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Psychopraxis 2013 · 16:15–18 DOI 10.1007/s00739-013-0071-3 © Springer-Verlag Wien 2013 J. Spatt Neurologisches und Neuropsychologisches Rehabilitationszentrum Rosenhügel, Wien Frontotemporale Demenz Untertypen und Besonderheiten Neurologie Fall 1 Eine 56-jährige Wirtin, immer gesund und robust, fällt Ihren Angehörigen auf, als sie bei der Aufsicht der Enkelkin- der recht fahrlässig mit der Gefahr um- geht, dass diese auf die Straße hinauslau- fen könnten. In weiterer Folge häufen sich solche Vorfälle, sodass sie nicht mehr bei der Aufsicht der Enkel herangezogen wer- den kann. Sie beginnt wildfremde Perso- nen anzusprechen, die persönliche Hygi- ene beginnt zu leiden, sie entwickelt eine Inkontinenz. Sehr bemerkenswert und auch verstörend erscheint den Angehö- rigen der Umstand, dass all diese Verän- derungen der Patientin sichtlich völlig gleichgültig sind. Bei der Untersuchung imponiert eine freundliche, kooperative Patientin mit ab- geflachtem Affekt. Sie ist in allen Belangen orientiert und kann sich bei wiederholten Untersuchungen jeweils an den Untersu- cher erinnern. Im MMSE erreicht sie zu einem Zeitpunkt, als die Unterbringung in ein Pflegeheim trotz Unterstützung durch die Familie notwendig geworden ist, 27 von 30 Punkten. Die Orientierung ist normal, der neurologische Status ist im Wesentlichen unauffällig. Sie zeigt jedoch deutliche frontale Greifschablonen. Ty- pisch für ihr Verhalten ist auch, dass sie vor sich hingelegte Gegenstände ergreift und mit Ihnen zu spielen beginnt. Sie zeigt keine Aphasie, jedoch eine Neigung zur Echolalie, keine Störungen der visu- ellen Verarbeitung, sehr wohl aber eine Perseverationstendenz (. Abb. 1). Auffäl- lig ist auch in der Untersuchung die voll- ständige Gleichgültigkeit ihrer Situation, aber auch ihrer Familie gegenüber. Die durchgeführten Untersuchungen sind bis auf eine frontal betonte symme- trische Atrophie in der MRT unauffällig. Fall 2 Herr M. beginnt mit 65 Jahren ohne aku- ten Beginn eine Sprachstörung zu entwi- ckeln. Er ist pensionierter Akademiker, der nebenberuflich auch schriftstellerisch tätig war, Er zeigt eine deutliche Sprech- anstrengung. Das Sprachverständnis ist anfangs auch für komplexe Inhalte gut erhalten. Im MMSE erreicht der Patient 27/30 Punkte. Im AVLT, einem empfindli- chen Test des episodischen Gedächtnisses, liegen die Resultate im Bereich der Norm. In den nächsten 2 Jahren verschlech- tert sich die Sprache insofern, als es neben einer Zunahme der Wortfindungsstö- rung mit vermehrter Sprechanstrengung auch zu einer Störung der Syntax im Sin- ne eines Telegrammstils kommt. Abgese- hen von der Sprachstörung liegt zu die- sem Zeitpunkt klinisch keine Beeinträch- tigung kognitiver Funktionen vor, insbe- sondere auch keine Gedächtnisstörung. Es finden sich auch keine Hinweise für das Vorliegen einer extrapyramidal mo- torischen Symptomatik. In den nächsten Jahren verschlechtert sich die Symptomatik weiter. Der Patient wird zunehmend sprachlos und ist 7 Jahre nach Diagnosestellung komplett stumm. Zu diesem Zeitpunkt sind offensicht- lich auch andere kognitive Bereiche be- troffen. Der Patient hat eine hochgradige allgemeine Antriebsstörung entwickelt, sowie eine frontale Gangstörung, im Sta- tus nun auch einen symmetrischen ge- ringgradigen Rigor. Während wiederholt durchgeführ- te MRT-Untersuchungen nur eine un- spezifische, frontal betonte Atrophie zei- gen, findet sich 2 Jahre nach Symptombe- ginn in der FDG-PET ein umschriebener Hypometabolismus links frontotemporal. Fall 3 Bei einem 58-jährigen Angestellten kommt es zu einer sprachlichen Verar- Abb. 19 Perseveratives  Verhalten einer Patientin  mit bvFTD beim Versuch  eine Folge fortzusetzen 15 Psychopraxis 3 · 2013|

