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Heidegger & Nietzsche
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ELEMENTA
Schriften zur Philosophie und
ihrer Problemgeschichte
herausgegeben von
Rudolph Berlinger
Wiebke Schrader
Martina Scherbel
Band 82 - 2012
Amsterdam - New York, NY 2012
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Heidegger & Nietzsche
Herausgegeben von/Edited by
Babette Babich, Alfred Denker
& Holger Zaborowski
8/12/2019 Heidegger & Nietzsche
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The paper on which this book is printed meets the requirements of ISO
9706:1994, Information and documentation - Paper for documents -
Requirements for permanence.
ISBN: 978-90-420-3600-0
E-Book ISBN: 978-94-012-0874-1
Editions Rodopi B.V., Amsterdam - New York, NY 2012
Printed in the Netherlands
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Inhaltsverzeichnis / Table of Contents
Vorwort 11
I. Nach dem Tod Gottes? Fragen der Religionsphilosophie undTheologie
1. Der Gottmensch in Knechtsgestalt. Marx, Nietzsche, Heideg-
gerdrei magebliche Negationen metaphysischer Christologie
Karlheinz Ruhstorfer 15
2. Paulus von Tarsus und die Auseinandersetzung zwischen Nietz-
sche und dem jungen Heidegger
Virgilio Cesarone 43
3. Heidegger on Nietzsches Word and Overcoming Ontotheology
Jeffery Kinlaw 59
4. Kommender und letzter Gott zwischen Heidegger und Nietzsche
Harald Seubert 77
5. Heideggers Deutung von Nietzsches Proklamation des Todes
Gottes
Markus Enders 97
6. Preservation-Enhancement as Value-Positing Metaphysics in
Heideggers Essay The Word of Nietzsche: God is DeadDale Wilkerson 121
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II. Jenseits von Gut und Bse? Fragen der Ethik und Moral-
philosophie
7. Nietzsche and Heidegger on Pain
Abraham Olivier 147
8. Heidegger, Rickert, Nietzsche, and the Critique of Biologism
Robert Bernasconi 159
9. The Inhumanity of Being: Subjectivity in Nietzsche, Heidegger,
and Levinas
Jens Zimmermann 181
10. Measuring the Greatness of the Great Men of Grand Politics:
How Nietzsches DynamiteRendered Heidegger kaputt
Theodore Kisiel 195
III. Nietzsche und Heidegger in Auseinandersetzung mit der
Geschichte der Philosophie
11. Heideggers Allegory of Reading: On Nietzsche and the
Tradition
William D. Melaney 223
12. Heraclitean Justice Between Heidegger and Nietzsche
Charles Bambach 235
13. Nietzsche is Said in Many Ways: Nietzsches Presences in
ParmenidesLuanne T. Frank 247
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14. From an Agonistic of Powers to Deferred Homecoming:
Heidegger, Sophocles, and HlderlinVronique Fti 263
IV. Am Ende der Moderne? Macht, Technik und die Verwin-
dung der Metaphysik
15. Heideggers Wille zur Macht. Nietzsche Technik Machen-schaftBabette Babich 277
16. Das dionysische Ja-Sagen zur Welt. Die Auslegung des stim-
mungsmigen Charakters des Willens zur Macht und dessen
zeitlichen Sinnes
Angel Xolocotzi 315
17. Nietzsches Umdeutung des Begriffs des Guten im Rahmen seiner
Metaphysik des Willens zur Macht und Heideggers Kritik an sei-
nem Wertgedanken
Jorge Uscatescu Barrn 331
18. A Thousand Year Conclusion? Machination and Calculation in
theNietzscheLecturesStuart Elden 343
19. Assessing How Heidegger Thinks Power Through the History of
Being
Michael Eldred 357
20. Das Schweigen der Tiere bei Nietzsche und HeideggerCharles Feitosa 367
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21. Traumatic Origins: History, Genealogy, and Violence in
Heidegger and NietzscheEric Sean Nelson 379
V. Welt, Wahrheit, Sprache, Kunst
22. Horizontbildung und Weltbildung. Zur Mensch-Tier-Differenz inHeideggers Grundbegriffe der Metaphysik-VorlesungFriederike Rese 393
23. Heidegger and Nietzsche on the End of Art
Robert Sinnerbrink 417
24. Raging Discordance Nietzsche on Truth and
Art
Robert Switzer 429
25. On Truth as Justice
Nancy A. Weston 441
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Vorwort
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Vorwort
Martin Heideggers hat sich immer wieder, vor allem aber seit den
1930er Jahren mit Nietzsches Denken auseinandergesetzt. Nietzsches
Werk war fr sein Verstndnis der abendlndischen Philosophiege-
schichte und insbesondere der Moderne von zentraler Bedeutung. Sei-
ne Deutung der Philosophie Nietzsches ist sowohl positiv als auch
sehr kritisch rezipiert und diskutiert worden. Sie bleibt wie auch diePhilosophie Nietzscheskontrovers.
Die Beitrge dieses Bandes gehen Heideggers Auseinandersetzung
mit Nietzsche nach. Einige Beitrge sind eher philosophiege-
schichtlich orientiert, andere stellen Nietzsche und Heidegger in den
Kontext gegenwrtiger Debatten; einige versuchen, Nietzsche und
Heidegger weiterzudenken, andere formulieren offene Fragen fr die
weitere Diskussion. Heidegger und Nietzsche, so zeigt sich in vielfl-
tiger Weise, geben auch der heutigen Philosophie noch zu denken
und zu fragen.
i-
degger und Nietzsche zurck, die im Mai 2004 in Messkirch statt-
fand. Fr die Verffentlichung wurden die Beitrge berarbeitet. Ne-
ben den Autorinnen und Autoren danken wir an dieser Stelle sehr
herzlich auch der Stadt Messkirch fr die Untersttzung bei der
Durchfhrung der Tagung, Frau Professor Wiebke Schrader und
Frau Dr. Martina Scherbel fr die Aufnahme dieses Bandes in die
und Herrn Fred van der Zee vom Verlag Rodopi fr
die gute Zusammenarbeit.
New York, USA, Mesnil Follemprise, Frankreich, und
Vallendar, Deutschland, im Januar 2012
Babette Babich, Alfred Denker, Holger Zaborowski
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I. Nach dem Tod Gottes? Fragen der Religionsphilosophie und
Theologie
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1. Der Gottmensch in Knechtsgestalt. Marx, Nietzsche, Hei-
deggerdrei magebliche Negationen metaphysischer Chris-tologie
Karlheinz Ruhstorfer,Koblenz-Landau, Deutschland
Sren Kierkegaard gab dem Gedanken von Jesus Christus, dem
enschen in Knechtsgestalt, wie er dem Philipperhymnus ent-springt, eine entscheidende, moderne Wendung. Kierkegaard verzich-
tet auf die spekulative doctrinabezglich des Verhltnisses von Gott
und Mensch in Jesus Christus, ja, die bersetzung dieses Kerngedan-
kens des Christentums in spekulative Vernunft verdunkele nur die
Person des Lehrers auf die es einzig ankomme.1 Doch sei der
enschein Zeichen des Widerspruchs, der durch keine Theo-
logie aufgelst werden knne. Der grtmglicheWiderspruch be-
steht gerade darin, dass Gott in einem einzelnen Menschen Gestalt an-
nimmt und dass dieser Mensch Gott ist.2 Entscheidend ist hierbei,dass die Knechtsgestalt, und nur als solche ist Gott Mensch geworden,
die Unkenntlichkeitimpliziert. Mensch zu sein bedeutet den grt-
mglichen, unendlichen qualitativen Abstand vom Gott-Sein und ist
daher das tiefste Inkognito.3 Nun ist die Religionslehre Kier-
kegaards nur eine Ausprgung des nachmetaphysischen, modernen
und im strengen Sinn anthropologischenDenkens, wie es Feuerbachdem theologischen Denken des Zeitalters der Metaphysik entgegenge-
setzt hat.4 Kierkegaard negiert nur die vernnftige Theologie, nicht
1 Sren Kierkegaard,Einbung im Christentum, Simmerath 2003, 117.2 Kierkegaard,Einbung im Christentum, 120.3 Kierkegaard,Einbung im Christentum, 122.4
Siehe Ludwig Feuerbach, Grundstze einer Philosophie der Zukunft.Kritische Ausgabe mit einer Einleitung und Anmerkungen von G. Schmidt,Frankfurt am Main 1967.
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Karlheinz Ruhstorfer16
aber den existentiellen Glauben. Charakteristisch fr die moderne Be-
sinnung ist aber letztlich die Negation des christlichen Gottes selbst.Sollte nun die Sache der Moderne, der weltliche, weil anthropologi-
sche Mensch, auch da, wo der christliche Gott in aller Radikalitt ne-giert wird, dennoch nur eine Erscheinungsform des Gott-Menschen in
Knechtsgestalt sein? Dann wre, mit Claus-Artur Scheier gesprochen,
eine philosophische Anthropologie als die zweihundertjhrige Ge-
schichte des Gott-Menschen in Knechtsgestalt zu schreiben, dessen
jngste Metamorphose Levinas Anderer ist, der zu allen wird in Tout autre est tout autreeder Andere ist ganzanders (als der ganz Andere)5
In dieselbe Richtung weist Gianni Vattimo, der zeigt, dass nicht
nur die moderne Destruktion der Onto-theologie, sondern auch noch
das dekonstruktive Denken der Postmoderne sich dem christlichen
Gedanken der Kenosis verdankt, d. h. wie im paulinischen Philip-
perhymnus der Gott-Mensch auf seine Sohnesgestalt verzichtet undKnechtsgestalt annimmt, so habe sich der christliche Gott in der Ge-
schichte zurckgenommen, um schlielich auch noch die Negation
seiner zuzulassen.6Vor allem im gegenwrtigen Pluralismus ist dieser
Gedanke nach Vattimo zu sich selbst gekommen. Aufzunehmen ist
hier der Hinweis, dass der christliche Gedanke des Gottmenschen in
Knechtsgestalt die abendlndische Denk-Geschichte trgt. Vor der
Dekonstruktion oder De-Limitation der Postmoderne und vor der Ne-
gation der Moderne ist allerdings ein erstes und grundlegendes Ver-
hltnis zur christlichen Offenbarung anzunehmen, nmlich die Reali-
tt bzw. das bejahende Urteil, welches die spekulative Vernunft ber
die Menschwerdung Gottes gesprochen hat.7Wenn aber fr eine zeit-
5 Claus-Artur Scheier, Der Mensch, diese Fabrikware der Natur. Bemer-kungen zur geschichtlichen Selbstbestimmung des Menschen; in: Braun-
schweiger Beitrge fr Theorie und Praxis88-2 (1999), 57-60.6 Gianni Vattimo, Glauben Philosophieren, Stuttgart 1997.7 Zur Verwendung der drei kantischen Qualittskategorien siehe Karlheinz
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Der Gottmensch in Knechtsgestalt 17
geme Theologie nicht nur die Christologie des metaphysischen
Zeitalters, sondern auch noch die Negation der Moderne und die De-Limitation der Postmoderne relevant sind, dann stellt sich die Frage,
was denn von Moderne und Postmoderne zu lernen wre. Vor diesem
Hintergrund stehen die folgenden Ausfhrungen zum Gott-Menschen
in Knechtsgestaltbei Marx, Nietzsche und Heidegger, die als Kern-
positionen modernen Denkens und so auch als magebliche Negatio-
nen christlicher Theologie aufgenommen werden.
1. Karl Marx
Karl Marx negiert die spekulative Theologie lediglich beilufig. Er
setzt die Anthropologisierung der Christologie bereits voraus. In der
Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie schreibt er:
Fr Deutschland ist dieKritik der Religionim wesentlichen beendigt,und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.8Nach
Marx hat bereits Feuerbach alles Wesentliche zur theoretischen Kritik der Religion gesagt. Feuerbach hatte das religise Wesenbe-
reits in das menschliche Wesenaufgelst;9er hatte die Theologie in
Christologie und diese in Anthropologie berfhrt. Doch kommt es
Marx nicht darauf an, die Welt so oder so zu interpretieren, sondern
sie zu verndern10 Die Aufhebung der Religion als des illusori-
schen Glcks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glcks.
