegen wären, und nun die fallenden Kaskaden und die Fon. tainen über uns sähen. Denke dir einen flammenden Strom, der in mehreren Abstu. fungen niedersti.i-rzt. Allenthalben dazwi. schen ragen goldene Gestalten hervor, und sind zugleich in Fluth und Licht getaucht; funkelnde Wasserstrahlen brausen empor; da aber, wo die Säule der emporgeschleu­derten Wogen wieder in sich selbst zurück>' fällt, scheint jedes Stäubchen noch einmal wie ein Diamant zu erglänzen,' ehe es wie­der in die kühle Woge sich verliert, aus der es sich zum kurzen, aber glänzenden Daseyn erhob. Bild des Menschen, den die Kunst erhob und erhellte, dachte ich! - Kurz ist der Glanz, lang die Ruhe in der kalten· Tiefe. Die Pracht der Wasserstäubchen hüllt die Fluth, wie die der Menschen das Grab.

H ..

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Mich . hatte Alles, was ich h-ier er­blickte, mit .\V ehmuth erfüllt; mitten unter dem tausendfachen Jubel, von allen den unzähligen Freudenfc:uern umringt, konnte ich den Gedankl.;n nicht entfernen, wie balll schQn; in der nächsten Nacht. Alles l"J,ier so einsam und stille seyn, und nur der l\!lond, der jetzt wie erbleicht über dem Meer; auf ge­gangf:;n war, diese Stätte bescheinen würde, wo jetzt jedes Blatt, ~ie freudet;runken, in Gluth guöthet schien. In den hoh(::Il weiten Alleen des niedti"n Gartens, ·wo die 1\1en­Bchenml:nge nicht so erdrückend grofs war, vcrnalmll.:u wir aus den duukkrtll Stelkn der 'Valdparticn eiuztlne Laute, wie die dner gro[sen entfuHten Orgel; je näher wir kamen, .desto deutlicher entwickelten sich die: Töne der tremichen russischen Hornmusik , deren volle durch's Herz bebende Tone allS dem Walde hu uns nun umflossl.;u, wo wir auf einer Bank VOll unS(;rn witduholten Spazier­gängen ausruhten. Endlich gingen wir wei­ter, und sahen eilJige Partbien dts Gartens. Alle waren erleuchtet, nur d(;r tiefere Wald, reich mit .dicht(;m dunkkm Lauh bekleidet, warf hin und wieder hr~ite Schatten zwischen die hdl bestrahlten Plätze, und das schauer-

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Hehe DUl1kel gab dem freundlichen Lichte, wie dieses witder dem Dunkel, die trefflich_ I$te Haltun)4. In diesem Vertine streiten_ dEr Gegensätze, ward das Herz mit J..ust und Rührung zugleich be,wegt. Wie durch das Leben (nur auf weniger rauhen Pfaden) ~andelten wir jetzt; eS mischte sich schauer­liche Finsternifs zu freundlicher Hdle; doch nur in solcher .Mischung wird dtr gro[se Ge­dallke des Ewigtn erztugt und geboren, wo Licht und Lust, vorn Himmel stammend, die Schatten und Schmerzen der Erde bre~ ehen, so aber diese verklärt und jene dem noch schwachen sterblichen Auge gemildert werden. Allenthalben, 80: weit wir den Garten durchwandelten , tönten aus dem ''\Valde Musikchöre , von dcn Hoboisten de'r Garderegimenter treiTlich ausgeführt, hervor, und recht zur Stimmung meinu Seele pas· send, hörte ich eben die herrliche Ouvertutc von Mozart aus der Oper T~tus spielen, als wir uns nach dem Meere hinwandten, urn dort, nach meinem Gefühl, den schönsten ·Mom~nt des heutigen Tages zu fcytrn.

N eben einer langen Balustrade, welche nicht erleuchtet war, gelangten wir, lärigll dem mit unzähligen Gondeln und Böten an.

II*

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gefüllten kleinen H-afen bis an's Meer, das in der heiteren stillen Sommern acht ruhig und ernst vor unsern Augen lag, und für welches der volle Mond mit seinem milden Scheine die Erleuchtung für heute allein übernehmen müssen, wenn nicht ungefähr drey Werste vorn Ufer eine kaiserliche :Flotte in einer Linie aufgestellt und die Umrisse der Schiffe, Ma6ten und Segel mit dichten Lampenreihen erleuchtet worden. Neben uns im Hafen sangen, auf ihren Bar­ken gelehnt, einige russische Matrosen einen Nationalgesang, in weicher, lieblicher Melo­

die. In Gulaukcn ruhe jetzt, mit uns ver­eint, auf dem Geländer, das in's Meer hin­einreicht, an dessen Grundpfeilern die klei­nen leichten Wellen wie im Takte anschla­gen; blicke hinaus in das weite vorn Monde mit weifsem blassem Schein beleuchtete :Meer; siehe dort die herrliche in Flammen­linien geztichnete :Flotte, wie da ein langer Strahl herabzieht und, einer goldenen Brücke gleich, übers Meer hingeworfen zu seyn scheint; siehe einzelne Böte dieses Meer mit geregeltem Ruderschlag durchschweben, und neben dir den mit Barken, Böten und Gondeln gefüllten Hafen; blicke nun wieder

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zurück auf's grüne mit 'Vald umkränzte Ufer; schaue auf der Höhe das 11l:11 bdeucQtete Schlofs und die Wunder cltr flammenden Wasserfalle; höre sie dort aus der Ferne brausc::n und strömen, und einen tiefen fe­sten Grundton in den Nationalgesang der Russen dir zur Seite hineillhallen: denke dir dies A.lles, wenn du es vt:rmagst, be. schreiben kann ich es nicht I eben so wenig

als das titfe Gdühl, das in diesem Augen­blick meine Seele erfüllte I und wie ein Gebet mit unaussprechlichem 'Vorte alles Hohe und Schöne, was Erde und Himmel trägt, Kunlt und Natur gebar, dankbar an das grofse Herz der Ewigkeit legte, die in einem ihr enthauchten Augenblicke SChOD

50 viel der Stligktit gewähren konnte. Es entstand die Frage unter uns: ob wir in die­sem Garten den Morgen abwarten, oder jetzt zurückkehren wollten? Ich stimmte für den Ittztern Vorschlag, denn ich wollte dieses herrliche einzige Schauspiel, da" plötzlich wie im Zauberschlage vor meinell Blicken erstanden, nicht alJ rnählig dahiu sterben sehen; dp.n vollen Eindruck mufate ich in meiner Phantasie hc::wahren, und hätte daher lIicht gern nur eine einzige

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Lampe verloschen· sehen. BLen daher wollte ich auch späterhin Peterhoff nicht am Tage besuchen. Dieseihe Pracht konnte ich in den andern Kaiserlichen Lus-tschlös· sem wiederfinden; doch solche magische Beleuchtung gieht es nicht mehr auf der weiten Erde. Wir entS"chlossen uns also, 'di~se8 wunderbare Heiligthum der Natur tihd Kunst schon um 2 Uhr des Morgen!! zu verlassen:, -und gin~ennun durch den obern Garten zurück. Eir, <liter bärtiger Russe stand mit einem Trinkglase unweit einer der vielen kleineren Fontainen, welche am

Rande der Bassins stehen, in c!<:ren 1Iitte die gröfsern sich erhehen. Ich bat um das Glas, und erhielt es sogleich mit einem sehr artigen "iswolti's" - ich liers den niederfal.· lenden Strnh'l mein Glas füllen, und leerte es auf die Gesundheit der lieblichen NajaJen PHerhoffs.

Glauhe indefs nicht, dafs, während man hier im Lnstwandeln dnrch diesen J'eengar. ten dcm .höchsten sinnigen Ge:nufs g~winnt, der leibliche in Trank und Speise verge~sen werde. Ausser den unentgeldlich unter grafsen Zelten ausgetheilt werdenden Spei­len ulld Getränken, wohin sich abcr nur

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wenige Personen von Stande drängen, fin~

det, man in jeder Allee eine Menge Obst, händler lind Buffets, in denen Trank und

Speise zu haben ist. ,Dieschänsten Mdoncn, Arlmsf;n, Erdhcc;ren, Kirse.hen eben so­wohl,; als .A prikosen, Pfirsichen, Citronen:: und Apfdsint:n, siehst du allenthalben in.> :l\'Ieng~ aufgestellt, . und kannst um so leich~ ter hitr den Garten der Hesperitlen erblickt

zu haben träumtn. Sogar Cigarros werden­in den Lauhgängen feil geboten, und die sonst gegen das Rauchen so sehr eifernden. Petersburger Damen leiden es hier im. Freyen bey der ihnen weniger, mifsfälligen spanischen Sitte der kleinen Tabakslcerzchen.

In Streina schon sahen wir am östlichen Horizont, als Verkiincltr des neuen Tages, die ersten hellen Streifen am Himmel sich entfalten, und als wir in Petershurg anlang. ten, hatte schon der (;fstc Slrahl der Sonne die goldene Spitze des Admirali. tätsthurmes in :Flammen getaucht, und selbst mein Alhert machte die Bemerkung, dafs auch die Sonne die L1lurninalioll fortsetzen wolle, wt:lche wir in der verflossenem ben;· lichen \ Nacht erlebt, und deren Anblick, wie er in den zarten S(;dell meiner Kindet

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aufging, 'ith' ihrer Erinnerung wie ein schö. nes Erbtheil selbst für das späteste Alter überliefs.

Noch einmal weise ich die Bilder alle, welche ich kaum .mit allen Sinnen aufzufas­len, vielweniger nachzuzeichnen vermochte, deiner Phantasie zu; wähle dir eine recht schöne liebliche Stelle an deinem Rheine, und dort lies meinen Brief.

In der schönen Natur liegt ein allgemei. ner Sinn des Schönen und Herrlichen über. haupt, 50 dars da, wo sie ein Heiligthum sich erwählt hat, der Begriff' jedes Andem leichter aufgefafst werden kann. Schon Ovid sagt:

N ec species sua cuique manet, rerumque novatrix Ex aliJS alias reparat natura tiguras.

Wie bey einer lieblichen Melodie, die wir hören, Akkorde in uns erwachen, die 1dr nicht sinnlich vernehmen, sondern die unsere Seele, in direkter Beziehung aufs Gefühl, hineindenkt, so ist es mit allem Herrlichen der Erde: es erweckt die in dem Menschen verhüllte Schöpfungskraft, deren WeltenkrE:is die Phantasie ist, wo Werden und Seyn der schnellste Moment

vereint.

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Was ieh schon veraus sagte, da. geschieht: der J{aiser weiset seine Unterthanen nicht ab, wo diese seinem Herz€:n nahen wolle~~ Die Audienz der Depulirten dtis Adels und der grofst:n Städte des Reichs findet statt, Schon sind mehrere Gouvernements VOI;'­

gestellt worden; wann Kurland die Reihe trifft,. werde ich erst in ein paar Tageq durch den Polizeyministtr erfahren.

Lebe wohl und glücklich. In deiner schönen, neugebornen, freyen Heimath, und schon ind'em du sie so findest, hat Alles, was ich dir von Alexander und seinem Volke schreibe, ein doppelteliInteresse für Dich.

St. Petersburg, den ~9sten Ju1y 1814.

Am 27sten gab die Kaiserin Mutter Ihrem erhabenen Sohne ein Fest, das von ande­,ren, die ich jemals gesehen, darin verschie. den war, dafs sich in J' eder Anordnun" ein o schöner Sinn neben dem innigsten Gefühl aussprach; se das ich das Ganze nicht an· ders, als ein liebliches Gedicht, das Bilder zur Sprache hatte, bezeichnen kann. Doch erst ein paar Worte über unsere Reise nach Pawlowsk und die liebliche Umgebung die~ 8es Schlosses, damit du wenigstens eine

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kleine VorstelIung der Seene hast, in wel­cher dit:ses lyrische I<'l:st in's Lehen trat.

Den 26sten früh ver1ids ich Petershurg. Obgleich von Osten her hiiufige Regenwol. ken vorüberzogen und. die Heiterkeit· des Tages unterbrachen, so wollte ich doch die Fahrt nach Pawlowsk nicht versäumen,. da schon an dies(;m Tage das Fest statt finden sollte. Zu' Mittage langte ich in Zarskoi Selo an. Das Wetter schien die trübe l,aune verloren· zu haben, als schämte es sich, die­sen Tag und seine Freuden zu verderben, und so machten wir einen Sp<Jziergang durch den Park des Schlosses und besahen dieses selbst. Du hast von mir schall einige Be· merkungen über ZarsKoi Selo gt:lesen, und ich weise dich auf diese hin, um mich nicht selbst wiederholen zu müssen, und nur im Nachtrage schreibe ith Einiges von dem, was ich, geweckt durch die grofsen Bege. benht:iten der nc::usten Zeit, hier im An­schauen diestr Denkmäler des unsterblichen Daseyns der grofsen Katharina, dachte und empfand. Zarskai Sc::lo machte, wie du schon aus jener dir bl:kannten Darstellung wc::ifst, nur einen feyerlichen ernsten Eindruck auf mein Gemülh. - Es erschtint

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nicht, .sowie die Gartenkunst sich nur aus;., sprechen sollte, freundlich und heiter &'Iti

Idylle des Lehensgenusseo, sondern mehr als Epopeeder ße:Jdtnzeit Katharina's der Gro[sen,' Freylich fehlt es nicht. an den schänsten heitersten Ansichten, an den lieblithsten Parthien; doch aus' dem Ani 8·th'auen der Siegesdenkmale , des Schlosses selbst, das mir (die eige.ntlichen W ohnzim~ mer der Kaiserin Katharina ahgerechnet, welche sehr heiter sind) allenthalben von kalter' morgenländischer Pracht erschien; nahm ich dieStitnmung mh, in der ich das Ganze erblickte; und 80 'Wirst dugewifs von· vielen Andern, die hier waren:' ein ganz anderes Bild von dieserrt Orte entworfen hören, das vidleicht richtiger ist, als meinE!

Ansicht die Schönheiten desselben zeichnet. Doch du verlangst gewifs, da[s ich dir nichts Anderes gebe, als was ich selbst sah, fühlte und dachte, und kein fremdes Wahrnehnwtt oder Empfihd€:n.

Ich besuchte die Siegesdenkmäler Ro­manzows und der drey Helden aus der Fa­milie Orlow, als wollte ich dort verkünden, Was Ruf Bland jetzt glorreich für die \V~Jt {!I'rungen. Hier verglich ich die Vör.teit

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und die Gtlgenwart , und fühlte mich so SI ücklich, letztere schöner und gröfstr zu fm den. In <::iner der. vielen kaiserlichen :Barken, welche von geschickten Matrosen, die bey seI bigen angesttllt sind, regiert wer· den, umfuhren wir die Rostralsäule zur Er· innerung an den Sieg bey lVIorea. Es ist ein treIDiclles, eben 50 erhaben gedachtes als ~}lsgeführtes . Denkmal. Das Postament der ungeheuer grafsen Sä~lepat Basreliefs ;von Bronze, welche. jene Schlacht selbst darstd. len und gut gearbeitet sind.