Frontotemporale Demenz

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Page 1: Frontotemporale Demenz

Psychopraxis 2013 · 16:15–18DOI 10.1007/s00739-013-0071-3© Springer-Verlag Wien 2013

J. SpattNeurologisches und Neuropsychologisches Rehabilitationszentrum Rosenhügel, Wien

Frontotemporale DemenzUntertypen und Besonderheiten

Neurologie

Fall 1

Eine 56-jährige Wirtin, immer gesund und robust, fällt Ihren Angehörigen auf, als sie bei der Aufsicht der Enkelkin-der recht fahrlässig mit der Gefahr um-geht, dass diese auf die Straße hinauslau-fen könnten. In weiterer Folge häufen sich solche Vorfälle, sodass sie nicht mehr bei der Aufsicht der Enkel herangezogen wer-den kann. Sie beginnt wildfremde Perso-nen anzusprechen, die persönliche Hygi-ene beginnt zu leiden, sie entwickelt eine Inkontinenz. Sehr bemerkenswert und auch verstörend erscheint den Angehö-rigen der Umstand, dass all diese Verän-derungen der Patientin sichtlich völlig gleichgültig sind.

Bei der Untersuchung imponiert eine freundliche, kooperative Patientin mit ab-geflachtem Affekt. Sie ist in allen Belangen orientiert und kann sich bei wiederholten Untersuchungen jeweils an den Untersu-cher erinnern. Im MMSE erreicht sie zu einem Zeitpunkt, als die Unterbringung in ein Pflegeheim trotz Unterstützung durch die Familie notwendig geworden ist, 27 von 30 Punkten. Die Orientierung ist normal, der neurologische Status ist im Wesentlichen unauffällig. Sie zeigt jedoch deutliche frontale Greifschablonen. Ty-

pisch für ihr Verhalten ist auch, dass sie vor sich hingelegte Gegenstände ergreift und mit Ihnen zu spielen beginnt. Sie zeigt keine Aphasie, jedoch eine Neigung zur Echolalie, keine Störungen der visu-ellen Verarbeitung, sehr wohl aber eine Perseverationstendenz (. Abb. 1). Auffäl-lig ist auch in der Untersuchung die voll-ständige Gleichgültigkeit ihrer Situation, aber auch ihrer Familie gegenüber.

Die durchgeführten Untersuchungen sind bis auf eine frontal betonte symme-trische Atrophie in der MRT unauffällig.

Fall 2

Herr M. beginnt mit 65 Jahren ohne aku-ten Beginn eine Sprachstörung zu entwi-ckeln. Er ist pensionierter Akademiker, der nebenberuflich auch schriftstellerisch tätig war, Er zeigt eine deutliche Sprech-anstrengung. Das Sprachverständnis ist anfangs auch für komplexe Inhalte gut erhalten. Im MMSE erreicht der Patient 27/30 Punkte. Im AVLT, einem empfindli-chen Test des episodischen Gedächtnisses, liegen die Resultate im Bereich der Norm.

In den nächsten 2 Jahren verschlech-tert sich die Sprache insofern, als es neben einer Zunahme der Wortfindungsstö-rung mit vermehrter Sprechanstrengung

auch zu einer Störung der Syntax im Sin-ne eines Telegrammstils kommt. Abgese-hen von der Sprachstörung liegt zu die-sem Zeitpunkt klinisch keine Beeinträch-tigung kognitiver Funktionen vor, insbe-sondere auch keine Gedächtnisstörung. Es finden sich auch keine Hinweise für das Vorliegen einer extrapyramidal mo-torischen Symptomatik.