Ruhstorfer, Konversionen. Eine Archologie der Bestimmung des Menschenbei Foucault, Nietzsche, Augustinus und Paulus, Paderborn/Mnchen/Wien/Zrich 2004, 39-47.8 Karl Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung; in:Karl Marx,Die Frhschriften, hrsg. von S. Landshut, Stuttgart 1971, 207.9 Karl Marx, Die deutsche Ideologie. Thesen ber Feuerbach, 6. These;
in:Die Frhschriften, 340.10 Marx, Die deutsche Ideologie. Thesen ber Feuerbach, 11. These; in:Die Frhschriften, 341.
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Die Forderung, die Illusionen ber seinen Zustand aufzugeben, ist die
Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf.DieKritik der Religion ist im Keim die Kritik des Jammertales, dessen
Heiligenschein die Religion ist.11
Die Religion mildert und verschleiert nur das Elend des Menschen.
Die Kritik dieses Elendes darf sich nicht in Religionskritik erschp-
fen, sondern sie muss jene Zustnde angreifen und verndern, welche
den Glauben an eine berweltliche Wirklichkeit hervorrufen. Doch
gerade durch diese bertragung des Glcks in eine geistige Welt gertder Mensch in das Unwesentliche oder das Unwesen.12Entsprechend
endet die Kritik der Religion damit, das theologische Bewusstsein in
ein anthropologisches zu berfhren und dann den Menschen aus sei-
ner materiellen, d. h. wirklichen Entfremdung zu befreien. Nicht Gott
kommt das hchste Sein zu, sondern dem Menschen in seiner weltlich
gesellschaftlichen Gestalt. Der Mensch ist das hchste Wesen fr den
Menschen und alle Verhltnisse sind umzuwerfen, in denen derMensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein ver-
chtliches Wesen ist [...].13
Der Mensch, der im Elend dieser Welt zu versinken droht,14ist der
Arbeiter. Der Arbeiter muss als die Marxsche Fassung des leiden-
den Gottmenschen in Knechtsgestalt verstanden werden. Sein Wesen
11
Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie; in:Die Frhschriften,206.12 Karl Marx, Nationalkonomie und Philosophie; in: Die Frhschriften, Atheismus, als Leugnung dieser Unwesentlichkeit, hat keinen Sinnmehr, denn der Atheismus ist eine Negation des Gottesund setzt durch dieseNegation das Dasein des Menschen; aber der Sozialismus als Sozialismusbedarf einer solchen Vermittlung nicht mehr: er beginnt von dem theoretischund praktisch sinnlichen Bewutsein des Menschen und der Natur als desWesens.13
Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung; in: DieFrhschriften, 216.14 Vgl. Marx, Die deutsche Ideologie; in:Die Frhschriften, 342.
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Der Gottmensch in Knechtsgestalt 19
ist durchaus nicht die theologische Gottgleichheit, wohl aber ist er als
Mensch an die Stelle des Schpfers getreten. Inwiefern? Marx be-trachtet den Menschen in seiner wesentlichen Produktivitt. Er anth-
ropologisiert die mit Hegel gedachte Produktivitt der absoluten Idee,
die alle geistige und physische Natur aus sich selbst, aus der ihr eige-
nen Freiheit setzt. Die Idee, der absolute Begriff war die neuzeitliche
Fassung des Schpfergottes. Doch fr Marx ist die Welt des Men-
schen nicht durch den gttlichen Logos geschaffen, sondern der
Mensch bringt in seiner Wechselwirkung mit der sinnlichen Natur dieDinge hervor, die er zu seinem Leben braucht. In der Arbeit, die zuverstehen ist als die materielle Produktion fr die materielle Bedrf-
nisse des Lebens, realisiert sich das Wesen des Menschen. Doch in der
Geschichte der Menschheit wurde der Mensch immer mehr in diesem
Wesen enteignet. Der Herr seiner Schpfungwurde schlielich zum
Knecht dieser Schpfung(s. u.). Marx hat den Menschen aber nicht
als Individuum im Blick, sondern als gesellschaftliches Wesen. Die
Enteignung des Menschen geschieht durch die jeweiligen gesellschaft-
lichen Produktionsverhltnisse. Vor allem die brgerliche Gesellschaft
mit der industrialisierten Produktionsweise und der kapitalistischen
Art des Wirtschaftens fhrt zur Verknechtung des Menschen und bil-
det mithin den Gegensatz zur postulierten neuen menschlichen Ge-
sellschaftbzw. zur gesellschaftlichen Menschheit.15
Marx beschreibt die Situation des Proletariats als des gesellschaft-
lichen Gott-Menschen in Knechtsgestalt wie folgt: Es ist daher einidentischer Satz, da der Mensch sich selbst entfremdet, und da dieGesellschaft dieses entfremdeten Menschen die Karikatur seines wirk-lichen Gemeinwesens, seines wahren Gattungslebens sei, da daher
seine Ttigkeit als Qual, seine eigne Schpfung ihm als fremde
Macht, sein Reichtum als Armut, das Wesensband, was ihn an den
15 in:Die Frhschriften, 341.
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Karlheinz Ruhstorfer20
andren Menschen knpft, als ein unwesentliches Band und vielmehr
die Trennung von andren Menschen als sein wahres Dasein, da seinLeben als Aufopferung seines Lebens, da die Verwirklichung seines
Wesens als Entwirklichung seines Lebens, da seine Produktion als
Produktion seines Nichts, da seine Macht ber den Gegenstand als
die Macht des Gegenstandes ber ihn, da er, der Herr seiner Schp-
fung, als der Knecht dieser Schpfung erscheint.16Ecce homo. Sie-
he, der Mensch! Der leidende Gott-Mensch in Knechtsgestalt ist zu-
nchst Opfer. Er fllt wie Jesus Christus den Menschen zum Opfer.Allerdings erscheinen als Tter hier die Bourgeoisie bzw. die Kapita-listen, die ebensowenig wie die Proletarier als vereinzelte Individuen
aufzufassen sind. Auch die Tter bilden eine Klasse, und zwar als dieherrschende Klasse der Kapitalbesitzer, die die Macht ber die Pro-
duktionsmittel in den Hnden halten, wobei zu bemerken ist, dassauch sie letztlich nur Opfer des Kapitals sind.17
Der Ausgleich zwischen Tter und Opfer erfolgt bei Marx nicht
durch das eine OpferJesu Christi, das ein fr allemal erbracht ist und
gerade die Vershnung zwischen Ttern und Opfern bewirkt. Die Kri-
sis, die Marx denkt, beinhaltet auch kein Gericht ber das Tun und
Lassen des einzelnen Menschen, ja, die letzte Krisis hat schlechthin
nichts mit Sittlichkeit und Moral, Freiheit und Verantwortung zu
schaffen. Die Negation der Negation ergibt sich vielmehr aus der Na-
tur der Sache. Lapidar bemerkt Marx: Die kapitalistische Produkti-
onsweise erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre ei-
gene Negation.18Die innere Logik des Kapitals fhrt notwendig zur
Revolution, die schlielich die Selbstaufhebung der Enteignung und
Entfremdung impliziert. Denn nach Marx steigern sich die Ausbeu-
tung und das Elend der Massen ins Unertrgliche, wodurch die Bereit-
16 e politi-
Marx-Engels-Werke(= MEW), Erg.-Bd. 1, Berlin 1973, 451.17 Vgl. Karl Marx,Das Kapital, Bd. 1; in: MEW Bd. 23, Berlin 1974, 16.18 Marx,Das Kapital, Bd. 1; in: MEW Bd. 23, 791.
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schaft der Proletarier zum gewaltsamen Umsturz wchst. Das interna-
tionale Kapital konzentriert sich zuletzt in wenigen Hnden, und dieProduktionsprozesse werden durch die modernen Naturwissenschaften
und Technologien immer effizienter gestaltet, wodurch aber nicht nur
die Organisation der Arbeit selbst, sondern auch die Organisation der
Arbeiterschaft befrdert wird. Dort, wo die Verelendung der Massen
ins Extreme geht, verlieren die Waren der kapitalistischen Produktion
ihren Absatz, und dort, wo ein berschuss an Waren herrscht, verlie-
ren sie ihren Wert. So wird insgesamt einerseits die Selbstverwertungdes Kapitals unmglich gemacht und andererseits die proletarische
Revolution unausweichlich.
Diese Logik des Kapitals aufzudecken ist das Ziel der Marxschen
Kritik der politischen konomie, die Marx in seinem Hauptwerk
Das Kapital vorgelegt hat. Doch im Unterschied zu den modernenIdeologien kann und will Marxens Besinnung die Revolution und so
auch die andere Welt nicht herbeizwingen: Auch wenn eine Gesell-
schaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist,
kann sie naturgeme Entwicklungsphasen weder berspringen noch
wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkrzen und mil-
dern.19
Was aber soll nach Marx hier zur Welt gebracht werden? Nun, zu-
nchst ist festzustellen, dass der Gottmensch in Knechtsgestalt Marx-
scher Prgung, der erniedrigte Arbeiter, nachdem er den tiefsten Punkt
des Leidens durchschritten hat, befreit wird. Wie der Gottesknecht im
Philipperhymnus nach seinem Tod am Kreuz erhht wird, so wird der
Arbeiter, dem durch das Kapital seine Lebendigkeit, sein produktives
Wesen entzogen wurde, nun, nachdem der Widersinn20des Kapitals
negiert ist, in einen paradiesischen Endzustand versetzt: kein Himmel,
wohl aber eine andere Welt, die Welt der kommunistischen Gesell-
19 Marx,Das Kapital, Bd. 1; in: MEW Bd. 23, Berlin 1974, 15f.20 Marx,Das Kapital, Bd. 3; in: MEW Bd. 25, Berlin 1974, 589.
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Karlheinz Ruhstorfer22
schaft. Whrend allerdings die kritischen Analysen Marxens stets
hchste Konkretion und Anschaulichkeit erreichten hatte er dochdas konkrete Elend der englischen Arbeiterschaft in der Mitte des letz-
ten Jahrhunderts unmittelbar vor Augen, bleibt die Beschreibung des
eschatologischen Endzustandes vage und unbestimmt. Er beschreibt
ihn als das wahre Reich der Freiheit.21Damit spielt er auf die Frei-
heit als das Prinzip der letzten Epoche der Metaphysik an. Die Frei-
heit, die Marx im Blick hat, ist aber nicht die brgerliche Freiheit zur
Selbstbestimmung, auch nicht die evangelische Freiheit des NeuenTestaments, die Freiheit der Kinder Gottes, die in eigentmlicher Wei-se Kant, Fichte und Hegel zu denken gegeben hat. Die Marxsche Frei-
heit besteht vielmehr darin, da der vergesellschaftete Mensch, die
assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur ra-
tionell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt
von ihm als einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem
geringsten Kraftaufwand unter den ihrer menschlichen Natur wrdigs-
ten und adquatesten Bedingungen vollziehn.22
2. Friedrich Nietzsche23
Whrend sich bei Marx die Negation des Christentums vor allem in
seiner Hegelschen Gestalt im Vorhof der eigentlichen Kritik findet,
rckt fr Nietzsche die christliche Offenbarung selbst in das Zentrum
seines Werks. Der Gekreuzigte der paulinischen Verkndigung wird
zum Zeichen fr die Enteignung im Wesen des Menschen wie frMarx die kapitalistische Produktionsweise. Auch Nietzsche sieht sich
am Ende einer Entzugsgeschichte, nun aber nicht mehr bezogen auf
21 Marx,Das Kapital, Bd. 3; in: MEW Bd. 25, Berlin 1974, 828. 22
Marx,Das Kapital, Bd. 3; in: MEW Bd. 25, Berlin 1974, 828. 23 Zur Negation Nietzsches siehe ausfhrlich Ruhstorfer, Konversionen,141-218.
