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128 Seiten, Paperback ISBN: 978-3-406-50863-9 Unverkäufliche Leseprobe © Verlag C.H.Beck oHG, München Hansjürgen Müller-Beck Die Eiszeiten Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte

Hansjürgen Müller-Beck Die Eiszeiten Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte … · 2018. 3. 21. · Von der Sintflut zur Eiszeit Mythos Seit den frühesten durch schriftliche

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  • 128 Seiten, Paperback ISBN: 978-3-406-50863-9

    Unverkäufliche Leseprobe

    © Verlag C.H.Beck oHG, München

    Hansjürgen Müller-Beck Die Eiszeiten Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte

  • Was mich wirklich interessiert, ist die Frage, obGott die Welt auch anders hätte erschaffen können,das heißt, ob der Zwang zur logischen Einfachheitüberhaupt irgendeine Freiheit gestattet.

    Albert Einstein n. J. Reader & J. Gurche 1987

    Vorwort

    Heute ist es möglich, die Geschichte der Klimaentwicklung, dieGrundlage aller umweltpolitischen Diskussionen ist, zu rekon-struieren. Allein die Reaktionen der Menschen auf diese Ent-wicklung sind bestimmend für die Folgen dieses grundsätzlichnatürlichen erdgeschichtlichen Prozesses.

    Kannte schon die griechische Philosophie im 6. Jh.v. Chr. dieHypothese vom «steten Kampf zwischen dem Warmen und demKalten», so entstand im 18. Jh. aus der Beobachtung lokalerGletscherbewegungen die eigentliche Eiszeitforschung, undnach und nach reifte die Erkenntnis, daß es sich bei den Eiszeitenum einen bedeutsamen Teil der Erdgeschichte handelte. In demgewichtigen Werk «Die Alpen im Eiszeitalter» wurde 1909 erst-mals die Wiederholung kaltzeitlicher und warmzeitlicher Perio-den in großen gestuften Zyklen nachgewiesen.

    Glaubte man zunächst, es mit einem Eiszeitalter zu tun zuhaben, das auf den Zeitraum von 2 Mio. Jahren der engeren«Quartärforschung» begrenzt wurde, so erkannte man schließ-lich sich mehrfach wiederholende epochale Ereignisse, die vorallem im Zuge der neueren Arktis- und Antarktisforschung ent-deckt wurden.

    Bereits die präkambrische Urzeit der Erde erlebte die erstengroßen Vereisungen. Die Kälte selbst, aber auch die Hitzeent-wicklung untermeerischer Kleinvulkane mögen dazu beigetra-gen haben, daß die Erde komplexeres Leben hervorbrachte.Lange Warmzeiten und Eiszeiten wechselten sich im Erdalter-tum ab.

  • Heute sind wir sehr viel besser über das von der Antarktis ge-steuerte und immer noch andauernde neuerdzeitliche Eiszeit-alter informiert. Seine größeren und kleineren Fluktuationensetzten bereits vor rund 50 Mio. Jahren ein und gingen mit er-neuten Vergletscherungen einher. Die dichten Wälder öffnetensich, und Tiere und Pflanzen mußten in den dadurch entstehen-den trockeneren Savannen und Steppen neue Lebensstrategienentwickeln. Der sich verändernde Lebensraum und die entspre-chend sich ändernden Lebensbedingungen stellten für die vonAnfang an mit besonderer Neugier ausgestatteten Primaten undVorfahren des modernen Menschen neue Herausforderungendar und boten und forderten gleichermaßen neue Potentiale.

    Unsere Vorfahren und wir modernen Menschen entwickeltenschließlich in diesen von Klimaparametern bestimmten, regionalunterschiedlichen Lebensräumen während der letzten mehr als2 Mio. Jahre – auch als «Anthropogen» definiert – immer neueTechniken für ständig komplexere Nutzungen der vorhandenenPotentiale. Dazu zählen nicht wenige Akte menschlicher Hybris,wie sie in den oberirdischen Atomwaffenversuchen in den 50erund 60er Jahren offenbar wurden und in dem vorläufig letztengroßen Desaster der Atomkraftwerke in Tschernobyl mündeten.So wie die Folgen dieser Ereignisse weltweit spürbar wurden, sowirken sich auch die Folgen all der technischen Belastungen, diewir dem Klimasystem der Erde Tag für Tag zumuten, weltweitaus und werden nach und nach sichtbar und greifbar. Bleiben wiruns stets bewußt, daß das Klimasystem der Erde einen gewalti-gen Zusammenhang bildet und unsere Eingriffe letztlich welt-umspannende Auswirkungen haben werden. Wenn dieses Buchüber Eiszeiten, erdgeschichtliche Klimazusammenhänge und diegewaltigen Wirkungsmechanismen, in die der Mensch zuneh-mend eingreift, unser Verständnis für diesen sensiblen Bereichintensiviert, so hat es seinen Zweck erfüllt.

