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Hans-Peter Schwarz · Chefkonstrukteur eines unfreien Systems gegebenenfalls in einen großen Reformer zu verwandeln vermag, der sein bisheriges Werk selbst radikal umbaut, ohne aber

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Hans-Peter Schwarz

Das Gesichtdes 20. JahrhundertsMonster, Retter, Mediokritäten

Pantheon

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Für die vorliegende Ausgabe hat der Autor das Buch, das 1998 erstmals unter dem Titel »Das Gesicht des Jahrhunderts« erschienen ist, um ein Aprèslude zum Übergang vom 20. zum 21.Jahrhundert ergänzt.

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier EOS

liefert Salzer Papier, St. Pölten, Austria.

Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der VerlagsgruppeRandom House GmbH.

Erste AuflageSeptember 2010

Copyright © 1998 by Siedler Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Jorge Schmidt, München, unter Verwendung einer Vorlage von Brigitte und Hans Peter Willberg

Bildredaktion und Satz: Ditta Ahmadi, BerlinReproduktionen: Mega-Satz-Servive, Berlin

Druck und Buchbinder: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany 2010ISBN 978-3-570-55121-9

www.pantheon-verlag.de

Zert.-Nr. SGS-COC-001940

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INHALT

EINFÜHRENDE BETRACHTUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 011

Der Faktor Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 011

Eine Porträtgalerie des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 018

ERSTER TEIL

1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 025

Die Mörder sind unter uns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 027

Staatsgründer von morgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 034

Träume und Vorahnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 047

Der Diktator und der Befreier:Winston Churchills »Savrola« (1900) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 047

Tyrannen und Retter: H.G. Wells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 050

Der Eroberer: Oswald Spenglers »Afrikasien« (1894–1897) . . . 051

Cäsar und Napoleon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 055

»Gewaltmenschen und Outlaws«:Visionen Jacob Burckhardts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 056

Politische Führung, American style: Woodrow Wilsons Theorie der »presidential leadership« (1908) . . . . . . . . . . . . . . . . . 065

Ein Jahrhundert der Parteiführer:Robert Michels’ »Soziologie des Parteiwesens« (1911) . . . . . . . 068

ZWEITER TEIL

»Die Könige der Welt sind alt und werden keine Erben haben« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 075

Ruinierer ihrer Imperien:Franz Joseph I., Nikolaus II., Wilhelm II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 077

»Wir sind nicht mehr in Mode«:Viktor Emanuel III. und Alfonso XIII. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 091

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Pflichtbewußt oder skandalträchtig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 095

Kaiser Hirohito . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 099

Revitalisierung des Konstitutionalismus:Juan Carlos I. von Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

Begründer neuer Dynastien:die Haschemitenherrscher Faisal und Abdullah . . . . . . . . . . . . . . 106

Ibn Saud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

Diktatoren in monarchischer Kostümierung:die Dynastie Reza Khan Pahlewi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

DRITTER TEIL

Ein Jahrhundert der Generale? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

Entfesselte Technokraten: die Kriegsgötter des Ersten Weltkrieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

Enttäuschende Hoffnungsträger: Hindenburg und Pétain . . . . 139

Der Grandseigneur als Retter: Marschall Mannerheim . . . . . . . 147

Ein Revolutionär als Marschall: Józef Pil⁄sudski . . . . . . . . . . . . . 153

Der General als Kulturrevolutionär: Atatürk . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Der Mafia-General: Tschiang Kai-schek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

Auf der Suche nach Legitimität: Francisco Franco . . . . . . . . . . . 184

Der angelsächsische Sonderfall: Eisenhower und MacArthur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

Der pathetische Gigant: General de Gaulle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

VIERTER TEIL

Die Monster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Die zweite Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts: Lenin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

»Eine Bestie, aber immerhin von Format«: Stalin . . . . . . . . . . . . 253

Der Vorbild-Diktator: Benito Mussolini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276

Adolf Hitler: Vergleichbarkeit, Unvergleichbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

Ein Monster mit dem »Mandat des Himmels«: Mao Tse-tung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

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ZWISCHENBETRACHTUNG

Führer der Demokratien oder Die Retter, die Stabilisierer und der gute Durchschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

FÜNFTER TEIL

Staatsmänner der Demokratien in der Krise . . . . . . . . . . . . 351

Downing Street No. 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

Führungskraft, gepaart mit Phantasielosigkeit: Herbert Asquith . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

Der Diktator: David Lloyd George . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

»Einbalsamieren, begraben, verbrennen!«: Stanley Baldwin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

»Der Verräter«: Ramsay MacDonald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364

Der Entspannungspolitiker: Neville Chamberlain . . . . . . . . . . . 366

Der Premierminister des sterbenden Empire: Winston S. Churchill . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370

Retter der Dritten Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387

Der Tiger: Georges Clemenceau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388Der wachsame Bürger: Raymond Poincaré . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399

Eine Republik ohne Retter: Weimar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407

Verständigungspolitiker: Aristide Briandund Gustav Stresemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411

Amerika betritt die Weltbühne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425

»Das sehenswerteste amerikanische Naturwundernach dem Niagara«: Theodore Roosevelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425

Der Messias: Woodrow Wilson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432

Cäsar: Franklin D. Roosevelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440

ZWISCHENBETRACHTUNG

Der Niedergang Europas und die Neuordnungunter der Pax Americana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459

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SECHSTER TEIL

Die Gründergeneration der freien Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467

»Amerika hatte damals unglaubliches Glück«:Truman und Eisenhower . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483

Britische Reformer: Clement Attlee und Ernest Bevin . . . . . . . 501

Im Abendglanz: Harold Macmillan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505

Der Stabilisierer Europas: Konrad Adenauer . . . . . . . . . . . . . . . . . 510

Der George Washington Israels: Ben Gurion . . . . . . . . . . . . . . . . . 530

SIEBENTER TEIL

Größen der Dritten Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543

Vorläufer des »Clash of Civilizations«: Der Mahatma Gandhi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547

»Eine verquere Mischung von Ost und West«:

Jawaharlal Nehru . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549

»Von der Humanität durch Nationalität zur Bestialität«:

Indira Gandhi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560

Ein großer Unruhestifter der Jahrhundertmitte:

Gamal Abdel Nasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564

»Der Erlöser Afrikas«: Kwameh Nkrumah . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571

Der arrivierte Revolutionär: Tito . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579

ACHTER TEIL

Die kritischen Dekaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597

Supermacht in der Krise oder Fünf Unglücksraben:Kennedy, Johnson, Nixon, Ford, Carter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599

Ahnungslose Ruinierer ihres Imperiums:Chruschtschow und Breschnew . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629

Comeback der religiösen Führer:der Ayatollah Khomeini und Papst Johannes Paul II. . . . . . . . . . 646

Das kurze »sozialdemokratische Jahrhundert« . . . . . . . . . . . . . . . 664

Manager des britischen Niedergangs: Wilson und Callaghan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665

Generaldirektor der Bundesrepublik Deutschland: Helmut Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667

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Die sozialdemokratische Jahrhundertgestalt: Willy Brandt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672

Die enträtselte Sphinx: François Mitterrand . . . . . . . . . . . . . . . . . 683

NEUNTER TEIL

Die Epoche der Reformer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695

»Not bad for a country boy«: Ronald Reagan . . . . . . . . . . . . . . . . 700

Der Manager des Umbruchs: George Bush . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712

Der Geist von 1940: Margaret Thatcher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719

Der Riese: Helmut Kohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 729

»Der größte Reformer des Jahrhunderts«: Gorbatschow . . . . . 739

Der Revolutionär als Reformer: Deng Xiaoping . . . . . . . . . . . . . 749

SCHLUSSBETRACHTUNG: ZWISCHEN ZWEI ZEITALTERN . . . . . 00763

Die Größen unserer Epoche im Licht des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 00765

Das Gesicht des 21. Jahrhunderts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 00784

APRÈSLUDE:IM ÜBERGANG VOM 20. ZUM 21. JAHRHUNDERT . . . . . . . . . . . . . 00791

Nachwort zur Neuauflage 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 831

ANHANG

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 833

Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 877

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 891

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Meinen Kindern Nicole und Bennound den Bonner Studenten,

die sich der Aufgabe gegenübersehen,das einundzwanzigste Jahrhundert im Licht der

Erfahrungen des zwanzigsten zu gestalten

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EINFÜHRENDE BETRACHTUNGEN

Der Faktor Persönlichkeit

Aus welcher Perspektive soll man das 20. Jahrhundert erfassen, dassich gegenwärtig ohne allzuviel Hoffnung und unter ziemlich ratlosenRegierungen dem dritten Jahrtausend entgegenwälzt? Je nach Stand-ort und Temperament des Betrachters fallen die Antworten unter-schiedlich aus. Aber niemand wird ernstlich bestreiten wollen, daß dieses Jahrhundert eine erstaunliche Anzahl denkwürdiger politischerGestalten heraufgeführt hat: große Ungeheuer, große Retter, großeRuinierer, große Reformer, Staatsgründer und Stabilisierer, doch auchjede Menge großer Mediokritäten und großer Esel.

Sie alle oder doch manche von ihnen sind das Thema der vorlie-genden Untersuchung. Es ist ein Buch des Wiedererkennens, derNachdenklichkeit, auch des Zorns. »Was für eine Enttäuschung ist das 20. Jahrhundert gewesen!« hat Winston Churchill schon 1920 ausge-rufen.1 So ging es weiter. Gewiß, auf die Katastrophenepoche folgtenwenigstens im Westen Perioden lang anhaltender Normalität. »Einezweite Belle Époque« hat der Zukunftsforscher Hermann Kahn diesgenannt. Und daß sich mit den Schrecken grandiose Leistungen ver-bunden haben, bedarf keiner Unterstreichung. Aber es hätte anders,besser werden können. Und wenn man fragt, warum das nicht möglichwar, stößt man neben den wohlbekannten anonymen Determinantenund Bedingungen immer wieder auf die eingangs genannten Figuren:große Ruinierer, überforderte Mediokritäten und tatkräftige Esel. Werihrer gedenkt, wird sich um Objektivität zu bemühen haben, er darfaber auch Werturteile nicht unterdrücken.

Alles in allem gilt jedenfalls, daß im politischen Raum weltweit ge-radezu eine Explosion tatkräftiger Individualitäten stattgefunden hat,auch in Europa. Wer zur Melancholie neigt und im resignierten Rück-zug Europas auf sich selbst ein Hauptthema des 20. Jahrhunderts er-kennt, mag konstatieren, hier finde in der geschichtlichen Welt einähnlicher Vorgang statt wie in der Botanik, wo sterbende Pflanzen vordem Ende geradezu eine Explosion an Lebenskraft haben, wie etwadas Waldsterben mit den »geilen Trieben« zeigt.

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Es beginnt mit den furchtbaren, in ihrer historischen Bedeutung un-terschätzten Generalen des Ersten Weltkrieges, welche gewaltige Tat-kraft mit gewaltigem Unverstand verbanden, setzt sich fort mit Lenin,Mussolini, Stalin, Hitler, Mao Tse-tung, umfaßt aber ebenso die Grö-ßen der Demokratien, deren Namen noch in aller Munde sind: Cle-menceau, Franklin Delano Roosevelt, Churchill, de Gaulle.

Die zweite Jahrhunderthälfte bringt gleichfalls bemerkenswerteGrößen hervor. Sie sind keine Giganten mehr, aber doch Persönlich-keiten, die sich tief einprägen und die Rätsel aufgeben, am meistenMichail Gorbatschow, der den Gang der Weltgeschichte ebenso tief-greifend verändert wie zuvor Lenin.

Auch Bücher haben ihre Geschichte. Im Grunde war es das Erleb-nis des von Gorbatschow ausgelösten Umbruchs, aus dem sich dieIdee zu den folgenden Studien entwickelte.

Nichts ist unerwarteter gekommen als der Zusammenbruch der So-wjetunion. Seit dem Zweiten Weltkrieg stellte diese einstmals revo-lutionäre Großmacht so etwas wie eine der letzten Gewißheiten in einem Jahrhundert dar, das zusehends aus dem Leim ging. Selbst derhochkonservative Arnold Gehlen verlieh ihr Ende der sechziger Jahreden Ehrentitel »die letzte Ordnungsmacht«.2 Man mochte das spät-totalitäre Großreich ablehnen und seine Expansion bekämpfen, den-noch war und blieb es eine der grundlegenden Tatsachen des Jahrhun-derts – unreformierbar zwar, aber imponierend und bedrückend stabil.