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Der Gottmensch in Knechtsgestalt 23
die Macht und die gesellschaftlichen Produktionsverhltnisse, sondern
auf den Willen und das Schaffen des Einzelnen. Der menschliche Wil-le bedarf der Werte und der Wertsetzungen, ist es ihm doch wesent-
lich, auf ein Ziel hin ausgerichtet zu sein, und eher noch will er das
Nichtswollen als nichtwollen.24Da, wo die Werte entwertet werden,
wo dem Willen sein Ziel genommen ist und dieser dadurch selbst ver-
nichtet wird, zeichnet sich die Herrschaft des Nihilismus ab.25Der Ni-
hilismus bedroht den Menschen in seinem Wesen. Das Wesen des
Menschen aber ist sein Wille zum Leben, der seinerseits nichts ande-res ist als der Wille zur Macht. Der diesenWillen und dieses Lebenverneinende Nihilismus entspringt den Werten der christlichen Moral,
so ist er fr Nietzsche nichts anderes als nde gedachte Logik
unserer groen Werthe und Ideale.26Durch den christlichen Glauben
an die ber-sinnliche Welt und an Gott als den hchsten Wert sei der
Mensch auf den Un-Sinn ausgerichtet worden. In Gott [ist] das
Nichts vergttlicht, der Wille zum Nichts heiliggesprochen [...]. b-
wohl nach Nietzsche schon von Sokrates und Platon die nichtige
wahre Weltder Ideen erfunden wurde, war es vor allem Paulus, der
das Schwergewicht jenes ganzen Daseins hinter dieses Dasein ver-
legt habe.27 Das Paulinische Wort vom Kreuz der weltge-
schichtliche Gegner schlechthin, denn durch die Rede vom Gott am
24 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral; in: Kritische Studien-ausgabe (= KSA), hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/Mnchen 21988, Bd. 5, 39, 26f.25 Friedrich Nietzsche,Nachla 1887/1888; in: KSA Bd. 13, 57, 26-30: Ichbeschreibe, was kommt, die Heraufkunft des Nihilismus. [...] die Zeichendavon sind berall, dieAugen nur fr diese Zeichen fehlen noch. Ich lobe, ichtadle hier nicht, da er kommt: ich glaube, es giebt eine der grten Krisen,einen Augenblick der allertiefsten Selbstbesinnung des Menschen: ob derMensch sich davon erholt, ob er Herr wird ber diese Krise, das ist eine
Frage seiner Kraft: es ist mglich [...].26 Friedrich Nietzsche,Nachla 1886/1887; in: KSA Bd. 12, 190.27 Friedrich Nietzsche,Der Antichrist; in: KSA Bd. 6, 185, 12 und 42.
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Karlheinz Ruhstorfer24
Kreuze sei das ganze diesseitige Dasein im Kern verleumdet wor-
den.
28
Statt des menschlichen Willens soll im Christentum der Wille des
Hinterwelt-Gottesgeschehen. Dessen Gesetz, mit Nietzsche gespro-
chen dessen Moral,29 besteht, wie gerade auch die Paulinische Ver-
kndigung lehrt, in der Nchsten- und Gottesliebe. Diese vom
Fleischund seinen Begierden unterschiedene christliche Liebe ver-
leugnet in Nietzsches Verstndnis gerade die allerersten Instinkte des
Lebens, die Geschlechtlichkeit, die Notwendigkeit zum Gedei-hen, die strengeSelbstsucht30Gerade die lebensnotwendige undlebenssteigernde Selbstsucht werde durch die christliche Nchstenlie-
beNchstensuchtnegiert.31Diese einzige Moral, die bisher ge-lehrt worden ist, die Entselbstungs-Moral, verrth einen Willen zum
Ende, sie verneintim untersten Grunde das Leben32Mehr noch alsdie Nchstenliebe aber zerstrt die christliche Gottesliebe das Wesen
des Menschen, ist doch Gott der Gegensatz-Begriff zum Leben.33
Der christlichen Liebe, die in Jesus Christus Fleisch wird, gilt nun
die Umwertung aller Werte. Im ersten Kapitel desAntichrist, seinerKampfschrift gegen das Christentum, macht Nietzsche deutlich, dass
es um die Final-Bestimmung des Willens geht, welcher den Nihilis-
28 Friedrich Nietzsche,Jenseits von Gut und Bse; in: KSA Bd. 5, 67, 3-10:Die modernen Menschen, mit ihrer Abstumpfung gegen alle christliche
Nomenklatur, fhlen das Schauerlich-Superlativische nicht mehr nach, dasfr einen antiken Geschmack in der Paradoxie der Formel lag. Es hat bisher noch niemals und nirgendwo eine gleiche Khnheit imUmkehren, etwas gleich Furchtbares, Fragendes und Fragwrdiges gegebenwie diese Formel: sie verhiess eine Umwerthung aller antiken Werthe.29 Eccehomo; in: KSA Bd. 6, 373, 7ff.).30 Nietzsche,Ecce homo; in: KSA Bd. 6, 323, 71f.31
Nietzsche,Ecce homo; in: KSA Bd. 6, 372, 15-23.32 Nietzsche,Ecce homo; in: KSA Bd. 6, 372, 30-32.33 Nietzsche,Ecce homo; in: KSA Bd. 6, 373, 31f.
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Der Gottmensch in Knechtsgestalt 25
mus berwunden hat.34Im zweiten Kapitel wird dem Willen des Neu-
en Menschen seine Bestimmtheit gegeben: Gut ist alles, was das Ge-fhl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen
erhht. Schlecht ist alles, was aus der Schwche stammt.35Diese
neue Wertsetzung versteht sich selbst als die Negation des christlichen
Liebesbegriffes. Vor allem wegen der Selbsterniedrigung Gottes in die
Knechtsgestalt36 galt die Nchstenliebe in besonderer Weise den
geringsten meiner Brder.37 Nietzsche hlt dagegen: Die Schwa-
chen und Missrathnen sollen zu Grunde gehn: erster Satz unsrer Men-schenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen. Was ist schndli-cher als irgend ein Laster? Das Mitleiden der That mit allen
Missrathnen und Schwachen das Christentum [...].38 Durch diese
neue Bestimmung der Liebe als antichristliche, moralinfreie Tu-
gend39wird es mglich, einen hherwerthigeren, lebenswrdigeren,
zukunftsgewisseren [...] Typuszu zchten40Etwas, das im Ver-
hltnis zur Gesammt-Menschheit eine Art bermensch ist.41Diesem
neuen Menschen der Zukunft gilt nun die Liebe als Fernsten-
Liebe.42
Doch bleibt Nietzsches Arbeit weitgehend negativ und das Ge-
gen-Evangeliumist Zukunfts-Musik.43Die Ankunft des neuen Men-
34 Nietzsche, Der Antichrist; in: KSA Bd. 6, 169, Glcks: ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, einZiel.35 Nietzsche,Der Antichrist; in: KSA Bd. 6, 170.36 Phil 2,7.37 Mt 25,40.38 Nietzsche,Der Antichrist; in: KSA Bd. 6, 170.39 Nietzsche,Der Antichrist; in: KSA Bd. 6, 170.40 Nietzsche,Der Antichrist; in: KSA Bd. 6, 170.41 Nietzsche,Der Antichrist; in: KSA Bd. 6, 171.42 Siehe z. B. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra; in: KSA Bd. 4,77, 11.43
Nietzsche,Nachla 1887/1888; in: KSA Bd. 13, 190, 13- enn manvergreife sich nicht ber den Sinn des Titels, mit dem dies Zukunfts-Evange- Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung
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schen, der die Enteignung in seinem Wesen berwunden hat, bleibt
problematisch. Nietzsche macht die Erfahrung, dass das bequemeGlck des letzten Menschen mehr Anziehungskraft ausbt als die
geforderte Unterscheidung des Menschen von sich selbst. So gleicht
Zarathustra, der Verkndiger des bermenschen, wie auch Nietzsche
selbst dem Gott-Menschen in Knechtsgestalt, der an den Gegenwr-
tigen zu Grundegeht:44Ecce homounter diesem Titel besinnt sich
der spte Nietzsche auf sich selbst.
Nietzsche betont immer wieder den tragischen Grundzug seinesDenkens. Der bermensch, der selbst von den bloen Alltagsmen-
schen unterschieden ist, nimmt seinen Untergang an. Dabei entspricht
dem neuen, tragischen Menschen ein neuer, tragischer Gott. Ein Gott,
der auch noch seinen Untergang bejaht, der wieder aufersteht zu neu-
em Leben, nun aber nicht zu einem berweltlichen, sondern zu neuem
irdischen Leben. In Dionysos findet Nietzsche einen tragischen Gott,
einen Gott, der dem alten Gott-Menschen in Knechtsgestalt ebenbrtig
ist und ihn ersetzen kann.
Dionysos gegen den Gekreuzigtendies ist die Formel des neu-
en Evangeliums. Dionysos steht fr die grenzenlose Liebe zum Leben
jenseits von Gut und Bse. Auch der neue Gott muss sein Kreuz auf
sich nehmen: Gekreuzigten: da habt ihr den
Gegensatz. Es ist nicht einfach eine Differenz hinsichtlich des Marty-riums,nur 45 Man er-
rth: das Problem ist das vom Sinn des Leidens: ob ein christlicher
Sinn, ob ein tragischer Sinn [...] Im ersten Falle soll es der Weg sein
mit dieser Formel ist eine Gegenbewegung zum Ausdruckgebracht, in Absicht auf Princip und Aufgabe: eine Bewegung, welche inirgend einer Zukunft jenen vollkommenen Nihilismus ablsen wird; welcheihn aber voraussetzt, logisch und psychologisch, welche schlechterdings nur
auf ihnund aus ihm 44 Nietzsche,Also sprach Zarathustra; in: KSA Bd. 4, 18, 4f.45 Nietzsche,Nachla 1887/1888; in: KSA Bd. 13, 266, 17ff.
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zu einem seligen Sein, im letzteren gilt das Sein als selig genug, um
ein Ungeheures von Leid noch zu rechtfertigen. Der tragische Menschbejaht noch das herbste Leiden: er ist stark, voll, vergttlichend genug
dazu. Der christliche verneint noch das glcklichste Los auf Erden: er
ist schwach, arm, enterbt genug, um in jeder Form noch am Leben zu
Der Gott am Kreuzist ein Fluch auf Leben, ein Finger-
zeig, sich von ihm zu erlsen. Der in Stcke geschnittene Dionysos ist
eine Verheiung ins Leben: es wird ewig wieder geboren und aus der
Zerstrung heimkommen.
46
Die Verklrung der Welt, wie sie mitdem Namen Dionysos verbunden ist, trgt auch den Namen wige
Wiederkehr des Gleichen. Dieser Gedanke von grtem Schwerge-
wichtbesagt die vollstndige Bejahung und Segnung dieser Welt bis
in alle Abgrnde und Banalitten hinein.
Und wie schon Dionysos ein gedichteter Gott ist, so ist auch die
Welt der ewigen Wiederkunft eine gedichtete Welt. Nur in der diony-
sischen Dichtung kommt sie zur Gegenwart. Die neue schpferische
Seele, die den Nihilismus berwindet, muss sich ihren Gott und ihre
Welt erst selbst schaffen. Nur in der Dichtung kann die Seele die Ent-
eignung in ihrem schpferischen Wesen berwinden und ihrem Wil-
len neue Werte geben. Die andere Zukunft bleibt eine Frage des Wil-
lens und der Kraft der schpferischen Seele.
