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HELGA ZEPP-LAROUCHE Die verpaßte Chance von 1989-90 Die verpaßte Chance von 1989-90 Wird Europa Lehren daraus ziehen? Helga Zepp-LaRouche Die verpaßte Chance von 1989-90 Wird Europa Lehren daraus ziehen? Die Zeit vom Fall der Mauer bis zur Wiedervereinigung war eine Sternstunde der Mensch- heit, in der die Weichen für die Zukunft ganz anders hätten ge- stellt werden können. Wer klug ist, wird seine Lehren daraus ziehen. AUS DEM INHALT: Zwischen Mauerfall und Wieder- vereinigung: Wie Kohl der Euro aufgezungen wurde Die Strate- gische Verteidigungsinitiative (SDI) als Ost-West-Friedensplan Das Attentat auf Alfred Herrhausen: Mord als Mittel der (Geo-)Politik Spuren im Mordfall Rohwedder Das Programm des „Produktiven Dreiecks Paris-Berlin-Wien“ Die deutsche Frage aus dem Blickwin- kel englischer Geopolitik Der Milliardenschwindel mit den DDR- Altschulden Die unerledigte Her- ausforderung des „Aufbaus Ost“ Der Kampf um die Eurasische Landbrücke Dr. Böttiger Verlags-GmbH ISBN 3-925725-34-2 DM 19,80

Helga Zepp-LaRouche - Die Verpasste Chance 1989

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Page 1: Helga Zepp-LaRouche - Die Verpasste Chance 1989

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Die verpaßte Chancevon 1989-90

Wird Europa Lehren daraus ziehen?

Helga Zepp-LaRouche

Die verpaßte Chancevon 1989-90

Wird Europa Lehren daraus ziehen?

Die Zeit vom Fall der Mauerbis zur Wiedervereinigung wareine Sternstunde der Mensch-heit, in der die Weichen für dieZukunft ganz anders hätten ge-stellt werden können. Wer klugist, wird seine Lehren darausziehen.

AUS DEM INHALT:

Zwischen Mauerfall und Wieder-vereinigung: Wie Kohl der Euroaufgezungen wurde • Die Strate-gische Verteidigungsinitiative (SDI)als Ost-West-Friedensplan • DasAttentat auf Alfred Herrhausen:Mord als Mittel der (Geo-)Politik• Spuren im Mordfall Rohwedder• Das Programm des „ProduktivenDreiecks Paris-Berlin-Wien“ • Diedeutsche Frage aus dem Blickwin-kel englischer Geopolitik • DerMilliardenschwindel mit den DDR-Altschulden • Die unerledigte Her-ausforderung des „Aufbaus Ost“• Der Kampf um die EurasischeLandbrücke

Dr. Böttiger Verlags-GmbH

ISBN 3-925725-34-2 DM 19,80

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HELGA ZEPP-LAROUCHE

Die verpaßte Chance von 1989-90

Wird Europa Lehren daraus ziehen?

DR. BÖTTIGER VERLAGS-GMBH

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© Copyright 1999 by Dr. Böttiger Verlags-GmbH,Postfach 1611, 65006 Wiesbaden

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk,Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder

Art und auszugsweiser Nachdruck, sind vorbehalten.

Satz: Dinges & Frick, WiesbadenDruck: Ebner Ulm

Printed in GermanyISBN 3-925725-34-2

Teile dieses Buches (S. 15-195) stammen aus einerStudie der EIR-Nachrichtenagentur, die in geringerAuflage unter dem Titel „Die verpaßte historische

Chance von 1989“ im August 1998 erschien.

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Inhalt

Wer Sternstunden ungenutzt verstreichen läßt...Helga Zepp-LaRouche ............................................. 5

Zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung: Wie Kohl der Euro aufgezwungen wurde

Helga Zepp-LaRouche ............................................ 15

Kohls Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas .................. 20

Durchsicht der Dokumente zur WiedervereinigungChronologie mit Kommentaren von Helga Zepp-LaRouche ............................................ 45

1975: LaRouche schlägt Internationale Entwicklungsbank vor..................... 75

„Sieg in Colombo!“ – 1976 war eine neue gerechteWeltwirtschaftsordnung eine reale Möglichkeit

Hartmut Cramer.................................................... 79

Auszüge aus der Schlußresolution des Gipfeltreffens der Nichtpaktgebundenen Staaten in Colombo................................................. 88

Die Strategische Verteidigungsinitiative (SDI) als Ost-West-Friedensplan

Michael Liebig und Dr. Jonathan Tennenbaum ...... 96

1988: LaRouche sagt die deutsche Wiedervereinigung voraus ..................... 126

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Das Attentat auf Alfred Herrhausen: Mord als Mittel der (Geo)politik

Rüdiger Rumpf..................................................... 135

Spuren im Mordfall RohwedderAnno Hellenbroich............................................... 152

Das Programm des „Produktiven Dreiecks Paris-Berlin-Wien“

Angelika Beyreuther Raimondi ............................. 168

Thatcher gegen die Wiedervereinigung: Die deutsche Frage aus dem Blickwinkel englischer Geopolitik

Elisabeth Hellenbroich ......................................... 173

Der Milliardenschwindel mit den DDR-Altschulden

Dr. Helmut Böttiger ............................................. 196

Die unerledigte Herausforderung des „Aufbaus Ost“

Lothar Komp ....................................................... 214

IWF-„Schocktherapie“ – oderdie planmäßige Zerstörung Rußlands

Lothar Komp ....................................................... 222

ANHANG: Der Kampf um die Eurasische Landbrücke

Helga Zepp-LaRouche .......................................... 231

Wer ist Helga Zepp-LaRouche?.............................. 271

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Auf einmal war das Faß zum Überlaufen gekommen— die DDR völlig bankrott, die plötzliche Ausrei-

selust, die Montagsdemonstrationen und schließlichder Fall der Mauer. Ein Jahrzehnt ist seitdem verstri-chen, aus Zeitgeschichte ist Geschichte geworden. DerAbstand ermöglicht es, den Wahrheitsgehalt der Wor-te und die Taten der politischen Akteure an ihren Fol-gen zu messen. Dieser Zeitabschnitt der letzten zehnJahre verdeutlicht wegen seines weichenstellendenCharakters in besonderem Masse, daß man Sternstun-den der Menschheit nicht ungestraft verstreichenläßt.

Die Begeisterung von damals ist bei vielen Bürgerntiefer Resignation gewichen, aus der „friedlichenRevolution“ hat die offizielle Sprachregelung die„Wende“ gemacht, viele junge Menschen haben nurnoch eine vage Erinnerung an 1989. Schlimmer ist:Wir stehen vor einer strategischen Katastrophe unddas System der freien Marktwirtschaft befindet sichheute etwa da, wo sich die kommunistische Planwirt-schaft im Herbst 1989 befand.