In den nächsten Jahren verschlechtert sich die Symptomatik weiter. Der Patient wird zunehmend sprachlos und ist 7 Jahre nach Diagnosestellung komplett stumm.

Zu diesem Zeitpunkt sind offensicht-lich auch andere kognitive Bereiche be-troffen. Der Patient hat eine hochgradige allgemeine Antriebsstörung entwickelt, sowie eine frontale Gangstörung, im Sta-tus nun auch einen symmetrischen ge-ringgradigen Rigor.

Während wiederholt durchgeführ-te MRT-Untersuchungen nur eine un-spezifische, frontal betonte Atrophie zei-gen, findet sich 2 Jahre nach Symptombe-ginn in der FDG-PET ein umschriebener Hypometabolismus links frontotemporal.

Fall 3

Bei einem 58-jährigen Angestellten kommt es zu einer sprachlichen Verar-

Abb. 1 9 Perseveratives Verhalten einer Patientin mit bvFTD beim Versuch eine Folge fortzusetzen

15Psychopraxis 3 · 2013  | 

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mung und einem sozialen Rückzug. Der Patient wird mit dem Verdacht auf eine depressive Erkrankung an einer psychi- atrischen Abteilung betreut, wo jedoch zunehmend Zweifel aufkommen, ob die Sprachstörung des Patienten wirklich durch die Depression hinreichend zu er-klären ist. Es erfolgt die neurologische Vorstellung und die Veranlassung einer bildgebenden Zusatzdiagnostik. Der Pa-tient zeigt bei normal flüssiger Sprache zahlreiche Umschreibungen, semanti-sche Paraphrasien und Hinweise für eine Sprachverständnisstörung. Immer wie-der fragt er „Was ist das?“ Auch in nicht sprachlichen Tests des semantischen Ge-dächtnisses finden sich Defizite. Soweit bei eingeschränktem Verständnis für die Testanforderungen beurteilbar (so ist der MMSE nicht regulär durchführbar), sind andere Bereiche mit kognitiven Funktio-nen zumindest relativ gut erhalten. Der Patient zeigt eine gute Tag-für-Tag-Merk-fähigkeit, er kann sich auch nach länge-ren Intervallen gut an den Untersucher erinnern. Die visuospatialen und visu-konstruktiven Fähigkeiten sind einwand-frei. Der Patient ist weiterhin ein geschick-ter Handwerker, der in der ganzen Nach-barschaft erfolgreich häusliche Reparatu-ren durchführt. Es finden sich keine Hin-weise für eine räumliche Orientierungs-störung. Bis auf die kognitiven Probleme ist der neurologische Status unauffällig. Im MRT findet sich eine umschriebene Atrophie des temporalen Neokortex, bei relativ erhaltener Hippocampus-Forma-tion (. Abb. 2).

In den nächsten Jahren verschlechtert sich die Symptomatik. Neben den Symp-

tomen der Depression mit nun stark nihi-listischen Zügen fallen Verhaltensauffäl-ligkeiten im Sinne eigensinnigen, zwar in sich logischen aber nicht mit der Umge-bung abgestimmten Handelns auf. Nach einigen Jahren wird das klinische Bild von einer hochgradigen Reduktion des Eigen-antriebs sowie einer zunehmenden geisti-gen Rigidität bestimmt. Auch die Sprach-störung hat zugenommen, sodass nun nur noch einzelne Floskeln die sprachlichen Äußerungen bestimmen. Die Sprachpro-duktion beschränkt sich auf floskelhafte Rudimente wie „Was is?“, „Gemma“, auch das Sprachverständnis ist – soweit be-urteilbar – schwerst beeinträchtigt. Ins-besondere war es auch zu einer weiteren Verschlechterung der Verhaltensauffällig-keiten mit häufigem anscheinend unmoti-viertem Schreien, ritualisiertem Verhalten wie Zurückhalten des Stuhlgangs, häufi-gem Vorstrecken der Zunge oder Brum-men gekommen. Insgesamt Symptome, die nun auf eine zusätzliche Beteiligung des präfrontalen Kortex hinweisen.

