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64 WISSENSCHAFT FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 30. MÄRZ 2008, NR. 13 65 R o y a l C a n a l Eden Quay Abbey Street Middle Abbey Street Upper Burgh Quay Zollhaus (Custom House) Liffey O'Connell Brücke Freemans Journal Oval Towers Abbey Theatre Metropolitan Hall North City Dining Rooms Butlers Monument House tch Loopline Bridge Smi igan k Hall Tivoli Lemon Elvery Kutscherkneipe Menton Thom Mooney Ship Arnott Hanlon Simpsons Hospital Williams & Wood Leedom Hampton Todd, Burns & Co. Boyd ApothecariesHall Krankenhaus Bewley & Draper Cullen Prescott Mesias Wynns Hotel Hop- kins Hamilton Long Dillon W O'Connell Butt Bridge Beresfo rd Pla ce Loopline Parnell Pater Mathew John Gray Nelson- säule Kapitel- haus Synagoge Polizei Kiernan Bibliothek Cahill St George’s Church Congested Districts Board St Marys Chapel of Ease (Schwarze Kirche) Froed- man mit der losen Kellerklappe W Blo Nr. 7 Nr. 8 Nr. 14 Nr. 75 O’Rourke Nannetti Buckley Cassidy St. Joseph Volksschule Fleischer (Dlugacz) Findlater’s Church Belvedere College Pfarrhau Sheehy Mountjoy Square Lady Maxwell Maginni Lambe Findlater Blinden- Gewerbe- anstalt Catholic Commer- cial Club Civil Service College Falconer Hammam Pro- Cathedral Haupt- postamt Irish Farm Produce Company Prince’s Stores Clery’s Rotunda Mrs M Guinnes Byrne Freikirche St Joseph’s Church Asylum St Agatha’s Church Newcomen Bridge O’Neill Youkstetter Bergin Grogan Gallagher Aldborough House Schule Christia Mac- Connell Xavier’s Church Kloster der Barmherzigen Schwestern Custom House Quay North Wall Quay Liffey Abbey Street Lower lors Walk Liffey Street Lo Williams's Row Swift Row Mary Street Abbey Capel S Nelson Street Hardwicke Street Gardiner Place Great Denmark Street Mary Street Henry Street Princes Street Little Britain Street Little Mary Street Hardw. Lane Temple St North Rutland Square East North Frederick Street Moore Street Jervis Street Har d w i c k e Pl dere Place Fitzgibbon Street Great Charles Street Gardiner Street Middle West North South East Street U pper Gardiner Street Lower North Great George’s Street Mecklenburg Street (= Tyrone Street) Purdon Street Montgomery Street Buckingham Street Charleville Mall North William Street Sheriff Street Marlborough Street North Earl St Talbot Street Talbot Street Mabbot Street Mabbot Lane Beaver St Talbot Place Store Street Richmo Dignam’s Ct Eccles Street Blessington Street Great Britain Street Green Street Capel Street Sackville Street (= O’Conell Street) Dorset Street Upper Dorset Street eley Street Bolton Stre et Summerhill Lower Gloucester Street Richmond Place Portland Row Amiens Stre et North Strand Road Rutland Square Städt. Bassin Gillen Rabaiotti Olhousen Cormack Mietstallungen Dan Bergin Mullett Signal House North Star Hotel Leichenhalle (Hintereingang) Dock Tavern Polizeistation Abteilung C A B C D E F G H I J K L Great Northern Railway Station Mrs Mack Bella Cohen Magdalenen- heim Schmiede Rourke Baird Männerbedürfnisanstalt O’Beirne A B C D E F G H I J K L S t r a ß e n b a h n Straßenbahn Straßenbahn D er Brief aus dem fernen Pa- ris war anders, als Neffen ihn normalerweise an ihre betagten Tanten schreiben. Die „liebe Tante Josephine“ in Dublin möge doch bitte folgende Frage be- antworten: „Ist es für einen norma- len Menschen möglich, entweder vom Trottoir oder von den Trep- penstufen aus über das Unterhof- gitter vor dem Haus Eccles Street Nr. 7 zu klettern, sich vom unters- ten Ende des Gitters so weit herab- zulassen, dass die Füße zwei oder drei Fuß über dem Boden sind, und abzuspringen, ohne sich zu verletzen?“ Tante Josephine tat, was sie konnte, und das Ergebnis ihrer Re- cherchen fand Eingang in die Welt- literatur: Im vorletzten Kapitel des „Ulysses“ beschreibt ihr Neffe James Joyce, wie Leopold Bloom auf diese Weise sein Haus in der Eccles Street Nr. 7 betritt. Wer begeistert mit Commissa- rio Brunetti durch Venedig wan- delt, Victor Hugos Paris durch- läuft oder Thomas Manns Zauber- berg in Davos aufsucht, liebt sol- che topographischen Engführun- gen zwischen Literatur und Reali- tät. Und gibt sich damit unter Um- ständen einer ordentlichen Illusion hin, weiß Barbara Piatti. Die Literaturwissenschaftlerin hat sich der Erforschung fiktiona- ler Räume verschrieben. Ein Ge- biet der Literaturwissenschaft, das, wie sie sagt, bislang ziemlich stiefmütterlich behandelt wurde. Das will die Schweizerin ändern und hat sich ein ehrgeiziges Ziel ge- steckt, das nicht nur Literatur- wissenschaftler vor Probleme stellt. Zusammen mit ihren Kolle- gen vom Institut für Kartographie der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich ent- wickelt sie derzeit einen Atlas, der literarische Schauplätze in Europa auf Computerkarten sichtbar macht. Das hört sich einfacher an, als es ist: Piatti interessiert sich für Ge- setzmäßigkeiten, nach denen sich Dichter der realen Räume bedie- nen, um sie in ihrer Phantasie zu verfremden. „Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass fiktiona- le Orte nur selten mit der Realität übereinstimmen“, sagt Piatti, denn gerade die dichterische Vorstel- lungskraft scheint an keinen physi- schen Raum mit geographischen und topographischen Merkmalen gebunden zu sein. Doch Barbara Piatti ist vom Gegenteil überzeugt: „Schreibende fühlen sich häufig zu bestehenden Orten und Landschaf- ten hingezogen“ – etwa, weil sie dort ihre Kindheit verbracht oder ihre erste Liebe getroffen haben. Manche Autoren bemühen sich so- gar, ihre Handlungsräume mög- lichst nah mit einem georäumli- chen Pendant in Übereinstim- mung zu bringen – Friedrich Schil- ler studierte eifrig Karten, um im „Wilhelm Tell“ die bergige Szene- rie des Vierwaldstätter Sees topo- graphisch korrekt und plastisch darzustellen, ohne jemals dort ge- wesen zu sein. Piattis europäischer Literaturat- las soll nicht nur die in literari- schen Texten genannten Plätze, Straßen, Städte, Berge oder Regio- nen verorten. „Diese Methode ver- wenden Literaturwissenschaftler bereits, um die Schauplätze eines Textes oder Autors sichtbar zu ma- chen“, erklärt Piatti; dies geschehe bereits seit gut einhundert Jahren. Doch der Erkenntnisgewinn dieser Form von Literaturgeographie sei relativ gering, habe sie doch ledig- lich illustrierenden Charakter. Und „als Interpretationswerkzeug für Literaturwissenschaftler“ seien solche Karten wenig geeignet, sagt Piatti. Denn wer glaubt, ein Schriftstel- ler bilde lediglich real existierende Räume ab, täusche sich gründlich. „Geo- und Textraum sind niemals identisch“, sagt Piatti. Und diesen dichterischen Raumvariationen sei- en keine Grenzen gesetzt. Viele Au- toren scheuten keine Mühe, die Be- züge zwischen realer und literari- scher Geographie gründlich und hochartifiziell zu verwischen. Am simpelsten geht das durch das Um- benennen einzelner Orte: Effi Briest verbringt ihre Ehejahre etwa im fiktiven Kessin, das Theo- dor Fontane dem existierenden Swinemünde nachempfand. Etwas avancierter ist der literarische Kniff, einen Schauplatz ziemlich unpräzise in einer geographischen Region flottieren zu lassen wie etwa Gottfried Kellers Seldwyla. Diese Ungenauigkeiten in der Literaturgeographie machen den Züricher Kartographen zu schaf- fen. „Sie widersprechen im Grun- de sogar unserer Arbeit“, sagt Lo- renz