Mit solchen Kunsnverken bezeichnete Katharina die grofSCIl Begt;benheiten ihrer Regierung; es sind die Bilder zu der von ihr. verfafsten Geschichte ihrer Zt:it, die sie, :wehr als je ein grofses Weib gethan, nach ihrem "Villen zu lenken wurste, und nicht entfliehen konnte, ohne grofse Thaten ihres Volks, an die Ewigkeit gerichtet, mit sich zu nehmen.

Das Schlofs, dessen U rhild man in d(;n Erzählungen der Kinderzeit von PalI ästen mit goldenen Dächern und Wänden zu fm· den glaubt, ist in. und auswendig mit arien· talischer Pracht geziert, und murs ungeheure Kosten verursacht haben, ohne gerade des·

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halb an wirklicher Schönheit :t!l ge\Vinnen~ Die licht vergold,eten Karyatiden Und Wandpfeiler, welche das ganze Gebäude zti tragen scheinen, und die eben so vergoldet~n Arabesken, die sich allenthalben um Thüt. und Fensterrahmen schlingen und winden; g.:fielen mir eben so wenig; überhaupt mufs die gröfste Pracht erst von der Schönheit das sinnige Bild hernehmen, wenn sie meht als Erstaunen erregen, wenn sie gefallen soll. Die Kirche im Innern des SchlosseS ist so bunt geschmückt, wie man sonst die mit vielfarbigem GOld und Email verzierten Tabatieren hatte. Die Zimmer; weIche die jetzige Kaiserin iih Sommer zu bewohnett pflegt, waren verschlossen; nur ein kleines freundliches Gärtch(;n, ausschliefslich zu· ih~ rem Aufenthalt benutzt, erblickten wir von der Arkade herab. Es war klein und ein· fach, nur mit einigen kleinen Fruchtbäumen, IJauben, Hecken lind Blumen gefüllt, wel~ ehe letztere eben in voller schöne.r Blüthe standen. Sie, eHe 'erhabene Besitzerin, wat entfernt, lebte jetzt wieder in dem Lande, Wo sie selbst, die schönste edelste Blume; aufgeblüht war, und die, schönen Nelken, Levkojen und Rosen schienen da entkeirnt

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zu seyn, wo ihr Fufs gewandelt hatte, 'der jetzt dtm herrlichen Boden der 'fernen Hl:i. math betritt. Ich kann nicht sa!4en, mit wer. eher Rührung wir in dieses kleine stille Ht.4. ligthum der erhabenen, Fürstin herabschau.; ten. Gerade von Denkmalen des Lebens Katharin3 der Grofsen umgeben, in welchen l>lutige Schlachten, die Kraft in der Erhal. tung des Staats und sliner Zwecke, gefeyert und der Nachwelt geheiligt, worden', that mir dies kleine sanfte Plätzchen, wo sich die zarteste \V t.ihlichkeit mitten unter der Pracht und Kälte jenes Daseyns angesie. delt hatte, 60 wohl, und versöhnte, nach meinem Gefühl, auf eine freundlfche Weise jene ernste Vergangenheit mit der heiteren Gegenwart, indem sie lebendige Blumen aus dieser über den todten Marmor der er­steren streute.

Lafs ein Anderer dir die Beschreibung der Zimmer machen, deren Wäude mit ßernsteintafeln, mit geschliffenem Papier. mache, mit Jaspis, Achat, Lapis Lazuli, ~farmorplatten, farbigem Lahn, Bronze und Porzelain bedeckt sind. Ich vermag di(;s nicht; ich war rasch durclt 'Sie hinget schritten, al.s ich die Arkade am südlichen

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SchlQfsflügel betrat, wo die Aussieht treff. lieh, und manche Statue in Bronze, nach Modellen des Altcrthums von russischen Künstlern ausgeführt, sehr gelungen ist, und wo ich auch die Aussicht auf das eben gemeldete 'kleine verschlossene Gärtchen der je.tzigen regierenden Kaiserin hatte. ' .!

Die schönste Ansicht, sowohl des SchlosJ.

15esals seiner Umgebung, ist auf dtr Spitze

einc:s runden Thurmes, der sich aus finstern

drohenden Ruiucn zu erheben scheint. In meiner Seele weihte ich diesen Thurm mit den, Säulen einer scheinbar eiqgestHrztt'n Kuppel dem Schicksal; dessen. Bild 'auf Erden nicht sprechender als duroll Ruinen bezeichnet wird. Hier waren sie' hf>ch und kühn zum Sc h ein e erbaut worden, doch

lIun hat sie echon die Zeit zur \Vahrheit er­grauen lassen.' So wird manches Schdnbare gewandelt, wenn es aus der Gegenwart hin­aus in die Geschirhte der Vergangenheit hinüber tritt. Schillers Chor haUte in mel' ner Seele:

"Vohl dem, selig mu rs ich ihn preisen. Der in d~r SlIlle der ländlichen Flur, Fern von dcs Lebens verworrenen Kreisen, Ybndlit'h licGt an der Brust der Natur.

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Denn da. Herz wird mir schwer ih der' FiiMeri .. Palläste.

Wenn ich.ger!lb vom Gipfel des Glü,ks Stürzen sehe die Höchsten, die Besten.

In der Schnelle des Ausenblicks.

".

Ich verliefs Zarskoi Selo mit einem G$ fühl stiller Wehmuth über die Vergänglich~ keit menschlicher irdischer Gröfse, und er­i'eichte gegen Abend Pawlowsk,' wo eine JO grofse Menge von Equipagen deri breiten Weg von allen Seiten versperrt hatte, d<lfs nur auf Nebenwegen durch den Park zu Fufseder Theil des Städtchens hinter dem Schlosse zu erreichen war. Der Kaiser, der eben seine erhabene Mutter besuchte ~ war­tete eine lange Weile ganz geduldig, bis man, um seinen Wagen durchfahren zu las­sen, Platz' geschafft hatte; der' Kutscher, dem man den Zorn und die Ungeduld übet den Aufenthalt ansah, wagte indefs nicht, ihn laut auszusprechen, nachdem er sich mehreremal umgesehen und bemerkt hatce, dafs sein erhabener Gebieter auch nicht den kleinsten Unwillen vcrrieth. Abermals ein kleiner Zug aus dem schönen Lebensbilde Alexanders! Diese Sanftmuth, diese Milde, welche die Freude oder das Geschäft seinet

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Unterthanen sogar mit keinem lauten Worte unterbricht, selbst wo sie ihm lästig werden müssen. Ein edles Daseyn wird aus solchen Zügen, wie Mosaik aus grorsen und klt:inen Edelsteinen, gebildet, in dem Zusammenfas~ sen hat der kleinste wie der gröfsere Theil seinen Beruf, das schöne Ganze zu bilden.

Wir fanden in einem elenden Wirths. !,lause, am Ende des Städtchens, ein kltines enges Zimmerehen , für welches bis zum andern Morgen 60 Ruht! Banko -Assigna­lionen bezahlt werden mufsten, und wo den. noch weder Betten, noch mehr als zwey Stühle vorhanden waren.

Der Abend ward immer trüber. und die Hoffnung, dafs die Feyer des Festes noch heute statt finden könnte, immer schwächer, bis die Nachricht erfolgte, dafs sie zum morgenden Tage. wenn günstigeres \Vetter wäre, verschoben worden.

Dars wir nicht die angenehmste Nacht in dem kleinen engen Zimmer hatten, wo wir auf Stroh und dtn im Wagen mitge­brachten Polstern schlafen mu[sten, kannlj,t du wohl denken; doch hatten wir den Vo~. theil, wenigstens mit unverdorbenem Mag~ uns niedergelegt zu haben, da trotz alles

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Bittens nur durch die gröfste Konnexion eine Portion Essen zu erhalten war, und, auf die Frage um solche, nichts, als ein .g 1 ei c h. Her r erfolgte. und wir UllS so begnü­gen mufstel1, nach vieler .Mühe nur Brod und Butter t;rrufen zu haben.

Den Vormittag des 27sten wandte ich. zu Spazit;rgängen im Park VOll Pawlowsk an, und besuchte mtinc.: :Freunde Adelung. und Storch, ein paar Männer, deren Namen der literairischc.:n WeIt zu bekannt sind,. als dafs sie dir fremd seyn sollten. Beyde wohnen hier während des Spmmers, da die

jüngstEn Grofsfürsten und die Grofsfürstin

Anna ihres Unterrichts genidst:n. In die. sem edlen gebildeten Kreise versammeln sich Männer von gediegenem wissenschaft­lichen Gehalt, und die interessanteste Uno. terhaltung über Gegenstände der Kunst und aller geistigen Kräfte des Menschen gedei­hen hier in der Nähe des Hofes der edlen Maria, wie ich es nur in Deutschland bey den Höfen W t;imar und Dessau vorzüglich zu bemerken Gelegenheit hatte.

Mit der Emsigkeit und dem }'leifs des liebenden Mutterherzens erschien die Kaiserin .Mutter mehreremal im Park, um

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die Vorbereitungen des heutigen Feste!J selbst anzuordnen, und Jeder, der sie so beschäftigt sah, hlickte noch besorgter als vorher auf die voiüberziehenden einzelnen dunkeln Wolken, die den gestrigen Regen zu wiederholen drohten, damit einer so 1-c he n Mutter die Freude die ses Festes nicht verdorben würde; und der Himmel erhörte die frommen Wünsche, der Wind

legte sich immer mehr und ein heiterer stiller Abend breitHe sich über diese schö. nen Hügel und Thäler aus, als wollte auch er lauschend jeden Ruf des Entzückens ver­nehmen, cfer hier erschallen sollte. Paw~

lowsk ist nach meinem Geschmack untet allen Lustschlössern, die Petc,rshurg umge­ben, das lieblichste und freundlichste. Hier wechseln Berge und Thäler, hier schlän­gelt der Bach sich durch die grünen 'Vie. sen so natürlich; die hohen Tannen, neben einern steilen Abhange, hat sicher keine Kunst gepflanzt, und wo diese in den An­lagen schöner Tempel, oder anderer Ge­bäude und einzelner Parthien u. s. w. er· scheint, ist Alles so sinnig, so mit wahrhaft zartem Gemüthe geordnet, dafs ich ~ u r hier die Gefühle wiederfand. welche einst

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der Park zu Wärlitz 'in mir erregt hatte. Die Pracht, wtlche in Zarskoi Sdo mit goldentn Kränzen schmückt, hat hier der bessere Geschmack in lebt:ndiges Grün ver­wandelt, und nur das Ll:ben spricht zum Leben. Das Schlofs pafst in seinem edlen geschmackvollen Styl zu dem lieblichen Park, von dem e,s völlig umgeben ist. Nir: gends überladener Schmuck, Alles 60 ein­fach, und dennoch voll Würde und kaiser~ lich reich vollendet. Die Marmorstatuen, ~elche man im Garten hin und wieder, be. sonders zahlreich aber unwtit dem Schau­

spielhause filldtt, haben alle die \V tihc

der Kunst, einige sogar aus Meisterhändt:n, erhalten. , Dervon 16 korinthischen Säulen getragene Portikus, vom Architekten Camfon erbaut, schliefst sich. nahe dem Palais an, und hat eine schöne heitere Aussicht auf den Fahr­weg, die umliegende Gegend, und auf be­trächtlich grofse Teiche, auf welchen meh­rere Gondeln und Böte von allen l<'ormen, mit bunten Flaggen geschmückt, auf und nieder schweben. Hier pflegte bey gutem Wetter der Kais(;f Paul sich die Staats­papiere vortragen zu lassen, und entschie~

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über das Schicksal zeIn er Men~chen. tem menschlichen

ISr

ganzer Länder und ein. Hier, in dem mit zat:

Gdühl allenthalben aus. gestatteten Pawlowsk, btgreift es sich leich. ter, als in der Nähe des blutrnthen ernsten Michailowschcn Palais, dars das Herz des Kaisers Paul zu edlen sanften Gefühlen Ursprünglich gestimmt wa~, und dars es der Bosheit, dem Truge und schändlicher List

~iel Mühe gekostet haben mufs, ein Her:t zu erb.ittern, das dennoch dem natürlichen Zuge des \Vohlthuens und der Milde, mit welcher es gern das 'erkannte Unrecht wie­oer zu vergelten strebte, niemals entsagen konnte, und unter den Herrschertugenden besafs Paul gnvifs die gröfseste: ein Kai s e rl i G..h es \Vort Kai 5 er li eh treu

und wahr zu halten. Eine andere Parthie in der Nähe des

Schlosses liefs mich lange und <1edallkenvoll ::>

verweilen. Es ist ein kkines Wäldchen von Bäumen, welche die Kaiserin Mutter 'bey der Geburt ihrer Kinder pflanzte. An jedem Raume hängt dn Schild mit dem Namen des Prinzen odcr der Prinzessin, deren Gdmrtsjahre auch die der Driaden dieses kleinen Haynes wurden.

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Auch in diesem von mütterlicher Liebe gepflegten 'Yäldchen hat schon der Sturrn gewüthet. und zarte liebliche Stämme ge. brochen. Ein bronzene Statue auf marmor· Dem Fufsgestell, die Figur einer Verkliix:ten mit einem Sterne auf dem Haupte darstel­lend, die von dem Genius, der sie auf der Erde zurückhalten will, sich lossreifst , wei· set auf das Andenken der schönen AleKan~ dra, und hat ein anderes. Monument der eben 60 früh verklärten Helena zum trauern. den Gefährten.

Von dem Feste stlbst gebe ich dir eine Beschrtibung aus der Handschrift eines Freundes, welche für das Tagesblatt cl er russische Invalide bestinlIut, undsoge. lungen, mit so lebendigem Gefühle ge· schricbcn ist, dafs ich unmöglich etwas sagen kann, was mehr den Eindruck wiedergieht, wdchcn das ganze Fest auf alle Anwesen. den machte. Den Kommentar der eigenen 'Vahrnchmung und Gefühle schliefse ich an diese :Beschreibung, und nur so kann dir ein möglichst vollständiger Begriff werden.

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Das F'est zu Pawlowsk am 27 st en July. (Aus dem russiEchcn Invaliden 1814' No. 6.3.)

"Der 26ste July war zu diesem Feste be­stimmt. Schon den Tag- vorher bedeckten 'Tausende von Fuhrwerken aller Art und zahllose Fufsgänger den Weg hierher. Paw. lowsk, Zarskoi Selo und alle Dörfer und Wohnungen der Nachbarschaft konnten

kaum die Menge der Städter fassen, die dem Geltenen Schauspiele zuströmten, tmd auf Wiesen und in Wäldenl boten Hunderte von Zelten dem Erschöpften Labung. und dem Beobachter den unterhaltendsten An­blick dar. Alles sah mit Ungeduld und Un­ruhe dem folgenden Tage entgegen, deDa dar Himmel war beflort, und ein feuchter Wind drohete, Regen heraufzuführen. Der Sonntag brach an; aber der Morgen war trübe, und bald machten wiederholte Re­genschauer die }lange ,Bcsorgnifs zur trau­rigsten Gewifsheit. Dil Fest murste aufge­schoben werden; jedoch schon gegen Abend erlaubte ein völlig hEiterer Himmel, seine Ausführung nuf den folgenden Ta~ zu bestimmen. Ein Fest anderer Art ge­Währte unterdessen der Anblick des schönen Gartens und besonders der obere Thei! des-

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leIben, welcher'bis in die späte Nacht: ~on unzähli!';en Spaziergängern in den bunte­Iten Gruppen angefüllt war, so wie das rege Gewühl inden friedlichen Lagern, aus de­nen Jubel und Gesang in die heitere Luft ertönten."

