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Hilfe für kleine Störenfriede: Frühprävention statt Psychopharmaka Vom kritischen Umgang mit der Diagnose »Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung« Ü ber keine Diagnose ist in den vergangenen Jahren weltweit so viel, so heftig und so kontrovers diskutiert worden wie über die Auf- merksamkeits- und Hyperaktivitäts- störung (AD[H]S) – und das glei- chermaßen in der fachlichen wie der allgemeinen Öffentlichkeit. Ei- ne besondere Brisanz erhält diese Diskussion, weil nicht wenige der betroffenen (überwiegend) Jungen nicht nur durch eine ausgeprägte Konzentrationsschwäche und mo- torische Unruhe, sondern zudem durch ein starkes antisoziales Ver- halten auffallen. Sie handeln derart aggressiv, dass sie sich kaum sozial integrieren lassen und somit die Bildungsangebote im Kindergarten und mehr noch in Schulen nicht für ihre Entwicklung nutzen kön- nen. AD[H]S greift unabhängig von der sozialen Herkunft um sich: Den einen verbaut es den sozialen Auf- stieg, andere bedroht es mit sozia- lem Abstieg. Neben der Diagnose wird vor al- lem die Behandlung mit Psycho- pharmaka kontrovers diskutiert. Knapp die Hälfte der Kinder, bei de- nen AD[H]S diagnostiziert wurde, bekommt entsprechende Medika- mente, am häufigsten Präparate mit dem Wirkstoff Methylphenidat (Ri- talin, Medikinet, Concerta), die ins- besondere zwischen neun und zwölf Jahren verabreicht werden. Insge- samt wird die Zahl der medikamen- tös behandelten Kinder weltweit auf über zehn Millionen geschätzt. Sowohl bei der Häufigkeit der Diag- nose als auch der psychopharmako- logischen Behandlung gibt es inter- national große Unterschiede: Neben den USA wird in Ländern wie Ka- nada, Australien und Norwegen be- sonders schnell zu Medikamenten gegriffen. Während diese Psycho- pharmaka 1993 lediglich in 13 Län- dern eingesetzt wurden, sind es in- zwischen weit mehr als 50 Länder. Auch Deutschland holt auf; dem neuesten Bericht des Bundesinsti- tuts für Arzneimittel und Medizin- produkte sind enorme Steigerungs- raten zu entnehmen: So hat der Verbrauch dieser Mittel zwischen 1993 und 2006 um 3591 Prozent, von 34 Kilogramm auf 1221 Kilo- gramm zugenommen! Gesundheitsexperten warnen vor einer Verordnung überhöhter Dosen und vor einer laxen Indikati- onsstellung. Vermutlich ist tatsäch- lich die Zahl der schweren AD[H]S- Fälle über die Jahre gleich geblieben, während die Zahl der diagnostizier- ten Kinder zugenommen hat, die vergleichsweise nur wenige und schwach ausgeprägte Symptome zeigen. Da es keine objektive Gren- ze zwischen »krank« und »gesund« gibt, weist jeder Diagnoseprozess ei- ne Grauzone auf. Und da Methyl- phenidat auch das Leistungsvermö- gen von »gesunden« Kindern stei- gert, ist zu vermuten, dass die Präparate zur Verstärkung »norma- ler« Funktionen eingesetzt werden. Ursachenforschung: Wenn Kleinkinder keine verlässliche Bezugsperson haben Vor einigen Jahren hat sich in Frankfurt ein Forschungsverbund zwischen dem Sigmund-Freud-In- stitut (SFI), dem Verein für Analyti- sche Kinder- und Jugendlichenpsy- chotherapie (VAKJP), dem Städti- schen Schulamt und dem Fachbe- reich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Uni- versität etabliert, der den AD[H]S- Diskurs kritisch begleitet und eige- ne fächerübergreifende empirische Studien erstellt, die klinische, schul- psychologische und medizinsoziolo- gische Aspekte einbeziehen. Dazu gehört die von Marianne Leuzin- ger-Bohleber (SFI), Angelika Wolff (VAKJP) und Bernhard Rüger (Uni- versität München, statistischer Con- sultant am SFI) geleitete »Frankfur- ter Präventionsstudie«. Von dieser repräsentativen, kon- trollierten und prospektiven Unter- suchung, die von 2003 bis 2006 mit Drittmitteln der Zinkann-Stiftung, der Hertie-Stiftung und des Rese- arch Advisory Board der Internatio- nal Psychoanalytical Association durchgeführt wurde, haben wir den Nachweis erwartet, dass geeignete präventive Maßnahmen die Wahr- scheinlichkeit für die Entstehung und/oder Verfestigung von AD[H]S- Symptomen senken. Forschung aktuell 52 Forschung Frankfurt 3/2007 003 UNI 2007/03 05.12.2007 22:25 Uhr Seite 52