Hurni, Leiter des Instituts für Kartographie an der ETH Zürich. Zusammen mit seinen Mitarbei- tern entwickelt er geographische und thematische Karten aller Art, gibt Schulatlanten heraus und hat sich in jüngster Zeit auf interaktive computerbasierte Karten speziali- siert. „In der Kartographie gibt es keine nicht exakt lokalisierbaren Räume“, sagt Hurni und zitiert eine Definition der International Cartographic Association, die den Konflikt zwischen Literatur- und Georaum auf den Punkt bringt. Diese lautet: Eine Karte ist ein symbolisches Abbild ausgewählter Merkmale der geographischen Wirklichkeit. Sie zeigt etwa, wo Erdölvorkommen im Boden liegen oder wie viel Niederschlag im Jahr auf eine Region fällt. Wie sollte da ein Kartograph diese ungenauen und mit fiktionalen Elementen ver- sehenen Schauplätze der Literatur auf eine Europa-Karte bannen? Trotzdem war Hurnis Interesse sofort geweckt, als ihm Barbara Pi- atti vor drei Jahren eine Kooperati- on zu genau dieser Problematik vorschlug. Schließlich liegt diese besondere Herausforderung auch im Trend, der nach digitalisierten und interaktiven Karten mit nut- zerfreundlichen Oberflächen ver- langt. Dabei sind vor allem zwei Dinge gefragt: komplexe, mit De- tails gespickte Datenbanken sowie neue grafische Lösungen, um un- terschiedliche Themenräume zu vi- sualisieren. Hurni hat zusammen mit Kollegen einen Multimedia-At- las für die Schweiz entwickelt. Sei- ne Nutzer können dank einer kom- plexen Stichwortabfrage immer wieder neue Karten zu einem The- ma ihrer Wahl generieren. „Für eine derart feine Suchabfra- ge müssen Sie eine Vielzahl an Da- ten eingeben“, sagt Hurni. Das gilt auch für den projektierten Litera- turatlas. Kein leichtes Unterfan- gen, denn neben der reinen Daten- eingabe müssen zunächst Kriterien festgelegt werden, die später kom- plexe Abfragen ermöglichen. Eine besondere Herausforderung be- steht in der Lösung eines anderen Problems: Die Vielfalt imaginärer Georäume muss auf den Karten er- kennbar visualisiert werden. Daran tüfteln die Forscher der- zeit und erproben an drei Modell- regionen erste Lösungsansätze. Ausgewählt haben sie die Schwei- zer Alpenregion rund um den Vier- waldstätter See, den Stadtraum Prag sowie die Küstenlandschaft Nordfrieslands. Sechs Mitarbeiter sind damit beauftragt, für jede Re- gion zwischen 200 und 500 literari- sche Texte unterschiedlicher Gat- tungen aus den Jahren von 1750 bis heute in eine Datenmaske einzuge- ben. Ob in einer Kurzgeschichte, in einem Drama oder Roman: jede Art von imaginärem Raum, der Be- züge zu einem Georaum erkennen lässt, soll, gefördert durch die Ge- bert Rüf Stiftung in Basel, bis Ende 2009 in einer Datenbank auf- genommen werden. Die Forscher versuchen dabei, die Vielfalt litera- rischer Räume in Kategorien zu fassen, die sich später auf den zwei- dimensionalen und grauen Hinter- grundkarten in Form und Farbe optisch voneinander abheben sol- len. Für jeden literarischen Text gilt zunächst die Frage: Findet die Handlung tatsächlich vor Ort statt, oder denkt eine Person nur daran, dort eine Tat zu verrichten? Auf der Karte zeigen zwei unterschied- liche Farbskalen entsprechend an, ob ein realer oder ein projizierter Handlungsraum vorliegt. Die Ska- len spezifizieren diese beiden Raumformen jeweils weiter. Farb- lich unterschieden wird, ob ein Ort aus der geographischen Reali- tät einigermaßen exakt in den Text importiert, an einem realen Ort frei erfunden wurde – oder ob er li- terarisch „transformiert“ wurde. Unter transformiert verstehen Lite- raturwissenschaftler etwa, wenn ein realer geographischer Raum fiktional verändert oder umbe- nannt wurde. Dies ist der verhält- nismäßig leicht zu lösende Teil des Visualisierungskonzepts. „Schwierig wird es, wenn die Räume nicht klar zu verorten sind“, sagt Hurni. Die Datenbank unterscheide deshalb Handlungsor- te, die präzise, zonal oder nicht ver- ortbar sind. Sie ist mit Google Maps verknüpft, so dass jeder Mit- arbeiter die geographischen Koor- dinaten eines Textraums eingeben kann, indem er einen Punkt auf der Karte setzt oder mit dem Zei- chentool eine Handlungszone ab- steckt. Auf den Karten erscheinen deshalb nicht nur präzise lokalisier- te Namensmarker von beispielswei- se Dörfern, Städten, Straßen oder Bergen. Hinzu kommen farbige Nebelschleier, die sich über ganze Landstriche legen. Sie sollen illus- trieren, dass die räumliche Ausdeh- nung eines Schauplatzes zonal, also nur vage anhand des Textes re- konstruierbar, ist. Zudem können sich die bunten Kleckse auf den animierten Karten in ihrer Farbe ändern. Nämlich dann, wenn etwa eine Person schließlich vor Ort handelt, nachdem sie zuvor nur daran dachte, dort eine Tat zu ver- richten. Außerdem können die Marker in einer Kartenregion um- herwandern: Die Animation soll dann veranschaulichen, dass etwa eine im Text erwähnte Berghütte nur grobräumig auf der Karte ver- ortet werden kann. Eine Frage bereitet dem interdis- ziplinären Team derzeit noch Kopf- zerbrechen: Was tun, wenn eine Erzählung plötzlich vom realen Georaum in eine völlig fiktive Landschaft abdriftet? Ein kunstfer- tiges Beispiel stammt von Franz Kafka. In seiner Erzählung „Be- schreibung eines Kampfes“ spazie- ren zwei Figuren durch das winter- kalte Prag. „Ihr Weg lässt sich auf dem Stadtplan genau verfolgen“, sagt Piatti. Doch plötzlich schwingt sich der Ich-Erzähler auf die Schultern seines Begleiters und startet einen wilden Ritt durch den Stadtraum, in dessen Mitte sich eine steinige Landstraße öffnet, die die beiden Protagonisten im Galopp durch eine Phantasieland- schaft mit Bergen, Fichtenwäldern und einem Fluss führt. „Das kön- nen wir optisch in keiner realen Karte darstellen“, sagt Hurni. Ver- mutlich werde sich in solchen Fäl- len dann ein Textfenster öffnen, das den Handlungsverlauf in Wor- ten weiterskizziert. Und wozu dieser ganze Auf- wand? Tatsächlich scheinen sich, sind die Textdaten für die drei Bei- spielregionen erst einmal eingege- ben, für die Forschung völlig neue Möglichkeiten für literaturge- schichtliche Interpretationen zu er- öffnen. Daran glaubt jedenfalls Bar- bara Piatti: „Wir können damit die literarische Geographie ganzer Landstriche für unterschiedliche Zeiträume abbilden und die Kar- ten schließlich miteinander verglei- chen.