So sah es der Westen. Auch die Nomenklatura in der Sowjetunionselbst sowie in deren Satrapien zeigte sich fest davon überzeugt, einSystem zu besitzen, in dem doppelte und dreifache Sicherungen ein-gebaut waren: Sicherungen gegen Überwältigung durch äußere Geg-ner ebenso wie gegen Unruhen der Dissidenten und Nationalitäten.Der verführerische Reiz nicht konformer Ideen schien ebenso kontrol-lierbar wie die Turbulenzen des Weltmarkts und der beunruhigendeSog geschichtlichen Wandels.

Dann aber kam Gorbatschow, und in wenigen Jahren erreichte einerätselhafte, im Drehbuch des späten 20. Jahrhunderts nicht vorgese-hene Persönlichkeit das, wofür Karl Marx mehr als ein Jahrhundertzuvor ein schönes Wort geprägt hatte: Er brachte die versteinertenVerhältnisse zum Tanzen. Plötzlich begann in dem längst langweiliggewordenen sowjetischen Imperium der geheimnisvollste Geschichts-faktor seine unheimliche Wirkung zu entfalten: der Faktor Persönlich-keit.

Wenige Jahre zuvor hatte sich in dem zweiten der kommunisti-schen Großreiche eine ähnlich erstaunliche Persönlichkeit durchge-setzt, deren Fernwirkungen sich überhaupt noch nicht abschätzen las-sen: Deng Xiaoping. Eigentlich ist Deng eine noch viel erstaunlichere

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Gestalt als der letzte Generalsekretär der KPdSU. Bei Gorbatschow,dessen Sozialisierung in die Tauwetter-Ära der Jahre Chruschtschowszurückging, dominierte doch wohl von früh an eine heftige Aversiongegen den Terrorismus Stalins und seiner Mordgesellen, auch wennganz unklar war, wohin ihn dies führen würde. Deng Xiaoping hinge-gen war in eigener Person Jahrzehnte hindurch ein terroristisches Un-geheuer großen Kalibers. In moralischer Hinsicht muß man ihn ähn-lich streng beurteilen wie die Satrapen Adolf Hitlers, die zwischen1939 und 1944 Mittel- und Osteuropa tyrannisiert haben, oder die ähn-lich schonungslos vorgehenden Statthalter Stalins. Aus Sicht der Opfer, welche in die Hunderttausende gingen, war Deng Xiaoping einUnterteufel Mao Tse-tungs, genauer gesagt, ein chinesischer Stalinistund ein Maoist in einem. Ähnlich wie seinerzeit Stalin und sehr vielorganisationsfähiger als der große Vorsitzende Mao hatte er für die Industrialisierung Chinas nach kommunistischem Modell entschei-dende Impulse gegeben.

Doch Deng Xiaoping hat dann seit 1978 die Intelligenz und die Ent-schlossenheit aufgebracht, das Wirtschaftssystem radikal zu reformie-ren mit der Konsequenz, daß in weiten Teilen der Gesellschaft Chinaserneut ein Geist des Individualismus und größerer Freiheitlichkeitvorherrschend wurde, dessen Wiederaufleben kurz zuvor noch un-denkbar erschienen war. Schon heute darf man vermuten, daß Denggeschichtlich bedeutsamer gewesen ist als Mao Tse-tung vor ihm,auch wenn Mao wohl noch in Jahrhunderten als das furchtbarsteParadebeispiel eines terroristischen Utopisten gelten dürfte – einma-liger Rückfall in schlimmste Phasen der chinesischen Geschichte oderVorläufer noch gewaltigerer Tyrannen, wer weiß?

Deng Xiaoping, der Garant unbedingter Vorherrschaft der kommu-nistischen Partei, blieb freilich weiterhin ein harter Herrscher. SeinAuftreten zeigt also nicht allein, welche erstaunlichen Wirkungenvom Faktor Persönlichkeit ausgehen. Es läßt erkennen, wie zum Rät-sel der großen Persönlichkeit auch die Tatsache gehört, daß sich derChefkonstrukteur eines unfreien Systems gegebenenfalls in einengroßen Reformer zu verwandeln vermag, der sein bisheriges Werkselbst radikal umbaut, ohne aber letztlich auf die Prinzipien der Auto-kratie zu verzichten.

In manchem ähnlich, wenngleich in vielem völlig unähnlich, warRonald Reagan. Wie Gorbatschow und Deng gehörte auch er zu denim Drehbuch nicht vorgesehenen Gestalten. In der Geschichte deramerikanischen Präsidentschaft kommt es zwar gelegentlich vor, daßein mit großer Ausstrahlung begabter einzelner auftritt und selbst diestets zur Mißgunst neigenden Kongreßmitglieder zusammen mit denkritischen Medien über Jahre hinweg in Bann schlägt. Vor Reagan galt

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Franklin Delano Roosevelt als hervorragendstes Beispiel einer sol-chen Gestalt. Er besaß eine große, zumindest bei den Anhängern Sym-pathie erweckende Ausstrahlung, verbunden mit bewundernswertemmachiavellistischem Geschick und einem als selbstverständlich emp-fundenen Opportunismus. Auch Reagans wichtigstes Betriebskapitalwar ein natürlicher Charme, mit dem er sogar viele seiner Gegner ent-waffnete. Aber anders als Roosevelt war er im Kern doktrinär undneigte zur Inflexibilität. Von ganz erstaunlicher Oberflächlichkeit wa-ren sie beide.

Schon daß es Reagan gelungen ist, wider alles Erwarten der klugenSkeptiker in den USA und in Europa das in großen Schwierigkeitenbefindliche amerikanische System gründlich zu reformieren, wurdeseinerzeit von vielen als ein Wunder betrachtet. Das Comeback Ame-rikas in den achtziger Jahren ist wohl ebenso wie das Comeback derUSA in den dreißiger Jahren primär das Werk der beiden Zauberkünst-ler Reagan und Roosevelt gewesen.