» Die Differenzierung der FTD von der Alzheimerdemenz ist klinisch zu treffen.

Bezüglich basaler Aktivitäten des tägli-chen Lebens (ADLs) ist der Patient teil-weise überraschend selbstständig, so ist er im Wesentlichen harnkontinent. Soweit beurteilbar ist auch das episodische Ge-dächtnis teilweise erhalten, wobei der Pa-tient den Untersucher zuletzt nicht mehr sicher wiedererkennt.

Drei Unterformen der frontotemporalen Demenz

So unterschiedlich diese drei Fallvignet-ten auch sein mögen, haben Sie doch vie-les gemeinsam. Alle drei Patienten leiden an degenerativen Demenzerkrankungen mit relativ frühem Erkrankungsalter. Bei allen steht eine Störung des episodischen Gedächtnisses, wenn überhaupt vorhan-den, nicht im Vordergrund. Alle drei zei-gen typische klinische Präsentationen der drei Unterformen der frontotemporalen Demenz (FTD).

Die FTD gilt als selten. Wenn man die Gesamtanzahl von Demenzpatienten unabhängig ihres Alters berücksichtigt, stimmt das wohl auch. Betrachtet man je-doch die Altersgruppe der unter 70-Jäh-rigen, ändert sich das Bild deutlich. Man kann davon ausgehen, dass in dieser Al-tersgruppe die FTD in etwa so häufig auf-tritt, wie die Demenz vom Alzheimertyp (DAT). Praktisch betrachtet bedeutet dies, dass man insbesondere bei jüngeren Pa-tienten ganz bewusst differenzialdiagnos-tische Überlegungen anstellen sollte.

Es hat sich mehrmals gezeigt, dass eine Abgrenzung der FTD von der DAT gut und zuverlässig möglich ist, wobei die Differenzierung nach wie vor klinisch zu treffen ist und Hilfsuntersuchungen nur eine unterstützende Funktion haben.

Klinische Präsentation

Für den Phänotyp am wichtigsten ist die Lokalisation des Krankheitsprozesses im Gehirn. Als wesentliche Formen kennt man hier die frontale Verlaufsform, die primär progressive Aphasie und die se-mantische Demenz.

Die FTD im engeren Sinn, auch fron-tale Verlaufsform der FTD genannt, oder bvFTD (behavioral variant FTD) ent-spricht dem klinischen Bild, das in deutschsprachigen Lehrbüchern lange Zeit als M. Pick bezeichnet wurde. Hier finden sich Verhaltensauffälligkeiten als Leitsymptomatik. Die Patienten verlie-ren ihr Mitempfinden mit der Umgebung und entwickeln oft komplexe und teils bi-zarre Verhaltensstereotypien. Aus der im Vordergrund stehenden Apathie kommt es teilweise zu verbalen und seltener auch

Abb. 2 9 MRT bei se-mantischer Demenz, umschriebene Atro-phie im Bereich des lin-ken Temporallappens mit relativer Ausspa-rung der Hippocam-pus-Formation. ©

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Neurologie

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tätlichen Aggressionsdurchbrüchen. Sol-che Veränderungen lassen sich mittels einfacher Fragebogenverfahren (wie z. B. dem „Frontal Behavioural Index“) gut er-fassen. Es zeigt sich, dass mit solchen Ver-fahren eine sehr gute Abgrenzung zur De-menz vom Alzheimertyp möglich ist.

Konventionelle neuropsychologische Tests – insbesondere auch klinische Scree-ning-Methoden wie der MMSE – sind gegenüber den Veränderungen bei der frontalen Form der FTD recht unemp-findlich. Nicht untypisch sind MMSE-Befunde von über 25/30 bei Patienten, die sich aufgrund ihrer Verhaltensauffällig-keiten schon in institutionalisierter Pfle-ge befinden. Selbst sogenannte „Frontal-tests“ müssen keine pathologischen Be-funde ergeben. In spezifisch entwickelten Tests, die die Fähigkeit erfassen, sich in die Situation eines anderen hineinzuversetzen – man spricht hier von „theory of mind“ – versucht man, die den Verhaltensauffällig-keiten zugrundeliegenden kognitiven Stö-rungen zu erfassen. Eine mehr oder weni-ger umschriebene frontale Atrophie kann meist auch in der MRT nachgewiesen werden. Wie auch bei allen Formen der FTD spielen serologische oder Liquor-untersuchungen derzeit keine wesentli-che Rolle in der Routinediagnostik.