War diese Entwicklung unvermeidbar? War die Ideeder großen Chance Europas eine Illusion? Hätte mandas Argument, es gebe keinen Präzedenzfall für denUmbau des zusammengebrochenen Kommunismus

VORWORT

Wer Sternstunden ungenutztverstreichen läßt ...

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zur freien Marktwirtschaft, doch nicht für bare Münzenehmen sollen — vorausahnend, daß sich darunter dienackte Raffgier der Spekulanten verbarg?

Die Antwort auf alle drei Fragen lautet „Nein“! Ichselber habe buchstäblich seit November 1989, und vorallem seit Anfang 1990, auf einer Vielzahl von Konfe-renzen, Seminaren und Vorträgen in West- und Ost-europa die offensichtliche Alternative, nämlich einen„Marshallplan“ für den Osten, vorgestellt. Der ameri-kanische Wirtschaftswissenschaftler Lyndon LaRou-che, mein Ehemann, hatte dazu visionär ein konkretesProgramm, das „Produktive Dreieck Paris-Berlin-Wien“ vorgeschlagen. Es sah im wesentlichen vor, dasindustrielle Potential dieses Dreiecks als „Lokomoti-ve“ für die Entwicklung des Ostens mit modernstenwestlichen Technologien zu nutzen. Infrastruk-turkorridore hätten ein Netz der Modernisierung überden ganzen Kontinent gespannt.

Von Anfang an warnte ich, daß sich die großehistorische Chance Europas nur realisieren ließe,wenn man nicht die damals schon höchst anrüchigenMechanismen der sogenannten „freien Marktwirt-schaft“ und der „Globalisierung“ auf die marodenStrukturen der kommunistischen Kommandowirt-schaft in Rußland und Osteuropa oktroyieren würde.Ich warnte ausdrücklich, daß es zu einem noch vieldramatischeren Zusammenbruch kommen würde,falls man dies versuchen würde. Das Resultat der Kon-ditionalitätenpolitik des IWF für Lateinamerika undAfrika sei der Beweis, daß die IWF-Politik zum wirt-schaftlichen Ruin führe. Mit anderen Worten: Selbstwenn die meisten Mitglieder der deutschen Regierungtatsächlich keine Ahnung gehabt haben sollten, mitwelchen wirtschaftlichen Methoden der Osten ent-wickelt werden sollte — die Chefideologen des IWF

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und solche Punk-Professoren wie Jeffrey Sachs wußtenganz genau, wie mit der „Schocktherapie“ oder dem„polnischen Modell“ der große Reibach zu machenwar. Sie wußten von Anfang an, daß die „Privatisie-rung“ der staatseigenen Betriebe darauf angelegt war,diese Produktionskapazitäten zu zerstören, umanschließend den Osten mit Westprodukten zu über-schwemmen. Die „Filetstücke“ der zu privatisierendenStaatsbetriebe wurden mit hohem Profit verkauft, dersodann als Spekulationseinsatz im großen Kasino derglobalen Blasenökonomie verwendet wurde.

Daß dabei rund 70% der wirtschaftlichen Kapa-zitäten, wie sie noch 1991 existierten, zerstört wurden,und Rußland von einer Supermacht in ein Dritte-Welt-Land und reinen Rohstofflieferanten verwandeltwurde, und daß dieser Niedergang enorme politische,soziale und schließlich auch militärische Konsequen-zen haben würde, war ihnen völlig egal. Die großeMehrheit der russischen Bevölkerung ist heute totalverarmt und ihre durchschnittliche Lebenserwartungum rund zehn Jahre gesunken, während die russi-schen Nutznießer der „Privatisierung“ Milliardärewurden, die vom organisierten Verbrechen nichtmehr zu unterscheiden sind. Das sind die Folgen derPolitik des IWF.

Papst Johannes Paul II. war damals der einzige, deraußer der LaRouche-Bewegung vor den „Strukturender Sünde“ in Ost und West gleichermaßen warnte.Aus dem Zusammenbruch des Kommunismus dürfeman nicht schließen, daß der „ungezügelte wildeKapitalismus“ moralisch überlegen sei, dazu müsseman sich nur die Zustände in der Dritten Welt vorAugen halten. Ich erinnere mich noch genau an diehysterische Ablehnung, auf die diese völlig richtigeEinschätzung des Papstes stieß.

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Was man damals durchaus wissen konnte, und waswir auch veröffentlicht haben: Die Politik des IWF ge-genüber Rußland war nicht nur wirtschaftlich inkom-petent und auf die monetären Interessen einiger Oli-garchen abgestellt — sie hatte auch eine geopolitischeDimension. Rußland sollte auf Dauer geschwächt wer-den. Im September 1991 berichtete die Presse voneiner CIA-Untersuchung, die zu dem Ergebnis kam,daß Rußland über besser ausgebildete Arbeitskräfteund über mehr Rohstoffe verfüge als die USA. Es seideshalb nicht im Interesse Amerikas, die wirtschaftli-che Entwicklung Rußlands zu befördern, weil auf die-se Weise nur ein mächtiger künftiger Konkurrent aufdem Weltmarkt heranwüchse.

Damit verfolgte George Bushs Regierung eine denAbsichten von Präsident Reagan völlig entgegenge-setzte Politik. Reagan hatte zumindest im Zeitraumvon März bis August 1983 Rußland westliche Hilfe beider Entwicklung auf neuen physikalischen Prinzipienbasierender Technologien, wie sie bei der Verwirkli-chung der „Strategischen Verteidigungsinitiative“(SDI) zur Debatte standen, für die zivile Wirtschaftangeboten.

Auch wenn Präsident Clinton durchaus versuchte,andere Akzente in der Außenpolitik als Bush mit sei-ner „Neuen Weltordnung“ zu setzen (z.B. im NahenOsten und in Nordirland), was Rußland betrifft, bliebdie Politik gewissermaßen auf „Autopilot“. Auchwenn Strobe Talbott hin und wieder verschreckteBerichte über die sozialen Konsequenzen der IWF-Politik aus Moskau zurückbrachte, geändert wurdeunter Präsident Clinton nichts. Auch wenn PräsidentClinton durchaus immer wieder Impulse zeigte, eineauf wirtschaftlicher Kooperation gegründete Außen-politik zu verwirklichen — etwa seine gewiß ernstge-

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meinte Politik einer „strategischen Partnerschaft“ mitChina, oder sein Versuch, eine neue auf Entwicklungorientierte Politik für Afrika durchzusetzen —, soschlugen doch alle diese Versuche letztlich fehl, weilseine ganze Administration von Vizepräsident Goreüber Madeleine Albright bis zu VerteidigungsministerCohen und Generalstabschef Shelton eine grundsätz-lich andere institutionelle Politik verfolgt: nämlichdie der „britisch-amerikanischen Commonwealth-Gruppe“ (BAC), die im wesentlichen die finanzpoliti-schen Interessen der City of London und der WallStreet vertritt.