Noch viel erstaunlicher aber ist, wie aus dem doktrinären Antikom-munisten Reagan ein Entspannungspräsident wurde. Erst zieht er mitdurchschlagendem Erfolg alle Register, die Sowjetunion »totzurü-sten« und sie weltweit in Verlegenheit zu bringen, und dann führt erdie USA auf den Weg der Versöhnung. Dieser innere Wandel war ähn-lich unvorhersehbar wie die Verwandlung Dengs vom Verfechter einerauf Staatsterrorismus gegründeten Planwirtschaft zum Vorkämpfer einer von Kommunisten einerseits entfesselten und andererseits kon-trollierten Marktwirtschaft.

So könnte man fortfahren. Wer sich darüber wundert, weshalb das20. Jahrhundert in der vergleichsweise kurzen Phase zwischen Mitteder siebziger Jahre und dem globalen Umbruch 1988/91 eine völlig an-dere Richtung einschlug als zuvor erwartet, stößt also in erster Linieauf Gorbatschow in Rußland, Reagan in den USA und Deng Xiaopingin China. Ihre weltgeschichtlichen Wirkungen resultierten gewiß ausdem Umstand, daß sie zufällig an die Spitze von Großmächten gelangtsind. Doch zugleich waren sie enigmatische Persönlichkeiten, derenMotiven und Kalkülen man noch lange nachsinnen wird.

Die »Oberbeamten« hatten abgewirtschaftet, könnte man mit JacobBurckhardt feststellen, jetzt schlug für ein paar kurze, doch entschei-dende Momente die Stunde der »Extrapersonen«. Diese sind, Burck-hardt zufolge, notwendig, »damit die weltgeschichtliche Bewegungsich periodisch und ruckweise frei mache von bloßen abgestorbenenLebensformen und von reflektierendem Geschwätz«.3

Beim Erstaunen über die bemerkenswerten Figuren der letztenJahrzehnte richtet sich der Blick wie von selbst auf das gesamte Jahr-hundert. Daß dessen Entwicklungen von Phase zu Phase, von Konti-

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nent zu Kontinent und von Land zu Land nur bei Berücksichtigung einer Vielzahl von Faktoren verständlich werden, versteht sich vonselbst. Der Faktor Persönlichkeit ist nur einer unter vielen. Dennochbleibt es merkwürdig, daß nicht allein gegen Ende des Jahrhunderts,sondern auch in dessen frühen Jahrzehnten ein paar gewaltige Indi-viduen den Gang der Dinge entscheidend bestimmt haben, damalszum Negativen.

Als erster dieser großen Beweger trat Lenin auf. Daß er Erfolghatte, erschien bald ganz selbstverständlich, und um so selbstver-ständlicher, je mächtiger der Sowjetstaat heranwuchs. Tatsächlichaber war in seinem Fall überhaupt nichts selbstverständlich, und man-ches an der persönlichen Erfolgsgeschichte Lenins bleibt erstaunlich.Wie gelingt es diesem willensstarken, aber eher streitsüchtigen alscharismatischen Ideologen, aus den Narrenzirkeln halbgebackener In-tellektueller oder aus Desperados des Typs Stalin im russischen Unter-grund und im Exil eine Truppe zu schmieden, mit der er die folgen-reichste Revolution der neuesten Geschichte in Gang setzt? Kraft wel-cher Fähigkeiten hält sich dieser völlig unerfahrene Neuling an derSpitze eines chaotisch auseinandertreibenden Großreichs, in dem dieBürgerkriegsarmeen umherziehen und wo alle umliegenden Groß-mächte intervenieren, nicht unähnlich dem Dreißigjährigen Krieg, alsEngland, Dänemark, Schweden, Frankreich und Spanien in die Wir-ren des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation eingegriffenhaben? Lenins Scheitern wäre viel eher zu erwarten gewesen, so wiesich die Schreckensmänner Robespierre und Marat in der Französi-schen Revolution nur relativ kurz zu halten vermochten. Und wiekommt es, daß ihm letztlich alle der in ihrer Art recht robusten kom-munistischen Führer – ein Trotzki, ein Stalin, ein Kamenew – gehor-sam zu Willen sind, selbst dann, als er in die Diskussionen des Polit-büros meist nur noch mit Zetteln einzugreifen vermag, die die Krups-kaja für ihn schreibt?

Erst als Lenin fest im Kreml installiert ist, entdecken viele, die inihm ursprünglich nur einen Abenteurer zu erkennen glaubten, wie bei-spielsweise Gorki, sein großes politisches Genie. Jetzt preisen ihn diekommunistischen Dichter, und nicht allein sie, als den größten allerneuen Menschen des 20. Jahrhunderts. Die künftig alleinseligma-chende Lehre erhält seinen Namen, »Marxismus-Leninismus«, undpostum verehren Millionen diesen atheistischen Messias als Ikone derRevolution. Millionen aber sehen in ihm einen großen Polit-Kriminel-len und glauben zu verspüren, daß haßerfüllte Destruktivität seine eigentliche Antriebkraft ist. Tatsache ist jedenfalls: Wenn es in denAnfängen des Jahrhunderts ein Beispiel für die überragende Bedeu-tung des Faktors Persönlichkeit gab, so war dies Lenin.

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Eine ähnlich starke Individualität war Stalin. Man hat ihn schonfrüh sehr viel kritischer gesehen als Lenin. Aber auch viele derer, diegenau wußten, was von seiner Moralität zu halten war, rühmtengleichwohl Stalins alle Vergleichsmaßstäbe sprengendes persönlichesFormat. Erst der Zusammenbruch des Sowjetreiches hat vielerortsZweifel an seiner gestaltenden Größe geweckt, nachdem vom Impe-rium Stalins nur noch verrostete Großkombinate, nutzlose Waffenar-senale und kaputte Gesellschaften übriggeblieben sind. Dennoch wirdauch in bezug auf Stalin niemand im Ernst die Bedeutung des FaktorsPersönlichkeit bestreiten wollen.