3. Martin Heidegger
Whrend das Enteignungsgeschehen bei Marx die produktive Macht
der arbeitenden Klasse und bei Nietzsche den schpferischen Willender einzelnen Seele betrifft, erfhrt Heidegger den Entzug im Wesen
des Menschen bezglich des Wissens, genauer des Denkens. Es lassen
46 Nietzsche,Nachla 1887/1888; in: KSA Bd. 13, 266, 25-267, 5.
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sich dabei drei Phasen im Werk Heideggers unterscheiden. In einer
ersten versucht er, dem Entzug durch eine neue Grundlegung der On-tologie zu begegnen, in einer zweiten, die Metaphysik als die Ge-
schichte der Seinsvergessenheit zu berwinden, und in seiner letzten
lsst er auch noch vom aktiven Negieren ab und geht zum Verwinden
der Metaphysik ber.
In Sein und Zeit tritt der Mensch in seiner Existenz in den Blick.
Existenz ist das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so ver-
halten kann und immer irgendwie verhlt.
47
Das Dasein ist dadurchontisch ausgezeichnet, dass es diesem Seienden in seinem Sein umdieses Sein selbst geht.48Sein, Seiendes und Dasein sind gem der
Grundverfassung der Moderne durch ihre ursprngliche Weltlichkeit
ausgezeichnet. Im Horizont der Welt und damit auch im Horizont der
Zeit stellt Heidegger die Seinsfrage in entscheidender Weise neu. Das
Sein des Menschen sei nicht nur durch die Verfallenheit im Alltag,
durch die uneigentliche Seinsweise als Manund durch das Gerede
bedroht, sondern durch die Geschichte des abendlndischen Denkens
selbst sei die Frage nach dem Sinn von Sein verdrngt worden. Die
Seinsfrage sei Metaphysikin Vergessenheit
gekommen.49Daraufhin gelte es, die Tradition zu destruieren, wobei
Destruktion nicht im negativen Sinn einer Abschttelung verstanden
werden will, sondern zunchst als eine neue Fundierung der Ontologie
durch Phnomenologie.
Obwohl Heidegger, hnlich wie schon Nietzsche, durch seine Her-
kunft auf das Engste mit dem Christentum verbunden ist, wird fr ihn
weder der christliche Glaube noch die metaphysische Theologie zum
Ausgangspunkt seiner Negation. Vielmehr erscheint Heidegger zuwei-
47
Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tbingen15
1979, 12.48 Heidegger, Sein und Zeit, 12.49 Heidegger, Sein und Zeit, 21.
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schen Theologie unterscheidet,55 knnte die Philosophie durchaus
das formal anzeigende ontologische Korrektiv des ontischen, undzwar vorchristlichen Gehaltes der theologischen Grundbegriffe ab-
geben.56Da die Phnomenologie in Sein und Zeitals eine Erneuerungder Metaphysik gedacht wird, welche den positiven Wissenschaften
vorausgeht, knnte sie auch der Theologie vorausgehen, sofern sich
diese eben als positive Glaubenswissenschaft begreift. Dennoch lsst
Heidegger schon hier keinen Zweifel aufkommen, dass nicht nur eine
metaphysische Theologie, sondern auch der Glaube selbst in radika-lem Gegensatz zum Denken der Phnomenologie steht. Er betont,
da der Glaube in seinem innersten Kern als eine spezifische Exis-
tenzmglichkeit gegenber der wesenhaft zur Philosophie gehrigenund faktisch hchst vernderlichen Existenz der Todfeind bleibt. So
schlechthin, da die Philosophie gar nicht erst unternimmt, jenen Tod-
feind in irgendeiner Weise bekmpfen zu wollen! Dieser existenzielle
Gegensatzzwischen Glubigkeit und freier Selbstbernahme des gan-zen Daseins, der schon vor der Theologie und der Philosophie liegt
und nicht erst durch diese als Wissenschaften entsteht, dieser Gegen-satz mu gerade die mgliche Gemeinschaft von Theologie und Philo-
sophie als Wissenschaften tragen, wenn anders diese Kommunikationeine echte, von jeglicher Illusion und schwchlichen Vermittlungsver-
suchen freie soll bleiben knnen. Da es sich hier um die grundstzli-
che (existenziale) Gegenberstellung zweier Existenzmglichkeiten
handelt, die ein je faktisches, existenzielles, gegenseitiges Ernstneh-
men und Anerkennen nicht aus- sondern einschliet, sollte nicht erst
weitlufig diskutiert werden mssen.57
Das Nebeneinander ist nur da schiedlich-friedlich mglich, wo die
Theologie sich a) nicht mehr als die erste Wissenschaft etwa nach Art
55
Wegmarken, 60.56 Wegmarken, 65.57 Wegmarken, 66.
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thomistischer Theologie begreift, sondern wo sie sich b) als eine rati-
onale Glaubenslehre im Sinne Luthers bzw. der dialektischen Theolo-gie versteht und wo sie c) den ontologischen Vorrang Heideggerscher
Philosophie anerkennt. Die hchste Sache des Denkens sei eben das
Sein selbst, wie es nach Heidegger in der Geschichte des Denkens zu-
sehends in Vergessenheit geraten sei und nun in radikal neuer Weise
zu denken gebe. Jede Wissenschaft von Seiendemund Christus, der
gekreuzigte Gott, ist ein Seiendes muss sich dem Primat des Seins-
denkens beugen. Nur unter diesen Bedingungen kann es zum gegen-seitigen Ernstnehmen und Anerkennen kommen.
Das Verhltnis verschrft sich aber in der zweiten Phase des Hei-
deggerschen Denkens. Zunchst gibt Heidegger den Versuch auf, eine
Grundlegung der Ontologie leisten zu wollen. Er geht zum Versuch
ber, die Metaphysik zu berwinden. Diese wird nun als der weltge-schichtliche Gegner schlechthin verstanden, durch welchen der
Mensch in seinem Wesen enteignet werde. Durch die Geschichte des
abendlndischen Denkens, die Heidegger mit Nietzsche als die Ge-
schichte der Heraufkunft des Nihilismus deutet, komme der Mensch
der Gegenwart zur allein mageblichen Erfahrung des Denkens, dass
es mit dem Sein nichts gewesen sei. Nietzsches Wort Gott ist tot
kann nun nicht mehr allein auf das Unglaubwrdigwerden des christ-
lichen Gottes bezogen werden, sondern eben auf die umfassendere
Enteignung des Menschenwesens in seinem Denkbezug zum Sein. Die
Geschichte der Seinsvergessenheit trete aber dadurch, dass die mit
Nietzsche gedachte geistige Welt des Platonismus und ihrer Substitute
zunichte wird, in ein finales Stadium. Vor allem die Neuzeit, mit ih-
rem vorstellenden Denken und der Subjektivitt als Prinzip, sei der
entscheidende Schub in den Nihilismus.58Mit Nietzsches Rede vom
Tod Gottessei die Geschichte der Metaphysik vollendet. Das letzte
58 Holzwege, GA 5, Frankfurt am Main 1977, 209-268, 244 und 255.
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metaphysische Prinzip ist der Wille zur Macht, ihn sieht Heidegger im
Jahr 1943 im aktuellen Kampf um die Erdherrschaft am Werk.
59
Fr Heidegger steht nicht mehr das Christentum am Anfang und im
Zentrum des Nihilismus wie bei Nietzsche, sondern es ist selbst nur
eine Ausprgung des seinsvergessenen Denkens oder des Nihilis-
mus.60Das Christentum als Glaube und als Theologie stellt fr Hei-
degger im wesentlichen eine bereits berwundene Gre dar.61
Auch in seiner zweiten Phase unterscheidet er zwischen metaphy-
sischer Theologie und Christentum einerseits und Glaube und christli-chem Leben andererseits.62 Die Glubigen und ihre Theologen, dievon Gott als dem hchsten Wert sprechen, htten den hrtesten
Schlag gegen Gottausgefhrt und ihn dadurch gettet.63Ein reiner
Glaube, der sich der Onto-theologie entschlgt, scheint auch hier Be-
stand haben zu knnen. Immer wieder ermahnt er die Theologie, das
Wort des Paulus ernst zu nehmen, dass fr die Weisheit Gottes die
Weisheit der Welt und als solche will Heidegger sowohl die meta-
physische Philosophie der Geschichte als auch sein eigenes Denken
59 Holzwege, GA 5, 257.60 Holzwege, GA 5, 221: wird, dass diebersinnliche Welt, die Ideen, Gott, das Sittengesetz, die Vernunftautoritt,der Fortschritt, das Glck der Meisten, die Kultur, die Zivilisation ihrebauende Kraft einben und nichtig werden. Wir nennen diesen Wesens-
zerfall des bersinnlichen seine Verwesung. Der Unglaube im Sinne desAbfalls von der christlichen Glaubenslehre ist daher niemals das Wesen undder Grund, sondern stets nur eine Folge des Nihilismus; denn es knnte sein,dass das Christentum selbst eine Folge und Ausformung des Nihilismus61 Holzwege, GA 5, 254: nicht mehr. Jene Welt ist selbst leblos geworden: tot. Christlicher Glaubewird da und dort sein. Aber die in solcher Welt waltende Liebe ist nicht das
wirkend- 62 Holzwege, GA 5, 220.63 Holzwege, GA 5, 259.
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verstanden wissen eine Torheit sei. Die Frage aller Philosophie sei
die Frage: Warum ist berhaupt etwas und nicht vielmehr Nichts?Derjenige, fr den die Bibel gttliche Offenbarung und Wahrheit
ist,64 knne dieser Frage nicht ernsthaft nachgehen, da sie fr den
Glubigen immer schon eine Antwort habe: Gott als das hchste Sei-
ende habe das auergttliche Seiende erschaffen. Wahrhaftes Denken
sei dem Glubigen nicht mglich, er knne nur so tun als ob.65i-
christliche Philosophie ist ein hlzernes Eisen und ein Miver-
stndnis.
66
Heidegger warnt die Theologen seiner Zeit, die selbstnicht mehr recht an die wahrhafte Gre der Aufgabe der Theologie
glauben, vor einer vermeintlichen Auffrischung mit Hilfe der Philo-
sophie um ihr Anliegen dem Zeitbedrfnis schmackhafter zu ma-
chen.67
Doch ist zu betonen, dass fr Heidegger auch hier die Feindschaft
zum Christentum und zum christlichen Glauben bestehen bleibt. Diese
Feindschaft kann nicht aufgehoben werden, denn [d]ie Seinsverlas-
senheit ist am strksten dort, wo sie sich am entschiedensten versteckt.
Das geschieht da, wo das Seiende das Gewhnlichste und Gewohntes-
te geworden ist und werden mute. Das geschah zuerst im Christen-
tumund seiner Dogmatik, wonach alles Seiende in seinem Ursprungerklrt ist als ens creatum und wo der Schpfer das Gewisseste ist,
alles Seiende die Wi 68
Heidegger wei darum, dass der christliche Gott niemals ohne Je-
sus Christus, nicht ohne Dreifaltigkeit, nicht ohne Schpfung der Welt
gedacht werden kann. Damit bleibt auch der bloe Glaube an den
64 Martin Heidegger, Einfhrung in die Metaphysik, GA 40, hrsg. von PetraJaeger, Frankfurt am Main 1983, 8f.65 Heidegger,Einfhrung in die Metaphysik, GA 40, 9.66 Heidegger,Einfhrung in die Metaphysik, GA 40, 9.67
Heidegger,Einfhrung in die Metaphysik, GA 40, 9.68 Martin Heidegger, Beitrge zur Philosophie, GA 65, Frankfurt am Main1989, 110.