"Montag, am 27sten, konnte endlieh das Fest statt haben, da das Wetter durchaus günstig war. Der Mittelpunkt der seltenen 'Feyer war der Pavillon des Roses, eine der neuesten und reizendsten Anlagen die­ser kleinen Feenwelt , die Alles vereinigt, was der reinste Geschmack mit dem edelsten IJuxus verschwistert hervorzubringen ver­mag. In diesem Heiligthume der Flora, dem ihre Lieblingskinder den Nam.;:n geben, prangen diese in unerschöpflicher Fülle in dt:n mannigfaltigsten N üancen. Alles hat hier irgend eine schöne Beziehung auf die Rose; Alles haucht sanfte Wollust und Entzücken dem nahenden Wanderer ent­gegen. Alle Umgebungen des kleinen Ro­sen tempels entsprechen seiner Benennung, überall Lauben, Gänge, Gebüsche, Ver­zierungen von Rosen; überall der zarteste Sinn, gepaart mit der reichsten Phantasie. An diesem Pavillon war mit magilichcr

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Schnelle ein grofserBalIsaalangebaut, der nach. der eigenen Angabe der erhabenen :Besitzerin und durch die Vereinigung der ausgeze;ichnetsten Talente mit unbeschrt:ib. lieher Schönheit verziert war. Abends um 7 Uhr kündigte das Tosen des Menschenge,. wühl, die Ankunft des Hofes an. Der an . .gelJetete Monarch an der Seile Seiner glück. lichen Mutter eröffnete den Zug, der vom Schlosse durch die jubdnde Menge die grofse Allee hinauf durch einenäusserst geschmackvollen Triumphbogen ging. Bun· tes Blumengewinde umschlang das Gebälke und die Säulen des Ehrt:nthors, des.sen .innvoUe Inschrift die Gri)fse d(;:s nahen. den Siegers aussprach. Nahe am Rosenpa. villon, w~hin ein mit Guirlandell von ßlä.t. tern und Blumen verzierter Weg führte, bildeten natürliche hohe Lorbeerbäume, unter einem Dacht: von Blumt:nketteIl, eine .zweyte Siegespforte , an welcher Kränze von. Palmen, Eichen und Oelzweigt:n uelJl

Sieger, dem Friedensbringer und dem be­glückenden Beherrscher entgegellwehten. An heyden Pforten wurden von den Hof· sängern erhebende 8iegeshymnell gesungen. ~aum hatte der Kaiser die Vorhalle d<:s

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Pavillons betreten; als auf dem Platze Vor

demselben die Darstellung dncs ländlichen Schauspiels begann, das eben so lieblich erfunden als kunstvoll ausgeführt war. In einer fruchtbaren Gegend des durch seinen Alexander dreyfach glücklichen Rufsland& erschallt die Kunde von der Rückkehr des Gesegneten, der der Welt den Frieden ge· schenkt hat. Dies ist der einfache Stoff des Schauspiels, das auf den vier, den Pa. villon umgebenden, Platzen in eben so viel Abtheilungen nach dt:n Hauptaltern der frohen IJewohnf;r jenu Gegend mit der

höchsten Kunst und unwiderstehlicher Wir­kung auf die Zuschauu dargestellt wurde. Den Anfang machte das Alter der Kind· heit. Die Scene stellte einen freyen Platz vor einem Dorfe vor; liebliche Kinder tanzten in fröhlichen Reihen; andere sau­gen ländliche Lieder; alle üherlidsen sich den Spidf:n der Unschuld und Freude, als die beglückende Nachricht ihre Scherze unterbrach; sie samrndttn nun Blumen in Körbe, errichteten von denselben einen Altar, und hatten nun kein anderes Gefilhl, als das der Liebe gegen den Wiederge­echenkten , kein anderes Gebet zur Voriie-

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bung, als das der Dankbarkeit.' Plöfzlich zog eine neue Scene die Aufmerksamkeit nach eiller andern St:ite des Pavillons, Wo

man Jünglinge und Jungfrauen in den ver. schiedenartigsten :Beschäftigungen sah. Hier verfolgte einer auf der Landkarte den Weg seinel! siegreichen Landsleute von MosJcau bis Paris; dort verfertigte ein Maler da. Bild, ein Bildhauer die 'Rüste des geliebten Monarchen; Musik, Acktrbau, nützliche

Gewerbe und Kenntnisse aller Art sah man von ihnen ausüben, um sich zum Dienste des Vaterlandes vorzubereiten, als sie die frohe Kunde vernahmen, und· n UD , aller Arbeit und Spiele vergessend,' den Jubel ihter Freude durch Gebete, Lieder und Tänze ausdrückten. Der dritte Auftritt stell. te das männliche Alter in verschiedfDcn Be. ziehungen des reiferen häuslichen lind länd· lichen Lebens dar; besonders fesselte hier den unermüdeten Blick der Ausdruck der Unruhe und bangen Erwartung in den Ge. sichtern der liebenden Frauen, die ihre Wohnungen zum festlichem Empfange der aus dem Fdde zurückkehrenden Gatteß schmückten; hier war es vorzüglich, WJ!1

5ich das entzückte Gefühl in den feurigsten

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Dankgebeten",~ den hinreifsendsten Gesän.­gen und den kunstvollllten Tänzen äusserte. Aber unwiderstehlich rifs die tiefbewegten Zuschauer die vierte Scene hin, wo die greisen Väter und die alten MütfHchen deI#' Landvolks im traulichen Gespräche sich ihre Besorgnifs über die dem Kaiser und dem Vaterlande dargebrachten Sohri~ mit~ theilten; und als JIlm ein Bote nach dt:1n andern die Rückkehr der Landwehr ver~

kündete, als schon die Musik und das Getöse der Krieger in der Feme gehört wurde und nun immer nähtr kam, als end­

lich die htrrlichen Sieger im feyerlichen Zuge über den Schauplatz zogen, und nun Väter, Mütter, Bräute, Kinder den Heimkehrenden entgegenflogen, und die Geliebten von den Pft:rden, von den Wagen, aus den Reihen heraus an da~

übervolle Herz rissen, sie besahen, ·be­fühlten, tausend Fragen thaten, und jede Antwort mit Küssen erstickten - da war kdn Auge trocken, da hörte man lallt den lange verhaltenen Ausdruck der Rüh­rung, der sich der süfsbeklommenen Brust entstahl; und als nun alle Gefühle in den innigsten Dank gegen die Vorsehung und

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in das inbrünstigllte Gebet für uen heils­ge.1iebten Monarchen zusammenschmolzen. als Samoilow's schöne männliche Stimme eine Hymne von Derschawin in Anton~ Uni's Tönen ,portrug, da mischte sich der allg.emeine Jubt:l ill das Hurrah der glück. licht:n Landleute ,und Keiner dachte mehl!! ~n Täuschung des Schauspit:ls, Jeder sah nur eine Scene der Wirklichkt:it, Jeder

fühlte tid, was er darstdlen sah, Jeder nahm

den herzlichsten Antheil an dem Ausdrucke; an dem Gebete <kr darstellellden Künstler. Diese ganze Idylle erreichte ihre höchste· 'Virlt~ung und war in ihrer Art so ganz voll..: kommelJ, als es sich von der Vereinigung so seltener Talente, unter einer solchen Ord .... nung und LeitulJg, und besonders bey einer solchtn Veranlassung erwarten liefs. Es ist hinreichend, Künstler, wie Gonzaga,. für die Dekoration; Antonolini und Cavos für die Ges;illge llndChöre; die vorzüglichsten GIie~ der des russischen Theatt:rs, nebst den Zög. lingen der Tlteaterschule, für die Darste{. lung; die Damen Sandunowa und Samoi~ lowa, die Herren Slow, Samoilow u. a.;

für den Gesang; t:inen AUgllstt:, Dutacy,' \Vahlberg für den Tanz, nur 3:U nennen,. ura

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sich die volIeI1detste Ausfilhrungdieses In seiner Art einzigen Schauspiels zu: denken."

"Nach dieser reizenden Vorstellung be­

gann der Ball in dem neuerbauten Sa:t!e, der durch Gonzaga's, ~fettenleirners, Rossi'~ und anderer Künstler Verein zum sthän. sten Tempel des Vergnügens geschaffen war~ Festliches Rosengewinde senkte sich :t'chat. tig von der Duke zu den Wänden herab, umschlang die zierlichen Säulen, und färbte in ungeheuern Lüstern das blendende Licht: von tausend und ahermal tausend Kerzen.

Denken Sie sich in diesem Zaubersaale die Kaiserliche Familie, umgeben von einer Ver­sammlung von beynahe tausend auf's pracht­'Yollste geschmückter Personen; und Sie werden sich ein schwaches Bild von einem Anblick machen können, den keine .Feder zu schildern vermag. "

"Um 10 Uhr wurde der Ball unterbro. ehen, um ein höchst vortreffliches Feuer. werk abbrennen zu sehen, dessen Anstalten eine täuschende Dekoration von Gonzaga, der l\Iontmartre mit seinen Umgebungen, bis dahin dem Auge entzogen hatte. Das Lustfeuer war, nach der Angabe des Herrn

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Artillerieobetsten von Markewitsch, im G&iste des ganzen F~stes zusammenges~tzt und er. regte die gröfste Bewunderung. Diese äus~ serte sich besonders bey der letzten Abthei­lung desselben im lautesten Freudenaus. bruch, als dicker Rauch die ganze Scene einige Augenblicke verhüllte, daun langsam zerrann, und nun aus ihm der Tempel des Ruhms hervortrat, und in demsdben über eiuem prachtvollen Obelisk der sternum. strahlte Name clc:s unsterblichen Siegers im blendendsten Feuer erschien."

"Nach dem Feuerwerke begab sich der Hof durch geschmar.kvoll erleuchtete' Gänge nach dem nahe gelegenen }'riedens-< pavillon zum Abendessen. Von der Prachc und l<:legam; der Tafel, den glücklich erfun­

denen Allegorien und Emblemen, so wie von der ganzen Verzierung des niedlichen Saales, sage ich Ihnen llichts; nur der Ta. feIn mufs ich erwälmen, die Zu beyden Sei­ten des Pavillons für die tapferen Anführer unserer braven Garden in reichen Zehen servirt waren. Auch hier . war Alles er", schüpft, was Pracht und Geschmack in Be· zug auf diese Gäste ersinnen konnte, und kaum hatten die letzteren ihre Plätze einge-

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rtommen, äls ihr erhabener Gebieter" iri 'ilfiie Mitte trat und Zeuge des ehrfurchtsvollen Jubefs wurde, mit welchem sie seine und seiner beglückten Mutter hohe Gesundhei. ten tranken. "

"Um 12 Uhr kehrte der Zug wieder nach dem RosenpaviJlon zurück, wo' der BaU noch bis' gegen den anbrechenden M6rgen fortgesetzt wurde. Unterdessen ward~ gan7.e Gegend von zahnosen Menscht:!h be­lebt, die ih'der lauen Nicht der reichen und äusserst geschmackvollen Erleuchtung ge. nosseh und erst spät mit dem herzlichsten Gefühle des Dankes gegen die menschen­freundliche, gütige Veranstalterin dieses ein. zigen Festes den reizenden Ort verliefsen. "

Du erhältst in dieser Beschreibung zu­gleich. die Benachrichtigung von' einem in Petershurg erscheinenden deutschen Tagcs~ blatte, dessen Sprache eben so edel als des­sen Zweck ist. Der Herausgeber, Kollegien­rath und Ritter von Pesarovius, hat durch dieses Journal, das er auch in russischer Sprache herausgiebt, seit dessen Erscheinen wohl gegen 500,000 Rubel B. A. fitr die ,'er6tümmelten "braven Krieger Rufslands

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geSiLnupeJ,t, ohn,e von oemBlatt.e,; das l\elu;, g~le6ell wird, einen andern );"ohn ;ZU

~~, als den, welchen ihm das eigene G~~ fühl rt:ich.lich gewähret:! mufs, zum 'V ohi der v~r5tümmeltt:n V crtheidiger des Vater­liludel!. i so thälig unu mit 50 günstigem .:trf~lg gewirkt zu haben. ,_

,F ...... :~hlLt mir 16iu, dars ich bis jetzt keine Abschriften aller dei:' Lieder, wdche bey dicsul1 .in Sinn und Anordnung einzigen -Schauspide VOll den geschicktesten Sängern gesungcll w,urden, ,t:rhalten können; ich. hätte sie dir gern -.in einer Uebersetzung, so gutic;h _es vermag mitgethe;~t. Die Aur.' schrift auf dem Fronton des offen~~ Te~~ pels, ! dessen Säulen mit Laub und Blumen.­umwunuell woruen, war aus dner Ode der Anna Petrowna Banjn- genqmmen: Te6J1 ~pama. no6Ji4HJal He lIM1icJlmJ, (zu klein für :Oich sind alle Siegespforten). _

,Die V crse, welche bey der ersten Pfort~ gesungen wurden, waren VOll NcJedinskl~ .:Melezkii gedichtet worden. ~

, :Urthdle /leIbst, ob es möglich war,eJ.q' Schauspiel zu t:rfmden, das mehr die voll~~t~ :Wirklichkeit, die sprechendste W abrh~ii~ ~* deut vereint, ,waSIlur irsend Hohe .. ul;l~

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Ideales eine Menschenbrust bewegen kann. Eine in Liebe zu dem würdigsten Sohne be­geisterte Mutter kann nur allein solch eine Idee auffassen ~ wo Alles, jeder Anwesende, der Kaiser selbst,seine Krieger, die ihn auf dem grofsen Siegeszuge begleitet hatten, so wie die Schauspieler und der gemeinste Russe, der aus der Ferne, die Scenen er­blickte, zu dem Ganzen der' handelnden Personen dieses ·wahrhaften _Dram~ der russischen Nation gehörten. Die erschei. nenden Krieger waren wir k I ich von den fernen Siegen zurückgekehrt; sie fanden wi r k li eh ihre geliebten Adtern, Kinder und ",reiber versammelt, und wahrhaft wurden diese Thränen der Freude und des Entzückens geweint; da sank das Gewehr nicht mühsam studiert aus dem Arme des Kriegers, er drückte wir k 1 ich die Ge. liebte an das hochklopfende Herz, und das Jubelgeschrey, das durch diese schönen Ge· genden, von allen Seiten her im stürmi­schen Chore erklang, es war nicht erlernt, ~otldem wahrhaft von einem freudetrunke· nen V'olke ausgerufen; daher denn auch der unglaubliche, unbeschreibliche Effekt, den di~ses Schauspiel erregte, lllS in dem

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4ten 'Akt. auf der nlirdlichen Seite des Pa­"iUons, ein Greis ankündigte, 'der Kaiser reIbst wäre da, mitten un'ter ihnen, und nun ,sich diese ehrwürdigen alten Männer umarmten, während ein Chor die Gefühle

sang, welche ihre Blicke, ihre Freuden. thränen eben so schön aussprachen; ''da waren alle Anwesenden, Zuschauer und Schauspieler, in einer seligen Empfindung verschmolzen, Jeder sehnte sich, eine Brust zu finden, an die er mit dem unnennbaren Entzücken -in der seinigen hinsinken konnte.