    Hansjürgen Müller-Beck

    Vorwort 7

  • Von der Sintflut zur Eiszeit

    Mythos

    Seit den frühesten durch schriftliche Überlieferungen faßbarenZeiten machen sich die Menschen Gedanken über die Entste-hung der Welt und des Lebens. Es sind überall, wie auch bei allenschriftlosen Traditionen, geheiligte Mythen, in denen sich kon-krete eigene Naturerfahrungen mit kulturell geprägten ideologi-schen Welterklärungen paaren. Das universalhistorisch bisherfolgenreichste Beispiel ist die von Christen und Muslimen über-nommene, in zwei Varianten gebotene monotheistische Schöp-fungsgeschichte im Alten Testament. In ihr werden in Jahrtau-senden entwickelte Überlieferungen aus den frühen Viehzüchter-kulturen der vorderasiatischen Steppen von Schriftkundigenhebräischer Sprache ab 900 v. Chr. erstmals schriftlich und um600 v. Chr. schließlich neu durchdacht fixiert. Nur noch ein ein-ziger, alle Macht besitzender, allgewaltiger Gott schafft Zug umZug seine ihm allein mögliche Welt: die große Bühne des Lebensaus Steinen und Gewässern unter dem Himmel als Erde und auf ihr die unzähligen, fest verwurzelten Pflanzen neben denartenreichen, von letzteren, aber auch von ihresgleichen leben-den Tieren. Krönung sind schließlich die beiden ausdrücklich alsgottesähnlich bezeichneten, beseelten, glücklichen ersten Men-schen des Paradieses – zwar noch ohne Wissen um Gut und Böse,aber zugleich mit der gefährlichen und unvermeidbaren Gabeder auch vielen Tieren eigenen Neugier. Ein wunderbarer gött-licher, aber dadurch doch in sich gefährdeter und trotz Ver-warnung des Schöpfers nur vorläufiger Entwurf der Verheißungewigen Glücks.

    Denn ganz offensichtlich war dieses Bild höchsten Vertrauensnicht in Einklang mit den unruhigen, alltäglichen, über die Zei-ten hinweg erlebten historisch gewachsenen Wirklichkeiten derAutoren in der jeweiligen vorderasiatischen Gegenwart zu brin-

  • gen. Sie waren ohne Anteil menschlicher Schuld und Sühnenicht mehr zu begreifen, nicht ohne verführende Dämonen undvermittelnde, aber auch bisweilen rebellische Engel. Hinzu ka-men die warnenden und tröstenden Verkündigungen der Pro-pheten und die oft wiederkehrenden Katastrophen, verbundenmit Jenseitsahnungen von Himmel und Hölle. Mit der Vertrei-bung von Eva und Adam aus dem Paradies durch den zwarrisikobereiten, offensichtlich erzürnbaren und unergründlichenSchöpfer hatte die zunächst nur in wenigen Jahrtausenden ge-messene Geschichte der Menschen begonnen. Die Erbsünde desaus der Neugier geborenen Zweifels und schließlich der unge-heuerliche Brudermord vom Bauern Kain am gottesfürchtigerenHirten Abel bildeten ihre Grundlagen. Blutige Kriege wurde mit Feinden geführt, Frieden oft nur auf Zeit geschlossen. Gottselbst mußte immer wieder regulierend und strafend eingreifen,bis hin zur radikalsten Säuberung der Erde von den verwor-fenen Menschen durch die große Sintflut, in der allein der ge-rechte Noah die Schöpfung – freilich mit all ihren übernomme-nen Hypotheken – rettete.