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christlichen Gott im Gegensatz, ja im Widerspruch zu Heideggers Re-
de von einem gttlichen Gott, einem Gott, der als Chiffre des Seinsgedacht wird und dessen Ankunft er immer expliziter erwartet. In sei-
ner Auseinandersetzung mit Hlderlin gewinnt Heidegger einen neuen
Zugang zur Rede von Gott und Gttern. Er denkt nun den Entzug im
Wesen des Menschen gerade als den Fehl Gottes. Die Gegenwart
wird erfahren als die drftigeZeit, die in einem gedoppelten Mangel
steht: im Nichtmehr der entflohenen Gtter und im Nochnicht des
69
Heidegger denkt wie schon vor ihm Marx und Nietz-sche einen ursprnglichen, nicht-enteigneten Zustand der Menschheit,
der in einem die Zukunft des Menschenwesens verheit. Der andere
Anfangdes frhen Griechentums ist das Kommende. Entsprechend
ist der letzte Gottder knftige: Der ganz Andere gegen die Gewe-
senen, zumal gegen den christlichen.70
In seiner dritten und letzten Phase gibt Heidegger es auf, das Sein
des Seiendenzu denken. Damit wird auch die aktiv negative Bezie-
hung zur Metaphysik hinfllig, ja mehr noch hinderlich.71Auch Nietz-
sche und Marx bilden nach Heidegger in ihrer Negation des Platonis-
69 Martin Heidegger, Erluterungen zu Hlderlins Dichtung, Frankfurt amMain 41971, 47.70 Heidegger, Beitrge zur Philosophie, GA 65, 403. Dazu Walter Strolz, -J. Braun (Hrsg.),Martin Heidegger und der christliche Glaube auerhalb der bibli-sche ist seine Begegnung mit dem Griechentum, mit der Dichtung Hlderlins und,mageblich von ihr inspiriert, die Auseinandersetzung mit Nietzsches tragi-schem Versuch, an die Stelle des toten Gottes der bersinnlichen Welt die 71 Zur Sache desDenkens, Tbingen 1988, 1- Sein ohne Rcksicht auf die Metaphysik denken. Eine solche Rcksicht
herrscht nun aber auch noch in der Absicht, die Metaphysik zu berwinden.Darum gilt es, vom berwinden abzulassen und die Metaphysik sich selbst
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mus und damit der Metaphysik nur die uerste Mglichkeit der Phi-
losophie, nmlich die Umkehrung der Metaphysik.
72
Es gilt vom Ge-stus der berwindung abzulassen und zum Verwinden berzuge-
hen, denn jedes Wollen verfllt erneut den Machenschaften des meta-
metaphysischen bzw. des technischen Denkens. Dennoch bleibt das
Grundschema seines Denkens erhalten, welches in der Gegenwart die
letzte weltgeschichtliche Krise annimmt und einen anderen Anfang
erwartet, denn die Verwindung der Metaphysik ruft das Denken in
ein anfnglicheres Gehei.
73
Wahrheit ist nun ber die griechischeUnverborgenheit hinaus die Lichtung.74Es bleibt das Frheste und
Uralte: das Ereignen.75Heidegger erwartet in uerster Verhaltenheit
und Gelassenheit die Ankunft des Ereignisses. Streng genommen ist
hier nicht einmal mehr die Rede vom Sein zulssig.76Die Zusam-
mengehrenden sind nicht mehr Mensch und Sein, sondern als Er-
eignete: die Sterblichen im Geviert der Welt.77
Selbst die beiden Weltkriege und das Elend, das sie mit sich brach-
ten, sind fr Heidegger nur Epiphnomene einer tiefergehenden Krise,
die von der Verwesungsgestalt der Metaphysik, nmlich von der
Technik ausgeht. Das rechnende und planende Denken drngt auf das
Beseitigen jeder materiellen und psychischen Not und entzieht damit
der Marxschen und der Nietzscheschen Enteignungserfahrung den
Boden, wird doch jeder Mangel technisch behoben, auch noch die
Verelendung des Arbeiters durch die sozialen bzw. wirtschaftlichen
Techniken und Wissenschaften sowie die Fremdbestimmung des Wil-
lens durch die psychologischen Disziplinen. Nur nebenbei sei be-
72 e des Zur Sache des Denkens, 61-80, 63.73 Wegmarken, 365-426, 424.74 in:Zur Sache des Denkens, 79.75
Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Stuttgart10
1993, 258.76 Zur Sache des Denkens, 45.77 Zur Sache des Denkens, 45.
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Karlheinz Ruhstorfer36
merkt, dass Heidegger selbst nicht nur Nietzsche, sondern auch Marx
weitaus mehr als Husserl oder Sartre schtzte, weil Marx und Nietz-sche die Geschichte auf die wesentliche Entzugserfahrung hin gedacht
htten.78 Doch alle Versuche, diesen Entzug zu berwinden, fhren
geradewegs zum Unwesen der Technik und mithin zu einer neuen
Not.
Diese ist bis zur Unkenntlichkeit von allen bisherigen Nten ge-
trennt, und sie besteht in der Not der Notlosigkeit,79die zugleich die
Not der Heimatlosigkeit ist, da dem Menschen ein wesensgemesWohnen versagt wird.80Er wohnt nicht mehr in der Nachbarschaft des
Seins.81 Die moderne Unbehaustheit hat ihre Ursache in der Herr-
schaft der Technik, die kein Mittel in der Hand des Menschen ist,
sondern umgekehrt: der Mensch geht der Technik zur Hand.82Letzt-
lich ist er, wie schon der Bourgeois Marxens zu den Opfern des Kapi-
tals gehrte, selbst ein Opfer des Unwesen, denn auch der Mensch ge-
hrt, ursprnglicher noch als die Natur, in den Bestand: Die
umlaufende Rede vom Menschenmaterial, vom Krankenmaterial einer
Klinik spricht dafr.83 Der mit Heidegger gedachte Mensch ist als
Knecht der Technik an das Gestell der Seinsverlassenheit genagelt.
Doch wie im Philipperhymnus der Gehorsam des Gottmenschen in
Knechtsgestalt schlielich zum Grund seiner Erhhung wird, so hofft
auch Heidegger auf die Kehre. Der Mensch kann zwar nicht durch
eine aktiv herbeigefhrte Revolution (Marx) oder durch ein Sich-
Aufschwingen zum Willen zur Macht (Nietzsche) gerettet werden,
dennoch ist er nicht hilflos diesem Geschick ausgeliefert. Mit Hlder-
78 Martin Heidegger, ber den Humanismus, Frankfurt am Main 81981, 30.79 Siehe dazu Heribert Boeder, Das Vernunftgefge der Moderne, Freiburg1988, 357.80 Heidegger, ber den Humanismus, 32.81
Heidegger, ber den Humanismus, 33.82 Martin Heidegger,Die Technik und die Kehre, Pfullingen 71980, 37.83 Heidegger,Die Technik und die Kehre, 17.
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lin verdeutlicht Heidegger: Wo aber Gefahr ist, wchst das Rettende
auch.Das Rettende ist die Einsicht, dass auch noch das Gestell alsdie Heideggersche Fassung des Kreuzes ein Wesensgeschick des
Seins selbst ist.84Alles kommt darauf an, das Wesen der Technik als
das Sein selbst zu begreifen. Im Entzug des Seins, in der Erfahrung
des Nichts kann der Mensch das Sein selbst erfahren. In der Stille
kann er dem Anspruch des Seins entsprechen und die Ankunft des
Seinsgeschicks in Gelassenheit erwarten. Der derart angesprochene
Mensch ist nicht mehr Knecht von Machenschaften, sondern Hri-ger seiner Herkunft.85
Heidegger bezeichnet den neuen Menschen als den Sterblichen.
Sein Tod ist nicht der natrliche, sondern ein vermochter, der in der
Lsung von allem blo Seienden besteht. Der Tod ist als der Schrein
des Nichts das Gebirg des Seins.86Der Mensch ist nicht von jeher
Sterblicher, vielmehr muss er durch eine Unterscheidung von sich
selbst erst zum Sterblichen werden.87Diese Selbstunterscheidung sub-
stituiert aber genau diejenige Bestimmung des Menschen, die im
Christentum in Tod und Auferstehung Christi an die Menschen
84 Heidegger,Die Technik und die Kehre, 37.85 Martin Heidegger,Der Feldweg, Frankfurt am Main 1956, 4.86 Vortrge undAufstze, Stuttgart 71994, 157- Menschen.Sie heien die Sterblichen, weil sie sterben knnen. Sterben heit: den Tod
als Tod vermgen. Nur der Mensch stirbt. Das Tier verendet. Es hat den Todals Tod weder vor sich noch hinter sich. Der Tod ist der Schrein des Nichts,dessen nmlich, was in aller Hinsicht niemals etwas blo Seiendes ist, wasaber gleichwohl west, sogar als das Geheimnis des Seins selbst. Der Todbirgt als der Schrein des Nichts das Wesende des Seins in sich. Der Tod istals der Schrein des Nichts das Gebirg des Seins. Die Sterblichen nennen wirjetzt die Sterblichennicht, weil ihr irdisches Leben endet, sondern weil sieden Tod als Tod vermgen. Die Sterblichen sind, die sie sind, als dieSterblichen, wesend im Gebirg des Seins. Sie sind das wesende Verhltnis
zum Sein 87 Vortrge und Aufstze -gen Lebewesen mssen erst zu Sterblichen werden
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kommt. Wie die Christen dadurch neue Menschen werden, dass sie
Christus anziehen, so werden die Knechte von Machenschaftendadurch neu, dass sie dem Anspruch des Seins gehorchen.
Wenn Heidegger davon spricht, dass uns nur ein Gott noch retten
knne, dann ist damit keinesfalls die Person Jesus Christus, nicht der
Gott und VaterJesu Christiund nicht der Heilige Geist gemeint. Diebloe Rede von Gott darf nicht ber den Abgrund tuschen,88der die
Heideggersche Erfahrung des Nichts vom christlichen Glauben an den
Gottmenschen Jesus Christus scheidet.
89
Heideggers Gott gehrt indas Geviertaus Himmel und Erde, Gttlichen und Sterblichen. Das
Geviert ist der Wohnort der von sich unterschiedenen Menschen, ver-
gleichbar der kommunistischen Gesellschaft und der Welt der ber-
menschen. Doch wie diese bleibt jenes unanschaulich und mehr
noch: seine Ankunft bleibt aus.
4. Schluss
Marx, Nietzsche und Heidegger erfuhren in je eigener Weise die Not
des modernen Menschen, Marx die Not des Lohnarbeiters, dessen
immer weiter um sich greifende materielle und geistige Verelendung,
und Nietzsche die Nte der moderne Seele, deren Wille zum Leben in
Gefahr ist. Heidegger bedenkt die Not der Notlosigkeit unter der Herr-
schaft der Technik. Whrend nach Marx die kommunistische Gesell-
schaft mit Notwendigkeit komme und nach Nietzsche die Mglichkeit
des bermenschen vom je eigenen Willen zur Macht abhnge, erwar-
tete Heidegger zuletzt in uerster Verhaltenheit die Kehre; er konnte
schlielich nur noch die Gelassenheit erbringen. Damit aber erschpf-
te sich die moderne Erwartung einer anderen Zukunft. Alle drei Den-
88 Heidegger, ber den Humanismus, 39ff.89 Siehe dazu Boeder,Das Vernunftgefge der Moderne, 329.
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ker substituierten den christlichen Gedanken der Vershnung durch
den Sohn Gottes mit einer Besinnung auf den Gott-Menschen inKnechtsgestalt. Marx, Nietzsche und Heidegger versuchten, den
Knecht von seinem Kreuz zu erlsen und ihm eine Erhhung in Aus-
sicht zu stellen, nicht zu himmlischem, wohl aber zu weltlichem
Glck. Stets wurde in dieser Kernbesinnung der Moderne die christli-
che Offenbarung bzw. die metaphysische Theologie negiert; gerade
die Hoffnung auf eine andere bersinnliche Welt war der anderen Zu-
kunft im Wege. Doch gerade in der Negation blieb die Moderne demNegierten verhaftet, dies hat niemand so deutlich gesehen wie Martin
Heidegger, der eben deshalb in seiner letzten Phase auch den ber-
windungsgestus in die Verwindung bergehen lie. Wiewohl die Hal-
tung Heideggers gegenber Christentum und Theologie ihren vernei-
nenden Grundzug behielt, war er nicht nur unterwegs zur Sprache,
sondern auch noch unterwegs von der Destruktion zur Dekonstruktion
der Onto-theologie. Heidegger nhert sich einem postmodernen Den-
ken, ohne freilich in dieses eintreten zu knnen.