- Fremde, die sich-nie gekannt, umarmten sich, und in jeder Sprache ergofs sich but die Empfindung, welche Zähren der - Wonne in jedem Atige wiederholten. Das Feuer, 'werk, das nach dem Schauspiel folgte tlhd so prächtig war, als je eines gesehen wor­den, 'und durch die Idee, welche auch dieses aussprach, sich auszeichnete, mufste mit al· len l'Ieinenflammenden Strahlen, Funken, Lichtem, und dem lauten tohenden Donner, doch nur die Gefühle s die das Schauspiel ef-

. i'egt hatte, beruhigen und abkühlen; dieses -- aber war einzig grofs und schön, war würdig ,'dieses Ortes, dieser Feyer, dieses Monar-

chen, seiner Krieger, und seines Volk~.

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Lies die Sc'ß:1uspiele alter und neuer Zeit, - find.est du wohl dnes, wo J\icht das Ideale zur \Virldichkeit, sondern diese sich z.ur höchsten Fülle der Idee erhob, wo jedes' Herz der Schauspider und Zuschauer seinen Antheil. an der Darstellung ,git:bt und empfängt; findest, du kein solches, so billige mein Entzücken, mit allen Sinnt:n .«:in Gebilde erfafst zu haben,. in welchem .Natur und Kunst an die Brust der Wahr­heit sanken, und, an sie gelehnt, eine Schö­pfung hervorriefen, die von aUen dreyen die: Rdze und \Vürde hatte.

St. Petersburg, den l~ten August 1814.

Meinem Vorsatz getreu, dir von hier aus nur ~sjtmige zu mdden, was zunächst in diesem. Augenbliäe Petersuurg durch die verschiedenen F eyerlichkcitcn zur Ankunft des M<marchen oder in Beziehung auf die­selbe verherrlicht, erhältst du erst jetzt wie­der die Fortsetzling meincr Eri,nnerungen, und mit diesen, wie ich holfe, Manches, was deinem für das Erhabene und Schöne so warmen Gemüthe volles Interesse gewähren

wird.

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Am ~osten July erfölgte der feyei.-liche Einzug der Gardeinfanterie, nachdim. sel­bige schon seit beynahe zwey Wochen zu Wasser mit englischen Schiffen in Kronstadt angelangt, 'bis zum Einmarsch in die Residenz aber in die umliegenden Gegenden in Quar­tier verlegt war. Obgleich der Kaiser die verdiente Ehre ues ,Triumphs mit beyspiel~ loser Anspruehlosigkeit für sieh abgelehnt

llatte, so wollte er sie doch seinen braven Kriegsgefährten nicht versagen, und sie da­her selbst an dem, zwey Werste vor der Stadt von den Bewohnern des Petersburgschen Gouvernements errichteten, Triumphthore empfangen. Dieses Triumphthor ist vorläufig nur von leichtem Material erbaut, und soU nächstens in Stein ausgeführt werden. Di'e Form ist ächt antik, imponirend grofs und -edel; oben sieht man eine Viktorie mit einem Sechsgespann. Obgleich ich nur die Qua­driga eier Siegesgöuin bey den Alten kenne, so wäre doch hier ein Tadel zu übereilt, da man mit Recht annehmen kann, dars der Künstler, der das Ganze 60 treITlieh dachte. auch wo'hI nicht ohne Grund und abweichend von der Antike, in deren Geist doch die Ausführung des Triurnphthors ge6chehen,

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hier der VU.torie ein Gespann mehr zl'Ige. theilt rlllben wird. In den Nischen stehen': kolossale Statuen in römischen Kriegilgewän.< dem. Unter den Inschriften nennt eine aus· drücklich und namentlich die Garderegimen. ter. SChOR gegen 3 Uhr Nachmittags war die livländisehe Strafse, von dem alten unter:. Katharina erhauten Triumphbogen an bis zur Fontaaka, mit Zuschauern gefüllt, für welche man an mehreren Orten Gerüste el'baut hatte; in einigen an dieser Strafse gelege. nen Gehäuden aber wurde bis 25 Rubel für jedes Fenster bezahlt. In einem dem Herrn Btigaditr von Engelhardt gehörigen, bis an. die Strafse heran reichenden und ganz,nahe. am livländischen Triumphthore belegenen Garten, hafte ich mit gastfreundlicher Genil. ligk:eit für meine Familie und mich einen sehr guten ·Platz erhalten, fand hier eine schr vor· n-t::hme Gesellscl}.aft beydcrley Geschlechts, und unter diesen mehrere Minister und Se. natoren mit ihren J<'amilien, versammelt. Es war gegen 4 Nachmittags, als ein immer näher tönendes. Hurrahgeschrey die Ankunft des Kaisers verkündete. Er eilte scinen bra. ven Kriegsgefährten entgegen, die ihn mit einern;J ubel empfingen, der in der Entfernung

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Von wenigstens 3 Wersten wie ein lJralWender Sturm zu uns her ertönte. Auch die Kaiserin Mutter war, von den vornehmsteR Dame:Q, des Hofes begleitet, den Garden en.tgegen gefahren.

Am neuen Triumphthore setzten «ler Kaiser und der Grofsfürst Konjtantin, von den jüngern Grofsfürsten und einer Menge Generaladjutanten und fremden Gesan«lten umgeben, sich an die Spitze der herrlichen Truppen, welche nun in feyerlichem Schritte, die zerschossenen und halbverwitterten, doch mit dem grofsen Siegespande des GeQrgen­ordens geschmückten 11al~~Jl vor~age~d. den Einmarsch begannen. Was in PawlOlVSk bildlich dargestellt worden, wiederholte sich noch einmal hier im gräfseren Marse. Ich selbst habe gesehen, wie hie und da die vor­beymarschirenden Krieger von den Verwand· ten und }<'reunden erkannt und mit lautem Jubel begrüfst wurden. Ein junger Soldat des Gardejägerregiments konnte seinem lIer. zen nicht widerstehen, mit Blitz<::sschnelle sprang er aus seinem Zuge hervor, UQlarmt~ einen alten Mann, wahrscheinlich seinen Vater, huste ihm die Hände, und nun w~ er eben so schnell wieder zurück· in die

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Reihen'seiner ,XämeTRden. In jedem Augen. blicke hörte man einen Namen rufen, odor sah ein Paar Armeau9strecken gegen irgend einen der ·Krieger, welchen unter der uD;. zählbaren Menge der Zuschaut.r il'gend Je­mand mit Liebe bezeichnete.

,Ich kann es mir nicht denken, dars es ein schönerea-und hesonders kraftvolleres Militair geben kann, als das der russischen Garden. Besonders unter den alten Garderegimentern erblickt man kolossale Männer, wahre Athle. tengestalten, deren Gang, Miene und ganz~ Haltung so voll \V ürde, so ächt kritgerisch ist, dafs man nur von die sen Männem es begreiflich findet, wie sich 800o'Mann gegen 40,000 Mann hey Kulm 36 Stunden lang ver· theidigen konnten, ohne zu unterliegen. Der Kaiser Be'lbBt und sein Bruder 'KonstaI]lin führten die Garden an. Die herrlichste Mu· sik ertönte jedem Regimente voran, und spielte dieselben Märsche, welche bey dem EiHzuge in Paris erklungen waren. Da ver­glich sich in meiner Seele jene Scene mit dieser; der Einzug dieser Krieger in die Residenz des besiegten Feindes, und der in die ihres siegreichen MOllll.rchen und Heer­führeri; die Gefühle der Bewohner jener und

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dieser/Hauptstadt eines grofsen Reichs.; und nmvillkührlich hätte ich· beynahe laut geru­fen: welch' eine grofse Zeit. habe ich erlebt! Die Weltgeschichte hat ein Dr~na .im anti. ken Sinne, wo das waltende Si:hicksal den Knoten löst, vor der gan:r.en Menschheit dar~ gest~llt I es trefflich in allen den verschiede_ nen Akten vollendet und his zum Schlusse vollführt, wo das l,aster verdirbt, und die

G'ötter grofs und gerecht die Tugend trium­phiren lassen. - Hier nun schien mir der grofse letzte Aufzug des Schlufschores zu seyn; die siegenden Heere ziehen zu dem Tempel der ewigen Gottheit ein, und nun erst ist das ganze Stück aus. Mag es einmal den in 1<:lba gefessdten Typhon aucl1 ge­lüsten, ein Nachspiel zu versuchen; - der Himmel hat sein U rtheil ausgesprochen, :m die Holle gilt keine Appellation, und keine '\Viedcreinsetzung in den vorigen Stand mag sie ihrem Pfleeesohn gewähren.

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Bey der Rückkehr der Garden in die alten heimathlichcn Quartiere, fanden sie voryiler Kaufmannschaft Petersburgs Bewirthung und ansehnliche Geschenke an Geld vor. Die Stadt ward drey Abende hinter einander treff­lich erleuchtet; es war als wenn alle Einwoh-

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Der sielt yerabredet hätten, durch glänzende Feste den Nationalruhm :Qufslands zu feyern. Auch die ka.i~erlichen Gebäude, wie die der .vornehmsten ruSf>ischen Grofsen, waren ~it uni,ibern:dflicher Pracht illuminirt, und an mehreren Orten sehr sinnreiche allegori. 8ch~ B.ilder in feurigem Glanze aufgestellt. Als Beyspiel will ich dir einige anführen. Vqr, dem engliscben Mat;azin, wo russischG Waaren durch englische Preise bcitallDisirt werden, stand lluthenia in der Mitte einer Reihe fC\1tigeJ;' llalmbäume, und empfing die Palme des Sieges aus dtn Händen der Un­sterblichktit, mit der Umschrift: "Digna "orbis irnperio viJ;tus." Der russische grofse Kaufplatz war in allen seinen Theilen heJ;r. lich erleuchtet; vor demselben stand, als Denksäule der jetzigen Zeit, ein Obelisk, auf einer Basis ruhend, welche die Inschrift: "Rufsland" führte. Die einzdllen Stücke dieser Säule trugen die Namen der verbün· deten Staaten, umgeben von Palrnbäumen, an denen unter Lorbetrkränzen die Bildnisse der vorzüglichsten Heerführer hingen. Vor der Bibliothek stand ein russischer Gardist, auf einem Felsen allein gegen eine Menge herandringender Feinde kämpfend. Vor

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clieHM Bilde' sah ich die meisfen Zusthauer aus dem Volke versammelt, und jeder rief dem ringenden Krieger auf seine Weise ,sei< nen Beyfall zu. Die schönste Idee hatte KHngers geniali9cherGeist vor dem Kadetten. hause' ausgeführt. Es war eine Art Deko.· ration, . auf Gerüsten ruhend, welche die Seite ,des Kadettenkorps nach der Newa hin durch alle Stockwerke einnahm und einen

wunderbar grorsen Eff(;kt machte. Auf

einem Felsen steht der Tempel des lanus, den Alexander, von der Weisheit, Stäl'ke und Tugend begleitet, st.hliefst. Bessere Zeitcn!llerkündet Saturn,und als Bote diesel' und' des Friedens, wölbt sich um daa G.anze. ein glänzender Regenbogen, der besonders durch den vielfarbigen Schimmer der ihn bil~ denden Lampen einen wahrhaft magischen Anblic1c gewährte.

Am I6ten August war Kirchenparade der Garden, und der Kaiser selbst, von seiner er. habenen Mutter, seinen Brüdern und den vor· nehmstenBeamten des Reichs beglei,tet, führte seine siegreichen Truppen zurKasanschen Kir. che, wo 10 Bataillone einmarschirten , die an~' dern aber in den Säulengängen vor dem Tein~ pel aufgestellt wurden. Der Gottesdicust;ward'

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von der 'ntssis-ehen GeistIichkeh verricht-et, begleitet mit den Stimmen derselben SängEt, welche die erhabene :Feyer zu Paris b~gangeI1 hatten, 'wo unweit dem Todespfatze Lud­wigs XVI .. an einem grofsenAltare die ver·' büi1deten Monarchen, von ihren siegreichen Heeren umringt, ihre Knie unter Dankge. beten vor dem Ewigen beugtw, welcher ih: nensolche glorreiche Siege verliehen. Ich batte besonders heute Gelegenheit, den 'gan. zen feyerllchen Zug der' Kirchenparade zu beobachten, denn dicht unter dem Balkon meines I~ogis, im Hotel de Londres, hielt der Wagen der Kaiserin Mutter, wo der Kaiser mit der Würde des Monarchen, und der Ehrerbietung des Sohnes, die stolzen Schaaren seiner Krieger vorhey defiliren liefs. So lange ein Regime:nt vorüberzog , spitlte die Musik desstlben, dtn Tamhour -Major in seinem prachtvollen Kostüm an der Spitze, dem Wagen der Kaiserin Mutter gegenüher, und schlofs dann' folgend sich an. Eillen grofsen Thcil der Feldherren, welche den Kaiser auf seinen Siegeszügen in Hufsland und durch Frankreich begltitet hatten, sah ich hier um ihn versammelt. Es war meinem HerZf'Il angenehm, den Malltl, dem meine

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Heimath, nicht nur> im Jahre 1812 die :Be­freyung aus der Fdndeshand, sondemdllrc.4 J~e so unbegreiflich sch~elle W<:ise, mit .det' si~ geschah, die Rettung von einer schon an~ gedr~h~en Plünderung, so wie noch manch~ andere. W ohlthat verdankt I auch ll~er. unter den' nä~bsten.Begleitern . des Kaisers zu sehe~ Der Marqu"is Pal,llucci hatte die Erlaubnifs er .. halten, die ihm als Gelleral und Kriegsgou­vern<~ur vertrauten Gouvernements auf einige \V ochen zu verlassen ~ und dem Monarchen, welch~n er in Dünaburg bey seincr Durch~ reise gespro~hen hatte ' •. nach der. Residenz zu folgen. .Mit dem Vertriluen, welchee sein Eifer für alles Gute und Gt:recht~ begründet, läfst sich hei der Wahrheitslitbe unseres Alexandtrs manches für Liv - und Kurland Ersehnte hoffen, wo die letzten Jahre so viel Notll und Sorge geweckt, die nur des Monar­chen <?rdnendcr Bdehl bannen kann.