    Himmel und Hölle behalten ihre Symbolik. Deren «Ge-schichtlichkeit» schildert in grandioser Intensität in ganz neuerReflexion antiker und jüdisch-christlicher Traditionen bereitsder 1321 verstorbene Dante Alighieri in seiner Unterweltreise inBegleitung von Vergil seinen Zeitgenossen. Diese führt sie durchdas glühende Innere der bereits im dritten Jahrhundert v. Chr. inAlexandria als Kugel erkannten und richtig vermessenen Erde.In der letzten und tiefsten Hölle treffen sie den gigantischen ge-fallenen Erzengel Luzifer, bis über die Lenden festgefroren imewigen Eis (Abb. 1) – noch schlimmeres Strafmittel als das inden Stockwerken darüber allgegenwärtige Feuer. Erst am Endealler Geschichte steht nach dem Auftreten des wahren oder sichdann endgültig verwirklichenden Messias einst das JüngsteGericht der Entscheidung und die endgültige Erlösung der inGläubigkeit Gnade findenden Seelen. Daneben droht die uner-bittliche, ewige Verdammnis des Neuen Testaments, die alle un-erlösten Sünder treffen wird, vorab den schon jetzt am tiefstengestürzten, von Anfang an aber dennoch unsterblichen, gegen

    Mythos 9

  • 10 Von der Sintflut zur Eiszeit

    Abbildung 1: Adolf von Stürler, Zeichnung zu Dantes Göttlicher Komödie 1850: Luzifer im Eis

  • seinen Herren aufbegehrenden Luzifer. Er bleibt damit für im-mer zugleich Symbol des auch in einem allgegenwärtigen Gottselbst nicht aufhebbaren Zwiespalts zwischen Gut und Böse.

    Wissenschaftsgeschichte

    In diesen bei Dante angeführten überlieferten Mythen spiegelnsich alle Elemente unserer belebten und unbelebten Welt bis hinzu den verheerenden Naturkräften der vulkanischen Feuer undder untergründigen Beben der Hölle, der zerstörerischen Flutenan den Küsten und den Überschwemmungen der Ströme, wieauch des ewigen erstarrten Eises der Berge. Es sind bei Dante be-reits die über Jahrhunderte vergessenen Erkenntnisse, mit denensich nach der Wiederentdeckung vorchristlicher antiker Autorenam Ende des europäischen Mittelalters die erläuternden Arbei-ten der sie neu publizierenden Humanisten auseinanderzusetzenhaben. Sie werden durch systematische historische Quellenkritikausgebaut bis hin zur Entdeckung gefälschter Dokumente, wieder Konstantinischen Schenkung an den Bischhof von Rom, dieoft von enormer, wenn auch nur langsam wirkender politischerKonsequenz sind und die den Weg zu neuen Ufern weisen.

    Sie bereiten so die Freiheiten der europäischen Aufklärungvor, die gänzlich neue Erkenntnisse über die Geschichte des Le-bens ermöglichen. Es fanden sich immer neue «fossile» (latei-nisch für «ausgegrabene») Versteinerungen ausgestorbener Tie-re, die wohl nur aus der Zeit vor der mythischen und biblischenSintflut (die schon im später wiedergefundenen mesopotami-schen Gilgamesch-Epos vorkommt und hernach die Bibel in-spirierte) stammen können, wie jenes Skelett eines «Homo dilu-vii testis» (als eines «Zeugen der Sintflut»), das Johann JakobScheuchzer 1726 noch ganz im Einklang mit den biblischenVorgaben veröffentlichte. Erst 1832 definierte der britischeGeologe W. Buckland das «Diluvium» (lateinisch für «Sintflut»)als reale erdgeschichtliche Zeitmarke in den immer häufiger im Rahmen der zunehmenden Bergbautätigkeit beobachtetenvielgliedrigen Gesteinsabfolgen. Nur wenig später entwickeltedaraus G. Cuvier in Paris – der den alten Sintflutzeugen von

    Wissenschaftsgeschichte 11

  • Scheuchzer aus der Schweiz als Riesensalamander identifizierte– nach raschem Ansteigen der fossilen Pflanzen- und Tierfundein immer mehr Ablagerungen seine umfassendere «Katastro-phentheorie», in der die vom Menschen miterlebte Sintflut dievierte und vorläufig letzte ist. Die gesamte Erdgeschichte wirddamals entsprechend in ein Primär, Sekundär, Tertiär und Quar-tär gegliedert, von denen eben erst noch die beiden letzten Pha-sen und neuerdings sogar nur noch die letzte als Termini ge-bräuchlich sind, was aber auch schon wieder in Frage gestelltwird. Ihre jeweiligen wirklichen Zeittiefen blieben vorderhandunklar.