“ Am Beispiel der Region rund um den Vierwaldstätter See hat die Wissenschaftlerin bereits selbst Karten erstellt und dabei ge- zeigt, wie das noch junge For- schungsfeld der Literaturgeogra- phie eine vergleichende Literatur- wissenschaft durchaus bereichert. Eine Karte, in die sie 150 Werke für den Zeitraum von 1477 bis 2005 eintrug, vermittelte zunächst den Eindruck, dass diese Landschaft von jeher Autoren aus nahezu aller Welt anzog. Eine weitere Karte für den Zeitraum von 1915 bis 2005 verdeutlichte aber, dass das Interes- se internationaler Autoren an der Region in diesem Zeitraum gegen- über früher deutlich geschrumpft ist. Es zeigte sich zudem, dass be- stimmte Orte der Tell-Sage wie das Rütli, Altdorf oder etwa die Tell-Platte literarisch betrachtet zu „toten Zonen verkommen“. Gene- rell, so vermutet Piatti, scheinen die Autoren nach Schiller das Überschreiben der Tell-Topogra- phie tunlichst zu meiden. Das sind interessante Ergebnis- se, und es scheint, als eröffneten diese Karten der Zukunft einen ganz neuen Fragehorizont: Wo und wann tauchen welche Land- schaften und Städte auf der literari- schen Landkarte auf? Wann versin- ken sie wieder in die Bedeutungslo- sigkeit? Ist ihr poetisches Potential irgendwann ausgereizt? Unter wel- chen politischen Bedingungen schrumpfen Imaginationsräume? Was passiert in Zeiten des Krie- ges? Gibt es bestimmte Landschaf- ten des Sturm und Drangs oder des Expressionismus? Oder, wieder anders gefragt: Ist beispielsweise die Gattung der his- torischen Novelle des 19. Jahrhun- derts in bestimmten Regionen Eu- ropas anzusiedeln? Wie hoch ist die literarische Dichte einer Regi- on? Warum werden bestimmte Landstriche, wie etwa die Gegend um den Vierwaldstätter See, von den Autoren vornehmlich realis- tisch geschildert, während andere mit Vorliebe ins Fiktionale trans- formiert werden? Und schließlich: Was, wenn ein Autor zwar über einen konkreten Ort schreibt, aber über eine frühe- re Zeit? Joyce jedenfalls, der für den 1921 beendeten „Ulysses“ den 16. Juni 1904 als Zeit der Handlung wählte, bat seine Tante Josephine auch um Hinweise, die eine weiter gefasste Dimension Dublins erken- nen lassen: „Kannst Du Dich an den kalten Februar 1893 erinnern? Ich glaube, Du hast in der Clan- brassil Street gewohnt. Ich möchte wissen, ob der Kanal zugefroren war und ob auf ihm Schlittschuh gelaufen wurde.“ Im Internet: www.literaturatlas.eu Literatur: Barbara Piatti, „Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien“. Erscheint im Oktober 2008 im Wallstein Verlag, Göttingen. 3 4 7 5 Herr Detering, Sie haben mit Ih- ren Studenten die Schauplätze von Theodor Storms „Schimmel- reiter“ aufgesucht – wie ist es Ih- nen dabei ergangen? Wir kamen nicht selten in Schwie- rigkeiten, weil beispielsweise die Himmelsrichtungen in der Erzäh- lung nicht mit denen der durch- wanderten Landschaft übereinstim- men. Und plötzlich steht der Gast- hof, in dem die ganze Geschichte erzählt wird, nicht mehr an dem ei- nen, sondern am anderen Ende ei- nes eingedeichten Gebietes. Ande- rerseits gibt es genug zu sehen, was den Schauplätzen der Erzählung ähnelt – und genau das ist es, was die Verwirrung erst hervorruft. Es ist also ein Mix aus realen und fiktionalen Räumen? Storm entwirft die fiktionale Transformation eines wiederer- kennbaren realen Raums. Wenn man dort als Storm-Leser wan- dert, kann man das spüren. Welche Transformationsmöglich- keiten gibt es überhaupt? Das ist natürlich eine sehr große Skala. Bei Storm wäre etwa die ein- fachste Topographie die seines ei- genen Wohnhauses und Gartens. In der Erzählung „Viola tricolor“ ist Storms Haus der Schauplatz. Ich habe mal meine Studenten, die das Haus noch nicht besucht hat- ten, den Versuch machen lassen, die Schauplätze auf Grundlage der Novelle zu zeichnen. Es geht er- staunlich gut. Nur gibt es bestimm- te Stellen, an denen man in Schwie- rigkeiten gerät, und das sind eben die Stellen, an denen Storm kalku- lierte Änderungen vorgenommen hat. Er hat zwar tatsächlich seinen eigenen Hausgrundriss benutzt, hat ihn aber um 180 Grad gespie- gelt. So dass die Abendsonne nun sozusagen von Osten hereinfällt. Warum? Das scheint mir eine Reaktion zu sein auf dieses etwas einfältige Wi- derspiegelungspostulat des Realis- mus. Storm erzeugt in unmerkli- cher Ironie buchstäblich ein Spie- gelbild seiner intimen Alltagswirk- lichkeit. Wie sehen denn kompliziertere Formen der literarischen Topogra- phie aus? Eine zweite Möglichkeit ist der syn- thetische Raum. Das heißt, der Text nimmt einzelne sehr markant wiedererkennbare Landschaftsele- mente auf, etwa einen Kirchturm, der so bekannt ist, dass er in ganz Nordfriesland als Orientierungs- marke gilt. Aber zu diesem Kirch- turm ist für die Novelle aus einem benachbarten Dorf das Kirchen- schiff herbeigezaubert worden. Und aus wieder einem anderen Dorf das Pfarrhaus. Es finden sich Gemälde in dieser Kirche, die wie- der aus anderen Orten kommen. Die Pointe ist in diesem Fall: Es gibt nichts, was Storm ganz frei er- funden hätte. In den meisten Fäl- len gibt es diese Vorbilder sogar noch heute. Man kann sie abwan- dern und besichtigen, aber Storm hat daraus einen synthetischen drit- ten Raum geschaffen, zwischen rei- ner Fiktion und bloßer Dokumen- tation. Schließlich gibt es noch das, was wir zonale Räume nen- nen. Hier lassen sich im Text nur typische Grundelemente einer be- stimmten Landschaft erkennen – das Marschland, die Heide, die Küste, das Meer –, ohne dass man anhand der Erzählung exakt ange- ben könnte, an welchem Ort das Geschehen zu denken ist. Zwi- schen diesen Modellen gibt es na- türlich vielfältige Zwischenfor- men. Wie sieht denn die literarische Landschaft Nordfrieslands aus? Was uns überhaupt dazu bewogen hat, diese Landschaft als Modell- fall in unser Projekt aufzunehmen, ist der eklatante Mangel an land- schaftlicher Binnengliederung im Vergleich zum Vierwaldstätter See oder zu einem so überdeterminier- ten Stadtraum wie Prag. Nordfries- land ist eine Landschaft, in der es außer der Küstenlinie, die ja histo- risch sehr veränderlich gewesen ist, und der Unterscheidung von fruchtbarem Marschland und san- digem Geestland keine nennens- werten landschaftlichen Differen- zierungen gibt. Das heißt, die Landschaft muss durch die Litera- tur in einer ganz anderen Weise erst beschriftet, „bedeutend“ ge- macht werden. Wie muss man sich das vorstel- len? Zum Beispiel hat es so etwas wie die dramatische Schimmelreiter- Sage hier nie gegeben, bis Theo- dor Storm von einer entsprechen- den Sage las, die sich in der Weich- selmündung abspielte. Und dann hat er versucht, diesen Stoff an den ihm bekannten Schauplätzen Nord- frieslands anzusiedeln. Damit aber hat er in der Wirkungsgeschichte seiner Erzählung so einfache Land- schaftselemente wie ein Deich- stück hier, ein Gasthaus dort und einen Deichgrafenhof da mit einer beinahe mythischen Bedeutung aufgeladen. Er hat gleichsam eine Mythologie seiner Landschaft kon- struiert. Auf den ersten Blick sind Marsch und Geestland nicht so prickelnd. Deshalb haben wir ja gerade diese Gegend als eine unserer drei Mo- dellregionen gewählt. Aber die Topographie kann es doch nicht gewesen sein, die diesen Raum für fiktionale Handlungs- räume so interessant macht? Oh, doch! Da ist natürlich zu- nächst die Küstenlandschaft, dieses Sturmflutland – es gibt eine Men- ge Flut- und Sturmgeschichten aus der Gegend. Hinzu kommt aber: Gerade das, was Sie landschaftlich langweilig finden, kann die Land- schaft geeignet machen für be- stimmte ideologische Besetzungen. Und das interessiert uns sehr. Nordfriesland und Dithmarschen sind seit dem Aufkommen der Mo- derne, in den Generationen nach Storm, durch die literarischen Tex- te zunehmend instrumentalisiert worden als „reines Bauernland“, in- dustriefernes, abgelegenes, ur- sprüngliches Deutschtum. Sie lie- gen abseits der großen Verkehrswe- ge, sind den Naturkräften in einer elementaren Weise ausgesetzt und eignen sich damit sehr gut für sol- che völkischen und dann präfaschis- tischen und faschistischen Beset- zungen. Und entsteht dieses ideologische Bild der Bauernkultur im Realis- mus? Nein, richtig ist, dass Nordfries- land und Dithmarschen, nach ver- einzelten Vorläufern, eigentlich erst mit dem frühen Realismus, also um die Mitte des 19. Jahrhun- derts, literaturfähig werden. Um diese Zeit hat beispielsweise der Vierwaldstätter