Ein Gesuch der kurländischen und pilten-. schen Ritterschaft, für erst~re von dem Gra-. fen Johann von Medern, für letztere von mir unterzeichnet, ist, an Seine Kaist:rliche Ma-' jestät gerichtet, dem Marquis Paulucci zu~, V ortrage übergeben worden. Es enthält die:

Bitte J die .im letzten K.iese invalid sew~~

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denen S()ldafen, welche alU Kudan« gebürtig sind" auf Kosten dEs Adels auf den Gütenl, aus welohen sie, hers'tamtn'en" bis an ihr Le. bensende unterhalten zu dürfen. Die Idee einer "okh~n Ver~orgung der verstümmelten ~aterländischen Krieger macht dem Geiste, .. ie ,deM; Chatakter des kurländischen Adds, whrlich Ehie. Die Achtung, welche, von jeder Nahrungssorge frey, die brav'el'l Krieger in ilwel';Jileinu.th Unte1' ihren Verwandten lind Fl'eüntien geniefsen werden, murs bey den Letten das Gefühl eines kriegerischen Ruhms, eine Ehre, wie sie der Soldat im

Kampfe für sein Vaterland kennt, erwecken, und die Furcht mindern, welche der Lette so besonders vor dem Soldatenstand zeigt. Es 1st nicht Mangel an Muth; der Lette hesitzt ihn nach dem Zeugnisse aller Miltairperso­nen} we1cho Soldaten dieser Nation im Felde gesehen; aber die Entfernung aus dem Fa­milienkreise, das Ungewohnte des neuen -Standes selbst, schreckt ihn; welche8 hin­segen bey dem Russen nicht der Fall ist, der von Jugend auf sich vom Militair umgehen sah I und seinen ganzen Nationalruhm an~das Schicksal der allS seiner Mitte zum Kampfe gegen die Feinde des Vaterlandes berufenen

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Krieger.zu knüpfen gewohnt ist. Wenn miln dagegen einwenden wollte, dafs der Anblick d;er schrecklichen Folgen des Krieges, in den verstümmt:lten Gliedern der Invaliden, ge. rade die Furcht, Soldat zu werdenj vermeh­I:en .müfste, so ist dies durchaus psychol{)gifl:l\ un.r.iChtig; denn das lJebel, das man täglich schaut., wird man auch im Begriffe seines Nachtheils und des mit ihm verbundenen Unangenehmen gewohnt, besonders wo man von der andern Seite durch eben dasselbe wichtige Vortheile erhalten sie ht, und dann schlieC.st de~ gemeine Mann mit einer Logik der Phantasie, wie das' Kind t wenn schon der verstümmelte Krilger geehit,. und· in seinen übrigen Lebensverhältnissrn glücklich ist, wie sehr wird es nicht der seyn, der, noch munter und stark, diese Vortheilc mit voller Ge'stmdheit verbindet - und nUn denkt er sich alle nicht als Inv:tliden zurückgekehrte Krieger lebend und wohl.

Einer am 6ten dieses stattgehabten gros­sen Kirchenparade des Preobraschenskischen oder ersten Gardeinfanterieregiments habe ich nicht beywohnen können, weil mich ge. rade wichtige Geschäfte abhielten; sie aall aber sehr feyerlich und schön gewesen seyn.

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Es war s~ade -das StiftungsfeIlt <ler Gat~: am Tage der Verklärung Christi I .-UlH! nac;h di~eQl l!~est.e .ist auch. die Ki.rche in der Ge; gen~ des Stückbofes bftnannt, und zum Got­·te.sdienite ' dieses " Garderegi~n(:nts, dessei) KasC?rn.ell ,ni eh! weit . .entfel:Jltl1ind, best~m.1DI­

~ord~n., '_ Der Kaiser, dif.! Kai61;:rin M;~It~r :UI;ld qie Grofsfürsten habendt:rKirchellpar!ld~ ~d dt:m h~t:ral,lffolgcnden Gf;>t~esdif;nstt: bey­gewohat. ,~i.cht ~ die Gefahren. am Tag(.; der Schla~ht, die Siege Dach blutigem Kampf~, lIont~erna1,1chdie Gefühle der Andacht,~, 'Wel­~h~, in ·Rufsland allem Volke noch den vollen

Werth für Herz und Seele geltt:ll, theilt Alexand(;l~ g~rn mit, sein.eu Kriegern, und man sieht dann in seinem Blicke, dafs cl i t: s e Au~a~ht ~ichl d~r Sch~in, um die GUJ~~~ dcs Y_o).)tes zu crsc,41eichen, sondern die wahr· l1;1f~ige Empfindung erregte. So aber murs jedes' unverdW'benc, für die Idee, des, Gött~ lichen und Ewigen nicht verlorene Ge~üth innig gerührt werucu, wenn es bemerkt" wi;i: die Krol,le, das, Schwert, . und, der Z~pter allenthalben v,or den Altären des' ewjscl~ Gottes sich beugen, da nur der füh.l~4e, des Höchsten' empfängliche und, 'W'i.ir:<iigc ~reD ~.ch unter,BeincnBrü~c:~n ~tP..f!iln,bkiOt,

'. .,' . .

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und Müth, Kraft und Segen in heiliger Fülle von der Allmacht erfleht. um wieder Segen üb~r einen Welttheil auszuspcnden. Ver Kaiser wählt in den Tempeln. wo er oft er­scheint. nie den ausgezeichneten erhöhten Platz, welcher dort für die Mon<lrchen be. stimxrit worden. Er steht mitten unter seiner Familie und seinem Gefolge, und nahe 'bey ihm oft der Gemeinste aus dem Volke, der sich bis nach dem Schiffe der Kirche vor. driingtc, oder auch dort schon stand, ehe der Monarch anlangte. Ich habe selbst einen Pulizeybeamten bey einer grofsen Ccremonie ganz besc.hämt zurüc.ktreten sehen, als ein gem(;iner Russe, den er fortweilieh *Ollt~, um einigen vornehmen Männem Platz zU machen, ihm die Frage vorlegte: ob envont glaube, dafs Gott oder der Kaiser es billiger. würden" wenn er irgend Jemand hindere, an heiliger Stätte sein Gebet zu verrichten? -

Den 7ten August bezeichnete eine andere Feyerlichkeit, die für mich höchst interessant war, besonders da ich nie in meinem I,eben etwas Aehnliches zu sehen Gelegenheit ge­funden hatte. -

Auf dem Ochtaschen \Ve.rft , einige Werste von der Stadt, wurden das Linien·

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schill' Finnland von 74 Kanonen, ein Lug­ger von 19 KanOI1f;ll, und zwey Schaluppen von 12 Kanonen vom Stapel gelassen·, 60

wie auch an demst:lben Tage in der Admira­lität das Linienschiff Pt:ter von 74 Kanonen, wobey zugleic.h von einem neuen Linien­schiffe, Leipzig, von 110 Kanonen, der Kiel gelegt ward. Es war ein heisser Som­mertag, und ich herzlich froh, für mich und mdne Familie einen guten Platz in einem der Pavillons zu finden, welche blofs zu dem Behufe, um die Schiffe, die hier erbaut werdert, vorn Stapel laufen zu sehen, im in. nern Raume der Admiralität erbaut worden. Die Admiralität ist schon an sich einer der schönsten Palläste Petersburgs, mit einem Walle und Graben nach der Stadt hin, und denn DOGh nmd umher mit vierfachen Lin­dengängen umgeben. Hier ist die lebhafte­ste Promenade, und bey nur erträglichem Wetter sind auf diesem Theile des Boule­vards, schon wegen der Nähe des kaiserli­chen Pali astes , die vornehmsten Herren und Damen versammelt. Auch den Monarchen selbst und dessen Brüder erblickt man hier häufig auf und nieder gehen. Zwischen den LindeIlbäumen und über die grünen Wälle

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hervor erheben sich die herrlichen Gebäude der Admiralität im schönsten, edelsten Styl als Ganzes verbunden, in deren Mitte, Wo das Hauptthor ist.. sich der ächt in Feuer .. vergoldete Thurm befindet, welcher wie eine Feuersäule über seine mit doppelten Pfeilern und vielen Statuen geschmückte Ba­sis hervorragt, und aus den gröfsten StrafseD. der Residenz, welche in allen Richtungen

diesen Thurm zum Gesichtspunkte nehmen, schon in einer l,'erne von mehreren Wersten erblickt werden kann. Der innere Raum der Admiralität, welcher von der vorbeyfliefsen­den Newa begränzt wird, bis zu welcher sich auch die Flügel des AdmiraJitätsgebäudes ausdehnen, ist sehr grofs und enthält, aUSBer mehreren Gebäuden, auch 4 Kanäle als

Schiffswerfte für die erbaut werdenden Kriegsschiffe, zu deren Erbauung hier alle nur mögliche Vorräthe bewahrt, und durch die hier wohnenden Handwerker und Ma. trosen bearbeitet werdt:n. Jetzt waren zwar allenthalben für die Zuschauer hohe Gerüste um das Linienschiff herum, das sich nun in das neue Element stürzen sollte, erbaut 'Worden; doch viele Tausende standen nach aUen Richtungen hin, und füllten alle Plätze

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des Admiralitätshofes und dessen Kanäle. Auf dem Schiffe selbst befanden sich eben­falls, eine Menge., Menschen, wt:lche den Sprung in die' Wellen m,itmachen wollten. Ich war früh genug gekommen, um das un­geheuer grofse Gebäude noch in allt:n st:incn Theilen geTjau betrachten zu können, ehe es in sein neues Leben den ersten Schritt wagte. Bis auf Masten und Takelage war es ganz vollendet. und stand auf seinen vielen Stützen noch so fcst, dars man gar nicht be­greifen konnte, wie im Augenblick dieses Riesengebäude sich in Eewegung setzen und die wohl noch 80 Fufs t:ntfernte Fluth errei­chen würde. Wie fest, stark, und doch wie nett und sauber, waren alle Theile des Schiffes im lnnern wie im Aeussern vollen­det worden, wie imposant war dtr Anblick überhaupt, wo das Ganze mit stinem Kiele und den untersten W~ind(;n noch erblickt werden konnte! und dieser Pallast sollte bald in ,eilendem Fluge durch die Wogen ziehen, in ferne Gegenden und Meere sich fortbewe­gen. Wie vieler Menschm Schicksal ist an das dieses Schiffes gebunden, mit ihm in die Fluthen fortzuziehen, mit ihm wiederzukeh­ren in den sichern Port, oder unterzugehen,

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wo Klippen und Stürme drohen. Dies Schiff erschien mir als der ungeheure Körper eines bald zum Leben berufen werdenden Wesens, das seine Seele ,in dem Vereine der Seemänner, die es bewohnen solIten~ noch erwartete. Wie natürlich war bey den Wilden im Anblicke der ersten Schiffe die Idee eines Seeungeheuers , das Feuer aus­hauchte und Donner sprach! - Nichts in der Welt beweist mehr die Macht und die

Erhahenheit menschlicher Ideen, als 'die Er~ fmdung der Navigation, welche in der Rück. wirkung auf anderw~itige Bildung eine der mächtigsten Grundursachen alles menschli" ehen Wissens und Erkennens schon dadurch geworden ist, dafs in ihr die Möglichkeit der Mittheilung dessen lag, was ein Mensch in weiter Entfernung von dem andern gedacht und geschaffen hatte; und so allein ward der Verein bereitet, in wc:lchem sich jetzt die Menschheit als ein Ganzes findet.

Ein alter Flottofficier von meiner Be­kanntschaft, der nicht nur eine Menge See. fahrten, sondern' noch gt:fährlicher eine Luft­fahrt mitgemacht hatte, indem sein Schiff ge­sprengt und er in die See geschleudert, dort aber wieder gerettet worden, war gefällig ge-:

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nug, mir auch die klein'sten Nachrichten über die Struktur des Schiffes selbst und über; die Art seines Ablaufens vorn Stapel zu ge~ ben. In Rinnen, welche stark mit Seife ge. rieben werden, sinkt das Schiff in dem Au~ genblicke , wenn es befreyt wi~d, von den vielen Stützen, die es in schräger Richtung aufrecht halten, oann aber zieht die eigene Last es unaufhaltsam in die Fluth hinein. Die Stützen werden von vielen Leuten im. Augenblick weggeschlagen , wenn der Mo­ment des neuen Lebens für den grofsen Jr.feerbewohner eintritt. Der letzte Keil ist dann noch am Kiel übrig, und so wie diesel' gesprengt wird, regt sich das ungeheure Ge­bäude und eilt wie im Sturze dahin. Diesen Keil aber wegzuschlagen , ist gefährlich, und der, der dies verrichtet, erhält eine Beloh. nung von einigen hundert Rubeln, und mufs in dem Augenblicke, wo der entschei­dende Schlag geschieht, in eine tiefe Grube unter das Schiff hinunter stürzen, und dort ein paar Sekunden es über sich herab gleitert lassen, dann erst steigt er belohnt aus seinem Grabe hervor.

Bis gegen Mittag hatten wir gewartet, als Kanonenschüsse auf eIer Newa schwimmen-

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der kleiner Kriegsfahrzeuge qie 4nnähe. rung des Kaisers und seines Hofes verkün_ deten. In einer schönen Scb~llJppe.sa.

hen wir ihn bald darauf, von tit:ioer er. habent:n Familie und allen Vornehmen sei. n<o8 Militai;rs und Civils begleitet, von OlO:hta her anlangen, wo ebenfalls eiI;lige Kriegsfahrzeuge vom Stapel gelassen worden. Andere, besonders eines sehr schön gebaut und verzitrt, standt:n dem Schiffswerft fast gegenübt:r, und plötzlich beklt:ideten sich f1Ue Masten und Taue desselben mit einer Menge Flaggen aller FlJrben und Nationen im bunt.esten Gemische. DeI: Kaiaer nahm mit seinem Gefolge in dem für ihn bereite­ten Pavillon zur Seite des neuen Linienschif. fes Platz, und ein lautes Hurrah durchtohtt zu seiner Begrüfsung di€ Luft. Ein Chor Musiker spielte auf dem Verdecke des neu.eD. Schiffes, das nun auch mit ein.er Menge Flaggen verziert erschien; da. auf einen Wink des Monarchen, -krachten die StützeI;l um das Linienschiff nieder, mit einem Ge­töse I als wollte es jetzt vor uns zerscIlloe," terno Der letzte Schlag geschah, das .UJJ.gO­

heure Gt:bäude wankte noch einen MQDlent, als wollte es erst aufathmen zu neuemregen-

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dem Leben, und nun 'mit einem Mal be­wegte es sieb fort, und stürzte plötzlich in die Fluth, dafs sie hoch umher aufbrauste~ und 'die nächsten Böte und Schaluppen, die sich allenthalben auf der Newa versammelt hatten, ,in elen aufgeregten Wogen tanzten; und diese sogar bis hin zu den fernere'rl Schiffen in kurzen kräuselnden Wellen dran. gen. Indefs hatte mit schmetternden Posau­nen- und Trompetentönen die Musik auf dem Verdecke des mit dem Strome -langsam fort~ schwebenden I~inienschiif(!s nicht aufgehört, und das Hurrah der unzählbaren Zuschauer erschallte von bey den Uft:rn, und zwischen demselben, in kurzen Pausen, begrüfsten Kanonenschüsse von den kleinen Kriegsfahr. zeugen; Jachten und Kuttern den neuen Ge. fährten. Alle diese Erscheinungen waren in dem Fluge einiger Minuten zusammenge. drängt, und dennoch, der Gröfse und des Umfangs eier "Vahrnehmung wegen, hin­länglich, einem ganzen Menschenleben als Er· innerung ullzerstörlich anzugehoren. Selbst diese schmetternden Zinken. und Posaunen­töne, welche, ich kann kein anderes W IIrt finden, ein~ recht wilde Musik erzeugten; hallen mir noch in den Ohren. Wer diese