    Auch das ewige Eis der Hochgebirge in den Alpen wurde vonden frühen Geognosten (den ersten Erforschern der Erdgeschich-te, zu denen auch Scheuchzer gehörte) als ein einst gefrorenesMeer mit den Gletschern als dessen Buchten angesehen. Sie bil-deten für die jeweiligen menschlichen Nachbarn traditionell dieunzugängliche Welt der Götter, die auch Hirten und Jäger in derRegel ehrfürchtig mieden. Den höchsten aller Eisberge unsererErde nannten die Nepalesen im Süden «Sagarmatha» und dieTibetaner im Norden «Chomolungma» und somit übereinstim-mend die «Gottmutter der Welt». Es handelt sich dabei um jenenBerg, den die so selbstsicheren Europäer seit dem Aufbau ihrereinstigen Imperien unter dem banaleren Namen des Sir George«Everest» – einst Chefgeodät der kaiserlich-britischen Ostindi-schen Kompanie – kennen und immer wieder, aber meist nur mitHilfe der den extremen Höhen körperlich besser gewachsenenEinheimischen, «erobern».

    Daß schon damals seit nahezu drei Jahrtausenden die Paläo-eskimos der amerikanischen Arktis im für alle südlicheren See-fahrer feindlichen Meereis nach dem von ihnen selbst angeführ-ten Vorbild der Eisbären mit höchstem technischen Können jag-ten und unter extremsten Bedingungen überlebten, blieb in dersüdlicheren «Alten Welt» und ihren Traditionen völlig unbe-kannt. Dort waren nicht nur die dogmatisch geführten mittel-alterlichen Diskussionen um Thora und Neues Testament, son-dern auch die ersten schon an der erkundeten Realität orientier-ten Naturerklärungen in Vergessenheit geraten. Sie stammten

    12 Von der Sintflut zur Eiszeit

  • von Denkern wie Theagenes von Rhegion, der zwischen den My-thographen Homer und Hesiod und den Vorsokratikern des6. Jh.v. Chr. stand. Nach seiner Auffassung lagen das Warme unddas Kalte in einem ständigen Kampf miteinander. Zu derselbenGruppe, die man vielleicht als skeptische Theologen bezeichnenkönnte, gehörte auch Akusilaos von Argos (5. Jh. v. Chr.). Er sahin dem mythischen Kulturheros Phoroneus den ersten sterblichenmännlichen Menschen (nach Niobe als der ersten sterblichenFrau), der um jene Zeit lebte, als die erste «Sintflut» Attika heim-suchte. Genauso vergessen waren auch die frühen Vorsokratikerselbst, von denen Xenophanes von Kolophon unter Bezug auf dieAbdrücke von Meerestieren in den Gesteinen von Malta schondie wiederholte «Vermischung von Erde und Meer» postulierte.Anaximenes von Milet sah schließlich die Fixsterne wie Nägel aneinem eisartigen Himmelsgewölbe befestigt, also weit über derKälte des schneebedeckten Olymp als Sitz der Götter, die jetztvon der Philosophie entthront und durch umfassendere Vorstel-lungen göttlicher Prinzipien ersetzt wurden. All dies geschah imselben 6. Jh. v. Chr., als die hebräischen Schriftgelehrten nach derRückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft dem für Jahr-hunderte historisch so wirkungsmächtigen Alten Testament sei-ne endgültige, gegenüber der Erstfassung überhöhte Form gaben.

    Erst die neuzeitlichen Beobachtungen von in den Bergen täti-gen schweizerischen Ingenieuren und vor allem die sorgfältigenStudien von Horace-Bénédict Saussure in den Westalpen führ-ten endlich zur Erkenntnis der keineswegs ewig starren, son-dern dynamischen Wirklichkeit der alpinen und arktischen Eis-formationen. Seine 1788 hoch auf einem Gletscher verloreneEisenleiter, die 44 Jahre später gut 4000 Meter entfernt an des-sen Fuß wiedergefunden wurde, ließ die Gletscher endlich zujenen plastischen und stetig aus den Bergen fließenden Eisströ-men werden, die sie tatsächlich alle sind. Später wurde auchklar, daß die Zungen großflächiger polnaher Inlandgletscherbeim Erreichen der Meeresküsten über dem Wasser aufschwim-men und schließlich zerbrechend Eisberge, ja sogar gewaltigeEisinseln «kalben», die durch moderne Satelliten-Erkundungenim letzten Jahrzehnt erfaßt werden konnten.