Forschung aktuell Hilfe für kleine Störenfriede ... · tik, traumatische Erlebnisse (zum Beispiel bedingt durch eine extrem schmerzhafte körperliche Erkran-kung, aber auch im Zusammen-hang

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Hilfe für kleine Störenfriede:Frühprävention statt PsychopharmakaVom kritischen Umgang mit der Diagnose »Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung«

Über keine Diagnose ist in denvergangenen Jahren weltweit

so viel, so heftig und so kontroversdiskutiert worden wie über die Auf-merksamkeits- und Hyperaktivitäts-störung (AD[H]S) – und das glei-chermaßen in der fachlichen wieder allgemeinen Öffentlichkeit. Ei-ne besondere Brisanz erhält dieseDiskussion, weil nicht wenige derbetroffenen (überwiegend) Jungennicht nur durch eine ausgeprägteKonzentrationsschwäche und mo-torische Unruhe, sondern zudemdurch ein starkes antisoziales Ver-halten auffallen. Sie handeln derartaggressiv, dass sie sich kaum sozialintegrieren lassen und somit dieBildungsangebote im Kindergartenund mehr noch in Schulen nichtfür ihre Entwicklung nutzen kön-nen. AD[H]S greift unabhängig vonder sozialen Herkunft um sich: Deneinen verbaut es den sozialen Auf-stieg, andere bedroht es mit sozia-lem Abstieg.

Neben der Diagnose wird vor al-lem die Behandlung mit Psycho-pharmaka kontrovers diskutiert.Knapp die Hälfte der Kinder, bei de-nen AD[H]S diagnostiziert wurde,

bekommt entsprechende Medika-mente, am häufigsten Präparate mitdem Wirkstoff Methylphenidat (Ri-talin, Medikinet, Concerta), die ins-besondere zwischen neun und zwölfJahren verabreicht werden. Insge-samt wird die Zahl der medikamen-tös behandelten Kinder weltweitauf über zehn Millionen geschätzt.Sowohl bei der Häufigkeit der Diag-nose als auch der psychopharmako-logischen Behandlung gibt es inter-national große Unterschiede: Nebenden USA wird in Ländern wie Ka-nada, Australien und Norwegen be-sonders schnell zu Medikamentengegriffen. Während diese Psycho-pharmaka 1993 lediglich in 13 Län-dern eingesetzt wurden, sind es in-zwischen weit mehr als 50 Länder.Auch Deutschland holt auf; demneuesten Bericht des Bundesinsti-tuts für Arzneimittel und Medizin-produkte sind enorme Steigerungs-raten zu entnehmen: So hat derVerbrauch dieser Mittel zwischen1993 und 2006 um 3591 Prozent,von 34 Kilogramm auf 1221 Kilo-gramm zugenommen!

Gesundheitsexperten warnenvor einer Verordnung überhöhter

Dosen und vor einer laxen Indikati-onsstellung. Vermutlich ist tatsäch-lich die Zahl der schweren AD[H]S-Fälle über die Jahre gleich geblieben,während die Zahl der diagnostizier-ten Kinder zugenommen hat, dievergleichsweise nur wenige undschwach ausgeprägte Symptomezeigen. Da es keine objektive Gren-ze zwischen »krank« und »gesund«gibt, weist jeder Diagnoseprozess ei-ne Grauzone auf. Und da Methyl-phenidat auch das Leistungsvermö-gen von »gesunden« Kindern stei-gert, ist zu vermuten, dass diePräparate zur Verstärkung »norma-ler« Funktionen eingesetzt werden.