Bei diesen Institutionen hat sich die Vorstellungverfestigt, daß die USA nach dem Kollaps der Sowjet-union die einzige verbliebene Supermacht seien, unddaß sich daran auch in Zukunft nichts ändern solle.Mit der Sonderbeziehung der USA zu Großbritanniensei die Kontrolle der Welt wie zu Zeiten des britischenEmpire und des Kolonialismus erreichbar. Als Zbig-niew Brzezinski vor einigen Monaten in Wien voreinem halben Dutzend erstaunter Staatschefs ausMitteleuropa seine Ansicht zum Besten gab, in Bezugauf die Rolle der USA als alleiniger Supermacht müsseman von „Omnipotenz“ sprechen, und Europa seikein Partner, sondern ein „Protektorat“, war dieseanglo-amerikanische Hegemonie gemeint.

Es wäre höchst unklug, die von Brzezinski in sei-nem Buch Die einzige Weltmacht (engl. Titel: The GrandChessgame) geäußerte Meinung als die eines Außen-seiters abzutun. Die Zerschlagung Rußlands, angefan-gen mit der Abspaltung des Nordkaukasus, ist durch-aus einer der Hauptzwecke der neuen „globalisiertenNATO“. Da erwartet wird, daß China sich unter unge-störten Bedingungen bis etwa zum Jahr 2010 zu einerWeltmacht entwickeln wird, soll diese Entwicklung

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durch entsprechende Operationen wie die SezessionTaiwans sowie Destabilisierungen Sinkiangs, Tibetsund anderer Regionen verhindert werden.

Wie Martin Palmer, Berater des Prinzen Philip fürweltanschauliche Fragen, kürzlich in einem Interviewbetonte, hat sich an der Politik des britischen ForeignOffice seit dem 19. Jahrhundert nichts geändert. Zielsei nach wie vor, große souveräne Nationalstaaten inMinistaaten zu zerschlagen und nach dem Prinzip„Teile und herrsche!“ über supranationale Institutio-nen die Welt zu kontrollieren.

Gegenwärtig findet eine durchaus koordinierteinternationale Kampagne statt, bei der versucht wird,die Verteidigung der „individuellen Menschenrechte“als Wert darzustellen, der gegen die Souveränität derNationalstaaten durchgesetzt werden müsse. Was aufden ersten Blick bestechend human klingt, entpupptsich bei näherem Hinsehen als Trick von Public-Rela-tions-Spezialisten, die anscheinend bei Goebbels indie Schule gegangen sind: in allen Fällen, in denensich oligarchische Interessen plötzlich um die Men-schenrechte von Rebellen kümmern, welche die terri-toriale Einheit von Nationalstaaten bedrohen, geht esimmer um Rohstoffe.

So wurde jetzt der Grund für das ach-so-leiden-schaftliche Eintreten der Blair-Regierung für Osttimoraufgedeckt: Der britische Rohstoffgigant Rio TintoZinc hat sich die neuentdeckten Ölvorkommen inOsttimor unter den Nagel gerissen — und sie somitden Indonesiern gestohlen.

Daß diese Politik einer globalisierten NATO nichtim Interesse Deutschlands liegt, sollte offensichtlichsein. Unser Interesse als exportabhängige Nation liegtdarin, wachsende Exportmärkte zu entwickeln, indenen der Lebensstandard und die Kaufkraft der Be-

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völkerung steigt; und unser Interesse ist es nicht, dieZahl im Chaos versinkender Zwergstaaten zu vermeh-ren. Um so erschreckender ist es, daß es über die neueNATO-Doktrin keine öffentliche Debatte gibt. Ledig-lich Willi Wimmer, der Verteidigungsexperte derCDU, stellte fest, daß die Ernennung des britischenVerteidigungsministers George Robertson zum Gene-ralsekretär der NATO darauf hinauslaufe, die NATOzum Instrument von Kolonialkriegen zu machen.

Trotz der wichtigen Rolle, die Helmut Kohl beimZustandekommen der Wiedervereinigung gespielthat, ist es ihm nicht gelungen, den Status Deutsch-lands als praktisch besetztem Land zu überwinden.Um die Gründe dafür geht es in dem Buch Die verpaßteChance von 1989-90. Die erzwungene Zustimmung zurEuropäischen Währungsunion, der Maastrichter Ver-trag, die „Eindämmung durch Selbsteindämmung“,die fortgesetzte Einbindung in die NATO trotz derenvöllig veränderter Zielsetzung — all dies waren Sym-ptome der nicht errungenen Souveränität.

Aber was bei der Politik der Regierung Kohl nochdurchaus tragische Züge trug, verwandelte sich bei derrot-grünen Koalition in eine Farce. In welchem Brust-ton der Überzeugung Bundeskanzler Schröder diedeutsche Teilnahme am NATO-Einsatz gegen Jugosla-wien mit dem Argument verteidigte, die „internatio-nale Staatengemeinschaft“ erwarte dies von uns — alsdas internationale Völkerrecht gerade aus dem Fenstergeworfen worden war —, das war schon erstaunlich.Der Kanzler schien jedenfalls von keinen historischenoder rechtlichen Bedenken angekränkelt. Und beidem geradezu an Leistungssport erinnernden EinsatzJoschka Fischers für globale Interventionen der NATO— ohne nennenswerten Protest der angeblich einmalso pazifistischen Grünen — fällt einem nur noch das

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alte Sprichwort ein: „Wes’ Brot ich eß, des’ Lied ichsing!“ Die Realitätsferne der Grünen ist so groß, daßsie nicht einmal merken, wie alle ihre früheren Vor-stellungen den Ambitionen des Herrn Außenministersgeopfert wurden.

Resultat all dieser Entwicklungen der letzten zehnJahre, vor allem des letzten Jahres, ist eine an ameri-kanische Bedingungen erinnernde Politikverdrossen-heit der Bevölkerung, die sich in einer katastrophalniedrigen Wahlbeteiligung äußert. Bei diesen Nicht-wählern hat sich ein tiefer Kulturpessimismus, der inder Geschichte schon immer gefährlich war, breitge-macht. Man könne ja doch nichts ändern, so heißt dasFazit.

Und trotzdem behaupte ich, daß die Zeit vom Fallder Mauer bis zur Wiedervereinigung eine der großenSternstunden der Menschheit war, in der die Weichenfür die Zukunft ganz anders hätten gestellt werdenkönnen. Für ein kurzes Intervall waren die Menschenim Osten und im Westen Deutschlands moralisch bes-ser, als sie es zuvor waren und kurz darauf wieder wur-den.