Die Grenze der Moderne wurde bereits durch den linguistic turneines John Langshaw Austin oder eines Roman Jakobson berschrit-
ten. In der Sprachanalyse und im Strukturalismus lste sich das Den-
ken von der weltlich-modernen Besinnung. Auch noch die Geste des
Verwindens wurde aufgegeben und durch das Oszillieren zwischen Ja
und Nein, durch die delimitative Logik der Dialektik ohne Synthese
(Merleau-Ponty), der berschreitung (Foucault) und der diffrance(Derrida) abgelst. In der Postmoderne wird jede normative Bestim-
mung des Menschen dekonstruiert. Das revolutionre Pathos der ande-
ren Zukunft des neuen Menschen ist in Verdacht geraten, und jeder
Unterschied im Ganzen bekommt den Ruch des Totalitren.90 Fest
90
Es wre in einer eigenen Untersuchung zu zeigen, dass gerade dieIdeologien im Gefolge und im Umfeld von Marx, Nietzsche und Heidegger,die ihre radikalsten Ausprgungen im Sowjetkommunismus und im National-
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steht: Der Messias kommt nicht an und bleibt doch endlos im Kom-
men. Die Gerechtigkeit ist unbestimmbar und gerade als solche be-stimmend. Die Gegenwart des Reiches Gottes ist unmglich und er-
ffnet dennoch die Zukunft von allem Mglichen.
Nach dem Tod Gottes in der Moderne stirbt in der Postmoderne
auch noch der Mensch zahllose Tode (Foucault). Was bleibt hier vom
Gott-Menschen in Knechtsgestalt? Zunchst nur die Dekonstruktion.
Doch beginnen sich heute, nachdem sich die Postmoderne erschpft
hat, neue Unterscheidungen abzuzeichnen, die die Pauschalisierungender postmodernen Dekonstruktion widerlegen und mehr noch ihrer-
seits begrenzen.91Zum einen ist das metaphysische Verhltnis der Be-
jahung der christlichen Offenbarung von der modernen Negation radi-
kal zu unterscheiden. Dieser Unterschied ist zu fassen als derjenige
zwischen theologischer Vernunft des metaphysischen Zeitalters und
anthropologischer Besinnung der Moderne. Whrend erstere in ihrer
mittleren Epoche und in der Neuzeit die Selbstmitteilung des christli-
chen Gottes vernimmt und bedenkt, wird sie in letzterer durch einen je
eigenen weltlichen Sinn ersetzt. Sodann ist die Offenbarung selbst alsder Grund von den drei kategorialen Verhltnissen der Position, der
Negation und der Delimitation, welche auf sie bezogen sind, zu unter-
scheidenin Analogie zur Heideggerschen Unterscheidung von Sein
und Seiendem. In Anlehnung an Karl Rahner kann den kategorialen
Verhltnissen durchaus eine vorgngige transzendentale Weisung
entgegengesetzt werden, welche als die Bedingung der Mglichkeit
der Metaphysik, der modernen Besinnungen und der postmodernen
sozialismus gefunden haben, fr die Postmoderne den Stein des Anstoesdarstellen und die einzig verbleibende Ethik auf den Weg bringen, nmlich
dass der Andere in seiner Andersheit zu belassen ist und auch noch das Ichein Anderer ist, d. h. es ist um die ihm wesentliche Identitt gebracht.91 Dazu Karlheinz Ruhstorfer,Konversionen.
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Dekonstruktion aufgefasst werden kann.92 Die geoffenbarte Weisung
ist aber nicht eine Erfahrung des Seins, sondern das Wissen von derBestimmung des Menschen in der Person des Gottmenschen Jesus
Christus. Dessen Ethos stellt keine Ethik oder Moral dar, vielmehr
bietet es dem Menschen ein menschenwrdiges Wohnen. Der An-
spruch der Offenbarung lsst den Menschen im anfnglichen Wort der
Wahrheit wohnen.93Diese anfngliche Weisung des sich offenbaren-
den Gottes ist die Bedingung der Mglichkeit der bejahenden Philo-
Sophie, der verneinenden modernen Besinnung samt der ihr eigenenSubstitutionen sowie der postmodernen Be-Ent-Grenzung jedweder
Bestimmung des Menschen. Die Offenbarung kann damit als trans-
zendentale Weisung bezeichnet werden, welche die kategorialen Ver-hltnisse hervorruft und bleibend trgt. Nun zeichnet sich nach diesen
drei Verhltnissen als ein viertes die unterscheidende Anerkennung
aller drei Kategorien in ihren festen Grenzen ab. Von der Dekonstruk-
tion ist berzugehen zum kritischen Anerkennen des Vollbrachten.
Durch das Vollbrachte der spekulativen Theologie, der anthropologi-
schen Moderne und der dekonstruktiven Denkart kann die Erbaulich-
keit des geoffenbarten Worts erschlossen werden, die sich nicht nur
auf das logische Haus der drei kategorialen Verhltnisse beschrnkt,
sondern stets neuen Zuspruch gewhrt. Was aber kann ein der christli-
chen Weisheit freundlich gesonnenes und in diesem Sinne erneuertes
philosophischesDenken von der modernen Besinnung lernen? Zu-
nchst ist von der Kraft der Negation auf die Kraft des Negierten zu
schlieen, sei es nun die Kraft der spekulativen Vernunft der Meta-
physik oder die Kraft der christlichen Offenbarung selbst. Eine Zeit,
die keinen Unterschied im Ganzen kennt, kann bei Marx, Nietzsche
92 Zeitschrift fr Katholische Theologie 127 (2005).93
a. (Hrsg.), Kirche in kumenischer Perspektive.
Festschrift fr Walter Kasper, Freiburg 2003, 15-32, 31f.
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Karlheinz Ruhstorfer42
und Heidegger eben ein ganzheitliches Denken lernen. Ihr Denken ist
noch von der Erhabenheit des christlichen Kerngedankens durchbebt:dass Gott Mensch geworden ist, damit sich der Mensch zu Gott erhe-
ben kann. Von Marx, Nietzsche und Heidegger lernt ein Denken, das
der Weisung entgegenhrt, aber auch die Kritik der weltlichen Ver-
hltnisse, seien sie bezogen auf die Macht des arbeitenden Menschen,
auf den Willen der leiblichen Seele, auf das denkende Erfahren des
Daseins. Eingedenk der Grenzen ihres Ortes und bezogen auf den tra-
genden Grund werden die Kritiken Marxens, Nietzsches und Heideg-gers zu einem Instrument der Vershnung. Die berwindung der Ent-
eignung des Menschen in wesentlichen Bereichen seines weltlichen
Seins ist ein Bestandteil der christlichen Botschaft, beginnt doch ge-
m der Offenbarung die Vershnung bereits in Welt und Zeit, auch
wenn ihre Vollendung bis zur Wiederkunft des Herrn noch aussteht.
Nicht zuletzt durch Marx, Nietzsche und Heidegger wird christliches
Denken um die weltliche Dimension bereichert, h-
men alles Denken gefangen, so dass es Christus gehorcht (2 Kor
10,5).
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2. Paulus von Tarsus und die Auseinandersetzung zwischen
Nietzsche und dem jungen Heidegger
Virgilio Cesarone, Chieti, Italien
Bei der Aufgabe, zwei Philosophen miteinander zu vergleichen, zeigt
sich immer das Risiko, nur verschiedene Gedanken nebeneinander zu
stellen, ohne die Grundfragen der jeweiligen Philosophie aufzuzeigen,so dass der Vergleich trocken und langweilig wird. Die Aufgabe des
Vergleichs scheint umso schwerer, wenn man sich vornimmt, Heideg-
ger und Nietzsche in Bezug auf ihre Paulus-Interpretationen miteinan-
der zu vergleichen.
Meine berlegungen beziehen sich hier vor allem auf die Vorle-
sung zur Einleitung in die Phnomenologie der Religion, die Hei-
degger als Privatdozent in Freiburg hielt. In der Analyse eines Ab-
schnittes des Korintherbriefes bt der junge Dozent eine kurzgefasste,
aber scharfe Kritik an Nietzsche und an seinem Deutungsschema von
Paulus: Die Zusammenhnge des Paulus drfen nicht ethisch ver-
standen werden. Darum ist es eine Verkennung, wenn Nietzsche ihm
Ressentiment vorwirft. Das gehrt gar nicht in diese Sphre. In die-
sem Zusammenhang kann gar nicht von Ressentiment die Rede sein.
Geht man darauf ein, so zeigt man, da man nichts verstanden hat.1
Dieser Text des Paulus ist einer der meist kommentierten desNeu-en Testaments, denn in ihm wird der Umbruch angezeigt, der der
Glaubensbejahung im Herzen des Christen folgen muss. Wie soll man
das als ob nicht [hos me] der paulinischen Epistel interpretieren,
durch das die Vernderung ausgedrckt wird, die der Bekehrung zum
Glauben folgt? Um diese Vernderung und das, was Heidegger mit
1 Martin Heidegger,Phnomenologie des religisen Lebens, GA 60, Frank-furt am Main 1995, 120.
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Virgilio Cesarone44
seiner Kritik an Nietzsche meint, zu verstehen, scheint es notwendig,
die Rolle der paulinischen Theologie innerhalb des Denkens der bei-den Philosophen zu errtern.
1. Nietzsche und Paulus
Es erweist sich als hchst schwierig, Nietzsches Interpretation der
paulinischen Schriften darzustellen. Die Auseinandersetzung mit Pau-lus ist nmlich von einer grundlegenden Zweideutigkeit gekennzeich-
net. Diese Zweideutigkeit ist die Frucht einer doppelten Transformati-
on, die nicht nur von einem Wechsel der Deutung des Apostels in der
Entwicklung von Nietzsches Philosophie, sondern auch von der Um-
bildung des Verhltnisses von Jesus zu Paulus in seiner Interpretation
des Christentums bedingt ist.2Wir versuchen kurz, diese verschiede-
nen Zge von Nietzsches Paulus-Deutung zu verdeutlichen.
Es ist wichtig, einen bleibenden theoretischen Kern im Auge zu
behalten, damit Nietzsches Kritik an Paulus besser verstanden werden
kann. Seine Kritik wird mit einem wachsenden Ekel und einer zuneh-
menden Ablehnung gegenber der Person des Paulus unternommen.3
Denn Nietzsche findet in PaulusStiftung des Christentums eine enge
Verbindung von Wahrheit, Moral und Macht. Die Kritik von Nietz-
2 Vgl. D. Havemann, Apostel der Rache. Nietzsches Paulus-Deutung,Berlin 2003, 105f. Andere wichtige Studien zum Thema Nietzsche-Paulus - Zeitschrift fr Religions- und Geistes-geschichte XXVI (1974), 97- Nietzsche-Studien 15 (1986), 382-397; E. Hirsch, Nietzsche-Studien 15 (1986), 398- -
mi Nietzsche-Studien30 (2001), 175-186.3 Nietzsches sehr negatives Urteil ber Paulus knpft an die ebenso ver-chtlichen Urteile von Renan und seines Freundes Overbeck an.