Ursachenforschung: Wenn Kleinkinder keine verlässliche Bezugspersonhaben

Vor einigen Jahren hat sich inFrankfurt ein Forschungsverbundzwischen dem Sigmund-Freud-In-stitut (SFI), dem Verein für Analyti-sche Kinder- und Jugendlichenpsy-chotherapie (VAKJP), dem Städti-schen Schulamt und dem Fachbe-reich Gesellschaftswissenschaftender Johann Wolfgang Goethe-Uni-versität etabliert, der den AD[H]S-Diskurs kritisch begleitet und eige-ne fächerübergreifende empirischeStudien erstellt, die klinische, schul-psychologische und medizinsoziolo-gische Aspekte einbeziehen. Dazugehört die von Marianne Leuzin-ger-Bohleber (SFI), Angelika Wolff(VAKJP) und Bernhard Rüger (Uni-versität München, statistischer Con-sultant am SFI) geleitete »Frankfur-ter Präventionsstudie«.

Von dieser repräsentativen, kon-trollierten und prospektiven Unter-suchung, die von 2003 bis 2006 mitDrittmitteln der Zinkann-Stiftung,der Hertie-Stiftung und des Rese-arch Advisory Board der Internatio-nal Psychoanalytical Associationdurchgeführt wurde, haben wir denNachweis erwartet, dass geeignetepräventive Maßnahmen die Wahr-scheinlichkeit für die Entstehungund/oder Verfestigung von AD[H]S-Symptomen senken.

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Im Gegensatz zu Verhaltensthe-rapeuten betonen Psychoanalytiker,dass ein Aufmerksamkeitsdefizitund Hyperaktivität als Symptomezu verstehen sind, aber kein ein-heitliches diagnostisches Bild undschon gar keine Krankheit darstel-len. AD[H]S kann durch ganz ver-schiedene Ursachen hervorgerufenwerden: Dazu gehören unter ande-rem eine hirnorganische Problema-tik, traumatische Erlebnisse (zumBeispiel bedingt durch eine extremschmerzhafte körperliche Erkran-kung, aber auch im Zusammen-hang mit Krieg und Verfolgung),das Aufwachsen mit körperlichoder seelisch kranken Eltern, eineemotionale Frühverwahrlosung; inmanchen Fällen liegt dem Störungs-bild sogar eine Hochbegabung zu-grunde. Um die individuellen Hin-tergründe, die zu einem AD[H]Sführen, genau zu verstehen, genügtoft eine deskriptive Diagnose nicht,wie sie mit Hilfe der gebräuchlichenDiagnosemanuale (ICD-10, DSM-IV) gestellt wird. Das genaue Ver-ständnis der spezifischen Ursachendes AD[H]S ist die Voraussetzung,um zu entscheiden, mit welchenpädagogischen, therapeutischenoder medizinischen Angeboten ei-nem spezifischen Kind am ehestengeholfen werden kann. Eine medi-kamentöse Behandlung ist nur einevon vielen Möglichkeiten, die erstaufgrund einer gründlichen psy-chologischen und medizinischenAbklärung erfolgen sollte.

Tierversuche zeigen: Medikamente können Lernprozess unterbinden

Ein vorsichtiger Umgang mit Medi-kamenten scheint aber auch ausneurobiologischen Gründen gebo-ten. Das zeigen Tierversuche: Esgibt Ratten, die sich von ihren Art-genossen durch eine – genetisch be-dingte – »Hyperaktivität« unter-scheiden. Diese Tiere benötigen ihrquirliges Verhalten, um neokortika-le Kontrollfunktionen für ihre be-sonders vitalen Impulse auszubil-den. Wird ihr Verhalten medika-mentös unterbunden, lernen sienicht, diese Anlagen für sich zu nut-zen. Langfristig zahlen diese Ratteneinen hohen Preis: Ruhiggestelltverlieren sie ihre Fähigkeit, Proble-me »kreativ« zu lösen. Der Emoti-onsforscher Jaak Panksepp leitetaus diesen Befunden das Plädoyerab, dass Kinder im Allgemeinen

und lebhafte Kinder ganz besondersdas freie Spiel und die Entfaltungvon Neugier und Wissbegier brau-chen, um ein kreatives Problemlö-sungsverhalten zu entwickeln. Einmedizinisch nicht indiziertes Ruhig-stellen durch Medikamente kannsolche Entwicklungen erschwerenoder sogar unterbinden.