Natürlich ging es den Bürgern in der Bundesrepu-blik wirtschaftlich sehr viel besser. Aber davon abge-sehen, waren der auf Konsum orientierte Materia-lismus im Westen und der ideologisch verordneteMaterialismus im Osten sich in den Axiomen dochähnlicher, als beide Seiten vermuteten. Doch in denMonaten des Umbruchs trat diese Denkungsweise inOst und West zurück. Die große Erschütterung mach-te die Menschen offen für große, neue Ideen. Dererhabene Augenblick verlangte nach erhabenerGestaltung, und in der Bevölkerung bestand ein genu-ines Verlangen nach klassischer Kunst. Daß Weih-nachten 1989 die Neunte Symphonie von Ludwig van

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Beethoven gleich zweimal im deutschen Fernsehenaufgeführt wurde, war Ausdruck dieser Stimmung.

Es gab damals nur eine einzige „Flanke“, wieDeutschland den geopolitischen Manipulationen vonThatcher, Bush, Mitterrand und in gewissem Sinneauch Gorbatschows hätte entgehen können. Nurwenn es damals eine wirkliche Wiederbelebung derklassischen Kultur in allen kontinentaleuropäischenNationen gegeben hätte, wäre es möglich gewesen, dieSouveränität für alle Staaten zu erlangen. Alle europä-ischen Nationen haben Kostbarkeiten zur europäi-schen Kultur beigetragen, aber das Wenigste davon istüber die jeweiligen Landesgrenzen hinaus bekannt.

Wer kennt schon im restlichen Europa die außer-ordentliche Schönheit der Renaissance, die etwagleichzeitig mit der italienischen Goldenen Renais-sance in Litauen, Polen und der Ukraine stattgefundenhat? Wer weiß um die Bedeutung der „JaggelonischenAkte“ für die Staatskunst und Verfassungstheorie? DaßPrag eine der schönsten Städte der Welt ist, wird nie-mand bestreiten, aber wer von den vielen MillionenTouristen, die seit dem Fall des Eisernen Vorhangsdorthin geströmt sind, kennt die Geschichte und dieIdeen der Künstler und Wissenschaftler, die solcheSchönheit ermöglicht haben? Wer hat versucht, denMenschen in Osteuropa die Bedeutung der Kämpfeklarzumachen, in die der Maler Goya verstrickt war,wer hat ihnen den Beitrag des Renaissance-KönigsLudwig XI. von Frankreich und des WissenschaftlersKardinal Nikolaus von Kues zur Entstehung eines amGemeinwohl orientierten Staates erklärt?

Hätte man damals im großen Maßstab den Versuchgemacht, die Kultur und geschichtlichen Höhepunk-te der verschiedenen Nationen Europas in allen Län-dern bekannt zu machen, durch spannend aufgebau-

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te Fernsehdokumentationen, internationale Sympo-sien, Jugendaustausch, Theater- und Musikfestivals —man hätte in dieser hochgestimmten Periode die Men-schen nicht nur mit ihrer eigenen Kultur stärken kön-nen, sondern in ihnen zugleich die Liebe und das Ver-ständnis für die anderen wecken können, indem siegleichzeitig das universell Verbindende und denReichtum der Vielfalt erfahren hätten. Nur so, indemdas kreative Potential in der Bevölkerung und vorallem der Jugend freigesetzt worden wäre, hätte dieSternstunde sich erfüllen können.

Die Chance vor zehn Jahren wurde vertan, weil dieRegierenden eben nicht dachten wie die Medicis oderder Bückeburger Graf Wilhelm von Schaumburg-Lip-pe, und weil die Bevölkerung, wie Schiller sagen wür-de, „den großen Augenblick ein kleines Geschlecht“vorfinden ließ. Aber eine andere Gelegenheit wirdbald kommen, auch wenn sie sicherlich weniger ausder Hochstimmung geboren sein wird als vielmehr ausder Krise. Dann nämlich, wenn es den Leuten, dieheute sagen: „Die Globalisierung in ihrem Lauf hältweder Ochs’ noch Esel auf“, so gehen wird wie Hon-ecker, der einen ähnlich weisheitsvollen Satz am 6.Oktober 1989 verkündete.

Eines ist gewiß, die europäische Zivilisation wirddiese größte Krise des 20. Jahrhunderts nur überste-hen, wenn wir uns auf unsere Klassik besinnen unddaraus eine neue Renaissance werden lassen!

Helga Zepp-LaRouche, im Oktober 1999

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Am 7. Juli 1998 veröffentlichte die Bundesregie-rung unter dem Titel „Dokumente zur Deutsch-

landpolitik“ auf 1667 Seiten eine Sammlung vertrau-licher und geheimer Akten, welche die Hintergründeder deutschen Wiedervereinigung ausleuchten.1 Nachdem Bundesarchivgesetz gilt normalerweise eineSperrfrist von 30 Jahren für derartige Unterlagen überStaatsangelegenheiten. Daß sich Bundeskanzler Kohldennoch zu dieser ungewöhnlichen Freigabe voninternen Memoranden, Gesprächsprotokollen undTelefonnotizen entschloß, hat weniger damit zu tun,daß der Kanzler an seinem Denkmal arbeitet, wie derSpiegel vermutet. Kohl weiß sehr wohl, daß die kata-strophalen Auswirkungen der globalen Krise desFinanzsystems noch vor dem Termin der Bundestags-wahlen — dem 27. September 1998 — auch Deutsch-land mit voller Wucht treffen könnten. Eine solcheGroßkrise würde der Bundesregierung nationale Not-standsmaßnahmen abverlangen, die unter den Bedin-

HELGA ZEPP-LAROUCHE

Zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung: Wie Kohl der

Euro aufgezwungen wurde

1. Dokumente zur Deutschlandpolitik, herausgg. vom Bundesministe-rium des Innern unter Mitwirkung des Bundesarchivs. K. Hilde-brand, H.-P. Schwarz, F.P. Kahlenberg. Deutsche Einheit. Sonderedi-tion aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90. H.J. Küsters,D. Hofmann, R. Oldenbourg Verlag München, 1998.