Und Hitler? Oder Mao Tse-tung? Dem ersteren wurde zwar nach-träglich von einigen Historikern das Etikett »schwacher Diktator« angeheftet. Doch Hitler war nicht nur ein großer Verbrecher. Ebensowie Lenin hat auch er größte weltgeschichtliche Wirkungen erzielt,selbst wenn er dabei das Gegenteil dessen erreichte, was er eigentlichwollte. Ob demgegenüber Mao Tse-tung in fernerer Zukunft als welt-geschichtliche Größe begriffen wird und nicht bloß als ein besonderstyrannischer Herrscher in der tausendjährigen Geschichte Chinas,bleibt abzuwarten. Eine tiefgreifende Umwälzung der Staatenwelt hater zwar proklamiert, doch ist er dabei bemerkenswert erfolglos geblie-ben. Monströses Format kann ihm aber niemand absprechen.

Wenn man die großen weltgeschichtlichen Beweger des 20. Jahr-hunderts als »Extrapersonen« identifiziert, verdienen jedoch auchWinston Churchill und Roosevelt Beachtung, an denen Hitler, Musso-lini und die modernen Samurai in Japan letztlich scheiterten. Mora-lisch ragen sie über die großen Ungeheuer turmhoch empor, und ihrehistorische Kurzzeit- und Langzeitwirkung war noch stärker. Dennseit ihrem Eingreifen sind es letztlich doch die Demokratien, die im20. Jahrhundert den Ton angeben.

Lenin, Hitler und Stalin, Churchill und Roosevelt, Mao Tse-tungund Deng Xiaoping – ihre jedem bekannten Physiognomien treten un-willkürlich vors geistige Auge, wenn vom Gesicht des Jahrhundertsdie Rede ist.

Aber das 20. Jahrhundert hatte viele Gesichter, und nicht alle star-ken Individualitäten, die seit der Jahrhundertwende aufgetreten sind,haben derart welthistorische Auswirkungen erzielt wie die eben Ge-nannten. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist schließlich nicht al-lein eine Saga vom Aufstieg und Abstieg der Großmächte. Sie umfaßtebenso das Schicksal regionaler Vormächte, der Mittelmächte und derKleinstaaten. In manchen von diesen sind gleichfalls einmalige Per-sönlichkeiten aufgetreten, welche, nochmals mit Jacob Burckhardt zusprechen, in der Geschichte ihrer Länder »Einzigkeit, Unersetzlich-keit« aufweisen:4 Atatürk, Pil⁄sudski, Mussolini, Adenauer, Ben Gu-

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rion, Ibn Saud, Nasser oder Sadat in Ägypten, Gandhi und Nehru inIndien, Khomeini im Iran, um nur einige zu nennen.

Weshalb es von besonderem Reiz ist, diese Gestalten zueinander inBeziehung zu setzen, versteht sich von selbst. Nichts läßt die Eigenarteiner Individualität schärfer erkennen als der Vergleich mit anderen.Das erfordert aber auch, die Untersuchung auszuweiten.

Der historische Regelfall ist nämlich nicht der Auftritt von Extra-personen. Vielmehr wird die Politik aller Länder unablässig vonGrößen des Tages bestimmt, denen es gelingt, jahrelang, oft über Jahr-zehnte hinweg, kraft großer Energie und taktischer Fähigkeiten dieAufmerksamkeit der eigenen Öffentlichkeit zu erwecken oder garweltweite Beachtung zu finden. Später erst zeigt sich dann, daß dieGrößen des Tages überschätzt wurden oder verhängnisvoll mediokreFiguren waren. Typisch für ihre jeweiligen Epochen aber sind sie den-noch, und man wird auch die im guten oder bösen wirklich bedeuten-den Extrapersonen nur angemessen würdigen, wenn man sie mit solchen Größen des Tages vergleicht. Somit muß man bei denGroßmächten Europas eben nicht bloß Clemenceau, de Gaulle, LloydGeorge, Winston Churchill oder Margaret Thatcher, in der Bundesre-publik Deutschland einen Adenauer und in den USA Roosevelt undTruman ins Auge fassen, sondern zudem eine Auswahl derer, die sichzwar für unersetzlich hielten, ohne es aber tatsächlich zu sein.

Allerdings ist der Faktor Persönlichkeit auch bei ihnen zu studie-ren. Selbst aufgeblasene, lange Zeit überschätzte Mediokritäten, derenwichtigstes Talent die Fähigkeit zur Selbstinszenierung darstellt, sindreizvolle Studienobjekte, sobald einige finstere Ecken ihrer Seelenoder einige problematische Aspekte ihrer Urteilskraft ins Blickfeldgerückt werden, vor allem dann aber, wenn sich nach einiger Zeit her-ausstellt, daß ihr auf Gestaltung drängendes Ungestüm sehr viel stär-ker war als ihr Urteilsvermögen.

Selbstverständlich ist die persönlichkeitsbezogene Fragestellung,die sich aus solchen Überlegungen ergibt, nur eine unter vielen ande-ren. Als das Jahrhundert noch jung war, schrieb der amerikanische Historiker Henry Adams: »Die moderne Politik ist im Grunde keinKampf zwischen Menschen, sondern zwischen Kräften.«5 Adams’Universalschlüssel zum Verständnis der Zeitgeschichte hieß Energie –Energiehunger und Energieüberschuß als starke Triebkräfte des zeit-genössischen Imperialismus, Fähigkeit zur Produktion von Energieals grundlegender Faktor der modernen Großmächte, animalische,psychische Energie aber auch als Triebkraft der politischen Gewalt-menschen, die im 20. Jahrhundert zunehmend auftreten würden.

Auf das zu Ende gehende Zeitalter haben natürlich viele Faktoreneingewirkt: die Mächtekonfigurationen, die Kriege und Bürgerkriege,

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Wirtschaftsinteressen und weltwirtschaftliche Globalisierung, Macht-wille herrschender Klassen oder ethnischer Gruppen und Protest un-terdrückter Völker, die rasante Entwicklung der Waffentechnologie,demographische Faktoren, das Zusammenwachsen der Welt dank mo-dernem Verkehr sowie moderner Kommunikationssysteme und vielesmehr. Somit ist der Faktor Persönlichkeit nur einer unter vielen. Dochwer wollte seine Bedeutung ernstlich bestreiten?