Zudem zeigen neurobiologischeund psychologische Studien, dassfrühe Regulationsstörungen (die ei-ne der möglichen Ursachen vonAD[H]S sein können) durch inten-sive Beziehungserfahrungen nocherstaunlich gut zu korrigieren sind.Die neuronalen Netze entwickeln

sich weiter und können frühe neu-ronale »Fehlschaltungen« besten-falls korrigieren oder kompensie-ren. Verglichen mit Verhaltensände-rungen bei Erwachsenen, ist derAufwand für solche Veränderungenrelativ gering. Deshalb versucht die»Frankfurter Präventionsstudie« dieChancen auszuloten, die nicht me-dikamentöse, psychoanalytisch-pä-dagogische Präventions- und Inter-ventionsprogramme bieten.

»Frankfurter Präventions-studie«: Vom anderen Umgang mit (zu) lebhaften Kindern

An einer repräsentativen Stichpro-be von Kindern aus 14 zufällig aus-gewählten Städtischen Kindertages-stätten in Frankfurt konnten wirbelegen, dass ein zweijähriges psy-choanalytisch-pädagogisches Prä-ventions- und Interventionspro-gramm die Anzahl der Kinder mitpsychosozialen Integrationsstörun-gen, insbesondere mit AD[H]S, imersten Schuljahr statistisch signifi-kant senken kann. Um eine statisti-

sche Vergleichbarkeit zu garantie-ren, wurden die Kitas nach Sozial-struktur der Elternschaft und An-zahl auffälliger Kinder zu Clusternzusammengefasst und anschließendinnerhalb der Cluster nach Zufallpaarweise kombiniert: Eine Kita be-kam das Präventions- und Inter-ventionsangebot, die Vergleichs-Kita nicht und diente daher als so-genannte Kontrollgruppe. Das An-gebot bestand aus verschiedenenBausteinen: 14-tägige Supervisio-nen, wöchentliche psychoanaly-tisch-pädagogische Unterstützun-gen, intensive Elternarbeit sowiepsychoanalytische Einzeltherapien

für besonders bedürftige Kinder inden Einrichtungen selbst. Falls not-wendig, wurde mit dem Sozial- undJugendamt zusammengearbeitet.Die Studie wurde von 2004 bis2006 durchgeführt.

Wir konnten nachweisen, dassdurch dieses Angebot die Aggressi-vität der Kinder zurückging: Ag-gressivität ist die wichtigste Varia-ble, wenn man soziale Anpassungs-fähigkeit betrachtet, und kann mitder »Döpfner Skala« gemessen wer-den, einem Instrument, das dieWahrnehmung erwachsener Beob-achter erfasst. Lebhafte bis »hyper-aktive« Kinder können sowohl in

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Zugehörigkeitim Untersuchungsdesign

PräventionsgruppeKontrollgruppe

Aggressivität

11,00

10,00

9,00

8,00

7,00

6,00

Geschätztes Randmittel

2 Jahre1

Gemessen wurde die von den Erzieherinnen, den Eltern undPsychologen beobachtete Aggressivität der Kinder, die an demPräventionsprogramm teilgenommen haben, und der Kita-Kin-der aus der Kontrollgruppe, die nicht in den Genuss diesesAngebots kamen. Deutlich erkennbar ist, dass das aggressiveVerhalten innerhalb von zwei Jahren bei den Kindern aus demPräventionsprogramm statistisch signifikant abnahm. [Übri-gens sind die anfänglichen (zufälligen) Unterschiede zwischender Interventions- und der Kontrollgruppe nicht signifikant.]