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gungen des Maastrichter Vertrages und der deutschenZustimmung zum „Euro“ gar nicht mehr in dennationalen Kompetenzbereich fallen. Der Kanzlerkönnte dann auf die jetzt publizierte Dokumentationverweisen und erklären: „Seht, ich habe dem Euro garnicht freiwillig zugestimmt! Der internationale Druckauf die Bundesregierung war so massiv, daß die Wie-dervereinigung nur um den Preis der Aufgabe der D-Mark zu erlangen war!“

Daß eine solche — hypothetische — Äußerung desBundeskanzlers weder unwahr noch überzogen wäre,wird durch diese Papiere aus den Jahren 1989 und1990 zweifelsfrei belegt. In ihnen wird nicht nur dieunverbesserliche Germanophobie Margaret Thatchersdokumentiert, sie zeigen auch, mit welcher Härte undKompromißlosigkeit Mitterrand vorging, um die star-ke D-Mark zu beseitigen und die Macht der ihm ver-haßten Bundesbank zu brechen. Letzteres war bislangin der Öffentlichkeit weit weniger bekannt. Nochfrappierender aber ist die Tatsache, daß die vertrauli-chen Unterlagen zweifelsfrei das belegen, was bis1989 als das „bestgehütetste offene Geheimnis derNATO“ galt: Die Bundesrepublik Deutschland warfaktisch noch weitgehend ein „besetztes Land“, indem sich die drei Westmächte in allen wirklich wich-tigen Fragen das „letzte Wort“ vorbehielten. Die Alli-ierten waren eben zugleich die „Siegermächte desZweiten Weltkriegs“ mit „besonderen Rechten“, dieim Zweifelsfall über dem Souveränitätsanspruch derBundesrepublik Deutschland standen. Wie selbstver-ständlich rechneten die Westmächte auf den voraus-eilenden Gehorsam der Bundesregierung.

Vor allem, wenn man sich die stürmischen Ereig-nisse zwischen Oktober 1989 und Oktober 1990 ver-gegenwärtigt, sind die jetzt veröffentlichten Unterla-

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gen geeignet, bei jedem deutschen Bürger, sofern ernicht völlig seelenlos oder ideologisch verbogen ist,einen starken patriotischen Impuls zu erzeugen. Ver-mutlich hatte dies auch Bundeskanzler Kohl im Auge,als er die Veröffentlichung dieser Dokumente veran-laßte. Wahrscheinlich gehen Kohl und seine Mitar-beiter davon aus, daß sie diese patriotische Unterstüt-zung in der kommenden Krise dringend brauchenwerden.

Wie sieht heute — fast neun Jahre nach dem Fallder Mauer — die strategische Lage aus? Das interna-tionale Finanzsystem steht vor einem kettenreakti-onsartigen Kollaps. Japan und Südostasien werdenWelle auf Welle von finanziellen und wirtschaftlichenGroßkrisen erschüttert. Rußland steht vor dem Staats-bankrott mit der daraus resultierenden AlternativeChaos oder brutale Militärdiktatur. Die gigantischeBlase aufgeblähter, fiktiver Finanztitel in Europa undden Vereinigten Staaten steht vor dem Platzen. DerWeltwirtschaft droht eine beispiellose Depression.

Angesichts dieser Lage ist die Frage wohl ange-bracht: Was ist aus der „großen historischen Chancevon 1989“ geworden? War es denn eine völlige Fehl-einschätzung, wenn damals so viele Menschen in Ostund West eine grundlegende „Wende zum Besseren“erwarteten? Erlag Bundespräsident von Weizsäckereiner haltlosen Illusion, als er noch im Mai 1990 inseiner Rede im Bundestag von der „großen histori-schen Chance Europas“ sprach. Hat es diese Chancenie gegeben? Oder wurde sie vertan?

Enormer Druck auf Kohl

Zweifelsohne waren die Umstände, in denen KanzlerKohl 1989 und 1990 agieren mußte, äußerst komplex.

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Großbritannien versuchte die WiedervereinigungDeutschlands mit allen Mitteln zu verhindern. Als sienicht mehr zu verhindern war, wurde seitens Lon-dons alles unternommen, die Einheit zu verzögern.Dabei verfiel die britische Regierung in dieselben geo-politischen Manipulationen gegen Deutschland, diebereits vor dem Ersten Weltkrieg zur Anwendunggekommen waren. Thatcher initiierte die „Vierte-Reich“-Kampagne gegen Deutschland: Nach dem Kai-ser und Hitler strebe Deutschland unter Kohl erneutdie „Vorherrschaft“ über Europa an.

Der Chef der Deutschen Bank Alfred Herrhausenwurde durch eine nichtexistierende „Dritte Generati-on“ der RAF ermordet. Wem nützte die professionelldurchgeführte Tötung von Kohls wichtigstem Wirt-schaftsberater drei Wochen nach Öffnung der Berli-ner Mauer?

George Bushs spontane Reaktion auf den Fall derMauer war unverhohlene Verärgerung. Bush konntevon seinem Sicherheitsberater Brent Scowcroft nurmit Mühe davon überzeugt werden, sich nicht öffent-lich gegen die Einheit Deutschlands zu stellen.Schließlich überzeugten Scowcroft, Vizeaußenmini-ster Lawrence Eagleburger und der Bonner US-Bot-schafter Vernon Walters den Präsidenten, der Wieder-vereinigung zuzustimmen, wenn die Deutschen sichzur politischen, militärischen und finanziellen„Selbsteindämmung“ bereiterklärten.

Mitterrands Vorgehen, die Zustimmung zur Wie-dervereinigung an die Aufgabe der D-Mark zu knüp-fen, kann nur als Erpressung bezeichnet werden.Auch die Niederlande, Italien, Polen und Israel drück-ten unmißverständlich, wenn auch auf unterschiedli-che Weise, ihre Ablehnung einer möglichen deut-schen Wiedervereinigung aus.

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Kohl konnte nicht wissen, wie die verschiedenenKräfte in der Führung der Sowjetunion auf denZusammenbruch der DDR und die sich abzeichnendeWiedervereinigung reagieren würden. Selbst wennGorbatschow eine konstruktive Haltung einnähme,blieb die Ungewißheit, wie sich andere Fraktionen inder Sowjetführung verhalten würden. Es bestandimmer noch die Möglichkeit, daß das Honecker- bzw.Krenz-Regime in der DDR zu einer Gewaltlösung grei-fen könnte.

Unter diesen Umständen stellte das Zehn-Punkte-Programm für eine Konföderation der beiden deut-schen Staaten, das Kohl am 28. November 1989 imBundestag vortrug, einen bedeutenden und mutigenSchritt dar (siehe Kasten auf den nächsten Seiten).Völlig abweichend vom üblichen Bonner Verhaltens-muster hatte Kohl das Zehn-Punkte-Programm ohnevorherige Absprache mit den Westmächten unterbrei-tet. Kohl riß für einen entscheidenden Augenblick dasGesetz des Handelns an sich. Dafür gebührt ihmAnerkennung.

Zugleich aber offenbarte sich nun Kohls Schlüssel-problem: Die Bundesregierung hatte keinen vorberei-teten Plan, was zu tun sei, wenn sich die Chance derWiedervereinigung böte! In den Dokumenten heißtes: „Überraschend ist... der Tag X der Grenzöffnungeingetreten, und die Bundesregierung verfügt überkein brauchbares Konzept, was zu tun ist. Erst rechtnicht gibt es für den Fall der bevorstehenden Wieder-vereinigung irgendwelche Vorarbeiten, Ablaufpläneoder Krisenszenarien neueren Datums...“2 Über denKonföderationsvorschlag hinaus besaß die Bundesre-

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2. Ebenda, Einleitung, Seite 59.