Eine Porträtgalerie des 20. Jahrhunderts

Das Buch läßt sich mit dem Durchgang durch ein Geschichtsmuseumvergleichen, in dem die Porträts verschiedenster Größen des 20. Jahr-hunderts zu betrachten sind: das Gesicht des Jahrhunderts als Abfolgevon Gesichtern. Schließlich ist die Wiederbelebung historischer Mu-seen einer der erstaunlichen Vorgänge unserer Gegenwart. Das hängtgewiß mit der Freizeitgesellschaft zusammen. Doch spielt dabei wohlauch der Wunsch eine Rolle, die Flut der Informationen und Doku-mentationen hinter sich zu lassen, um eine überschaubare Auswahlvon Objekten auf sich wirken zu lassen, sie prüfend zu vergleichenund darüber nachzudenken.

Natürlich haftet der Auswahl, der Gruppierung und der Beleuch-tung des Ausgestellten immer ein Element der Subjektivität an. Wennein Museumsbesucher die Auswahl der Stücke unvollständig findet,die Gruppierung in den einzelnen Räumen und Durchgängen eigen-willig und die Beleuchtung sei es zu grell, sei es zu milde, so ist diesvielfach beabsichtigt. Nicht spontane Zustimmung wird erstrebt, son-dern die Anregung zur historischen Reflexion.

Die Kunstform des biographischen Essays ist das Gegenteil vonPedanterie. Daß ein Übermaß an Systematisierungsbemühung eher er-kenntnismindernd wäre, versteht sich von selbst. So mußte auch die-ser Durchgang durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit demBlick auf viele der wesentlichen politischen Beweger locker gestaltetwerden. Eine gewisse chronologische Abfolge ist eingehalten, dieszumeist in Verbindung mit systematischer Gruppierung. Der Leserwird erkennen, daß viele der Porträtskizzen vergleichend angelegtsind. Vorüberlegungen zu Beginn der einzelnen Kapitel führen inübergreifende Fragestellungen ein oder skizzieren den zeitgeschicht-lichen Hintergrund.

Die Eingangshalle unserer Porträtgalerie erinnert daran, daß nichtwenige der späteren Unholde, Nationalhelden und Ruinierer, dochauch ein paar der rettenden Figuren schon zu Beginn des Jahrhunderts

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auf dem Turf waren – unerkannt und ihres späteren Wollens oder ihrerKarriere durchaus noch nicht sicher. Es gehört zu den Paradoxien desdann so rasch in Schreckenswelten nach Art des Hieronymus Boschgestoßenen Jahrhunderts, daß die Gesellschaften sich am Anfang nochganz sicher fühlten, während in ihrer Mitte die Ungeheuer heranwuch-sen. Immerhin hatten die feineren oder auch die unruhigeren Geisterschon Vorahnungen – Nietzsche, Jacob Burckhardt, Henry Adams, derjunge Oswald Spengler, Max Weber, Robert Michels, H.G. Wells.Selbst künftige geschichtliche Größen wie Winston Churchill und Woodrow Wilson haben damals schon Zukunftsmodelle entworfen.Einiges davon wird in diesem Eingangsraum präsentiert: Phantasie-bilder, historisch-spekulative Prognosen, aber auch Theorien politi-scher Führung.

In den folgenden Sälen sind vorwiegend Porträts der Größen je-ner Katastrophenepoche zu finden, die Hermann Kahn seinerzeit als»Époque de malaise« bezeichnet hat. Ob es wirklich gerechtfertigt ist,dem zu Ende gehenden Säkulum insgesamt die düstere Bezeichnung»das fatale Jahrhundert« anzuhängen, sei bezweifelt. Tatsächlich wares nicht nur eines der schrecklichsten in der Menschheitsgeschichte,sondern auch das an Leistungen gewaltigste. Gleichwohl ist unbe-streitbar, daß es in der ersten Jahrhunderthälfte entgleiste.

Die konventionelle Historiographie, nicht zuletzt in Deutschlandund Japan, läßt die »Époque de malaise« im Jahr 1945 enden, dochwird dabei übersehen, daß das erste Jahrzehnt nach dem ZweitenWeltkrieg noch ähnlich labil und katastrophenträchtig war wie diedreißiger Jahre. Wenn Henry Adams seinerzeit die Diplomatie imZeitalter des Hochimperialismus ein »Herumtappen in den Korridorendes Chaos« genannt hatte6, so trifft diese Charakteristik nach heuti-gem Kenntnisstand genauso auf die vielgerühmten Bemühungen Tru-mans, Eisenhowers, Attlees und anfänglich auch Adenauers zu. ErstMitte der fünfziger Jahre zeichnete sich eine gewisse Stabilisierungab.

Im sowjetischen Herrschaftsbereich brachte das Kriegsende oh-nehin kein Ende der totalitären Alpträume. Hier übte Stalin bis 1953seine Schreckensherrschaft aus. In China hatte die Katastrophenepo-che schon mit dem Boxeraufstand von 1900 begonnen, wenn nichtschon früher, und sie ging erst 1978 mit dem endgültigen Sieg DengXiaopings im Machtkampf mit den Maoisten in eine neue Epocheüber, die zu gedämpften Hoffnungen Anlaß gibt. Auch hinsichtlichGroßbritanniens sprechen viele Gründe dafür, die Jahre von 1914 bisMitte der sechziger Jahre als innere Einheit zu sehen.

Die Größen in den Galerien, die auf die Eingangshalle »1900« fol-gen, müssen also ganz wesentlich aus den Bedingungen der Katastro-

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phenepoche verstanden werden. Manche unter ihnen waren die mon-strösen Urheber von Schreckenswelten, andere bloß fahrlässige oderschwächliche Mitschuldige, wieder andere haben wenigstens einenTeil der westlichen Zivilisation vor den Barbaren gerettet. Sie alleaber sind Akteure einer Krisen- und Unheilsepoche gewesen.

Der Durchgang beginnt bei den Monarchen. Die Katastrophe dergroßen kontinentaleuropäischen Monarchien im Ersten Weltkrieg warzweifellos ein Hauptfaktor der folgenden Destabilisierung. Kaiser undKönige machten demokratischen Ordnungen Platz oder aber jenemTyp von Machthabern, die Machiavelli in der vergleichbaren Krisedes 15. und des 16. Jahrhunderts als »neue Herrscher« bezeichnet hat –harten Despoten also, die zuallererst mit den überkommenen Syste-men aufräumten.