See schon eine hal- be Literaturgeschichte hinter sich. Die Schweiz ist eben eine literari- sche Landschaft, die sich auch schon für die Empfindsamkeit und den Sturm und Drang anbietet. Aber für den Realismus wird eine solche Landschaft auf eine neuarti- ge Weise sprechend. Das ist ideolo- gisch noch unverdächtig. Aber die realistische Literatur stellt unge- wollt gewissermaßen das Material bereit, aus dem sich dann zunächst die sogenannte Heimatkunst-Bewe- gung und dann die völkische Lite- ratur mit ihren Trivialisierungen speisen. Welche Texte wählen Sie denn für Ihr Projekt aus? Wir geben nach Möglichkeit alle fiktionalen Texte ein, die wir bis in die Gegenwart hinein irgend fin- den können. Wir nehmen aber an, dass das ein realistisches Vorhaben ist. Für Prag wäre dies natürlich völlig illusorisch. Was wir auf je- den Fall berücksichtigen wollen, ist die heute zum größten Teil verges- sene Trivialliteratur, die im Ge- folge bedeutender Autoren wie Storm, Klaus Groth oder H. C. Andersen hier entstanden ist, und wiederum die kritischen Reaktio- nen darauf bis hin zu Siegfried Lenz’ „Deutschstunde“. Eine unse- rer Arbeitshypothesen dabei ist: Es scheint so, als würden die pro- grammatischen Heimatautoren, die also bewusst und zielstrebig die Heimatliteratur produzieren wol- len, sich bevorzugt auf diejenigen naturräumlichen Schauplätze kon- zentrieren, die die großen Vorgän- ger noch freigelassen haben. Die Mitarbeiter des Projektes un- tersuchen neben Nordfriesland auch Prag und den Vierwaldstät- ter See. Wo liegen die strukturel- len Unterschiede dieser literari- schen Räume? Das lässt sich natürlich schlecht in zwei Sätzen beantworten. Aber so viel kann man doch sagen: Die In- nerschweiz mit ihren spektakulä- ren Landschaften hat eine lange, komplexe und sehr internationale literarische Geschichte. Prag ist eine der dichtesten literarischen Stadt-Topographien Europas im Schnittpunkt unterschiedlicher Sprachen und Kulturen. Nordfries- land und Dithmarschen liegen da- gegen an der europäischen Periphe- rie und treten vergleichsweise spät in die Literaturgeschichte ein. An- dererseits ist auch dies eine euro- päische Grenzregion zwischen den Sprachen und Kulturen Deutsch- lands, Frieslands und Dänemarks. Lassen sich denn in fiktionalen Texten imaginäre und reale Räu- me überhaupt trennscharf vonein- ander unterscheiden? Nein. Schon für unsere Alltags- wahrnehmung gilt ja, dass etwa Landschaften, die wir bereisen und betrachten, durch unseren Blick, unsere Erinnerungen, unsere Vor- stellungskraft vielfältig besetzt und beschriftet werden können. Ziel un- seres Projektes ist es, unterschiedli- che Transformationsgrade zwi- schen Real- und Textraum aufzu- zeigen und Darstellungstechniken von Räumen, Orten und Land- schaften zu erfassen, die sich in ir- gendeiner Weise auf wiedererkenn- bare außerliterarische Verhältnisse beziehen. Uns allen fallen ja auf Anhieb Autoren ein, nach deren Texten kein Mensch sich als Litera- turtourist auf die Reise begeben könnte, selbst wenn er wollte. Ver- suchen Sie mal, mit Beckett irgend- wie durch Irland zu reisen! Aber mit Joyce’ „Ulysses“ kann man wunderbar durch Dublin wan- dern. Was daran allerdings den ei- gentlichen ästhetischen Reiz aus- macht, ist gerade die Differenz zwi- schen der begehbaren und der be- schriebenen Stadt. Die Fragen stellte Tania Greiner . 1 6 8 9 10 Heinrich Detering, geboren 1959 in Neumünster, lebt als Literaturwissen- schaftler, Kritiker und Lyriker in Göttingen. Foto Rainer Wohlfahrt 10 Ein Kutscher am Ende der Lower Gardiner Street sieht Bloom und des- sen Begleiter nach, „wie sie auf die Eisenbahnbrücke zugingen“. In den letzten Kapiteln des „Ulysses“ befindet sich Leopold Bloom in schlechter Gesellschaft und tritt schließlich mit Stephen Dedalus den Heimweg an. Das 15. Kapitel („Kirke“) führt ihn von der Talbot Street zur Tyrone Street, das 16. („Eumaios“) von der Beaver Street zum Beresford Place und das 17. („Ithaka“) über die Gardiner Street nach Hause in die Eccles Street Nr. 7. Die Karte stammt aus der kommentierten Prachtausgabe des „Ulysses“ (Suhrkamp Verlag, 1100 S., geb., 50,– €). 2 11 6 Wo die Montgomery (heute: Foley) Street in die Amiens Street (links) mündet, versuchen Bloom und Stephen, eine Droschke zu bekommen. Der Versuch bleibt erfolglos, sie müssen nach Hause laufen. Mit Fontane durch Berlin, mit Dickens durch London oder mit Fräulein Smilla nach Grönland: Viele Leser suchen die Schauplätze ihrer Lieblingsbücher auf – mit diesen Büchern im Gepäck. Aber was sieht man dort wirklich? Eine Arbeitsgruppe aus Philologen und Kartographen geht der Frage nach und kommt zu erstaunlichen Ergebnissen. Am Ende steht ein ehrgeiziges Ziel: ein Literaturatlas für drei europäische Regionen. Von Tania Greiner Fotos Roger Hagmann 7 Bloom und sein Begleiter passieren das North Star Hotel (rechts): „Sie schritten am Hauptein- gang der Great Northern Railway Station vorüber, wo die Züge nach Belfast abgehen“ (links). 1 „Auf der ferneren Seite, unter der Eisenbahnbrücke, erscheint Bloom“: So steht es in Hans Wollschlägers Übersetzung im 15. Kapitel des „Ulysses“. 2 Wo heute DVDs vertrieben werden, kaufte Bloom einen lauwarmen Schweinsfuß. Prompt erschienen ihm seine verstorbenen jüdischen Eltern. 8 An dieser Ecke stand früher die „Dock Tavern“, an der Bloom vorbeigeht, „um von dieser aus im gegebenen Augen- blick in die wegen ihrer Polizeistation Abteilung C berühmte Store Street einzubiegen“ (links im Bild). Um 180 Grad gedreht Lauft nicht so romantisch! Der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering über Norddeutschlands Dichtung Der F.A.Z.-Romanatlas entführt in zahlrei- chen Rezensionen und Autorenporträts zu den schönsten Schauplätzen der Weltlite- ratur: www.faz.net/romanatlas 12 Wo Tell spielt, wächst kein Vers mehr 11 Auf dem Hardwicke Place überquert Bloom „in entspanntem Spazier- schritt den Rundplatz vor der George’s Church, und zwar diametrisch“. Unbeirrt: Als Skulptur von Marjorie Fitzgibbon wacht Joyce über Dublin. Die Welt hinter Husum: Theodor Storm (1817 bis 1888) Abbildung Archiv 12 Endlich daheim? Das Haus Eccles Street Nr. 7, in dem Leopold Bloom wohnte, steht nicht mehr. Heute ist dort das Mater Private Hospital. 3 An der Stelle dieser Neubauten in der Railway Street (früher Lower Ty- rone Street) befand sich Bella Cohens Bordell, das Bloom besuchte. 4 Mitten im Rotlichtbezirk Dublins, den Bloom besucht, befand sich auch das heute geschlossene Magdalenenheim. 5 Bloom und Stephen schritten „die Beaver Street oder vielmehr Lane entlang bis etwa zur Schmiede und der deutlich wahrnehmbaren Gestanksatmosphäre der Mietstallungen an der Ecke Montgomery Street“. Links eine Bürstenfabrik. 9 Auf der Suche nach einem Ort, wo sie den 16. Juni 1904 ausklingen las- sen können, kommen Bloom und Stephen am Customhouse vorbei. Geographie des Imaginären: Die dramatische Berglandschaft rund um den Vier- waldstätter See in der Schweiz inspirierte zahlreiche Schriftsteller. Die Schau- plätze von 150 Werken aus den Jahren von 1477 bis 2005 hat die Literaturwissen- schaftlerin Barbara Piatti in eine Karte eingetragen und mit Zahlen versehen. Die Tellsage (lila), vielfach erzählt, macht bestimmte Orte zu literarisch „toten Zonen“: Küssnacht oder das Rütli scheinen für immer beschriftet. Grafik B. Piatti