Neben der bvFTD kennen wir noch die primär progressive nicht flüssige Apha-sie (PNFA) und die semantische Demenz (SD). Beide zeichnen sich durch eine im Vordergrund stehende zunehmen-de Sprachstörung aus, wobei sich bei der PNFA eine nicht flüssige agrammatische Sprache, ähnlich einer Broca-Aphasie ent-wickelt. Eine Demenz im engeren Sinn tritt, wenn überhaupt, erst spät auf, jedoch kommt es oft im späteren Verlauf zu Ver-haltensauffälligkeiten wie bei der bvFTD. Der Schwerpunkt der pathologischen Veränderungen findet sich im Frontallap-pen und insbesondere in der ersten Fron-talwindung links. Diese Form ist bei en-ger Definition wahrscheinlich die seltens-te der Manifestationstypen der FTD.

Bei der semantischen Demenz (SD) ist die auftretende Sprachstörung mit flüssi-ger, jedoch zunehmend inhaltsverarmter und floskelhafter Sprachproduktion so-wie Sprachverständnisstörung Ausdruck einer allgemeineren Störung im Bereich des semantischen Gedächtnisses, also

des erlernten Wissens über die Welt. Ty-pisch, und von manchen Gruppen für die Diagnose erforderlich erachtet, sind Fra-gen nach dem Sinn von Begriffen (z. B.: auf die Frage „Waren Sie gestern im Res-taurant?“ kommt die Antwort „Was ist ein Restaurant?“). Der Schwerpunkt der pa-thologischen Veränderungen zeigt sich hier im temporalen Neokortex oft mit Linksüberwiegen. Die Veränderungen können meist auch die Diagnose unter-stützend in der MRT und in der funktio-nellen Bildgebung nachgewiesen werden.

» In spezifisch entwickelten Tests wird versucht, die den Verhaltensauffälligkeiten zugrundeliegenden kognitiven Störungen zu erfassen

Nichtsemantische Aspekte der Sprache (Syntax) sowie die Pragmatik der Spra-che (Einhalten von Rede und Widerre-de), Aspekte der Phonetik (Lautproduk-tion) und der Prosodik (Sprachmelodie) sind nicht beeinträchtigt. Wie bei den an-deren Formen steht auch hier eine Stö-rung des Alltagsgedächtnisses im Gegen-satz zur DAT ganz im Hintergrund, wo-bei es natürlich wichtig ist, die Sprachstö-rung bei der Interpretation von Testre-sultaten mitzuberücksichtigen. Aufgrund der Sprachverständnisstörung mit daraus resultierender Störung des Verständnisses der Aufgabenstellung sind Verfahren wie der MMSE nicht verwertbar. Typisch sind daher ganz niedrige MMSE-Scores bei Pa-tienten, die noch vollständig selbstständig und alltagskompetent sind.

FTD und amyotrophe Lateralsklerose (ALS)

Obwohl seit mehr als 100 Jahren be-kannt, hat der Zusammenhang zwischen ALS und FTD in den letzten Jahren zu-nehmend Aufmerksamkeit erhalten. Bis zu 50% aller ALS-Patienten zeigen kog-nitive Defizite. Bei bis zu zwei Drittel al-ler ALS-Patienten werden Verhaltensauf-fälligkeiten beschrieben, bei etwa 5% fin-det sich das Vollbild einer Demenz. Der Zusammenhang ist sowohl bei den spo-radischen als auch bei familiären Formen zu beobachten. Am häufigsten wird die bvFTD beschrieben. Es finden sich auch Formen der primär progressiven Apha-sie, wobei hier bei der aufgrund der bulbä-ren Symptomatik oft schwerer zu beurtei-lenden Sprachfunktionen eine nicht un-erhebliche Dunkelziffer bestehen dürfte. Umgekehrt finden sich Zeichen einer Mo-tor-Neuronen-Erkrankung auch bei vie-len FTD-Patienten ohne manifeste ALS. Der Zusammenhang hat zahlreiche Im-plikationen für das Management der Er-krankungen und lässt ein neuropsycho-logisches Screening bei ALS-Patienten und eine eingehende klinische und even-tuell auch elektrophysiologische Untersu-chung von FTD-Patienten in Hinblick auf Störungen des motorischen Systems rat-sam erscheinen.