Beim Kollaps der Monarchie als Institution waren die personellenKomponenten durchaus von Bedeutung. Die großen Reiche kamenauch deshalb ins Schleudern, weil ihre Monarchen zu medioker oderinnerlich zu unsicher gewesen sind. Ohne Nikolaus II., Wilhelm II.oder Viktor Emanuel III. hätten sich sinistre Figuren wie Lenin, Stalin,Mussolini und Hitler nie aus den Gullys der Geschichte hervorwagenkönnen.

Schon vielen der Zeitgenossen ist eine absurde Inkongruenzschmerzlich bewußt geworden. Drei große Reiche zerbrachen, vondenen ein jedes seine eigene Problematik, doch zugleich seine eigeneWürde besaß. Die Monarchen entpuppten sich jedoch in der Krise alshilflose Figuren, die ihre Völker ins Dunkel einer üblen Zukunft hin-eintaumeln ließen.

Allerdings haben die Souveräne nicht durchweg versagt. Unter denMonarchien der Epoche vor dem Ersten Weltkrieg blieben einige be-stehen, und neue sind installiert worden. Das 20. Jahrhundert ist zwarnicht mehr wie das 17. oder das 18. ein Jahrhundert der Könige. Dochunter den beachtlichen, gewaltigen oder fatalen Größen findet manauch eine Anzahl von Monarchen bis hin zu Ibn Saud und Schah RezaKhan Pahlewi, in denen die absolutistische Monarchie nochmals Ge-stalt annahm. Daß der zuletzt Genannte, ein hochmütiger und unsiche-rer Mann, in der Spätphase seiner Herrschaft schwer krebskrank war,ohne daß das bekannt war, mag nach dem kläglichen Zusammenbruchals Kennzeichen für die Überlebtheit dieser Staatsform betrachtetwerden.

Es versteht sich von selbst, daß neben den Monarchen die Generalebesondere Beachtung verdienen. Hier allerdings ist die Auswahlzwangsläufig besonders willkürlich. Sie läßt zudem erkennen, wiestark neben der berufsständischen Prägung doch auch viele andereDeterminanten maßgeblich sind – nicht zuletzt die grundlegende Tat-

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sache, ob der an die Macht gekommene Offizier ein Ehrenmann ist, einschwächlich Angepaßter, ein Polit-Krimineller oder eine überzeu-gende politische Größe. Jedenfalls hat kein anderer klassischer Berufs-stand eine solche Vielzahl denkwürdiger Gestalten hervorgebracht.

In dem anschließenden Raum folgen jene revolutionären Groß-tyrannen, die sich durchweg auch als Ruinierer ihrer Gesellschaftendem Gedächtnis der Zeitgenossen und Nachlebenden einzuprägenwußten. Zugleich aber haben sie gewalttätig versucht, eine neue, mo-derne Welt und den neuen Menschen zu schaffen. Sie sind die finste-ren Titanen des 20. Jahrhunderts.

Von den zahllosen Revolutionären der Katastrophenepoche werdennur die wichtigsten miteinander verglichen. Vier von ihnen – Lenin,Stalin, Hitler, Mao Tse-tung – waren säkulare Ungeheuer, einer –Mussolini – nach unserem heutigen Standard ein Diktator von ver-gleichsweise bescheidener Verworfenheit, wenngleich er über Italien(dazu über Äthiopien, Albanien, Jugoslawien und Griechenland) vielUnheil gebracht hat. Doch Mussolini verdient in diesem Kontext Be-achtung als Vorbild moderner Tyrannen, von Adolf Hitler zuvörderst.

Gleichfalls recht selektiv mußte auch bei der Erörterung vonGrößen der Demokratien verfahren werden, die in der »Époque demalaise« jeweils Hauptrollen gespielt haben. Es schien angebracht,sie in einem einzigen Saal zu versammeln. Das Ringen zwischen denDemokratien und den nichtdemokratischen Lebensformen ist nun einmal das Zentralthema der ersten Jahrhunderthälfte, und einige derhier Porträtierten sind von den Zeitgenossen als die Gegenspieler dergroßen Monster begriffen worden. So treffen wir hier vor allem aufWinston Churchill, der nicht nur als englische Jahrhundertgestalt her-ausragt, sondern zugleich als Retter der europäischen Demokratie.

Bei der Auswahl der hier zu Porträtierenden war zu berücksichti-gen, daß die Amtsinhaber von Downing Street No. 10 von Asquithüber Lloyd George bis Chamberlain und Churchill noch gute Gründehatten, sich als die Zentralfiguren der zivilisierten Welt zu verstehen.Zeitweilig galt dies auch für bestimmte Granden der französischenDritten Republik. Frankreich figuriert in unserer Porträtgalerie mitden ambivalenten, wenngleich beeindruckenden Größen Clemenceauund Poincaré.

Briand und sein deutscher Partner Stresemann finden sich in einembesonderen Durchgang gegenübergestellt. In den zwanziger Jahrenverkörperten diese beiden letztlich gescheiterten Parlamentarier denTyp des Verständigungspolitikers und verwiesen somit auf eine bes-sere Zukunft in der zweiten Jahrhunderthälfte.

Doch unter den Staatsmännern der Demokratien in der Krise tau-chen auch jene bemerkenswerten Präsidenten der Vereinigten Staaten

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auf, die Amerika und die Welt ins »amerikanische Jahrhundert« hin-eingestoßen haben: Theodore Roosevelt, der allerdings zu früh kam,somit zu seinem Kummer in der Weltkrise 1914–1918 keine Rolle zuspielen vermochte, dann der beim Friedenschließen im Paris der Jahre1918/19 politisch verunglückte Messias Woodrow Wilson und der cha-rismatische Franklin Delano Roosevelt.

Manche der in diesem Teil der Studie erörterten Größen lebenheute nur noch schemenhaft im historischen Bewußtsein. Vor 80, 70,60 oder 50 Jahren waren sie aber Persönlichkeiten, um die sich allesoder doch vieles gedreht hat.