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sche sttzt sich also auf das Verstndnis der Wahrheit, das im paulini-
schen Christentum zu einem Zeichen von Ressentiment wird, indemes die Macht den Ohnmchtigen gibt.4Paulus sei, so Nietzsche, der
Hauptverantwortliche fr dieses Spiel mit der Wahrheit. Der Apostel
zeige nmlich grausame und unersttliche Eitelkeit,5weil er sich das
ausgedacht habe, was Calvin dann radikalisiert habe: dass nmlich die
zur Verdammung Vorherbestimmten unzhlbar seien. Diesen Welt-
plan habe man Nietzsche zufolge erfunden, um die Herrlichkeit Gottes
bzw. seine Eitelkeit zu zeigen; aber dieser Weltplan sei in WahrheitZeichen der Eitelkeit seiner Erfinder.
Um einen einheitlichen Rahmen zu finden, innerhalb dessen die
Deutung der paulinischen Texte angesiedelt werden kann, ist es wich-
tig, zuerst ber das nachzudenken, was Nietzsche im Aphorismus 62
von Morgenrthe unter dem Titel Vom Ursprunge der Religionenschreibt.6Denn dieser Aphorismus scheint die Gedanken vorwegzu-
nehmen, die Nietzsche im Aphorismus 68 niederschrieb. Nach Nietz-
sche kann man den Ursprung einer Religion nur aufgrund einer Re-
konstruktion jenes Vorgangs erklren, durch den eine eigene Meinung
als gttliche Offenbarung gedeutet wird. Die Voraussetzung dafr ist,
dass man schon vorher an eine mgliche gttliche Offenbarung ge-
glaubt hat. Von diesem Glauben aus bildet der Stifter einen eigenen
Gedanken; was er sich aber ausgedacht hat, wird von ihm als von Gott
stammend gedeutet. Eine solche umspannende Hypothese knne
sich nmlich in seinem Geist nicht autonom bilden, sondern nur unter
gttlichem Einfluss. Er schreibt dann Gott die Verursachung seines
Gedankens und auch die Verursachung dieser Verursachung zu. Zu
4 Vgl. Havemann,Apostel der Rache, 3.5 Friedrich Nietzsche, Der Wanderer und sein Schatten, in: Menschliches,Allzumenschliches II; in: Kritische Studienausgabe (= KSA), hrsg. von
Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin 1988, Bd. 2, 591.6 Friedrich Nietzsche, Morgenrthe. Gedanken ber die moralischenVorurtheile; in: KSA Bd. 3, 62f.
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diesem ersten Zug kommt ein anderer hinzu: Die persnliche Mei-
nung, da sie nun als gttliche empfunden wird, verliert jeden hypothe-tischen Charakter, insofern sie sich der Kritik und des Zweifels ent-
zieht. Wenn es einerseits eindeutig ist, dass die eigene Person ein
bloes Werkzeug dieser Offenbarung ist, offenbart sich andererseits
der Gott nur durch das Denken dieses Werkzeuges. Daher ist Nietz-
sche davon berzeugt, dass eine Religion von einer menschlichen Stif-
tung abhnge, die dann als heilig verstanden werde. Eben diese Heili-
gung trennt endgltig den Gedanken des Religionsgrnders von dem,was dem Zweifel und der Kritik unterliegt, denn die Religion steht
jenseits jeder erkenntnistheoretischen Prfung.7Kurz zuvor (im Apho-
rismus 14) hatte Nietzsche die Mglichkeit, einen Weg fr neue Ge-
danken zu finden, zum Wahnsinn in Verhltnis gesetzt; er hatte dabei
auf die Epilepsie verwiesen und so auch auf Paulus und auf seine Vi-
sion in Damaskus.
Im Aphorismus 68 von Morgenrthegeht Nietzsche ausdrcklichauch auf auf Paulus ein unter dem Titel: Der erste Christ.8 Zu-
nchst stellt Nietzsche in diesem Aphorismus ein Lektreproblem dar.
In der Bibel suche man Trost fr die eigene Bedrngnis, man suche
7 Um dies zu verstehen, scheint das strukturelle Verhltnis zwischen Wahr-heit und religisem Glauben entscheidend, das Nietzsche wahrscheinlich vondem aufnimmt, was Dostojewski den Satov in einem Gesprch mit StavrgininDie Dmonen gesagt, dass, wenn man Ihnen mathematisch nachweisen wrde, die Wahrheitsei auer dem Christus, Sie lieber mit Christus als vielmehr mit der Wahrheitbleiben mchten? Haben Si von Dostojewski in einem Brief vom 20. Februar 1854 an Natalia Fonvizingettigt. Nietzsche ist davon berzeugt, dass die Wissenschaftswahrheit denreligisen Glauben nicht ins Wanken bringen kann. Darber vgl. Havemann,Apostel der Rache, 112f.8 Es ist wahrscheinlich, dass Nietzscheabgesehen von seinem Urteil berPaulus als Stifter der Theologie, auf die sich das Christentum grndet sich
mit dem Titel dieses Aphorismus auf das bezieht, was in der Apostel-geschichte berliefert wird (11,25-26). Die folgenden Zitate Nietzsches sindimmer aus Morgenrthe; in: KSA Bd. 3, 64ff.
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und finde eigentlich aber sich selbst. Wenige, sehr wenige knnen
die Geschichte einer der ehrgeizigsten und aufdringlichsten Seelenund eines ebenso aberglubischen als verschlagenen Kopfes h. die
Geschichte des Apostels Paulus, lesen und verstehen. Dank dieser Un-
fhigkeit zur Lektre der heiligen Schriften habe sich das Christen-
jdischen Pascal9 gegrndet wurde,
durchsetzen knnen. Nietzsche liest die paulinischen Briefe dabei als
eine Autobiographie und sucht die psycho-physiologischen Kehrseiten
des Menschen Paulus ins Licht zu rcken. Derjenige, der die Schriftengut lesen knne, merke, dass Saul an einer fixen Idee litt jdi-
schen Gesetz. Sein Problem war die Erfllung des Gesetzes. Paulus
war in seiner Jugend der fanatisch
des Gottes dieses Gesetzes, so Nietzsche.10 Saul war der Verfolger,
der mit vollem Eifer die Strenge des Gesetzes gegen die Gesetzesbre-
cher schtzte.11Dann habe er gemerkt, dass er das Gesetz nicht erfl-
len knne; ihm wurde evident, dass seine Natur sogar zum Gesetz im
Widerspruch stand und dass er immer bereit war, es zu bertreten, und
zwar nicht aufgrund einer Begierde, sondern weil es, wie Paulus selbst
spter entdeckte, zum Gesetz gehrte, dass es bertreten wird. Nietz-
sche behauptet, Saulus habe zuerst die Niedergeschlagenheit dessen,
der sich in der unmglichen Aufgabe der Gesetzerfllung befinde, er-
lebt. Das Gesetz war das Kreuz, an welches er sich geschlagen fhl-
9 Der Vergleich von Pascal mit Paulus stammt aus der Zeit der Morgenrte.
Nietzsche findet bei beiden (wie auch bei Luther) deutliche Zeichen derUnehrlichkeit. Spter wird Nietzsche die reine Andacht Pascals von derunehrlichen und instrumentellen Andacht unterscheiden; im Fall von Lutherund Rousseau ist die Andacht als Frucht des Ressentiments im Gegenteilreaktiv (vgl. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 26 [175]Sommer-Herbst 1884; in: Nachla 1882-1884; in: KSA Bd. 10 und 9 [124],
Herbst 1887; in: Nachla 1885-1887; in: KSA Bd. 12). Vgl. hierzu auch C. La trama del testo Su alcune
letture di Nietzsche, hrsg. von M. C. Fornari, Lecce 2000, 167-221.10 Vgl. Gal 1,14; Phil 3,6; Apg 22,3.11 Vgl. Apg 7,58; 8,3.
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te12Das Bewusstsein seiner Unfhigkeit, dem Gesetz zu folgen, ha-
be zu seinem Willen gefhrt, das Gesetz zu zerstren. In dieser unls-baren Situation erschien ihm die Lsung in einer Vision des Nazare-
ners, den er doch eigentlich verfolgte: Eben der Verfolgte als Ge-
Gesetzeszerstrer konnte der Weg sein, um die Rache zu vollziehen.
In diesem rationalen Blick von Paulus auf den Zusammenhang zwi-
schen dem Gesetz und dem verfolgten Christus sieht Nietzsche den
Weg zu einer berwindung der moralischen Verzweiflung, denn in
ihm wurde die Moral endgltig zerstrt, die sich nun in der Wahrheitdes Kreuzes erfllte. Dieser schndliche Tod, den Saulus frher nicht
als Zeichen fr den Messias deuten konnte, half ihm jetzt dabei, das
Gesetz zu strzen: Er hat den Gedanken der Gedanken, den Schlssel
der Schlssel, das Licht der Lichter; um ihn selber dreht sich frderhin
die Geschichte! Denn er ist von jetzt an der Lehrer der Vernichtungdes Gesetztes! mit dem gekreuzigten Christus zu vereinen, be-
deute, mit ihm und bei ihm, dem Zerstrer des Gesetzes, zu sein und
die Snde zu verlassen, weil man nun auerhalb des Gesetzes stehe,
da sein Opfer zeige, dass das Gesetz unmglich erfllt werden kn-
ne.13Sich wieder zum Gesetz zu bekennen, wrde bedeuten, Christus
sei noch ein Snder, doch mit Christus sei das Gesetz zerstrt.14
Die Unterscheidung zwischen Jesus und Paulus wird von Nietz-
sche ausdrcklich vor allem im Antichrist betont. Hier spielt seineLektre der Romane von Dostojewskij und Tolstois eine entscheiden-
12 Luther habe laut Nietzsche dieselbe Erfahrung in seinem Kloster ge-macht. Er wollte gem einem priesterlichen Ideal ein perfekter Mensch wer-den, aber aufgrund seiner Unfhigkeit fing er an, das gesamte geweihteLeben zu hassen.13 Vgl. Gal 3,19-29; Phil 3,8-11.14 Vgl. Gal 2,15. In der Tat ist fr Nietzsche die Erfllung der evangelischenBotschaftfern jeder mglichen Tugendhaftigkeitvon einer wunderlichen
Wende des Snders zur Gnade des Herrn gekennzeichnet. Hier wird freilichnoch einmal auf die paulinische Theologie angespielt (vgl. Nietzsche,Morgenrthe; in: KSA Bd. 3, 87).
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de Rolle. Diesem verdankt er die Figur des Idioten, des Prinzen
Myschkin, als eines Bildes fr Christus, jenem seine Thesen ber dasChristentum. Hier zeigt sich eine Trennung zwischen dem Idioten Je-
sus und dem Priester Paulus als demjenigen, der, vom Judentum her-
kommend, seine priesterliche Moral hervorgehoben habe. Nietzsche
richtet seine Aufmerksamkeit vor allem auf die Bildung der christli-
chen Moral auf Grundlage der paulinischen Theologie und versteht sie
in einem soziologischen Bezugsrahmen. Die Deutung des Christen-
tums geschieht unter der Frage cui prodest? Auf diese Frage ant-wortet Nietzsche mit dem Verweis auf das Kreuz als Symbol derUmwertung, das Paulus gegen die Mchtigen aufstellte. Wie bereits in
Jenseits von Gut und Bse entwirft Nietzsche seine Kritik am Chris-tentum im Hinblick auf seine Moral und im Bewusstsein, dass die
Religiositt Wahrheiten
in Frage gestellt werde (Was geht einen Priester die Wissenschaftan!