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6 4 W I S S E N S C H A F T F R A N K F U R T E R A L L G E M E I N E S O N N T A G S Z E I T U N G , 3 0 . M Ä R Z 2 0 0 8 , N R . 1 3 6 5

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D er Brief aus dem fernen Pa-ris war anders, als Neffenihn normalerweise an ihre

betagten Tanten schreiben. Die„liebe Tante Josephine“ in Dublinmöge doch bitte folgende Frage be-antworten: „Ist es für einen norma-len Menschen möglich, entwedervom Trottoir oder von den Trep-penstufen aus über das Unterhof-gitter vor dem Haus Eccles StreetNr. 7 zu klettern, sich vom unters-ten Ende des Gitters so weit herab-zulassen, dass die Füße zwei oderdrei Fuß über dem Boden sind,und abzuspringen, ohne sich zuverletzen?“

Tante Josephine tat, was siekonnte, und das Ergebnis ihrer Re-cherchen fand Eingang in die Welt-literatur: Im vorletzten Kapitel des„Ulysses“ beschreibt ihr NeffeJames Joyce, wie Leopold Bloomauf diese Weise sein Haus in derEccles Street Nr. 7 betritt.

Wer begeistert mit Commissa-rio Brunetti durch Venedig wan-delt, Victor Hugos Paris durch-läuft oder Thomas Manns Zauber-berg in Davos aufsucht, liebt sol-che topographischen Engführun-gen zwischen Literatur und Reali-tät. Und gibt sich damit unter Um-ständen einer ordentlichen Illusionhin, weiß Barbara Piatti.

Die Literaturwissenschaftlerinhat sich der Erforschung fiktiona-ler Räume verschrieben. Ein Ge-biet der Literaturwissenschaft, das,wie sie sagt, bislang ziemlichstiefmütterlich behandelt wurde.Das will die Schweizerin ändernund hat sich ein ehrgeiziges Ziel ge-steckt, das nicht nur Literatur-wissenschaftler vor Problemestellt. Zusammen mit ihren Kolle-gen vom Institut für Kartographieder Eidgenössischen TechnischenHochschule (ETH) in Zürich ent-wickelt sie derzeit einen Atlas, derliterarische Schauplätze in Europaauf Computerkarten sichtbarmacht.

Das hört sich einfacher an, als esist: Piatti interessiert sich für Ge-setzmäßigkeiten, nach denen sichDichter der realen Räume bedie-nen, um sie in ihrer Phantasie zu

verfremden. „Auf den ersten Blickkönnte man meinen, dass fiktiona-le Orte nur selten mit der Realitätübereinstimmen“, sagt Piatti, denngerade die dichterische Vorstel-lungskraft scheint an keinen physi-schen Raum mit geographischenund topographischen Merkmalengebunden zu sein. Doch BarbaraPiatti ist vom Gegenteil überzeugt:„Schreibende fühlen sich häufig zubestehenden Orten und Landschaf-ten hingezogen“ – etwa, weil siedort ihre Kindheit verbracht oderihre erste Liebe getroffen haben.Manche Autoren bemühen sich so-gar, ihre Handlungsräume mög-lichst nah mit einem georäumli-chen Pendant in Übereinstim-mung zu bringen – Friedrich Schil-ler studierte eifrig Karten, um im„Wilhelm Tell“ die bergige Szene-rie des Vierwaldstätter Sees topo-graphisch korrekt und plastischdarzustellen, ohne jemals dort ge-wesen zu sein.

Piattis europäischer Literaturat-las soll nicht nur die in literari-schen Texten genannten Plätze,Straßen, Städte, Berge oder Regio-nen verorten. „Diese Methode ver-wenden Literaturwissenschaftlerbereits, um die Schauplätze einesTextes oder Autors sichtbar zu ma-chen“, erklärt Piatti; dies geschehebereits seit gut einhundert Jahren.Doch der Erkenntnisgewinn dieserForm von Literaturgeographie seirelativ gering, habe sie doch ledig-lich illustrierenden Charakter.Und „als Interpretationswerkzeugfür Literaturwissenschaftler“ seiensolche Karten wenig geeignet, sagtPiatti.

Denn wer glaubt, ein Schriftstel-ler bilde lediglich real existierendeRäume ab, täusche sich gründlich.„Geo- und Textraum sind niemalsidentisch“, sagt Piatti. Und diesendichterischen Raumvariationen sei-en keine Grenzen gesetzt. Viele Au-toren scheuten keine Mühe, die Be-züge zwischen realer und literari-scher Geographie gründlich undhochartifiziell zu verwischen. Am

simpelsten geht das durch das Um-benennen einzelner Orte: EffiBriest verbringt ihre Ehejahreetwa im fiktiven Kessin, das Theo-dor Fontane dem existierendenSwinemünde nachempfand. Etwasavancierter ist der literarischeKniff, einen Schauplatz ziemlichunpräzise in einer geographischenRegion flottieren zu lassen wieetwa Gottfried Kellers Seldwyla.

Diese Ungenauigkeiten in derLiteraturgeographie machen denZüricher Kartographen zu schaf-fen. „Sie widersprechen im Grun-de sogar unserer Arbeit“, sagt Lo-renz Hurni, Leiter des Instituts fürKartographie an der ETH Zürich.Zusammen mit seinen Mitarbei-tern entwickelt er geographischeund thematische Karten aller Art,gibt Schulatlanten heraus und hatsich in jüngster Zeit auf interaktivecomputerbasierte Karten speziali-siert. „In der Kartographie gibt eskeine nicht exakt lokalisierbarenRäume“, sagt Hurni und zitierteine Definition der InternationalCartographic Association, die denKonflikt zwischen Literatur- undGeoraum auf den Punkt bringt.Diese lautet: Eine Karte ist einsymbolisches Abbild ausgewählterMerkmale der geographischenWirklichkeit. Sie zeigt etwa, woErdölvorkommen im Boden liegenoder wie viel Niederschlag im Jahrauf eine Region fällt. Wie sollte daein Kartograph diese ungenauenund mit fiktionalen Elementen ver-sehenen Schauplätze der Literaturauf eine Europa-Karte bannen?

Trotzdem war Hurnis Interessesofort geweckt, als ihm Barbara Pi-atti vor drei Jahren eine Kooperati-on zu genau dieser Problematikvorschlug. Schließlich liegt diesebesondere Herausforderung auchim Trend, der nach digitalisiertenund interaktiven Karten mit nut-zerfreundlichen Oberflächen ver-langt. Dabei sind vor allem zweiDinge gefragt: komplexe, mit De-tails gespickte Datenbanken sowieneue grafische Lösungen, um un-

terschiedliche Themenräume zu vi-sualisieren. Hurni hat zusammenmit Kollegen einen Multimedia-At-las für die Schweiz entwickelt. Sei-ne Nutzer können dank einer kom-plexen Stichwortabfrage immerwieder neue Karten zu einem The-ma ihrer Wahl generieren.