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Zehn-Punkte-Programm zur Überwindungder Teilung Deutschlands und Europas

Auszüge aus der Rede von BundeskanzlerKohl vor dem Deutschen Bundestag

am 28. November 1989

Der Weg zur deutschen Einheit ist nicht vom grünen Tischoder mit einem Terminkalender in der Hand zu planen.Aber wir können, wenn wir nur wollen, schon heute jeneEtappen vorbereiten, die zu diesem Ziel hinführen. Ichmöchte diese Ziele an Hand eines Zehn-Punkte-Pro-gramms erläutern.

1. Zunächst sind Sofortmaßnahmen erforderlich, diesich aus den Ereignissen der letzten Wochen ergeben, ins-besondere durch die Fluchtbewegung und die neueDimension des Reiseverkehrs. Die Bundesregierung ist zusofortiger konkreter Hilfe dort bereit, wo diese Hilfe jetztbenötigt wird. Wir werden im humanitären Bereich undauch bei der medizinischen Versorgung helfen, soweit diesgewünscht wird und auch nützlich ist...

Wir sind aber bereit, für eine Übergangszeit einen Bei-trag zu einem Devisenfonds zu leisten. Voraussetzungdafür ist allerdings, daß der Mindestumtausch bei Reisenin die DDR entfällt, Einreisen dorthin erheblich erleichtertwerden und die DDR einen eigenen substantiellen Beitragzu einem solchen Fonds leistet...

2. Die Bundesregierung wird wie bisher die Zu-sammenarbeit mit der DDR in allen Bereichen fortsetzen,die den Menschen auf beiden Seiten unmittelbar zugutekommt. Das gilt insbesondere für die wirtschaftliche, wis-senschaftlich-technologische und kulturelle Zusammenar-beit. Besonders wichtig ist eine Intensivierung der Zu-sammenarbeit im Bereich des Umweltschutzes...

Über den Ausbau der Eisenbahnstrecke Hannover-Ber-lin wird weiter verhandelt. Ich bin allerdings der Auffas-sung, daß dies zu wenig ist und daß wir uns angesichts derjetzt eingetretenen Entwicklung einmal sehr grundsätzlich

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über die Verkehrs- und Eisenbahnlinien in der DDR und inder Bundesrepublik Deutschland unterhalten müssen.

Vierzig Jahre Trennung bedeuten ja auch, daß sich dieVerkehrswege zum Teil erheblich auseinanderentwickelthaben. Das gilt nicht nur für die Grenzübergänge, sondernbeispielsweise auch für die traditionelle Linienführung derVerkehrswege in Mitteleuropa, für die Ost-West-Verbin-dungen. Es ist nicht einzusehen, weshalb die klassischeRoute Moskau-Warschau-Berlin Paris, die ja immer überKöln führte und zu allen Zeiten große Bedeutung hatte, imZeitalter schneller Züge und am Vorabend des Ausbauseines entsprechenden europäischen Verkehrswesens nichtmit eingebracht werden sollte.

3. Ich habe angeboten, unsere Hilfe und Zusammenar-beit umfassend auszuweiten, wenn ein grundlegenderWandel des politischen und wirtschaftlichen Systems inder DDR verbindlich beschlossen und unumkehrbar inGang gesetzt wird. „Unumkehrbar“ heißt für uns und vorallem für mich, daß sich die DDR-Staatsführung mit denOppositionsgruppen auf eine Verfassungsänderung undein neues Wahlgesetz verständigt.

Wir unterstützen die Forderung nach freien, gleichenund geheimen Wahlen in der DDR unter Beteiligungunabhängiger, das heißt selbstverständlich auch nichtso-zialistischer, Parteien. Das Machtmonopol der SED mußaufgehoben werden.

Die geforderte Einführung rechtsstaatlicher Verhältnis-se bedeutet vor allem die Abschaffung des politischenStrafrechts und als Konsequenz die sofortige Freilassungaller politischen Gefangenen.

... Wirtschaftliche Hilfe kann nur dann wirksam wer-den, wenn grundlegende Reformen des Wirtschafts-systems erfolgen. Dies zeigen die Erfahrungen mit allenRGW-Staaten; mit Belehrungen von unserer Seite hat dasnichts zu tun. Die bürokratische Planwirtschaft muß abge-baut werden. Wir wollen nicht unhaltbar gewordeneZustände stabilisieren...

4. Ministerpräsident Modrow hat in seiner Regierungs-erklärung von Vertragsgemeinschaft gesprochen. Wir sind

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bereit, diesen Gedanken aufzugreifen. Denn die Nähe undder besondere Charakter der Beziehungen zwischen denbeiden Staaten in Deutschland erfordern ein immer dich-teres Netz von Vereinbarungen in allen Bereichen und aufallen Ebenen...

5. Wir sind aber auch bereit, noch einen erheblichenSchritt weiterzugehen, nämlich konföderative Strukturenzwischen beiden Staaten in Deutschland zu entwickelnmit dem Ziel, eine Föderation, d.h. eine bundesstaatlicheOrdnung in Deutschland zu schaffen. Das setzt aber einedemokratisch legitimierte Regierung in der DDR zwingendvoraus... Wenn uns künftig eine frei gewählte Regierungals Partner gegenübersteht, eröffnen sich völlig neue Per-spektiven. Stufenweise können neue Formen institutio-neller Zusammenarbeit entstehen und ausgeweitet wer-den... Ein solches Zusammenwachsen liegt in der Konti-nuität der deutschen Geschichte...

6. Die Entwicklung der innerdeutschen Beziehungenbleibt eingebettet in den gesamteuropäischen Prozeß, d.h.immer auch in die Ost-West-Beziehungen. Die künftigeArchitektur Deutschlands muß sich einfügen in die künf-tige Architektur Gesamteuropas. Hierfür hat der Westenmit seinem Konzept der dauerhaften und gerechteneuropäischen Friedensordnung Schrittmacherdienstegeleistet.

Generalsekretär Gorbatschow und ich sprechen in derGemeinsamen Erklärung vom Juni dieses Jahres... von denBauelementen eines „gemeinsamen europäischen Hau-ses“. Ich nenne beispielhaft dafür die uneingeschränkteAchtung der Integrität und der Sicherheit jedes Staates.Jeder Staat hat das Recht, das eigene politische und sozia-le System frei zu wählen. Ich nenne die uneingeschränkteAchtung der Grundsätze und Normen des Völkerrechts,insbesondere Achtung des Selbstbestimmungsrechts derVölker. Ich nenne die Verwirklichung der Menschenrech-te. Ich nenne die Achtung und Pflege der geschichtlichgewachsenen Kulturen der Völker Europas. Mit alledemwollen wir — so haben es Generalsekretär Gorbatschowund ich festgeschrieben — an die geschichtlich gewachse-

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nen europäischen Traditionen anknüpfen und zur Über-windung der Trennung Europas beitragen.