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Lebhafte Kinder brau-chen Freiräume, umsich austoben zu kön-nen und auch um zulernen, wie man Kon-flikte lösen kann. Ru-higstellung durch Medi-kamente erschwert sol-che Entwicklungen.

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einer Kita als auch in der Grund-schule das soziale Leben mit ihrerVitalität und ihrer Phantasie berei-chern, falls sie sich nicht gleichzeitigübermäßig in aggressive Auseinan-dersetzungen mit anderen Kindernoder den Erwachsenen verwickeln.Deshalb verbessert der Rückgangder Aggressivität nicht nur dieChancen dieser Kinder, nicht weiterin Konflikte verstrickt oder sogaraus der Spielgruppe ausgeschlossenzu werden, sondern die Möglich-keit, sozial anerkannt und geschätztzu werden. Ebenfalls statistisch sig-nifikante Ergebnisse ergaben sichauf der Unterskala der »Ängstlich-keit«. Bekanntlich steht Aggres-sivität gerade bei Jungen oft in Zu-sammenhang mit einer Abwehrvon Angst. Unter anderem durchdas von Manfred Cierpka und Mit-arbeitern (Heidelberg) entwickelteGewaltpräventionsprogramm»FAUST-LOS«, das zu den Baustei-nen der Präventionsstudie gehörte,konnte die Wahrnehmung der Kin-der von Gefühlen und Reaktionenihrer Spielkameraden geschärft, dasSelbstbewusstsein und die sozialeKompetenz gestärkt und damit dieÄngstlichkeit verringert werden.

Wir haben uns das Phänomender »Hyperaktivität« genauer ange-sehen. Aus vielen Studien ist be-kannt, dass die motorische Unruhebei Vier- bis Sechs-Jährigen ab-nimmt. Auch in unserer Studiestellten wir einen statistisch signifi-kanten Rückgang der Hyperaktivi-tät sowohl bei der Interventions- alsauch bei der Kontrollgruppe fest.

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Auch nach Ab-schluss der»Frankfurter Prä-ventionsstudie«sind die Erziehe-rinnen daran inte-ressiert, mit demPräventions- undInterventionspro-gramm weiterzuar-beiten. Das Pro-jekt »STARTHIL-FE«, gefördert vonder Polytechni-schen Stiftung,der Crespo Foun-dation und der Zi-kann-Stiftung,wird dies ermögli-chen.

Einen statistisch signifikanten Un-terschied zwischen der Interventi-ons- und der Kontrollgruppe findenwir interessanterweise nur bei denMädchen. Wir können diesenBefund unterschiedlich interpretie-ren: als Hinweis, dass die Mädchenstärker von unserem Angebot profi-tiert haben als die Jungs oder alsBeleg, dass sich in diesem Alter einmädchenspezifisches (weniger hy-peraktives) Rollenverhalten ausbil-det. Wichtig für uns ist, dass stören-des Verhalten in der Regel durch ei-ne Kombination von hyperaktivemund aggressivem Verhalten zustan-

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de kommt. Sind Jungen lediglichlebhafter (»hyperaktiver«) und ver-wickeln sie sich nicht in aggressiveAuseinandersetzungen, können sie,wie eben erwähnt, ein belebendesElement in einer Kindergartengrup-pe oder einer Schulklasse darstel-len. Um die Langzeitwirkungen derPräventionsstudie zu prüfen, habenwir die Kinder nach ihrem erstenSchuljahr im Sommer 2007 erneutuntersucht. Diese Daten sind nochnicht ausgewertet.