„Für eine derart feine Suchabfra-ge müssen Sie eine Vielzahl an Da-ten eingeben“, sagt Hurni. Das giltauch für den projektierten Litera-turatlas. Kein leichtes Unterfan-gen, denn neben der reinen Daten-eingabe müssen zunächst Kriterienfestgelegt werden, die später kom-plexe Abfragen ermöglichen. Einebesondere Herausforderung be-steht in der Lösung eines anderenProblems: Die Vielfalt imaginärerGeoräume muss auf den Karten er-kennbar visualisiert werden.

Daran tüfteln die Forscher der-zeit und erproben an drei Modell-regionen erste Lösungsansätze.Ausgewählt haben sie die Schwei-zer Alpenregion rund um den Vier-waldstätter See, den StadtraumPrag sowie die Küstenlandschaft

Nordfrieslands. Sechs Mitarbeitersind damit beauftragt, für jede Re-gion zwischen 200 und 500 literari-sche Texte unterschiedlicher Gat-tungen aus den Jahren von 1750 bisheute in eine Datenmaske einzuge-ben. Ob in einer Kurzgeschichte,in einem Drama oder Roman: jedeArt von imaginärem Raum, der Be-züge zu einem Georaum erkennenlässt, soll, gefördert durch die Ge-bert Rüf Stiftung in Basel, bisEnde 2009 in einer Datenbank auf-genommen werden. Die Forscherversuchen dabei, die Vielfalt litera-rischer Räume in Kategorien zufassen, die sich später auf den zwei-dimensionalen und grauen Hinter-grundkarten in Form und Farbeoptisch voneinander abheben sol-len.

Für jeden literarischen Text giltzunächst die Frage: Findet dieHandlung tatsächlich vor Ort statt,oder denkt eine Person nur daran,dort eine Tat zu verrichten? Aufder Karte zeigen zwei unterschied-liche Farbskalen entsprechend an,ob ein realer oder ein projizierter

Handlungsraum vorliegt. Die Ska-len spezifizieren diese beidenRaumformen jeweils weiter. Farb-lich unterschieden wird, ob einOrt aus der geographischen Reali-tät einigermaßen exakt in den Textimportiert, an einem realen Ortfrei erfunden wurde – oder ob er li-terarisch „transformiert“ wurde.Unter transformiert verstehen Lite-raturwissenschaftler etwa, wennein realer geographischer Raumfiktional verändert oder umbe-nannt wurde. Dies ist der verhält-nismäßig leicht zu lösende Teil desVisualisierungskonzepts.

„Schwierig wird es, wenn dieRäume nicht klar zu verortensind“, sagt Hurni. Die Datenbankunterscheide deshalb Handlungsor-te, die präzise, zonal oder nicht ver-ortbar sind. Sie ist mit GoogleMaps verknüpft, so dass jeder Mit-arbeiter die geographischen Koor-dinaten eines Textraums eingebenkann, indem er einen Punkt aufder Karte setzt oder mit dem Zei-chentool eine Handlungszone ab-

steckt. Auf den Karten erscheinendeshalb nicht nur präzise lokalisier-te Namensmarker von beispielswei-se Dörfern, Städten, Straßen oderBergen. Hinzu kommen farbigeNebelschleier, die sich über ganzeLandstriche legen. Sie sollen illus-trieren, dass die räumliche Ausdeh-nung eines Schauplatzes zonal,also nur vage anhand des Textes re-konstruierbar, ist. Zudem könnensich die bunten Kleckse auf denanimierten Karten in ihrer Farbeändern. Nämlich dann, wenn etwaeine Person schließlich vor Orthandelt, nachdem sie zuvor nurdaran dachte, dort eine Tat zu ver-richten. Außerdem können dieMarker in einer Kartenregion um-herwandern: Die Animation solldann veranschaulichen, dass etwaeine im Text erwähnte Berghüttenur grobräumig auf der Karte ver-ortet werden kann.

Eine Frage bereitet dem interdis-ziplinären Team derzeit noch Kopf-zerbrechen: Was tun, wenn eineErzählung plötzlich vom realenGeoraum in eine völlig fiktiveLandschaft abdriftet? Ein kunstfer-tiges Beispiel stammt von FranzKafka. In seiner Erzählung „Be-schreibung eines Kampfes“ spazie-ren zwei Figuren durch das winter-kalte Prag. „Ihr Weg lässt sich aufdem Stadtplan genau verfolgen“,sagt Piatti. Doch plötzlichschwingt sich der Ich-Erzähler aufdie Schultern seines Begleiters undstartet einen wilden Ritt durch denStadtraum, in dessen Mitte sicheine steinige Landstraße öffnet,die die beiden Protagonisten imGalopp durch eine Phantasieland-schaft mit Bergen, Fichtenwäldernund einem Fluss führt. „Das kön-nen wir optisch in keiner realenKarte darstellen“, sagt Hurni. Ver-

mutlich werde sich in solchen Fäl-len dann ein Textfenster öffnen,das den Handlungsverlauf in Wor-ten weiterskizziert.

Und wozu dieser ganze Auf-wand? Tatsächlich scheinen sich,sind die Textdaten für die drei Bei-spielregionen erst einmal eingege-ben, für die Forschung völlig neueMöglichkeiten für literaturge-schichtliche Interpretationen zu er-öffnen. Daran glaubt jedenfalls Bar-bara Piatti: „Wir können damit dieliterarische Geographie ganzerLandstriche für unterschiedlicheZeiträume abbilden und die Kar-ten schließlich miteinander verglei-chen.“ Am Beispiel der Regionrund um den Vierwaldstätter Seehat die Wissenschaftlerin bereitsselbst Karten erstellt und dabei ge-zeigt, wie das noch junge For-schungsfeld der Literaturgeogra-phie eine vergleichende Literatur-wissenschaft durchaus bereichert.

Eine Karte, in die sie 150 Werkefür den Zeitraum von 1477 bis 2005eintrug, vermittelte zunächst denEindruck, dass diese Landschaftvon jeher Autoren aus nahezu allerWelt anzog. Eine weitere Kartefür den Zeitraum von 1915 bis 2005verdeutlichte aber, dass das Interes-se internationaler Autoren an derRegion in diesem Zeitraum gegen-über früher deutlich geschrumpftist. Es zeigte sich zudem, dass be-stimmte Orte der Tell-Sage wiedas Rütli, Altdorf oder etwa dieTell-Platte literarisch betrachtet zu„toten Zonen verkommen“. Gene-rell, so vermutet Piatti, scheinendie Autoren nach Schiller dasÜberschreiben der Tell-Topogra-phie tunlichst zu meiden.

Das sind interessante Ergebnis-se, und es scheint, als eröffnetendiese Karten der Zukunft einenganz neuen Fragehorizont: Wound wann tauchen welche Land-schaften und Städte auf der literari-schen Landkarte auf? Wann versin-ken sie wieder in die Bedeutungslo-sigkeit? Ist ihr poetisches Potentialirgendwann ausgereizt? Unter wel-chen politischen Bedingungenschrumpfen Imaginationsräume?Was passiert in Zeiten des Krie-ges? Gibt es bestimmte Landschaf-ten des Sturm und Drangs oderdes Expressionismus?

Oder, wieder anders gefragt: Istbeispielsweise die Gattung der his-torischen Novelle des 19. Jahrhun-derts in bestimmten Regionen Eu-ropas anzusiedeln? Wie hoch istdie literarische Dichte einer Regi-on? Warum werden bestimmteLandstriche, wie etwa die Gegendum den Vierwaldstätter See, vonden Autoren vornehmlich realis-tisch geschildert, während anderemit Vorliebe ins Fiktionale trans-formiert werden?