7. Die Anziehungs- und Ausstrahlungskraft derEuropäischen Gemeinschaft ist und bleibt eine entschei-dende Konstante der gesamteuropäischen Entwicklung.Wir wollen und müssen sie weiter stärken. Die EG ist jetztgefordert, mit Offenheit und Flexibilität auf die reformori-entierten Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas zuzuge-hen...

Ich will es ganz einfach so formulieren: Die EG darfnicht an der Elbe enden, sondern muß die Offenheit auchnach Osten wahren. Nur in diesem Sinne — wir haben dasEuropa der Zwölf immer nur als einen Teil und nicht alsdas Ganze verstanden — kann die Europäische Gemein-schaft Grundlage einer wirklich umfassenden europäi-schen Einigung werden...

8. Der KSZE-Prozeß ist ein Herzstück der gesamteu-ropäischen Architektur...

9. Die Überwindung der Trennung Europas und derTeilung Deutschlands erfordern weitreichende und zügigeSchritte in der Abrüstung und Rüstungskontrolle...

10. Mit dieser umfassenden Politik wirken wir aufeinen Zustand des Friedens in Europa hin, in dem dasdeutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheitwiedererlangen kann. Die Wiedervereinigung, d.h. dieWiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands,bleibt das politische Ziel der Bundesregierung...

Herr Präsident, meine Damen und Herren, in wenigenWochen beginnt das letzte Jahrzehnt diese Jahrhunderts,ein Jahrhundert, das so viel Elend, Blut und Leiden sah. Esgibt heute viele hoffnungsvolle Zeichen dafür, daß die90er Jahre die Chancen für mehr Frieden und mehr Frei-heit in Europa und in Deutschland in sich tragen. Eskommt dabei — jeder spürt es — entscheidend auch aufunseren, den deutschen Beitrag an. Wir alle sollten unsdieser Herausforderung der Geschichte stellen.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP, Beifall bei der

SPD — Die Abgeordneten der CDU/CSU erheben sich.)

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gierung kein brauchbares Handlungskonzept, wieman weiter das Heft in der Hand behalten könnte.

Was sich in diesen Tagen des November und De-zember 1989 abspielte, gleicht dem Stoff für eine klas-sische Tragödie. Die Ereignisse überschlugen sich. Am30. November wurde Alfred Herrhausen ermordet.Damit wurde der Wirtschaftsführer und RatgeberKohls ausgeschaltet, welcher nicht nur einen wichti-gen Anteil an Kohls Zehn-Punkte-Programm hatte,sondern auch über eine eigenständige Perspektive fürdie wirtschaftliche Entwicklung und ModernisierungOsteuropas verfügte. Inbesondere wollte Herrhausendie Wirtschaft Polens außerhalb der wirtschaftspoliti-schen Vorgaben des Internationalen Währungsfonds(IWF) wiederaufbauen und modernisieren.3

Mit der Ermordung Herrhausens wurde, wohlge-merkt zwei Tage nach dem allerersten souveränen„Alleingang“ der Bundesrepublik in Gestalt des„Zehn-Punkte-Programms“, ein unmißverständliches,brutales Signal an die gesamte deutsche Führungs-schicht gegeben. Ein deutscher Industrieller sagte spä-ter, er habe die „Botschaft“ der Ermordung Herrhau-sens so verstanden: „Wenn ihr Deutschen es wagt,euch außerhalb des seit 1945 geltenden ,Koordina-tensystems von Jalta’ zu stellen, dann ergeht es euchgenauso wie den Ungarn im Jahre 1956.“4

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3. In einer Rede, die Herrhausen im Dezember 1989 in New Yorkhalten wollte, ist das Konzept einer Entwicklungsbank für Polennach dem Modell der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbaudargelegt. Mehr dazu in dem Beitrag über Herrhausen, Seite135ff.

4. Bemerkung eines Vorstandsmitglieds eines deutschen Großun-ternehmens zu einem Mitglied des Schiller-Instituts während der

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Wenige Tage nach der Ermordung Herrhausens tra-fen sich Bush und Gorbatschow zu einem Gipfeltref-fen in Malta. Entgegen den Beteuerungen, daß esnicht um eine Neuauflage von Jalta gehe, hatten indiesem Falle Le Figaro und Libération aus Paris wohlnicht unrecht, als sie davor warnten, daß in Malta einKondominium der Supermächte beabsichtigt war, umden rasanten Veränderungsprozeß in Europa wieder„unter Kontrolle zu bringen“. Die Pariser Zeitungenverschwiegen natürlich Mitterrands — und Thatchers— eigene Ambitionen in dieser Hinsicht.

Im Dezember 1989 warnte Henry Kissinger, aufsengste mit Scowcraft und Eagleburger verbunden, voreiner „neuen deutschen Gefahr“, angesichts dererBush und Gorbatschow ihre Politik bezüglichDeutschlands „abstimmen“ müßten. Nach dem Mal-ta-Gipfel sagte der sowjetische Außenminister Sche-wardnadse seinem deutschen Kollegen Genscher,Kohls Zehn-Punkte-Programm berühre „die vitalenInteressen der Sowjetunion“ und sei „mit gefährli-chen Konsequenzen befrachtet“.

Vor dem Hintergrund der massiven Druckausü-bung aus West und Ost und nach Herrhausens Ermor-dung auch einer potentiellen Gefahr für das eigeneLeben sah sich Kohl gezwungen, vor der ErpressungMitterrands zu kapitulieren. Auf dem Straßburger EU-Gipfel vom 8. und 9. Dezember 1989 hatte Mitterrandultimativ von Kohl gefordert, unverzüglich und ver-bindlich einem schnellen Zeitplan zur Schaffung derWährungsunion — und damit der Abschaffung der D-Mark — zuzustimmen, wenn es in der „deutschen Fra-ge“ Fortschritte geben solle.

Laut einem in den Regierungsdokumenten enthal-tenen Protokoll sagte Kohl in einem vertraulichenGespräch mit US-Außenminister Baker am 12. De-

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zember 1989 bezüglich seiner Zustimmung zurWährungsunion: „Diesen Entschluß habe er gegendeutsche Interessen getroffen.“ Laut Spiegel gestandKohl Jahre später, im Frühsommer 1997, in kleinerRunde: In Straßburg „habe ich mit die dunkelstenStunden meines Lebens durchgemacht.“

Wie in einer großen historischen Tragödie Shakes-peares oder Schillers auf der Bühne waren die politi-schen Umstände um die Jahreswende 1989/90 dra-matisch, ja ungeheuerlich. Im richtigen Leben — wiein der großen historischen Tragödie — war es ein tra-gischer Fehler in der Persönlichkeit der Hauptfigur,der letztlich darüber entschied, daß gewissermaßen„die Tragödie ihren Lauf nahm“. Natürlich waren diepolitischen Umstände extrem vertrackt, aber das sub-jektive Problem Kohls und seines engeren Mitarbei-terkreises bestand darin, daß sie selbst in denAxiomen und Kategorien der „Siegermächte“ dach-ten.