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Musik:ruerst in seiner Seele bildete. ehe er sie in diesen brausenden rauhen Harmonien (!Tklingen liefs, dachte gewifs an die Chöre der Tritonen, die auf grofsen Seemuscheln den Reihen blie8~n, nach welchen die Wo. gen tanzend den Gott des Meeres auf ihren Häuptern trugen. . Sonderbar war es, dafs, als kaum das

neugebome Linienschiff die Mitte der Newa

erreicht hatte und vom Strome gE:führt hin. unter schwamm, sir,h das Wetter plötzlich änderte und ein kalter Nordwind erhob, BO

dafs in wenig Minuten die driickende Hitze einer recht schneiGienden· Kälte weichen mufste, die Newa beträchtliche Wtllen warf und der Staub auf allen Strafsen wirbelnd in die Höhe fuhr. Früh schon, wie im ersteQ Aufblick zum Daseyn, ward das neue Schoo!­kind der Fluth von Stürmen und tobenden Wellen empfangen. Jemand meiner Be· kannten äusserte, dies wäre eine schlecllte Vorbedeutung seines künftigen Schicksals; doch ein edles Weib, das selbst so manche trübe Stunde verlebt hatte, widersprach und meinte, Stürme wären dem Schiffe, was Schmerzen dem Menschen, die ,\\-T eibe der Natur; wer diese frühe erhielte, gewänne

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nicht Dur Kratt und Stärke, tondern sogar Ansprüche auf manche glückliche Stunde, da die hohe Macht, wdche allem irdischen kblos erscheinenden Seyn, wie der denken· den fühlenden Seele, das, was sie zu dulden oder zu geniefsen hat, zuthtilt, dieses Mafs nur im Wechsel des Guten und Bösen, 'wie im Schwingen der Zunge einer Wage, von ~iner Seite zur 3nclern zu bestimmen weifs. . . Dafs hier die Dame, im A u8spruch.e obi.

ger Bemerkung. dem in den Wogen fortzie. }umden Meuschenwerke die Bedeutung einer freYllll ExiStenz gab, war im Anblick seiner Begsamkeit, und der durch sie getäuschten Phantasie, natÜ1"lich: doch, wie gen au sind Schicksale ganzer Völker an die selbst todten Schöpfungen einzelner Menschen ge. kni.iJp\ft; das erate .erfundene Pulverkorn war genug. um der Keim zum Tode vieler Mi!. Ji.onell zu werden. Ein Kriegsschiff aber ist eine treibende Insel von eignern Volke be· wohn t, eip Ländchen für sich, und wa·ru m .aUte man picht einem solchen ein eigenes Falum gelten lassen, da doch manches ge· rmgere Händewerk , z. B. Krone und Zepter, mehr aJ.a Begriff für die Schicksale gan"er Na·

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tionen, wie als Sache für sieh, nie &deu­tung erhalten hat.

An eben diesem Tage, Nachmittags, er­hielt durch Se. ExceHenz, den Heun Poli­zeyminister, die Deputation ocr Ritterschaft des Kurländischen Gouvernements die An­weisung, am folgenden Tage sich im kai9Cr­lichen Palais in Kamennoi -Ostrow zur Atl~ dienz einzufmden, nachdem bereits am 5ten, wie auch am 7ten, Vormittags, viele andere Deputationen der alt· russischen Provinzen vorgestellt worden. Am8ten, Vormittags Um 10 Uhr, war die Deputation Kurlanrls in Kamennoi-Ostrow erschienen, wo sich die Deputirten mehrerer andern Gouvernemel'ltll und Provinzen ebenfalls befanden, nämlich, ausser denen des Kurländischen Gouverne­ments, für Livland, Ehstland, Witepsk; Minsk, Kiew, \Vilna, Grodno, Podolien, W oIhynien, von den Kosaken des .schwar. zen Meer(;s, und Befsarabien.

Ehe die Audienz gegen 12 Uhr Mittags begann, hatte ich Zeit genug, mehrere mei. ner Herren Kollegen kennen zu lernen, vor­züglich aber interessirte mich die Deputation des russischen Antheils von Befsarabien. ;die j~ türkischem Kostüm gekleidet w:r, welche&

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gegen die mannigfaltigen Uniformen imeu. ropäischen Schnitt, schon an sich kontras. tirte. Auch die. Kosaken vom schwarzen Meere, an deren Spitze ein Oberst Bursack stand, . waren in der Nationalkiddung er­schienen. Die der Bdsarabier bestand in einem seidenen weiten Unterkleide, über welches ein Oberldeid, mit kostbarem Pelz· werk verbrämt, mit kurzen Aermdn angezo. gen worden; Stiefel von gelbf!m Saffian und ein Turban von sehr feinen grauen Baran. ken vollendeten das Ganze. Die befsarabi. sche Deputation bestand aus dem Banner Rdskalln, dellen Spatt;rs, Besselles meschula

und Sturdtza. Gieb dir immer die Mühe, die:: harten Namen auszusprechen. Die Män-11er, welche sie bezeichnen, waren nicht so rauh als der Klang ihrer Namen. Der Ban­ner Rdskann schien ein Mann von bald 60 Jahren, und seinen schwarzen Bart färbte schon hin und wieder greises Haar; er sprach nussisch und Französisch mit zie::mlicher I"er· tigkeit, jede seiner Bemerkunge::n aber, die er machte, verrieth nicht gemeinen Geist und sehr viel Gefühl. Die Sehnsucht, den Kreis se::inerFamilie und seine Heimath ba'ld wie4er zu .sehen, drückte er weniger mit ge.

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wählten Worten, als mit lehr warmem in. nigen Sinn aus, und so verglich er die Pracht und Gräfse der Residenz mit deri V orzügen' des Klima's seines Vaterlandes, von dem er unter Alexanders segnendem Walten die Rückkehr alten Ruhms und auf. blühende Kultur erwartete. Eine Hofdame d.er regierenden Kaiserin, die sie nach dem Auslande hin begleitete, führt auch den Fa. mili(;nnamen Sturdtza. üb sie eine Ver.

wandte des hi(;r erschienenen Deputirten ist, weifs ich nicht; gewifs aber ist es, dafs diese Dame nicht nur durch Witz und Verstand gleich ausgezeichnet ;sGnd~rn 'auch t:ben so liebenswürdig in ihrem Betragen als gebildet ist, und so, z. B., die deutsche Sprache nicht allein kennt und spricht, sondem auch mit der Literatur duselben innig vertraut ist.

Der Herr PoIizeyminister führte zuerst die Deputation der Gouvernements Liv. und Ehstland in das Kabinet Sr. Majestät des Kaisers, und nachdem diese entlassen worden, folgten die Deputationen von Kur. land und der andem ehemals zu Polen gehÖ' renden Provinzen, welche zusammen von dem Polizeyminister vorgestellt wurden. Nachdem die DeputifteA def l,ltovinzenKur.:

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land. Witepsk, Mins.k, Kiew, Wilna, Grodno, Podolien und W olhynien sich in einen Kreis gestellt hatten, erschien dü Kaiser, und Alles, was Se. Majestät sprachen, deutete eben 90 sehr auf das Entschwinden der vorüber gegangenen trüben Zeit, als es die Hoffnung einer schönern friedlichen Zu­kunft belcbte. Nachdem diese Deputation entlassen worden, gelangten die vom schwarzen Meere, und endlich auch die von Befsarabien zur Audienz .. und alle erhielten die Anzeige, dafs es jetzt von einern jeden der hier anwesenden Deputirten selbst ab­hinge, sich noch ferner in Petersburg aufzu­halttn, oder auch die Rückreise zur Hei~ math anzutreten. So angenehm mir in so mancher Hinsicht auch der Aufenthalt in Sr •. Petersburg im Kreise meiner J,'reunde und Bekannten war, wo jeder Tag seine Ausbeute an Bemerkungen und Wahrneh­mungen brachte ~ die ich mir für die Stille des häuslichen Lebens als schöne Erinnerun­gen hewahre, so war doch mein erster Gedanke, als ich mich in Kamennoi -Ostrow in den Wagen setzte, und nach meinem Logis fuhr, die Rückreise zur Heimath _ und mit Homera Worten sprac.h ich i~ meiner Seele.

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Nun vor allen tioll jetzt der eigene Heerd mir leuchten.

Wenn der erste Reiz der Jugend vorüber ist, der den Jüngling 'von Land zu Land mit der Unruhe des unablässigen Strebens nach neuen noch ungewohnten Bildern des Lebens fort­treibt" dann tritt dem Manne in dem wi& der gefundenen Jugendlande die stille Häus. lichkt:it entgegen" deren nicht blendend schöne Züge immer mehr gewinnen, je länger der Blick auf ihnen verweilt. Nun kommen Liebe für \Veib und Kind, selbst Gewohnheit und Bequemlichkeit. Alle na­hen freundlich. doch alle ha.ben Fesseln und binden mit Lächeln den Mann an· den Ort, den sie segnend wt:iht:n und Heimath nea. nen. Da kostet es Mühe, sich los zu reissen, und es gelingt selten. Die Bande sind nur ausgedehnt, Je weiter man forteilt, um desto stärker ziehen sie zurück. In dem Raupen­stande der Menschheit giebt es eine Zeit, in der Jedermann es wie der Seidenwurm zu machen pflegt, der recht prüfend, und mit langer Umsicht den Zweig wählt, an dem er sich einzuspinnen denkt; da ruht er erst recht gemächlir.h aus, und nun beginnt er. die, weiche, stille Wohnung allmählig zu bil.

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den, aus welcher er dann zur Psyche Ve.r. wandelt hervorgeht.

Ich werde wohl kaum noch ein Pa al' '\\ro­ehen hier bleiben, und der Sommer soH mir nicht aus meinen :Feldem und Gärten schei­den, bevor ich ihn freundlich begrüfst und noch die letzten Blumen. aus seiner. Hand empfangen, ehe sie ihm in der Umarmung seines hit:r 80 launigten Bruders, des Heru­stes, erstarren.

Noch ein Paar Briefe schreibe ich dir aus Petersburg, und den letzten schliefse ichllicht eher, als am Tage cl(;r Abreise, und so ende

ich also meinen hiesigen Aufenthalt I wie mein ganzes Daseyn t im Andenken an dich und in Liebe und Freundschaft.

St. Petersburg, den 18ten August 1814.

Heute ist der Jahrt:.stag der Schlacht bey Kulm, jener denkwürdigen Schlacht, in wel­cher die russischen Garden mit alt-spartani­schem :Muthe so lange gegen eine unverhält­nifsmäfsige Uehermacht kämpften, bis ihre Brüder herbey eilten, und nun den stolzcu Feind vernichten konnten. Wie der Feld­zug im Jahr 1812 Frankreichs Niederlage überhau,pt vorber~itete und herbeyfülute, so

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enBehled die Schlacht bey Kulm die künfti­gen Siege der Alliirten in Deutschland. Ohne deit Verlust dieser Schlacht wäre Bonaparte gewifs nur sehr spät, oder wohl gar nicht in 80 Ich e Dl Grade besiegt worden, als es

nachher geschah. Mit Recht ist daher der Jahrestag der Kulmer Schlacht als ein Na­tionalfest der Russen zu betrachten, da sich von jenem Tage die glänzenden Siege her­schreiben, welche die verbrüderten Monar­tl.hen von der EIbe bis Paris so wiederholt zu feyern Gelegenheit hatten. J.Jeipzigs herrli­che Viktorie hat Böhmens Felsen zum Fufs­gestelle, und diesel bereiteten ihr ru 5 si. j;,c he Krieger mit scharfen BajGnnetten in starker kühner Hand. Kaiser Alexander feyerte diesen in die Geschichte Europa'. eingreifenden Tag durch die \Veihe der neuen Fahnen, welche er seinen Garden .. erlieh , und erliefs folgenden Tagesbefehl an seine Armee, den ich dir hier wörtlich abschreibe, weil er ein neues Denkmal des Herzens unserE grofsen Kaisers ist.

Bf:fehl an Unsere Armee.

Soldaten! diesem Tage,

J

Den 18ten August 1814-

Vor einem Jahre, an eben bl'achte Ich in den Gefilden

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von Kulm, wo, eure B~ust dem vnge5tüm,n Eindril1g~n des ];(;indes in Böhmen :Einh~

that, gerne,;il1schafdich mit eucJ~ c,I..~JJl Aller­höchsten, für sein(; üb(;rschwengliche G\1ade gegen uns, ein feyerliches DankgdJet dar. Eure slet<:l1 Begleit<:f, ,MHth, Tapferkl;'it, Geduld und Liebe zum Glaub<:n und Vater­lande, krönten euch nachhl:r mit ne,uen Lor,­beer(;n, öfi'nt;ten die Pforten von Paris, schenkten deu I,'ri<:dcn und gewithrtc;;n das für d<:n Soldat<rn sch~l1(;ichel~afte Vergnügen, mit Ruhm wieuer in sein Heich zurück zu

kehren. - Dies ist dankbar gegtll euren Diel1st Ulld gegen lure überstandqncn Be­

schwerden: DankIJarkcit IJeZ'<oigc Ich (;Uch N arnell6 dl:ssdben, und wünsche euc,~ in seinem Namt:n Glück zu der Rückkehr in. , . '!-

Vaterland. Eure Heldcnthatel1 haben stets Mei~c Aufmerksamkeit auf sich gezogen, -um aber dieselben und illsonderheit den 18ten Tag des Augusts noch mehr zu be­zeichnen, öffne Ich jt:tzt allcn in dem letzten, wegen der glällz<:nden Thaten unverg<:fsli­ehen, • Kriege verstümmelten Generalen, St.abs- und OberoHicieren, und zwar sowohl denen, die ihren Abschied bereits genom­men, als auch dt:I1cn, die wegen erhaltener

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'~hdel1 und VerstümmE:1ung m diesem 1criege den Dienst noch verlassen wc;rderi, und' nichts weiter besitzen, als die bey der Entlassung ausgesetzte Pension, einen be: quemem Weg, sich in aller ihrer N oth art :Mich ·zu Wenden. - Damit aber ihre Bitt­scItriften ohne allen Verzug gl prLift, vergli­chehund Mir vorgelegt werden, setze Ich' eine besondere Komität nieder, aus den sich bey mir befindenden Generaladjutanten, dem General von der Kavallerie Uwarow, den Generallieutenants Grafen Stroganoff und Golertischtschew.Kutusow, den General­majors' SakrewslCii und Sipäg'in; ..:.... Die Ob. 1iegmheit di«os~r Komität wir'd seyn, die Bittschriften anzunehmen, für die mögliche Unterstützung d«or vustümmelten dürftigen Generale, Stabs - und Oberofficiere zu sor­gen, und ihre Memoriale über die:selben durch den bey Mir stehenden General von der Artillerie, Grafen Araktschejew, vorzu­tltellen.