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  • Größere der immerhin schon in einigen wenigen mittelalter-lichen örtlichen Beurkundungen anstoßender Landbesitzungenerwähnten Gletscherzungen, die sich lokal verschoben, bliebenoffenbar in einer ein für allemal statisch geschaffenen Welt un-vorstellbar. De Saussure erkannte zwar die Herkunft großerBlöcke alpiner Gesteine, die bis an den Schweizerischen Juratransportiert worden waren. Aber als Ursache dieses Phänomensvermutete er einen Zusammenbruch der Alpen in der vermeint-lichen großen Flut und einen Transport der Blöcke auf driften-den Eisschollen, wie sie in jedem Frühjahr in den aufbrechendenalpinen Flüssen zu sehen waren. Auch für Charles Darwin undden großen Geologen Charles Lyell galt zunächst noch diese soeindeutig mit den biblischen Mythen verbundene Vorstellungder «Alpenfluttheorie».

    Dazu kam, daß es nach den geltenden Vorgaben der alten Tra-ditionen überhaupt keine Gründe für andere größere und garlangfristige Klimaänderungen jenseits der saisonalen Jahresläufegab. So blieb auch praktisch nahezu unbeachtet, daß der briti-sche Freibeuter Martin Frobisher – auf der Suche nach Gold undder kürzeren Nordwestpassage um Nordamerika herum nachdem gewürzreichen Indien – noch 1576 bis 1578 Baffin Islandwestlich von Grönland erreichen konnte, dessen Zugang dannwenig später für Jahrhunderte durch Eisbarrieren versperrt war.

    Schon im Jahre 1775 wurde aber zum ersten Mal erkannt, daßauch Blöcke skandinavischen Gesteins – die Findlinge – über dieOstsee hinweg in die norddeutsche Tiefebene verfrachtet wor-den waren. Hier blieb ebenfalls die Flutdrifttheorie am einleuch-tendsten, mit der sich auch der geognostisch höchst interessierteGeheimrat Goethe schon 1787 auseinandersetzte. Doch im glei-chen Jahr wurden erste neue Überlegungen bekannt. DerSchweizer Bernhard Friedrich Kuhn publizierte eine Arbeit überden Mechanismus der Gletscher, in der er ihnen die Kraft zumTransport derartiger Blöcke bei früheren weiterreichenden Vor-stößen zuwies. Nur wenige Forscher schlossen sich ihm an. Diealte Vorstellung von der Verdriftung auf schwimmenden Schol-len galt nach wie vor als gesichertes Wissen. Da half es auchnicht, daß der bergkundige Gemsjäger Jean-Pierre Perraudin

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  • 1802 konkret seine Rekonstruktion eines früheren Eisvorstoßesim alpinen Val de Bagnes auf der Basis der von ihm beobachtetenKerb- und Schliffspuren publizierte – ein Vorstoß, der das ganzeTal gefüllt haben mußte. Seine Ergebnisse wurden weitgehendfür völlig unsinnig gehalten. Doch schließlich griff nach langwal-tender Skepsis auch der im Wallis bei der Verkehrserschließungder Alpen im Straßen- und Brückenbau tätige Ingenieur IgnaceVenetz zwischen 1816 und 1817 die Interpretation von Perrau-din auf und dokumentierte 1821 und 1822 in ersten Vorträgendie Existenz von älteren Endmoränen 5 km unterhalb des dama-ligen Endpunktes des Walliser Fletsch-Gletschers.

    Im Jahre 1824 entdeckte Jens Esmark erstmals Spuren frühe-rer Gletschervorstöße in Norwegen. Man begann, sich mit denGletscherbewegungen in den Alpen anzufreunden. Und selbstder zunächst sehr skeptische, später auch in Amerika als Eiszeit-forscher tätige Paläontologe Louis Agassiz aus Neuchâtel ließsich auf einer Exkursion mit Venetz überzeugen. Sein erster zu-stimmender Vortrag 1837 vor einem Kreis illustrer und sich fürkompetent haltender Zuhörer stieß noch immer auf starke Vor-behalte. Doch schon damals prägte der Botaniker Karl Schim-per den Begriff «Eiszeit» für jene sich abzeichnenden großenVorstoßphasen der Gletscher. Für die Riesenstrecken von Skan-dinavien bis zum Harz blieb es aber noch lange bei der Eisdriftder Blöcke auf schwimmenden Schollen.