Programm erreicht auch Kinder aus bildungsfernenSchichten

Alles in allem zeigt sich, dass es mitden beschriebenen Maßnahmengelingt, die soziale Integration vonKindergartenkindern zu verbessern,und das sogar in unserer »Feldstu-die«, bei der – anders als in einer»Laborstudie« – mit vielen interve-nierenden Variablen zu rechnen ist.Auch die Erzieherinnen sind vondem Präventions- und Interventi-onsprogramm überzeugt. So habensich nach dem offiziellen Abschlussder Studie im August 2006 bis aufeine alle Kitas für eine Fortführungder Supervisionen ausgesprochen.In manchen Kitas wurde auch dieFortsetzung der wöchentlichen psy-choanalytisch-pädagogischen Arbeitgewünscht. Das Projekt »START-HILFE« (nun gefördert durch diePolytechnische Stiftung, die CrespoFoundation und die Zikann-Stif-tung) macht die Fortführung der

Insbesondere Jungen reagieren häu-fig aggressiv, wenn sie ängstlich sind;deshalb ist Ängstlichkeit ein wichtigesIndiz, auch wenn es um das Messen vonwahrgenommenen Verhaltensänderun-gen geht. Diese Grafik dokumentiert,dass die Ängstlichkeit in der Interventi-onsgruppe verglichen mit der Kontroll-gruppe statistisch signifikant abnimmt.

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Bezüglich der Veränderungen auf derSkala »Hyperaktivität« konnten wir uner-warteterweise nur einen statistisch sig-nifikanten Rückgang bei den Mädchender Interventionsgruppe, verglichenmit der Kontrollgruppe, feststellen(nicht bei den Jungen).

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Zugehörigkeitim Untersuchungsdesign

PräventionsgruppeKontrollgruppe

Ängstlichkeit

14,00

12,00

10,00

8,00

Geschätztes Randmittel

2 Jahre1

Zugehörigkeitim Untersuchungsdesign

PräventionsgruppeKontrollgruppe

Hyperaktivität

16,00

14,00

12,00

10,00

8,00

Geschätztes Randmittel

2 Jahre1

NurMädchen

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Gestaltung ihrer Lebenswirklichkeiteinnehmen sollen, ist bei der kon-kreten Unterstützung von Kindernentstanden, die ausgeschlossen undmachtlos sind. Vor diesem Hinter-grund stellen sich Fragen zur Ge-sundheit von Kindern neu. Da imAD[H]S-Diskurs die Stimmen derErwachsenen überwiegend mehrzählen als die der Kinder, drängtsich die Frage auf, in welcher Weisedie Kinderrechte auf Gesundheit(Artikel 23 des Amsterdamer Ver-trags der Europäischen Union) tan-giert sind, wenn neue Krankheitenentdeckt werden, deren Behand-lung in einer über Jahre oder garJahrzehnte dauernden Medikationbesteht. Nun ist eine Beteiligungder Kinder an allen Entscheidun-gen, die sie betreffen, freilich leich-ter gefordert als angemessen reali-siert. So lange Erwachsene, Ärzteund Eltern, es besser wissen, gebie-tet es ihnen ihre professionelle oderpersönliche Fürsorgepflicht, Ent-scheidungen stellvertretend für dieKinder zu treffen, um Schaden vonihnen abzuwenden. Das Argument,Kinder könnten überfordert sein,darf Erwachsenen allerdings nichtdazu dienen, sich von vorneherein

einen zeitaufwändigen Verständi-gungsprozess zu ersparen.

In dem neu begonnenen Projektwerden 30 Jungen im Alter zwi-schen acht und zwölf Jahren, diePsychostimulanzien einnehmen,auf kindgerechte Weise befragt. ImUnterschied zu einer psychothera-peutischen oder pädagogischen Per-spektive geht es uns bei dieser Stu-die darum, wie die betroffenenJungen über ihr Verhalten und des-sen Beurteilung durch Eltern, Leh-rer und Ärzte denken, ob und wieweit sie Deutungsmuster der Er-wachsenen übernehmen oder übereigene verfügen, die sie gegen dieWelt der Erwachsenen mehr oderweniger offensichtlich verteidigen.Obgleich die Untersuchung erst amAnfang steht, sind die bisher geführ-ten Gespräche höchst eindrücklich.Wenn die Jungen darauf bestehen,nicht »krank« zu sein, und sagen»Ich nehme es, weil Mama es will«,»Ich schreibe dann bessere Noten,und dann freut sich meine Mutter«oder »Papa mag mich auch, wennich es nicht genommen habe«,dann werden kindliche Nöte kennt-lich, von denen man im AD[H]S-Diskurs üblicherweise nichts hört. ◆