Und schließlich: Was, wenn einAutor zwar über einen konkretenOrt schreibt, aber über eine frühe-re Zeit? Joyce jedenfalls, der fürden 1921 beendeten „Ulysses“ den16. Juni 1904 als Zeit der Handlungwählte, bat seine Tante Josephineauch um Hinweise, die eine weitergefasste Dimension Dublins erken-nen lassen: „Kannst Du Dich anden kalten Februar 1893 erinnern?Ich glaube, Du hast in der Clan-brassil Street gewohnt. Ich möchtewissen, ob der Kanal zugefrorenwar und ob auf ihm Schlittschuhgelaufen wurde.“Im Internet: www.literaturatlas.eu

Literatur: Barbara Piatti, „Schauplätze,Handlungsräume, Raumphantasien“.Erscheint im Oktober 2008 im WallsteinVerlag, Göttingen.

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Herr Detering, Sie haben mit Ih-ren Studenten die Schauplätzevon Theodor Storms „Schimmel-reiter“ aufgesucht – wie ist es Ih-nen dabei ergangen?

Wir kamen nicht selten in Schwie-rigkeiten, weil beispielsweise dieHimmelsrichtungen in der Erzäh-lung nicht mit denen der durch-wanderten Landschaft übereinstim-men. Und plötzlich steht der Gast-hof, in dem die ganze Geschichteerzählt wird, nicht mehr an dem ei-nen, sondern am anderen Ende ei-nes eingedeichten Gebietes. Ande-rerseits gibt es genug zu sehen, wasden Schauplätzen der Erzählungähnelt – und genau das ist es, wasdie Verwirrung erst hervorruft.

Es ist also ein Mix aus realen undfiktionalen Räumen?Storm entwirft die fiktionale

Transformation eines wiederer-kennbaren realen Raums. Wennman dort als Storm-Leser wan-dert, kann man das spüren.

Welche Transformationsmöglich-keiten gibt es überhaupt?

Das ist natürlich eine sehr großeSkala. Bei Storm wäre etwa die ein-fachste Topographie die seines ei-genen Wohnhauses und Gartens.In der Erzählung „Viola tricolor“ist Storms Haus der Schauplatz.Ich habe mal meine Studenten, diedas Haus noch nicht besucht hat-ten, den Versuch machen lassen,die Schauplätze auf Grundlage derNovelle zu zeichnen. Es geht er-staunlich gut. Nur gibt es bestimm-te Stellen, an denen man in Schwie-rigkeiten gerät, und das sind ebendie Stellen, an denen Storm kalku-lierte Änderungen vorgenommenhat. Er hat zwar tatsächlich seineneigenen Hausgrundriss benutzt,hat ihn aber um 180 Grad gespie-gelt. So dass die Abendsonne nunsozusagen von Osten hereinfällt.

Warum?Das scheint mir eine Reaktion zusein auf dieses etwas einfältige Wi-derspiegelungspostulat des Realis-mus. Storm erzeugt in unmerkli-cher Ironie buchstäblich ein Spie-gelbild seiner intimen Alltagswirk-lichkeit.

Wie sehen denn kompliziertereFormen der literarischen Topogra-phie aus?

Eine zweite Möglichkeit ist der syn-thetische Raum. Das heißt, derText nimmt einzelne sehr markantwiedererkennbare Landschaftsele-mente auf, etwa einen Kirchturm,der so bekannt ist, dass er in ganzNordfriesland als Orientierungs-marke gilt. Aber zu diesem Kirch-turm ist für die Novelle aus einembenachbarten Dorf das Kirchen-schiff herbeigezaubert worden.Und aus wieder einem anderenDorf das Pfarrhaus. Es finden sichGemälde in dieser Kirche, die wie-der aus anderen Orten kommen.Die Pointe ist in diesem Fall: Esgibt nichts, was Storm ganz frei er-funden hätte. In den meisten Fäl-len gibt es diese Vorbilder sogarnoch heute. Man kann sie abwan-dern und besichtigen, aber Stormhat daraus einen synthetischen drit-ten Raum geschaffen, zwischen rei-ner Fiktion und bloßer Dokumen-tation. Schließlich gibt es nochdas, was wir zonale Räume nen-nen. Hier lassen sich im Text nurtypische Grundelemente einer be-stimmten Landschaft erkennen –das Marschland, die Heide, dieKüste, das Meer –, ohne dass mananhand der Erzählung exakt ange-ben könnte, an welchem Ort dasGeschehen zu denken ist. Zwi-schen diesen Modellen gibt es na-türlich vielfältige Zwischenfor-men.

Wie sieht denn die literarischeLandschaft Nordfrieslands aus?

Was uns überhaupt dazu bewogenhat, diese Landschaft als Modell-fall in unser Projekt aufzunehmen,ist der eklatante Mangel an land-schaftlicher Binnengliederung imVergleich zum Vierwaldstätter Seeoder zu einem so überdeterminier-ten Stadtraum wie Prag. Nordfries-land ist eine Landschaft, in der esaußer der Küstenlinie, die ja histo-risch sehr veränderlich gewesen ist,und der Unterscheidung vonfruchtbarem Marschland und san-digem Geestland keine nennens-werten landschaftlichen Differen-zierungen gibt. Das heißt, dieLandschaft muss durch die Litera-tur in einer ganz anderen Weiseerst beschriftet, „bedeutend“ ge-macht werden.

Wie muss man sich das vorstel-len?

Zum Beispiel hat es so etwas wiedie dramatische Schimmelreiter-Sage hier nie gegeben, bis Theo-dor Storm von einer entsprechen-den Sage las, die sich in der Weich-selmündung abspielte. Und dannhat er versucht, diesen Stoff an denihm bekannten Schauplätzen Nord-frieslands anzusiedeln. Damit aberhat er in der Wirkungsgeschichteseiner Erzählung so einfache Land-schaftselemente wie ein Deich-stück hier, ein Gasthaus dort undeinen Deichgrafenhof da mit einerbeinahe mythischen Bedeutungaufgeladen. Er hat gleichsam eineMythologie seiner Landschaft kon-struiert.

Auf den ersten Blick sind Marschund Geestland nicht so prickelnd.

Deshalb haben wir ja gerade dieseGegend als eine unserer drei Mo-dellregionen gewählt.

Aber die Topographie kann esdoch nicht gewesen sein, die diesenRaum für fiktionale Handlungs-räume so interessant macht?

Oh, doch! Da ist natürlich zu-nächst die Küstenlandschaft, diesesSturmflutland – es gibt eine Men-ge Flut- und Sturmgeschichten ausder Gegend. Hinzu kommt aber:Gerade das, was Sie landschaftlichlangweilig finden, kann die Land-schaft geeignet machen für be-stimmte ideologische Besetzungen.

Und das interessiert uns sehr.Nordfriesland und Dithmarschensind seit dem Aufkommen der Mo-derne, in den Generationen nachStorm, durch die literarischen Tex-te zunehmend instrumentalisiertworden als „reines Bauernland“, in-dustriefernes, abgelegenes, ur-sprüngliches Deutschtum. Sie lie-gen abseits der großen Verkehrswe-ge, sind den Naturkräften in einerelementaren Weise ausgesetzt undeignen sich damit sehr gut für sol-che völkischen und dann präfaschis-tischen und faschistischen Beset-zungen.

Und entsteht dieses ideologischeBild der Bauernkultur im Realis-mus?

Nein, richtig ist, dass Nordfries-land und Dithmarschen, nach ver-einzelten Vorläufern, eigentlicherst mit dem frühen Realismus,also um die Mitte des 19. Jahrhun-derts, literaturfähig werden. Umdiese Zeit hat beispielsweise derVierwaldstätter See schon eine hal-be Literaturgeschichte hinter sich.Die Schweiz ist eben eine literari-sche Landschaft, die sich auchschon für die Empfindsamkeit undden Sturm und Drang anbietet.Aber für den Realismus wird einesolche Landschaft auf eine neuarti-ge Weise sprechend. Das ist ideolo-gisch noch unverdächtig. Aber dierealistische Literatur stellt unge-wollt gewissermaßen das Materialbereit, aus dem sich dann zunächstdie sogenannte Heimatkunst-Bewe-gung und dann die völkische Lite-ratur mit ihren Trivialisierungenspeisen.