\ Alexander_ Ehe ich dir von der Feyerlichkeit erzähle,

mit welcher die Fahnenweihe geschah, murs ich Dir noch etwas über das I,okal berichten, in' welchem sie auf dem hier so genannten

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Marsfelde Statt fand. nieset schöne frl!,e Platz, der gräfste, den es in der Resident hier giebt, war ehemals mit einem kleinen Theater und mit einem Pavillon bebaut, aus welchem det"Hof die Feuerwerke ansah, die besonders unter Katharina der Zweyten oft~ und höchst prächtig gegeben wurden. Kai­ser Paul liefs die Gebäude abbrechen, den Platz eb(;nen, mit einem Geländer umgeben, und bestimmte ihn zu den Manövers. und Paraden seiner Garderegimenter. Von zwey Seiten ist dieser schöne Pbtz von dem kai. serlichen grofsen und kleinen Sommergarten umgeben, die dritte begränzt das Marmor­palais und die vierte eine Reihe grofser maS­siver Gebäude. Was abt:r besonders diesen Platz als Marsft:ld bezeichnet, und für die l<'eyerIichkeiten und Waffenübungen russi­scher Krieger heiligt, ist der dem Sieger am Kagul, Rumänzow, geweihte Obt:lisk und Suwaroffs bronzenes Standbild. Ersterer :ward von Paul im Jahr 1799, letzteres von Alexander, an Suwaroffs Sterbetage , den Sten Mai ISOI, errichtet. Der Obelisk ist 82i Fufs hoch und bt:steht aus drey gut zu· sammen gefügten Stückt:n von geschliffenem ,chwarz;en Granit. Das Piedestal ist von

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rötblicl;1em Mannor und der Sockel wieder von schwarzem Granit. Die Spitze der Py. ramide trägt Eine bronzene stark vergoldete Kugel, auf welcher ·ein eben solcher Adler schwebend ruht. Die Inschrift .ist schön und einfach:

R umänz ows Siegen. - .. Die Statut; Suwaroffs, über Lebensgröflle,

ward in der Petersburger Akademie sehr gut in Bronze gtgossen, und ruht auf einem Fufsgestell von Granit mit röthlich marmol'­nem Friers. Das Bild des Helden ist im Kostürß 6i~8 römischen Kriegers dargestellt, mit der rechten Hand streckt el'drohend das Schwert aus ,. während ein Sc.hild in der Lin. ken einen kleinen Altar schützt, auf welchem. die päpstliche Thiara und die ~ardinische

und neapolitanische Krone ruhen. Zwischen diesen bey den Hddendenkmä.

lern breitet sich das Marsft:ld aus, in dessen Mitte ein erhöhter geräumiger Ambon e::r­richtH worden, dessen Stufen mit rotbem Tuche beschlagen, oben aber mit reichen Teppichen bedeckt waren. In Erwartung dt:r Ankunft des Kaisen , standen die Garde­regimenter in dichten Kolonnen auf den an 4liE Ecken des Mar,fddes anstofienden Stras-

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sen. Der ,TJlg war trübe" und einige 'vor-" über ziehenden R~geIischauer drohten di~! Feyer des Tages, wenigstens für die Zu~ schauer, zu stören, deren grorse Mellge sOc

• wohl beyde Sommergärten , als, auch die Zu~, gänge des Pl~t:s selbst füllten, da die Fenster, der umliegenden Palläste und Häuser nur ei­nen sehr kleinen Theil fasllen können. Der Kai­ser elschien gegen Mittag, von Seinen Brü-: dern und Generalen beglei,tet, und D,un mar­schirten die Re&imemer auf dem Marsfelde auf und .stellten sich in vier dichten Kolon­lleu um dt.ll Ambon. Es ist Wahrheit, und nicht im Gtschmack der Pariser Wetter­kunde gedichtt!t, dafs mit dem Erscheinen des Monarchen das Wetter heiter ward •

• Mit einem durch die Se.cle bebenden heimli-chen Ahnen des sichtbaren "Valtens der Vorsehung über Leben und "Virken einzd­ner :l\Ienschen, deren erhabene Bestimmung es ist, das Schicksal vieler, Millionen zu ki­te,n, rief hier in dem Kreise, wo ich mit meiner J'amilie und einigen Freunden stand, einer dem andern die Bemukung' zu, wie eben eine trübe Wolke gleichsam dem l\!Oll­

archen VOl'anzog, und hinter ihr ein hdler blauer Himmel erschien, der Iiald :den gan,

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zen Horizont'umgab ~dafs" die GeWellte der J{'t~E:geritn Sonnenglanze schimm'ertcn. Das Geihüth, welches mit 'heimliehemGrauen~ und doch mit CHItIn' :zugleich' schonen 6e­filllle' der Andatht und des Glauh6ns;die Vergirltllithung d-er Macht' waltehder' gei.ti~ ger \Vescn ?oll ersr·bauen strebt' ,CUIIlkt" es d~mI.Zl:.ifalJc, d~r solche Ereignisse 'herb-ey~ führe, an wdche' die Phantasie ihre mysti~' sehen· Deutllngen knüpfm kann, und trot1;{ so selhsttlem Verstande, der das kindliche ~piel belächelt. Der heutige Tag gab' (~le· genheit ,dies«f 'Bemerkung ·zu wiederholen; d'ochl~r8 mich erst die Bt:BChteibung dtr fest. lieben Fahnenweihe vollenden, lehe kh'dir hit:von €i"ras Weiteres sage. 7~, (',:

Als der Kaiser bey dem Ambon . ~rlge~ langt war, wo die hohe Geistlichkeit und ein Ch"r Kirchensällger 'sich bereits befanden, wUl.den die neuen Fahnc:n auf den Ambon v~n den Fahnenjunkern dtor Regimeriter hinauf. getragen, u1'ld entfah(;te~l jetzt hier zum ErstE:nmal ihr hochgeschmücktes Ge­wand üher das·<tap[{;re Heer hinab, rias mit ihm :wieder elen Sieg. bekleiden wollte " und wozu es . die alten }'ahnen, wdchc dics1! er­setz;e·n sollten,' angewalldt hatte. Wie sicht.

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hare Schwingen deI! Ruhms, schwebten hier, in der sie sanft bewegenden Luft, diese mit dem Bilde desheiIigen George und des ihm geweihten kriegerischen Ordens gezierten }'ahnen, und gewifs hat manche eherne Kriegerbrust höher in ihrem Anschauen ge­klopft bey dem Gedanken, weichen Schick­salen und Begebenheiten diese Koriphäen d·er militairischen Ehre: vorschreiten würden. Der Kaiser selbst" kQn'lrnandirte seine Garden, als seine geliebte erhabene Mutter etwas·spä. ter anlangte, gab ihr die Honneurs ab, und nun begami der ehrwürdige Metropolit Am· brosius sein heiliges AlJlt, weihte unter dem feyerlichen Gesange der russischen Chorsän­ger die Fahnen, eine nach der andern, ein, und jede ward während der Ceremonie der Einsegnung vom Kaiser selbst mitgehalten.

Ich kann Dir nicht beschreiben, welchen Eindruck diese einfache, aber so symbo­lisch deutsame Ceremoni·e aufmtinGemüth machte. Ich war von der Scene, die mei­nem Auge zwar ein gutes Perspektiv näherte, dennoch zu weit entfernt, um von dem Ge­sange mehr als nur ein blofaes melodisches Rauschen vernehmen zu können, nut dann und wann drang ein Ton heller und deutli-

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eher zu mir herüber, und nur die immer ~iederkehrendc Strophe', "Herr. Herr, er. barme (lieh," war mir fortwährend,vel"Ilehm_ bar - gerade aber der Umstand, dafs diese Harmonien auf dem 'Vege zu mir die Worte verloren hatten, und nur noch als Laute, bald leiser, bald deutlicher fortzogen, gab ihnen ,einen unaussprechlichen Eindruck auf Herz und Sinn, wie man ihn in den Akkorden der Aeolsharfe wahrnimmt, wo keine Schwin· gung einer Saite, oder der in einem Blasin. strument erschütterten Luft gehört wird, son· dern die Harmonie selbs.t wie ein freycs himmlisches Wesen zu nahen ,und ,zur Seele des Menschen zu spredlen sch,eint ••

Die Regimenter hatten sich indefs aus dichten Kolonnen in Bataillonslinien formirt, wodurch um den Ambon ein grofses Quarre gebildet ward. Nun wurden die neuen Fah­nen zu dcn Regimentern getragen, welche sie unter dem Klange der Musik feyerlich:in Empfang nahmen. Noch einmal gab der Kaiser seiner erhahenf,n Mutter die Hon­lleurs ab, als sich dieselbe in den Wagen ge­setzt hatte. Ein lautes Hurrah durchbrauste die Luft, und nun erst marschirten die Re­gimenter im CeremolliaJmarsch vor dem Kai-

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seI' vorhey und begaben sich ,in ihre Raser.! nen zurück. . Alle. Zuschauer 'eilten nachr

Hause; die- Bekannten rlinden sich zusam-: men; jeder 'enzählte, was ihm besonders ge.' fallen hatte; es wurde gescherzt und gelacht, und in einem Kreise meinet- Bdanntschaft ,vard noch eine Promenade ,im Iiahen gros­sen. Sommergarten. verabredet;· nur einige· Damen weigerten sich ; wir wünschten die< Ursache zu wissen, und erfuhren . folgendelJ A1x:ntheuer, das " wie natürlich·, nicht öhne manche N ecktrey ülier· die I"urcht der lie­benswürdigen Erziihlerin aufgenommen ward ..

. Die Damen hattEn sich im Sommergarten, der die eine Seite des Marsfeldes begränZt; hingestellt, um von dort aus die Ceremonie der Fahnenweihe zu sehen; da' ·bemerkten sie dicht nebe~ sich eine Dame· im Ttau'ergc­wande:, .. das Gesicht. ~nit einem sc.hwar7.l:1\ Schleyer bedeckt, deren Wuchs sich als auf­fallend sch~n verrieth, was zm:rst die'A uf~ merksamkeit ·der Nachbarinnen weckte. \Vic eine Statue, ganz bewegungslos, stand rlie schwarze Dame schon bey dtm Anfange der Cercrnonie auf derselben SteHe, und blickte nach dem Marsft:ldc hin. Als die F:rhTlen. weihe..l vollendet war, und sich Alles. zum

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FOF~hen 'bewegte, da 'wendet sich auch die sohwarze Dame, schlägt .cJen ~nst€:rn Schleyer zurück und unsere Bekanntinnen erblicken ein.

so bleiches leichbllartiges Gesicht, dars' sie sich kaum des lauten Aufschreyens erwehren' köun€:n.. Die .l\länner~ welche die' diese'9 Ahentheu.er erzählenden Damen begleiter hatten, bestätigten. ebenfalls die auffaH-ende Todtenbleiche der schwarzen Dame, glaub, ten aber dessen ungeachtet Züge der höch, sten Schönheit, obgleich auch die des bitter. sten Grames in ihrem Angesicht bemerkt zu haben, Ich mufshiIlzuaetzen, clafs die hier erzählend~ll Damen keine Peteraburgerinnen waren, und in jedem Lande dureh blen~

elende Schönheit und die frischeste Blüthe rosiger Wangen auffallen müssen. Im Kow

traste ... dieser Gestalt~n voll glühenden ju. gendlichen Lebens, mufste natürlich. die bleiche abgehärmte schwarze Dame noch geisterähnlichu" erscheinelI. '- Gewifs aber war (;S t;in'e Unglückliche, die dort in den Reihen <kr Krieger einen Geliebten ver, mirste, der :'11s HEld im grofsen Kampfe ge­fallen war, und so zogen alle die Töne des himmlischen Gesanges und der rauschenden l\:ri.egsmusik mit den Schmerzen des Todes

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ihrer Seele vorüber, und ,das Al1gesich~:der Leidenden erbleichte, als alles Blut zum Herzen drang, das unaussprechlicher Jam. mer durchzuckte. Nun durchstrichen wir noch einmal den Sommergarten nach allen Richtungen, um wo möglich die schwarze Dame zu erblicken: sie war fort, und wir fanden sie nirgend auf keiner der, Promena. den mehr, wdche gewöhnlich Sonntags fast alle Damen St. Petersburgs zu uesuchen pflegen.

Den ~o5teJl Ällf;ust.

So eben erhält die Ade1sdeputation von

Kurland und Pilten durch den Kriegs. und

Generalgouverneur, Marquis Paulticci" die

an denselben gerichtete Resolution Sr. l\fa.

jeslät des Kaisers, auf das, Namens genann­

ter Ritterschaft; angebrachte Gesuch, die von

den Pri vatgütern genommel1tu SoldateIl ,

welche in dem If:tzten Kriege invalid gewor·

den, lebenslang mit Nahrung, Kleidung und

Gehalt unterhalten zu dürfen. Das aller­

hüchste Reskript ist zu scluneicht:lhaft für die

Ritters,haft, deren Repräsentant ?u seyn

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auch ich die Ehre 'habe, als daJs ich es dir in

der U ebcrs€tzung mitzutheilen, unterlassen

kÖnnte.

Dem Kriegsgouverneur von Riga"

Herrn Generallieutenaot, Mar.

, quis Paulucci.

Ich nehme das Anerbieten der kurländi.

sehen und piltenschen Ritterschaften wegen

Versorgung der in die::sem Feldzuge zum

Dienst unfähig ge:wordenen Krieger, aus der

Zahl derjenigen, \velche von diesen Rilter.

schaften. gestellt,torden sind, mit Dank an, ulld übertrage es-Ihnen, diesem edlen Korps

für ein so rilhmliches Vorhaben mein Wohl.

wollen zu erkennen zu geben. Die dieser.

halb wegen der Invaliden nöthige Anord~

nung wiI:d von der Verwaltung des Kriegs.

ministerii getroffen werden. St. Petersburg,

den 19teo August 1814.

Alexander.

Diese Versorgung der Invaliden aus ei.

ner ganzen Provinz in dem Kreise ihrer Ver­

wandten, aus deren Mitte der Krieg sie fort·

tifs, ist gewifs die würdigste, und könnte.

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v·on allen Pr.ovillzcn des Reichsnithgeahmt\

die Heyträge einzelner Privatpersonen zu

di.esem Zwecke, eben so wie alle hiezu a~

gewa'ndte Kosten des Staates, Oberfli1!fsig m~

ehen. ,Ja es, ist gewifs J dafs die· iV erpfle­

gung dieser im Dienste des Vaterlantlet; ver·

.Lümmelten· Krieger nur so auf dne Weise

geschehen kann , die sie aller Sorge 'cntbin·

d~t; denn- ei wird wohl selten' 'der ,Fan

seyn, ·dafsein Invalide in dem Ürte, aus

dem' er gehlirtig, kei~en Freund oder Ver:.

wandten finden sollte, dem es nicht willkom~

menwäre, sich des VerstUmm(:lten thätig an­

zum:hmen, dessen Unterhalt ihm iibl'igens

nicht das Mind'este kostet. Es ist freylich

nicht möglich, dafs der Staatclergtei-chen

Opfer befehlen kann, ihr Werth, wie ihre

heilsame Wirkung, hört auf, wenn sie nicht

freywillig sind; es wäre aber Unrecht, 'tlaran

zu zwt:ifeln, dafs nicht im ganzen ru!'sischen

Reiche dieselbe Mafsregel mit Freuden er­

wählt werden würde, so bald sich die Idee

hiezu nur mehr verbreitete. In einigerl Ta­

gen r~ii;e ich fort, und schon heute habe ich'

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mehrere Abschiedsvis.iten zu machen begon­

nen, und das p. p. c. auf meinen Visitenkar_

teli hat in meinem nach der stillen Heimath

gerichteten Auge ein recht stattliuhes Anse.

hen. Da, wo ioh statt der Karte ein Anden­

ken einiger Freundschaft zurück zu lassen

mich .. glücklich genug glaube, gehe ich noch

in den letzten Augenblicken der Abreise hin,

drücke den Freund an mein Herz ,und nun

erst ruft mein bärtiger Iswoschtschik. sein

Padi, Padi, zur :Fahrt nach dem eigenen fernen ßause.