Histopathologie und Genetik

Die Pathologie der FTD ist heterogen. Bei einem Teil der Erkrankungen findet man Tau-Protein-Einschlüsse. In den Tau-ne-gativen Fällen – man sprach früher auch von „frontotemporal dementia lacking

Abb. 3 7 Assoziation zwischen klinischen Syndromen und zu-grundeliegenden Pro-teinopathien. PNFA ... primär progressive nicht flüssige Apha-sie, CBD ... kortikobasale Degeneration, PSP ... supranukleäre Blicklähmung, bvFTD ... behavioral variant FTD, ALS ... amyotrophe La-teralsklerose, SD ... se-mantische Demenz

PNFACBDPSP

bvFTD

ALSFTD+ALS

SD

Tauopathie

TDP-43opathie

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distinctive pathology“ – zeigte sich später eine Darstellbarkeit durch Ubiquitin-Fär-bung. Ähnliche Veränderungen fand man auch bei der ALS. Es ergab sich, dass in beiden Fällen das gleiche Protein für die Veränderungen verantwortlich ist: das TAR DNA binding protein-43 (DTP-43).

Auf histopathologischer Ebene lässt sich nun die FTD in zwei grundsätzlich verschiedene Gruppen einteilen. Auf der einen Seite stehen die Tauopathien. Auf pathologischer Ebene zählen der M. Pick sowie die Progressive supranukleäre Blicklähmung (PSP) und die kortikobasa-le Degeneration (CBD) zu dieser Gruppe. Diese Veränderungen findet man bei den klinischen Phänotypen der PSP, dem kor-tikobasalen Syndrom (CBS), den meisten Fällen der PNFA sowie bei etwa der Hälf-te der Fälle mit bvFTD. Eine DTP-43-Ein-schlusskörperchen-Demenz liegt patholo-gisch fast allen Fällen von SD zugrunde, bei der Kombination einer FTD mit ALS, sowie etwa der Hälfte der Fälle mit bvFTD (. Abb. 3).

Bei dieser komplexen Situation muss betont werden, dass, obwohl somit sehr verschiedene pathologische Befunde bei FTD vorkommen können, typischerweise keine DAT-Veränderungen gefunden wer-den, dass also auf pathologischer, wie auch auf klinischer Ebene kaum Überlappun-gen zwischen FTD und DAT auftreten.

Häufiger als die DAT ist die FTD ver-erbt, wobei der Anteil familiärer Formen sich zwischen den einzelnen Untertypen deutlich unterscheidet. So zeigen 38% der bvFTD-Patienten eine positive Familien-anamnese, 13% ein autosomal-dominantes Vererbungsmuster, bei FTD-MND sogar in 37%, der Fälle, während bei SD nur bei 2% ein autosomal-dominantes Muster vor-liegt und sich in über 80% keine Fälle von Demenz oder ALS in der Familie finden.Auch bei den familiären Formen zeigt sich die Dichotomie zwischen Tau und DTP-43. So findet man bei den bekannten fa-miliären Formen der FTDP-17 mit Mu-tationen im Bereich des Chromosoms 17 Veränderungen auf zwei verschiedenen Genen, die jedoch kurioserweise ganz nahe beieinander liegen. Mutationen im MAPT-Gen führen zu Tauopa thien. Mu-tationen im erst vor kurzem entdeck-ten Progranulin-Gen (PGRN) führen zu DTP-43-positiven Erkrankungen. Ob-

gleich keine vollständige klinisch-patho-logische Korrelation besteht, kommt es bei den Tau-Mutationen deutlich häufi-ger zu bvFTD, oft auch mit Parkinsonis-mus, bei den Progranulin-Mutationen zu primär progressiver Aphasie. Während die Tau-Mutationen ihren Effekt über to-xische Über- bzw. Fehlfunktion erreichen, dürften die Effekte der Progranulin-Mu-tationen auf einen Funktionsverlust zu-rückzuführen sein.