Es steht nur hoch dafr! und der Priester hat bisher geherrscht! Erbestimmteden Begriff wahr und unwahr).15Das Kreuz wird zu
einem Symbol der Moral. Die Kreuzigung die Todesstrafe, zu der
die Rmer die Sklaven verurteilten bringe den Lob des Schmerzes
mit sich; dies sei nach Nietzsche gegen die Physiologie des Lebens
gerichtet. Paulus wisse, dass der grte Umschlag der Moral sich in
der Rechfertigung des Schmerzes und im Verzicht, den Schmerz aus
dem Leben zu verbannen, vollziehe, weil dadurch eine Moral fr die
Schwachen und die Leidenden erzeugt werde. Eben darin bestehe
nach Nietzsche das Genie des Paulus: Er schaffe eine Moral, die auf
Rache grnde, sich der Moral der Vornehmen entgegenstelle und sich
daher auf Ressentimentsttze. Deswegen ist Paulus der grte unter
den Aposteln der Rache.16Nietzsche fragt weiter: Ist dann das Kreuz
ein Argument?und verweist darauf, was Zarathustra darber gesagt
15 Friedrich Nietzsche,Der Antichrist 12; in: KSA Bd. 6, 179.16 NietzscheDer Antichrist 45; in: KSA Bd. 6, 221-223.
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Virgilio Cesarone50
habe: Blutzeichen schreiben sie auf dem Weg, den sie giengen, und
ihre Torheit lehrte, dass man mit Blut Wahrheit beweise. Aber Blut istder schlechteste Zeuge der Wahrheit; Blut vergiftet die reinste Lehre
noch zu Wahn und Hass der Herzen. Und wenn Einer durchs Feuer
gienge fr seine Lehre,was beweist dies! Mehr ists wahrlich, dass
aus eignem Brande die eigne Lehre kommt.17
So wird das Evangelium des Nazareners, die Frohe Botschaft des-
jenigen, der ohne Willen zur Macht war (aber ist das physiologisch
mglich?), von Paulus vllig verndert, indem es unter dasKreuzsymbol gestellt wird. Von der Kreuzigung her stammt Paulus
Deutung des Lebens und des Werkes Jesu, woraus er Begriffe und
Dogmen exzerpiert, so dass euangelion ein dysangelion wird, alsoPaulus der Dysangelist ist.
Die paulinische Schrift, die in Nietzsches Kritik eine besondere
Rolle spielt, ist der erste Korintherbrief. Paulus setzt sich in diesem
Brief mit dem auseinander, was er selbst von der griechischen Welt
kennenlernen und erfahren konnte. Er kam in die Stadt Korinth nm-
lich nach dem Misserfolg seiner Reise nach Athen und stiftete hier ei-
ne Gemeinde. Dann stellt Korinth die Stadt mit zwei Hfen, also
von Handel und Geschft, und dem Gott Asklepios geweihtoffenbar
fr Nietzsche die Konfrontation von Paulus mit der griechisch-
rmischen Welt dar. Im Sprechen zu dieser Gemeinde verleiht der
Dysangelist explizit der Moral des Ressentiment Ausdruck. Die Er-
mahnung des Paulus, das laszive Leben hinter sich zu lassen, wird von
Nietzsche verlacht.18Er betont die grundlegende dcadence der Worte
des Apostels, nach denen Gott die Schwachen und den Wahn der Welt
erwhlt habe.19Diese Idee ist von Nietzsche schon in der ersten Ab-
handlung der Genealogie der Moralgedeutet worden. Dort wurde von
17
Nietzsche,Der Antichrist 53; in: KSA Bd. 6, 235.18 Nietzsche, Morgenrthe; in: KSA Bd. 3, Aph. 56.19 Nietzsche, Morgenrthe; in: KSA Bd. 3, Aph. 51.
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ihm der Gegensatz der christlichen Moral, die aus dem Ressentiment
entstanden sei, zur Moral der Vornehmen beschrieben.Im Antichrist deutet Nietzsche Paulus als Laienrabbiner, der das
Judentum verewigt, aber seinen Groll in Genialitt verwandelt habe.
Das Genie von Paulus bestehe darin, dass er im Christentum das Mit-
tel aufgefunden habe, um alle Mysterienkulte des Orients zu berwin-
den, indem er sie dem Christentum einverleibt habe. Paulus Genie
zeige sich in der Verwandlung des Glaubens des Nazareners in einen
Dogmenglauben. Der Dysangelist habe einen Dogmenglauben gestif-tet und verstanden, dass er durch die Begriffe der Unsterblichkeit der
Seele und der Hlle der Sieger der Welt
konnte. Im Apostel der Rache spiegeln sich daher sowohl der Nihilist
als auch der Christ.20Gegen die von Paulus erzeugte Dogmatik, gegen
einen moralischen Gott zeigt sich Nietzsche in der Tat als Apostel der
Umwertung aller Werte, als Anti-Paulus, der gegen den Gekreuzigten
und fr Dionysos Partei ergreift. In einem Notizblatt aus der Zeit des
Antichristschreibt Nietzsche, dass Jesus und Dionysos sich voneinan-
der nicht wegen des Martyriums unterschieden, sondern in ihrer Hal-
tung dem Leben gegenber. Der eine war nmlich die Negation des
Lebens; der andere die Verheiung des auferstehenden Lebens.
Die Literatur meint, wenn die Entgegenstellung zwischen Jesus
und Dionysos bestehe, sei klar, dass Nietzsche sich Paulus gegenber-
stelle. Aber Nietzsches Stellung zu Paulus bleibt dialektisch und auch
ambivalent. Der Umwerter Nietzsche widersetzt sich dem Umwerter
Paulus. Es zeigt sich nmlich, dass Nietzsche die Gesetzeszerstrung
mit der ewigen Wiederkehr des Gleichen vergleicht. So wurde der
Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen von Nietzsche im Zu-
sammenhang eines Ereignisses, das dem Damaskus-Erlebnis von Sau-
lus-Paulus hnlich scheint, niedergeschrieben. Vor der Vision in Sils-
Maria hatte Nietzsche die Vision von Paulus mit dem gleichem Bild
20 Vgl. Nietzsche,Der Antichrist; in: KSA Bd. 6, 58.
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Boden bewegen kann. Nur von einer bestimmten Religiositt her
und sie kann fr Heidegger nur die christliche sein knne das be-fragte Phnomen philosophisch verstanden werden. Dadurch wird
deutlich, warum eine Befragung der paulinischen Epistel Gegenstand
einer Vorlesung ber die Einleitung in die Phnomenologie der Reli-
gion wird Es ist Aufgabeschreibt Heidegger, ein echtes und ur-
sprngliches Verhltnis zur Geschichte zu gewinnen, das aus unserer
eigenen geschichtlichen Situation und Faktizitt zu explizieren ist
Nur dank des Verstndnisses dessen, was Geschichte bedeute, mit derparallelen Ausschaltung der objektivierenden geschichtlichen Katego-
rien sei es mglich, die Aufgabe der Religionsphilosophie zu verste-
hen.23
Der Grund fr die Wahl des ersten Briefes an die Thessaloniker
liegt in Heideggers Absicht, den Ursprung christlichen Lebens zu er-
fassen, indem er sich auf das erste schriftliche Dokument des jungen
Christentums sttzt. Die Deutung muss sich nach Heidegger der Per-
snlichkeit des Paulus zuwenden. Aber das bedeutet nicht, dass seine
psychologischen Zge zu rekonstruieren seien, sondern dass herme-
neutisch der Zusammenhang zwischen Mit-, Selbst-, und Umwelt zu
begreifen sei. Denn die Briefe verweisen auf eine Reihe von Bezgen
zwischen diesen Welten, die verstehen lassen, was Paulus in den Epis-
teln schreibt. Dabei ist kein Platz fr eine Rekonstruktion der objekti-
ven Zusammenhnge. Was erfasst werden muss, das ist die vollzugs-
geschichtliche Situation.24
Heideggers Aufmerksamkeit ist daher zunchst auf die im religi-
sen Leben erfahrene Zeitlichkeit gerichtet, weil das phnomenologi-
sche Verstehen versuchen muss, den Vollzugssinn ans Licht zu brin-
gen, in der Anzeige des Wieder Zeitigung des religisen Phnomens.So findet Heidegger in der Erwartung der parousia, die Paulus mit
23 Vgl. Heidegger,Phnomenologie des religisen Lebens, GA 60, 124.24 Vgl. Heidegger,Phnomenologie des religisen Lebens, GA 60, 90.
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Mystiker, dem in einer ekstatischen Situation Gott und das All ge-
genwrtig werden. Im Gegensatz dazu lebt der Christ nicht als enthou-siasmos: Lasst uns wach sein und nchtern33 Hier zeige sich die
groe Schwierigkeit, ein christliches Leben zu fhren.
Paulus ist der Mensch, der mit unruhigem Herzen darauf wartet,
dass die Thessaloniker das bekommen, was ihrem Glauben mangelt.34
Er hofft, dass die Thessaloniker stark in ihrem Glauben werden; er
versteht sich als derjenige, der dafr betet. Es gibt noch weitere Unter-
schiede zwischen Nietzsches und Heideggers Zugngen zu Paulus.Anders als Nietzsche interpretiert Heidegger auch den Hinweis auf
das Gesetz aus dem Galaterbrief.Nomos ist fr ihn ein komplexer Be-
griff und verweist darauf, was uns an die Welt des Jetzt bindet. DerChrist ist im Gegensatz derjenige, der nicht aus Werken, sondern aus
Gnade in Christus den Heilsweg gefunden hat.
Allerdings hat Heidegger nur ein sekundres Interesse an Paulus.
Denn der Philosoph mchte die Modalitt aufweisen, in der der Christ
die Zeitlichkeit erlebt.35
Diese Deutung fgt sich in den Rahmen ein, den Heidegger in die-
sen Jahren entwarf, um Husserls phnomenologische Einstellung zu
radikalisieren. Von seinem Lehrer bernahm Heidegger die Einsicht
in das, was sich gibt, aber nicht theoretisch verstanden werden kann.
Die Ablehnung der Theorie in seinem Zugang zur Religion steht im
Zentrum seiner religionsphilosophischen Arbeit, in der er, Luthers
Kritik folgend, die aus dem Aristotelismus kommenden Kategorien
hermeneutisch zerstrt, um die Ursprnglichkeit der christlichen Reli-
gion durch die Deutung der paulinischen Briefe zu erschlieen.
Dabei scheint die Nhe von Heidegger zu Schleiermachers Religi-
onsphilosophie eindeutig. Schleiermacher verdanken wir die Unter-
33
1 Thess 5,6.34 1 Thess 3,10.35 Heidegger,Phnomenologie des religisen Lebens, GA 60, 116.
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scheidung zwischen dem religisen Bereich und den Bereichen der
Metaphysik und der Ethik.
36
Daran knpft Heidegger in seiner Deu-tung der paulinischen Briefe an, indem er nicht dogmatische Begriffe
theoretisch errtert, sondern sich bemht, die Bewegung vom Gewor-
den-sein im Glauben zu verstehen.
3. Versuch einer Konklusion
Zuerst ist es auffallend, wie die beiden Philosophen trotz ihrer unter-
schiedlichen Zwecke sich bemht haben, ein ursprngliches Christen-
tum zu erschlieen. Nietzsche wollte das Christentum von der Persn-
lichkeit Paulus her verstehen; hingegen versucht Heidegger, das
Selbstverstndnis der Glubigen von Paulus her zu erschlieen. Aber
vielleicht muss das wichtigste Element fr diese beiden Interpretatio-
nen des Paulus auerhalb der Figur des Paulus gesucht werden, das
heit in der Bedeutung, die beide dem Kreuz zuweisen. Wenn Nietz-
sche einerseits eine paulinische Staurologie schildert, die nach der
Umwandlung des Gesetzes strebt und in einem sozial-politischen
Kontext an die Stelle der Selbstbehauptung des eigenen Willens zur
Macht gesetzt wird, sieht Heidegger im Kreuzesereignis den Anlass
fr die Verwandlung des Lebens unter dem Zeichen des Kreuzes.
Noch etwas anderes scheint hchst auffallend: Whrend Jesus fr
36 Eben dieser Zugang zur Religion fhrte zu der bereinstimmung zwi-schen Heidegger und dem Theologen Bultmann, dessen Lehrer Herrmann,der von Heidegger sehr geschtzt wurde, sich auf den Spuren de