Die eigentlichen Stabilisierer des völlig deroutierten Jahrhundertssind aber erst Truman und Eisenhower – zwei rundum normale Ameri-kaner, »der kleine Mann aus Missouri« und ein General mit gesundemMenschenverstand. Sie figurieren als wichtigste jener Spitzenpolitikerdes Westens, welche man auch aus größerem Abstand die Gründer-generation der freien Welt nennen kann.

Heute erscheinen sogar die Größen der Jahrhundertmitte – Truman,Eisenhower, Adenauer, Yoshida, de Gasperi, Attlee, Macmillan oderBen Gurion – schon weithin historisch. Aber ihre Nachwirkungen sindbis heute zu verspüren, und wenn die Demokratien das Jahrhundert-ende unversehrt erreicht haben, so auch dank der Leistungen dieserGründergeneration.

Im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts war neben dem Kalten Kriegdie Errichtung einer Vielzahl autonomer Staaten in Asien und inAfrika ein weiteres Hauptthema. Eigentlich wäre es geboten, denzahlreichen Freiheitskämpfern und Staatsgründern, die in diesem Zu-sammenhang aufgetreten sind, eine eigene große Monographie zuwidmen. Wir behelfen uns damit, wenigstens einige von ihnen aus je-ner Phase zu porträtieren, in der sich Europa und Amerika zunehmendbewußt wurden, daß die ganze Welt ins Zeitalter der Dekolonisierungeingetreten war. Das begann mit der Unabhängigkeit Indiens im Jahr1947 und kam bereits Mitte der sechziger Jahre zu einem gewissenAbschluß.

Außerhalb Europas und Amerikas hatte der universalgeschichtlicheVorgang viele Aspekte: Kampf der Kulturen, Dekolonisierung, Staats-gründung, Globalisierung des Ost-West-Konflikts. Letzteres fand dar-in seinen Ausdruck, daß sich die Größen jener Jahrzehnte als Führerder »Blockfreien« und später der sogenannten »Dritten Welt« bezeich-neten, was immer diese Bezeichnung auch besagen mochte. Ihr Er-scheinen erinnert daran, wie wenig es der globalen Entwicklung ge-recht würde, wollte man das in Japan und Deutschland so beliebte Zäsurenjahr 1945 auch auf die Gegebenheiten in Indien, Indonesien,Nordafrika oder Schwarzafrika anwenden. Zugleich freilich kehrt der

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seit Lenin, Mussolini und Hitler bekannte Typus des modernen Tyran-nen in mehr oder weniger abgewandelter Form auch in den Führernjener Dritte-Welt-Länder wieder, die Freude am autokratischen Regie-ren haben. Doch mit Nehru ist auch eine ganz erstaunliche Jahrhun-dertgestalt aufgetreten, die in den nach China volkreichsten Staat desGlobus Traditionen europäischer Demokratie und säkularer politi-scher Kultur eingepflanzt hat.

Je näher wir zu den zeitgenössischen Jahrzehnten kommen, um soschwieriger wird die historische Bewertung. Hier muß man sich mitlocker ausgeführten Skizzen behelfen. Viele der Akteure sind nochunter uns, und manche von ihnen entfalten die wohlbekannte Aktivitätpolitischer Pensionäre, die nicht zuletzt darauf abzielt, nach dem Aus-scheiden aus dem Amt die eigene Gestalt in ein günstiges Licht zu tau-chen. Überdies hat sich seit dem großen Umbruch von den achtzigerzu den neunziger Jahren vieles als ephemer herausgestellt, was in denkritischen Dekaden davor gesagt, geplant und gestaltet worden ist.Die Größen des Entspannungszeitalters – Nixon und Kissinger,Brandt und Schmidt, Tito und Breschnew – erfahren also derzeit eineneue Bewertung. Insgesamt wird ihre künftige historische Einschät-zung auch stark von der Antwort auf die Frage abhängen, inwieweitsie den tiefgreifenden Wandel zum Besseren in Osteuropa und Ostmit-teleuropa beschleunigt und inwieweit sie ihn verzögert haben.

Daß die großen Reformer dieser Epoche – Ronald Reagan, Marga-ret Thatcher, Gorbatschow, Deng Xiaoping – alle zusammen interes-santer, geschichtlich folgenreicher und auch als Persönlichkeiten fas-zinierender waren als die Repräsentanten des Status quo, ist evident.

Zu den großen Wundern des 20. Jahrhunderts gehört schließlich derUmstand, daß der säkulare Zusammenbruch des Sowjetreiches von-statten ging, ohne die Welt bisher in ein schreckliches Chaos zu stür-zen. Noch lange wird man deshalb über die einzigartige Persönlich-keit Gorbatschows rätseln. Der glückliche Ausgang war aber auchganz wesentlich die Leistung der Manager des Umbruchs: GeorgeBushs, Helmut Kohls und ihrer Außenminister. Bedenkt man das totale Versagen der Generation von 1914, die ja auch die von 1919 war,so erscheint das Management des Umbruchs als eine der ganz großenLeistungen des 20. Jahrhunderts. Möglicherweise ist es deshalb gelun-gen, weil an der Spitze der wichtigen Staaten eben keine Gigantenstanden, sondern jener gute Durchschnitt, der darauf achten gelernthat, das Boot nicht kentern zu lassen, und den zudem das auszeich-nete, was in den Demokratien des späten 20. Jahrhunderts als eineHaupttugend betrachtet wird: die Dialogbereitschaft.

Hier endet unser Durchgang. In den Jahren 1990 und 1991 war inEuropa und in den USA die Auffassung weit verbreitet, daß »das kurze

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Hans-Peter Schwarz

Das Gesicht des 20. JahrhundertsMonster, Retter, Mediokritäten

Paperback, Klappenbroschur, 896 Seiten, 13,5 x 21,5 cmISBN: 978-3-570-55121-9

Pantheon

Erscheinungstermin: September 2010

Ein Zeitalter wird besichtigt Herausragende Persönlichkeiten prägten das 20. Jahrhundert im Guten wie im Schlechten,sie zerschlugen die gewohnte Ordnung und gaben der Weltgeschichte eine neue Richtung:»Monster« wie Hitler und Stalin, »Retter« wie Roosevelt und de Gaulle, Freiheitskämpfer wieGandhi und Mandela. Eine faszinierende Porträtgalerie und das schillernde Gesamtbild einerbewegten Epoche.