Therapie

Es liegen derzeit nur wenige Studien zur Behandlung der FTD vor. Bezüglich der Gabe von Acetylcholinesterasehemmern überwiegen die negativen Befunde. Auch auf pathophysiologischer Ebene spricht wenig für den Einsatz dieser Substanzen bei der FTD, da sich bei dieser Erkran-kung keine Hinweise für ein choliner-ges Defizit finden. Hinsichtlich des Glu-tamatstoffwechsels sind die Angaben wi-dersprüchlich. Es liegen nur die Ergebnis-se von kleinen Studien zur Effektivität von Memantine bei der FTD vor, deren Ergeb-nisse eventuell einen Einsatz von Meman-tine bei FTD rechtfertigen.

» Die Betreuung von Patienten mit selteneren präsenilen Demenzformen sollte an Spezial-einrichtungen stattfinden

Vorsichtig positiv kann der Einsatz von Antidepressiva bewertet werden. Patho-physiologisch und experimentell finden sich Hinweise auf ein deutliches, vor al-lem präsynaptisches Serotonindefizit. Seit Längerem sind positive Berichte über die Effekte von SSRIs in Einzelfällen beschrie-ben worden. Es liegt auch eine – kleine – Metaanalyse vor, der zufolge es zu einer si-gnifikanten Verbesserung des Verhaltens unter Antidepressiva kommt. In den Stu-dien wurde im Allgemeinen keine Wir-kung auf kognitive Variablen beschrieben. Eine mögliche Rolle könnte Methylpheni-dat spielen, für das eine Besserung in spe-zifischen Untersuchungen des Risikover-haltens gefunden werden konnte.

Da das episodische Gedächtnis, und damit die Fähigkeit, Neues zu erlernen sowie auch das Störungsbewusstsein und

damit die Motivation bei der primär pro-gressiven Aphasie und in geringerem Aus-maß auch bei der SD vorhanden sind, ist eine logopädische Betreuung bei diesen Störungen sicherlich erfolgversprechend und zu empfehlen.

Gerade die Wesensänderung bei der frontalen Verlaufsform – teilweise mit ausgeprägter Gefühlskälte der Patienten – wird von den Angehörigen als extrem be-lastend erlebt. Eine gezielte Angehörigen-betreuung muss somit zentraler Bestand-teil der Betreuung von Patienten mit FTD sein.

Die Betreuung gerade von Patienten mit selteneren präsenilen Demenzformen sollte an Spezialeinrichtungen stattfinden. Damit aber möglichst alle Patienten und das möglichst früh im Krankheitsverlauf in spezialisierte Betreuung gelangen, ist es wichtig, dass sich alle mit Demenzer-krankten Betrauten ein Basiswissen und einen klinischen Blick für diese Erkran-kungen aneignen.

Onari und Spatz haben bereits 1926 geschrieben „Wir sind der Überzeugung, dass die Picksche Erkrankung nicht zu den extremen Seltenheiten gehört, dass sie aber heute noch öfters sowohl vom Kliniker als auch vom Anatomen deshalb nicht erkannt wird, weil das Augenmerk nicht genügend darauf gerichtet ist“(Z Ges Neurolog. Psych. 101: 470–511)

Dem ist nicht viel hinzuzufügen.

Literatur beim Verfasser.

Korrespondenzadresse

Prim. Doz. Dr. Josef SpattNeurologisches und Neuropsy-chologisches Rehabilitations-zentrum RosenhügelRosenhügelstr. 192a, 1130 [email protected]

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