Noch einmal verweile ich bey allen Erin­nerungen in BeziehuJlg auf die Ankunft des

Kaisers, und die sdbige bezeichnenden

Ftyerlichkeiten, und. bemerke, dafs ich dir

von der Kirchenmusik in der lutherischen

St. Petrikirche, wt:lche nach Kompositionen

von Romberg und nach, von einem Or­

chester aus gewifs 300 Musikern bestehend,

zur Feyer der Rückkupft des. Monarchen

ausgeführt ward, noch nichts gesagt habe.

Der Gesang schien mir nicht so gut als die

Instrumentalbegleitung, vielleicht deshalb,

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um sie der Predigt mehr anzupassen, ,vel­

che wohl ohne V f:rlust für die Zuhörer ver­

schwiegen werden können.

Eine andere Rede 'in der finnischen Kir­

~he, als dort der Präsident des finnländi­

schen Konseils, der Genf:ral Graf Arrnfeldt,

zu Grabe getra'gen ward, war noch weniger

~elungen, obgleich die Zuhörer in selbiger

die Lebensgeschichte deI Redners" als Zu­gabe zu der .ehr unvollkommen erzählten

deli entschlummerten berühmten Hdden wld

Staatsmannes, erhielten. U ebrigens war die

Beerdigungsceremonie des durch ausgezeich­

nete Kenntnisse und Talente, wie durch sein

Schicksal in Europa bekannten Grafen Arm­

feldt, sehr glänzend, auf Befehl, von dem

Kriegs- und Generalgouverneur von Liv- und

KurIand, Marquis Paulucci, als Generaladju­

tant Sr. Majestät, zusammen mit dem finnlän­

disehen Generalgouverneur, Grafen Steinheil,

angeordnet worclen; eine Auszeichnung, wel.

ehe um so mehr die zarteste Achtung für dem

verewigten, dem Kaiser Alcxander mit Ull­

begränz'ter Anhänglichkeit ergeben gewesc-

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nen Grafen Armfeldt, aussprach,· da der

Marquis Puulucci ein· vt:rtrauter :Freund des

Verstorbenen gewesen, zu dt:ssen Lebens.

rettung der Kaiser Alles aufgeboten und sei.

nen eigenen Leibarzt, den berühmten Eng . .. länder Baron Wt:lly, nach Zarskoi·Selo, w()

der .Graf krank lag, öfters herausgesandt

hatte, und den Leidenden noch in den letz.

ten Tageu scines Le beus selbst besuchte, um

ihm, dem das irdische Dasern schon im Ent·

schwinden war, so viel Trost und. Freude zu

gt:ben-, als die ihm noc:h. übrigen kurzen Au.

genblicke zu tragen vermochten •.. Wüfsten

die Monarchen alle - und Gottloh , _ es

scheint, als hätte die Zeit st:lbst diese Wahr­

heit in den goldenen Reif der Herrscherkro.

nen eingeätzt - dafs Humanität und Milde

die schönsten Bürgen des Glückes der Re·

genten sind! Gröfser, mächtiger, und

durch ganz Europa, selbst das feindliche

:Frankreich nicht ausgenommen, geliebter

steht kein Monarch da, als Alexander, und

wie human er ist, weifs man ja auch allent.

halben, wo nur kultivirte MeDs~hen wohnen.

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Ich habe· bey dem kaiserlichen Leibarzte.

Baron Welly, die Uhr eines gefallenen fran­

zösischen Ofliciers gesehen, die des Kaisers

Alexander Bild in getriebener Arbeit auf

dem unteren Gehäuse hatte. Mehrere deI).

gleichen Bilder hat man den Gefangeneu

abgenommen. Die Menschen möchte icIl

mit musikalischen Instrumenten vergleichen.

die verbessert werden. wenn die Behand· lung dea Künstlers nur reine und melodi.

sehe Töne in ihnen zu wecken weifs. in

der rohen Hand des gemüthlosen wilden

Stümpers aber verderben. Der Krieg hat

die durch CiviJisation ehemals nicht wenig

berühmten Franzosen völlig entmenscht, die Russen aber civilisirt. so dafs man. einzelne

Ausnahmen abgerechnet, mit ihrem Betra­

gen mehr als jemals zufrieden ist. Die Ur ..

sache kann keine andere als die Einwirkung

des Geistes und Sinnes seyn,welche immer von

dem Herrscher auf sein Volk so entscheidend

ist. Friedrich der Grafse schrieb einen Anti-.

MachiavelI, und verdient schon darum seinen

ehrenden Beynamen ; doch die Geschichte

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selbst nahm ·!)ich· die· Mühe', dall Leben eines nach Maehiavclls Grundsätzen vollkommen

gebildeten Fürsten in· ihren Annalen aufzu.

zeichnen und seine Schicksale dtirchzuführen.

Wohin führte a bcr der SchI urs !l Bonaparte

würde ~ wtmner nicht alles Zutrauen auf

leine Menschlichkeit, auf seine Rechtlich.

keit verloren gf:habt hätte, nie so tief als

jetzt gesunken seyn, und es waren seine ver.

derblichen Grundsätze, die ihn zwar erho­

ben, aber auch unwiederbringlich stürzten.

Den ·!IIlten August 1814.

Noch einmal weidete ich heute mein Auge

an dem Anblicke des herrli.chen Petersburgs

und fuhr durch die schönsten Theile der

Stadt.. Auf einer der über die Newa gf:hen­

den SchifThrücken ruhete ich lange über's

Geländer gelehnt, und blickte auf die mit

Pallästen bekränzten Ufer, und auf den noch

prächtigern tiefen Strom, von unzähligen

grofsen und kleinen SchifTt:;n und Böten be­

deckt. Ein dünner Nebel, der die näheren

Gegenstände nicht verbarg, sondern nur in 16 '.t

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der Ferne· wie ein leichter Duft ~ul'nhen

scllien, schlafs· die AUSSIcht auf. den StrOUl;

und gab der Phantasie vollen :RalU,ll ,a4~'

Gestalten hinein zu bilden, welche erstehen

zu' lassen;~ . das erregte Gemüt!!. h~schte.­

Noch einmal will ich endlich .auch hier :aui

dem Balkon meines Logis verweilen,.,wn

den Eindruck dermkh_ hier. umringenden

Scenen recht iodie Seele' zu grabe~i und bleibe:nd zu erhalten. ~ Wie Alles lebt und­

wogt! . Da fall t mein Blick zuerst auf eine glän~

zende Eql\ipage. Der hinter dem Wagenm.

einer Kalesche folgende Kourierbt:"Zeichne.i

den. Minister, welcher wahrscheinlich zum

Monarchen seine· Vorträge bringt. - eiri

Paar elegante Herrerl in hürgerlicher Klei.

dung auf stolzen Engländern reiten nun vor:

über - einige Verkäufer VOll Lebensmitteln

umgeben sie, unrl: frische Fische -- Melo.

nen, rufen ihre Kehlen 90 laut, dafs sdbst

das Wagen gerassel üherschrien wird, und

oie jungen Herren, um dem gellenden Ruf

ihrer Eskorte zu clltgehen, reiten schneller

davon, als fürchteten sie seIhst für die ausge.

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boteneWaare, als saubere Hechte angese­

hen :zu werden. Unterdefs sind eine Menge

Spaziergänger auf dem Boulevard, welcher

sich -mit der Strafse parallel fortdehnt , vor­

über getogen, Damen, in rothen, blauen

ünd weissen Kleidern - wie Blumen sehen

sie allenthalben aus dem Grün der Linden­

bäume hervor. Der alte dicke Ordensritter

mit der Lorgnette, die er wie ein Gewehr

Vor allen Damen, die vorüber gehen, prä­

sentirt, scheint nicht folgen zu können, ob­

gleich e1; im Anblick jener schwarzenschIan­ken Gestalt, ein paar schnelle Schritte 'Wagen

zu wollen schien, aber bald wieder zum

langsamen Gange zurückkehrte; desto schnel­

ler eilen die drey Officiere in glänzenden

Uniformen mit. in einander geschlunge­

nen Annen vorüber, doch ein anderer mit

t:inem Stdzfufs begegnet ihnen, und sie ver­

weilen ruhig, und voll der dem braven Inva­

liden schuldigen Achtung, gehen sie zur na­

hen Ruhebank, fiort ihr Gespräch fortzu­

setzen.Ein Paar Damen und ihre Begleiter

atehen auf, und bitten dLm unbekannten In-

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validen ihren l")latz, den er anzum:hmcn sich

weigert, doch verbindlich bittend, treten die

Damen zurück, und mit einem wehmüthigen

Lächeln auf seinen Stelzfufs blick~nd, setzt

sich der Invalide. mit seinen Kameraden auf

den geräumten Platz. Im Anschauen dieser

rührenden Scene sind eine Menge Equipa­

gen, Lastwagen ,Reiter und Fufsgän.

ger vorüber gezogen,' und nur ein- altes ge· krümmtes Mütterchen, auf einer Fuhrmanns.

droschke sitzend, kann ich noch mit mei.

nem Blicke erreichen. Ein kleines Kind .itzt

auf ihrem Schoofse und spielend wiegt sie

cs hin und l1er, um die Bewegung des Fah.

rens noch schaukelnder zu machen. Diese

Alte scheint nur dem geliebten Kinde zu le.

ben, kein Blick fällt auf allen den Lärm, <ler

sie umgiebt. Liebendes Mutterherz , wer

sollte dich nicht gleich erkennen! es ist ge­

wifs die Grofstochtcr der Alten, und diese

soll die Freude einer Spazierfahrt geniefsen.

Welch ein stattliches Paar zieht dort indefs

auf dem Boulevard dahin? Ein alter russi.

&ther Kaufmann, mit starkem schwarzen

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Barte, und einer goldenen Ehrenmedaille

am blauen Bande auf der Brust, ihm zur

Seite die wohlgenährte Hausfrau, gehen

ernst UJ.:ld langsam vorüber. Die Kleidung

des Mannes jst einfaches Braun, doch die

Frau, reich und bunt geschmückt, trägt ein

weites Oberkleid von Goldstoff, und, roth

und weifs geschminkt, mit recht angeneh­

men, aber wenig belebten Zügen, scheint

sie wie eine Puppe sich fortzubewegen. Der

Hauptschmuck hat rund umher eine breite

Spitze von aufgereiheten Perlen, und diese schmücken, groft! und in dichten Reihen, auch den weifsen Hals, so wie schwere goI,

dene Ketten die Brust, und Juwelen, als

Ringe und Ohrgehänge gefafst, Hände und

Nacken. Jene Dame, die der russischen

Kaufmannsfrau am Arme einer Freundin

folgt, ist ein wahrhaftes Gegenbild der cr­

stern - welch neue modische KI.eidung,

doch wie verblüht das noch jugendliche Ge­

sicht, wie m<:tt und halb erloschen das an

sich schöne Auge, und wie wenig passend

zu diesem vom Hauche des Todes. schon an-

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gewehten Körper, der laute Scherz, das gel. lende Lachen, die schneHen Wendungen

am Arme der Gesellschafterin, der man es

ansieht, dars estnehr noch Dienst als Höf·

lichkeit ist, der hier Beyfall und Bewunde­

rung des reich gespendeten Witzes fordert.

Es ist mir als särse ich hier am Ufer eines

grorsen Stromes, und wollte die Lebensge-­

S"chichte jeder sieb erhebenden Welle schrei. ben, oder sie im Schattenrisse zeichnen; ver·

gebliche Mühe. In diesem Menschenstrome

ziehen die einzelnen Gestalten gleich den

Wogen vorüber. Hier ist das Leben selbst

und dennoch wieder sein Bild. Wer in ei­

nen Flurs, der schnell dahin eilt, niedel\>

blickt, dem schwindelt gewöhnlich der Kopf,

In den Strom solcher wogenden fluthend6:n

Menschen zu blicken, weckt ein ähnliches

schwindelndes Verlieren des eigenen Selbst,

in kreisenden Gedanken und Gefühlen. Ach!

wie kurz jst der l\{oment der Erscheinung,

kaum lang genug, liebende Arme auszubrei­

ten, um die befreundete Bildung neben sich

:zu umfassen, und dann schon wieder sinkend

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in die dunkle Tiefe, fort, unaufhaltsam fort

zum fernen Meere hin.

Indem ich dir diese Zeilen schreibe, fällt

es mir ein, dafs wie ich hier die vorüber

ziehenden Bilder einiger Minuten zu zeich­

nen 'versuchte, ich in diE:sE:In Versuche. zu­

gleich ein Bild von allem dem finde , ,wag

ich überhaupt von und über Petersburg an.

dich geschriE:hen habe, keine Beschreibung

der Stadt, ihrer U mgebungen, KUIlstWE:rke

und Sitten, nur blofs Momente, einzelne

Erinnerungen, und nichts weiter.

,WerPetersburg ganz so zeichnen wollteJ wie es ist, müfste eine Kunst erfunden ·h.1

ben, wie sie die Petersburger Zeitung in

diesem Jahre. No. 54 im Intelligenzblatte,'

meldet, wo blaue L~ft, hellgrüner Frühling

in Cylindergläsern, zu 10 Rubel die Unze;

nebst Wasser, Feuer, Sommer, Winter,

Tagund Nacht, auch Schnee in Menget·zu

Kauf ausgeboten wird. Die ganze Natur,.

das, was das Auge schaut, das Ohr hört,

das volle Wahrnehmen giebt, ein Bewufst-'

seyn, ein Gefühl, wie ich cs in keiner. CUh~

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dem Stadt so grofs, so mächtig in mir ent­

stehen fand. Doch was Wort und Schrift

wiedergeben kann, ist es mehr als eine Unze

llellgrüner Frühling im Glase?

Morgen ganz frühe, wenn alle l\ewoh­

ner Petersburgs noch in tiefem Schlafe ru­

hen, fahre ich von hier aus, und werde

dann zum Erstenmal die Strafsen einsam und

stille finden, in welchen ich so oft das ra· scheste Leben in den gedrängten Massen der

auf und nieder strömenden Menge bemerkt

hahe, - doch um desto ungestörter fällt

mein scheidender Blick auf alle die schönen

Plätze und Palläste, und mit ihrem Bilde in

der Seele kehre ich zur Heimath zurück, wo

alle Erinnerungen in der stillen Einsamkeit

wie Blurnenkeime im nährenden Hoden ruhen,

um wieder in Blüthen aufzuspricfscn. Phan­

tasie aber ist da die Künstlerin, welche pflc­

gend und nährend jede Blüthe noch schöner

und in wechselnden Farben zu entfalten weifs.

Ende des erstell Theils.