Welche Texte wählen Sie denn fürIhr Projekt aus?

Wir geben nach Möglichkeit allefiktionalen Texte ein, die wir bis indie Gegenwart hinein irgend fin-den können. Wir nehmen aber an,dass das ein realistisches Vorhabenist. Für Prag wäre dies natürlichvöllig illusorisch. Was wir auf je-den Fall berücksichtigen wollen, istdie heute zum größten Teil verges-sene Trivialliteratur, die im Ge-folge bedeutender Autoren wieStorm, Klaus Groth oder H. C.Andersen hier entstanden ist, undwiederum die kritischen Reaktio-nen darauf bis hin zu SiegfriedLenz’ „Deutschstunde“. Eine unse-rer Arbeitshypothesen dabei ist: Esscheint so, als würden die pro-grammatischen Heimatautoren,die also bewusst und zielstrebig dieHeimatliteratur produzieren wol-len, sich bevorzugt auf diejenigennaturräumlichen Schauplätze kon-zentrieren, die die großen Vorgän-ger noch freigelassen haben.

Die Mitarbeiter des Projektes un-tersuchen neben Nordfrieslandauch Prag und den Vierwaldstät-ter See. Wo liegen die strukturel-len Unterschiede dieser literari-schen Räume?

Das lässt sich natürlich schlecht inzwei Sätzen beantworten. Aber soviel kann man doch sagen: Die In-nerschweiz mit ihren spektakulä-ren Landschaften hat eine lange,komplexe und sehr internationaleliterarische Geschichte. Prag isteine der dichtesten literarischenStadt-Topographien Europas imSchnittpunkt unterschiedlicherSprachen und Kulturen. Nordfries-land und Dithmarschen liegen da-gegen an der europäischen Periphe-rie und treten vergleichsweise spätin die Literaturgeschichte ein. An-dererseits ist auch dies eine euro-päische Grenzregion zwischen denSprachen und Kulturen Deutsch-lands, Frieslands und Dänemarks.

Lassen sich denn in fiktionalenTexten imaginäre und reale Räu-me überhaupt trennscharf vonein-ander unterscheiden?

Nein. Schon für unsere Alltags-wahrnehmung gilt ja, dass etwaLandschaften, die wir bereisen undbetrachten, durch unseren Blick,unsere Erinnerungen, unsere Vor-stellungskraft vielfältig besetzt undbeschriftet werden können. Ziel un-seres Projektes ist es, unterschiedli-che Transformationsgrade zwi-schen Real- und Textraum aufzu-zeigen und Darstellungstechnikenvon Räumen, Orten und Land-schaften zu erfassen, die sich in ir-gendeiner Weise auf wiedererkenn-bare außerliterarische Verhältnissebeziehen. Uns allen fallen ja aufAnhieb Autoren ein, nach derenTexten kein Mensch sich als Litera-turtourist auf die Reise begebenkönnte, selbst wenn er wollte. Ver-suchen Sie mal, mit Beckett irgend-wie durch Irland zu reisen! Abermit Joyce’ „Ulysses“ kann manwunderbar durch Dublin wan-dern. Was daran allerdings den ei-gentlichen ästhetischen Reiz aus-macht, ist gerade die Differenz zwi-schen der begehbaren und der be-schriebenen Stadt.

Die Fragen stellte Tania Greiner.

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Heinrich Detering,geboren 1959 inNeumünster, lebtals Literaturwissen-schaftler, Kritikerund Lyriker inGöttingen.

Foto Rainer Wohlfahrt

10 Ein Kutscher am Ende der Lower Gardiner Street sieht Bloom und des-sen Begleiter nach, „wie sie auf die Eisenbahnbrücke zugingen“.

In den letzten Kapiteln des „Ulysses“ befindet sich Leopold Bloom in schlechter Gesellschaft und tritt schließlich mit Stephen Dedalus den Heimweg an. Das 15. Kapitel(„Kirke“) führt ihn von der Talbot Street zur Tyrone Street, das 16. („Eumaios“) von der Beaver Street zum Beresford Place und das 17. („Ithaka“) über die GardinerStreet nach Hause in die Eccles Street Nr. 7. Die Karte stammt aus der kommentierten Prachtausgabe des „Ulysses“ (Suhrkamp Verlag, 1100 S., geb., 50,– €).

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6 Wo die Montgomery (heute: Foley) Street in die Amiens Street (links) mündet, versuchen Bloom und Stephen, eineDroschke zu bekommen. Der Versuch bleibt erfolglos, sie müssen nach Hause laufen.

Mit Fontane durchBerlin, mit Dickensdurch London odermit Fräulein Smillanach Grönland: VieleLeser suchen dieSchauplätze ihrerLieblingsbücher auf –mit diesen Büchern imGepäck. Aber was siehtman dort wirklich?Eine Arbeitsgruppe ausPhilologen undKartographen geht derFrage nach und kommtzu erstaunlichenErgebnissen. Am Endesteht ein ehrgeizigesZiel: ein Literaturatlasfür drei europäischeRegionen.

Von Tania GreinerFotos Roger Hagmann

7 Bloom und sein Begleiter passieren das North Star Hotel (rechts): „Sie schritten am Hauptein-gang der Great Northern Railway Station vorüber, wo die Züge nach Belfast abgehen“ (links).

1 „Auf der ferneren Seite, unter der Eisenbahnbrücke, erscheint Bloom“: Sosteht es in Hans Wollschlägers Übersetzung im 15. Kapitel des „Ulysses“.

2 Wo heute DVDs vertrieben werden, kaufte Bloom einen lauwarmenSchweinsfuß. Prompt erschienen ihm seine verstorbenen jüdischen Eltern.

8 An dieser Ecke stand früher die „Dock Tavern“, an der Bloom vorbeigeht, „um von dieser aus im gegebenen Augen-blick in die wegen ihrer Polizeistation Abteilung C berühmte Store Street einzubiegen“ (links im Bild).

Um 180 Grad gedrehtLauft nicht so romantisch! Der LiteraturwissenschaftlerHeinrich Detering über Norddeutschlands Dichtung

Der F.A.Z.-Romanatlas entführt in zahlrei-chen Rezensionen und Autorenporträts zuden schönsten Schauplätzen der Weltlite-ratur: www.faz.net/romanatlas

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Wo Tell spielt, wächst kein Vers mehr

11 Auf dem Hardwicke Place überquert Bloom „in entspanntem Spazier-schritt den Rundplatz vor der George’s Church, und zwar diametrisch“.

Unbeirrt: Als Skulptur von MarjorieFitzgibbon wacht Joyce über Dublin.

Die Welt hinter Husum: Theodor Storm (1817 bis 1888) Abbildung Archiv

12 Endlich daheim? Das Haus Eccles Street Nr. 7, in dem Leopold Bloomwohnte, steht nicht mehr. Heute ist dort das Mater Private Hospital.

3 An der Stelle dieser Neubauten in der Railway Street (früher Lower Ty-rone Street) befand sich Bella Cohens Bordell, das Bloom besuchte.

4 Mitten im Rotlichtbezirk Dublins, den Bloom besucht, befand sich auch dasheute geschlossene Magdalenenheim.

5 Bloom und Stephen schritten „die Beaver Street oder vielmehr Lane entlang bis etwa zur Schmiede und der deutlichwahrnehmbaren Gestanksatmosphäre der Mietstallungen an der Ecke Montgomery Street“. Links eine Bürstenfabrik.

9 Auf der Suche nach einem Ort, wo sie den 16. Juni 1904 ausklingen las-sen können, kommen Bloom und Stephen am Customhouse vorbei.

Geographie des Imaginären: Die dramatische Berglandschaft rund um den Vier-waldstätter See in der Schweiz inspirierte zahlreiche Schriftsteller. Die Schau-plätze von 150 Werken aus den Jahren von 1477 bis 2005 hat die Literaturwissen-schaftlerin Barbara Piatti in eine Karte eingetragen und mit Zahlen versehen.Die Tellsage (lila), vielfach erzählt, macht bestimmte Orte zu literarisch „totenZonen“: Küssnacht oder das Rütli scheinen für immer beschriftet. Grafik B. Piatti