    Konkret änderte sich die Situation durch die aktuellen, neuenund unübersehbaren Vorstöße der Alpengletscher, die um1854/55 einen neuen Maximalstand erreichten, was besondersam leicht zugänglichen Unteren Grindelwaldgletscher zur Tou-risten- und Naturmaler-Attraktion wurde.

    Doch es kam noch viel dramatischer und auch für eine breiteÖffentlichkeit pressewirksamer: Sir John Franklin erforschte alsbritischer Konteradmiral ab 1818 mit großem Aufwand die da-mals noch relativ warme Amerikanische Arktis auf der neuer-lichen Suche nach der Nordwestpassage. Er saß nur zwei Jahr-zehnte später, im Herbst 1846, völlig überraschend bei weit nied-rigeren Temperaturen mit zwei Schiffen fest, die er im Eis desPeel Sounds des nordkanadischen Archipels aufgeben mußte.

    Wissenschaftsgeschichte 15

  • Danach versuchte er mit seinen Mannschaften und mit völligunzureichender Ausrüstung einen Rückmarsch nach Süden, aufdem er für ein rundes Jahrhundert spurlos verschwand. Die jah-relange, vergebliche Suche nach Franklin und seinen Leuten ver-schaffte den Europäern vor allem auch emotional dank der an-haltenden Berichterstattung einen engen Kontakt zu der zuvorfast unbekannten, bedrohlichen Welt der Arktis. Ihre Sphärenhatten bis dahin nur die von Nordeuropa und Nordamerikakommenden Wal- und Walroßjäger auf ihren Fahrten berührt,aber so weit wie möglich gemieden. Auch die sonst oft gut in-formierten späten Geographen der Antike hatten sie nur als fer-nes, unklares Phantom gekannt.

    Wichtig wurde jetzt der höchst produktive Schriftsteller Eli-sha Kent Kane. Er war 1853 bis 1856 mit einem Schiff auf derSuche nach Franklin in nächster Nähe der gewaltigen, sich indas Meer schiebenden Gletscher Westgrönlands geraten undhatte dies nur dank der Hilfe endlich beigezogener, landeskun-diger Eskimos auch knapp überlebt. Die Bedrohlichkeit und Ur-gewalt des arktischen Eises wurde zum faszinierenden Themader aufblühenden Reiseliteratur in den europäischen und ameri-kanischen Salons. 1857 akzeptierte schließlich auch der damalsführende Geologe und schriftstellerisch sehr aktive Lyell dieneuen alpinen Gletschertheorien als Ergänzung seiner bisheri-gen Vorstellungen erdgeschichtlich wirksamer Kräfte.

    Doch es sollte noch bis 1875 dauern, bevor die auch in Nord-deutschland bereits 1844 erkannten und bekannten Gletscher-spuren zum ersten überzeugenden Eiszeit-Entwurf des Stock-holmers Otto Torell auf der Basis der deutlichen Schliffspurenbei Rüdersdorf in Nordostdeutschland führten. Die skandinavi-schen Gletscher hatten demnach mit mehreren hundert Metermächtigen Eisschilden bis in den Raum vor Berlin gereicht unddabei gewaltige Felsblöcke mitgeschleppt. Gletscher konntenalso über große Distanzen wachsen und auch wieder schrump-fen. Das Klima der Erde war keineswegs so stabil, wie bis dahingedacht, sondern mußte offensichtlich großphasig wechselndenVeränderungen unterworfen gewesen sein, die es in den kom-menden 130 Jahren eingehender zu erforschen und zu gliedern

    16 Von der Sintflut zur Eiszeit

  • galt und auch heute noch immer gilt. Einen wichtigen Meilen-stein bildeten dabei die drei Bände der «Alpen im Eiszeitalter»von A. Penck und E. Brückner, die 1909 abgeschlossen wurden.Sie boten einen ersten umfassenden Entwurf der detailliertenGroßgliederung der eiszeitlichen und der zugehörigen großenklimatischen Veränderungen. Diese Gliederung wurde weltweitausgebaut und nach dem Stand neuer, zum Teil sicherer alsbisher möglich datierter Befunde unterdessen grundlegend revi-diert. Davon soll hier unter Darstellung der dadurch ausgelöstenKonsequenzen für die Erkenntnisse zur klimagesteuerten Um-weltgeschichte, die uns immer stärker bewegt, eingehender dieRede sein.

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