Die Autoren

Prof. Dr. Dr. Rolf Haubl ist seit 2002 Professor für Soziologie und psychoanalytischeSozialpsychologie an der Goethe-Universität und Direktor des Sigmund-Freud-Insti-tuts in Frankfurt. Er erforscht unter anderem den Zusammenhang von Krankheitund Gesellschaft sowie die zunehmende Ausdifferenzierung des Beratungsmarkts.E-Mail: [email protected]; Internet: www.sfi-frankfurt.de

Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber ist seit 2001 Direktorin des Frankfurter Sig-mund-Freud-Instituts und seit 1988 Professorin für psychoanalytische Psychologiean der Universität Kassel. Die Forschungsschwerpunkte der gebürtigen Schweizerinsind psychoanalytische Therapieforschung, Entwicklungspsychologie des Kindes-und Jugendalters sowie interdisziplinäre Forschung im Bereich Psychoanalyse undCognitive Science, ferner Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. E-Mail: [email protected],Internet: www.sfi-frankfurt.de

Studie möglich, so dass 2007 weite-re zehn Frankfurter Kitas von unse-rem Programm profitieren können.

Mit unserem Projekt konntenwir auch AD[H]S-Kinder aus bil-dungsfernen Schichten erreichen,die dringend psychotherapeutischeHilfe benötigen, aber kaum dieSchwelle zum niedergelassenenTherapeuten oder einer Ambulanzfinden: 17 Kinder nehmen an einerTherapie in den vertrauten Räumenihrer Kita teil, bei acht weiterenKindern waren die Eltern nicht be-reit, therapeutische Hilfe anzuneh-men. Zurzeit versuchen wir mit denMitteln der Psychotherapie-For-schung die Wirksamkeit dieser ana-lytischen Kindertherapien nachzu-weisen, um anschließend die Er-gebnisse dem WissenschaftlichenBeirat für Psychotherapie vorzule-gen und dadurch die Weiterfinan-zierung dieser Therapien durch dieKrankenkassen zu sichern (unter-stützt durch den Verein Analyti-scher Kinder- und Jugendlichen-psychotherapeuten, VAKJP).

AD[H]S-Kindern eine Stimme geben

Mit der vor wenigen Monaten be-gonnenen, von der Köhler-Stiftunggeförderten Studie »Ritalin im All-tag. Zum Selbstbild von Jungen mitAD[H]S« (Leitung Rolf Haubl undKatharina Liebsch, Fachbereich Ge-sellschaftswissenschaften) setzenwir noch einmal an einem anderenPunkt an. Wir gehen von der Beob-achtung aus, dass es nur sehr weni-ge Untersuchungen gibt, in denendie betroffenen Kinder selbst zuWort kommen. Nun verlangt aberdie UN-Konvention von 1989 überdie Rechte des Kindes, dass Kinderbei allen sie betreffenden Angele-genheiten ein Mitspracherecht ha-ben sollen. Ein solches rechtsbasier-tes Verständnis, dass Kinder eineaktive und effektive Rolle bei der

M. Leuzinger-Boh-leber, Y. Brandl, G.Hüther (Hrsg.),(2006), ADHS –Frühpräventionstatt Medikalisie-rung. Göttingen:Vandenhoeck &Ruprecht.

R. Haubl (2007),Krankheiten, dieKarriere machen:Zur Medizinalisie-

rung und Medikali-sierung sozialerProbleme, in: Ch. Warrlich, E.Reinke (Hrsg.), Auf der Suche.PsychoanalytischeBetrachtungenzum AD(H), Gießen, Psychoso-zial-Verlag, S. 159 – 187.

Literatur

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Hinter aggressi-vem Verhalten vonJungen verbirgtsich oft Ängstlich-keit. Das Gewalt-präventionspro-gramm »FAUST-LOS« soll dieWahrnehmungsfä-higkeit für die Ge-fühle und Reaktio-nen der Spielka-meraden schärfen.

003 UNI 2007/03 05.12.2007 22:25 Uhr Seite 55