Das mentale „Koordinatensystem von Jalta“ exi-stierte weiter in den Köpfen Kohls und seiner Mitar-beiter, die in jenen Tagen die Verhandlungen mit denWestmächten, mit Gorbatschow oder mit Krenz bzw.Modrow führten. Auch wenn das Zehn-Punkte-Pro-gramm ein richtiger Schritt war, so blieb selbst dieseKonzeption noch in den geopolitischen Rahmenbe-dingungen der Nachkriegsordnung, mit den „beson-deren Rechten“ der „Siegermächte“, verhaftet. Kohlhätte sich von diesem „mentalen Besatzungsregime“mit seinen verinnerlichten Denkverboten befreienmüssen, um mit einer großen Vision die Geschichteauf einer ganz anderen Ebene gestalten zu können.

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Es gab eine Alternative

Wenn es auch innerhalb der Bundesregierung keinesubstantiellen Vorarbeiten gab, auf die der Kanzlerhätte zurückgreifen können, so gab es sehr wohl einKonzept, mit dessen Hilfe es damals möglich gewesenwäre, wirtschaftliche Entwicklung und politischeKooperation in ganz Europa und darüber hinauszustande zu bringen. Es bestand die Chance, aus derverhängnisvollen geopolitischen Kontinuität vonVersailles und Jalta und schließlich Bushs „NeuerWeltordnung“ und Maastricht auszubrechen. DasAlternativkonzept war und ist die Ideenkontinuität,die Lyndon LaRouche mit seinen programmatischenVorschlägen, zuerst für den wirtschaftlichen Wieder-aufbau Polens (1988-89), dann mit dem „ProduktivenDreieck Paris-Berlin-Wien“ (1989-90) und schließlichmit dem Ausbau der Eurasischen Landbrücke (1996)artikuliert hat.5

In dem Zeitraum zwischen dem Fall der Mauer unddem Vollzug der Wiedervereinung am 3. Oktober1990 bestand ein einzigartiges „Fenster der Möglich-keiten“. Hätte Kohl in dieser Zeit diese Ideen LaRou-ches aufgegriffen und zu seinen eigenen gemacht,dann wären nicht nur seine Versprechungen von den„blühenden Landschaften“ in den neuen Bundeslän-dern Wirklichkeit geworden. Es wäre möglich gewe-

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5. EIRNA-Studie, „Das Produktive Dreieck Paris-Berlin-Wien“, Wies-baden 1990. Später als Taschenbuch: L. LaRouche, J. Tennen-baum, Ein Wirtschaftswunder für Europa, Dr. Böttiger-Verlag,Wiesbaden 1991. EIRNA-Studien „Die Eurasische Landbrücke“(1996) und „Die neue Seidenstraße“ (1997). Letztere 1998 alsTaschenbuch: H. Böttiger (Hrsg.), Die neue Seidenstraße, Dr. Bötti-ger-Verlag, 1998.

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sen, die Hoffnung der Völker Osteuropas und derStaaten der früheren Sowjetunion, womit diese sichder euro-atlantischen Zivilisation zuordneten, zuerfüllen. Trotz aller geopolitischen Intrigen Mitter-rands, Thatchers und auch Bushs hatte Kohl damalsdas historische Momentum hinter sich. Hätte sichKohl damals in einer Reihe von Fernsehansprachenan die Völker Europas, vor allem an die im Osten desKontinents, gewandt und ihnen das Grand Designdes „Produktiven Dreiecks“ als Kernstück seiner Poli-tik vorgestellt, es wäre ihm eine überwältigendeUnterstützung der Menschen in Ost und West sichergewesen. Die Chance für wirtschaftliche Entwicklungund Modernisierung im Osten Europas war real. Ein„Wirtschaftswunder“ im Osten hätte zugleich dieMassenarbeitslosigkeit in Westeuropa verhindernkönnen.

Die Kombination der wirtschaftlichen RessourcenOst- und Westeuropas hätte auch den Beginn derBeseitigung der Unterentwicklung in der südlichenHemisphäre bedeutet. Unter den Bedingungen derVerwirklichung des LaRouche-Plans für den OstenEuropas wäre zum ersten Mal in diesem Jahrhundertdie Basis für eine stabile Friedensordnung, nicht nurin ganz Europa, sondern weltweit geschaffen worden.

Bekanntermaßen handelte Kohl nicht so, und „dieTragödie nahm ihren Lauf“. Die jetzt veröffentlichtenDokumente belegen, daß sich Kohl über die Konse-quenzen seines Handels bzw. seines Nichthandelnsdurchaus bewußt war. Die sogenannte „Reformpoli-tik“ des IWF in Rußland und den anderen Nachfolge-staaten der ehemaligen Sowjetunion zielte darauf ab,im Interesse der internationalen FinanzoligarchieRußland als künftigen Rivalen auf dem Weltmarktauszuschalten. Eine rücksichtslose Politik der Entin-

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dustrialisierung hat zu einer beispiellosen Massenver-armung und Kriminalisierung der Gesellschaftgeführt. Heute ist Rußland praktisch zu einem atomarbewaffneten Rohstofflieferanten geworden. Wirt-schaftlich, sozial und politisch zerrüttet, steht Ruß-land am Rande des Chaos oder einer brutalen Dikta-tur.

Im April 1991 wurde Detlev Rohwedder, der dieostdeutsche „Treuhand“ im Geiste Alfred Herrhausensführen wollte, ermordet, und wiederum wurde derMord einer nichtexistierenden „dritten RAF-Generati-on“ angelastet. Die Ausschaltung Rohwedders bedeu-tete den ungebremsten industriellen Kahlschlag undMassenarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern.Das Wahlergebnis in Sachsen-Anhalt von März 1998mit 30% der Wählerstimmen für links- und rechtsra-dikale Parteien verdeutlicht die so erstandene verhee-rende Lage, trotz der Milliarden, die in die neuenBundesländer geflossen sind.

Also noch einmal: War die große historische Chan-ce von 1989 eine Illusion? Hat es sie nie gegeben, oderwurde sie verspielt?

Franklin D. Roosevelt gegen Winston Churchill

Das konzeptionelle Kernproblem Kohls und seinesengeren Mitarbeiterkreises wird anhand der folgen-den Episode deutlich: Am 24. Oktober 1989 traf sichBundesminister Seiters mit den Botschaftern der dreiWestmächte. Auf die Frage des britischen BotschaftersSir Christopher Malleby, was angesichts der Äußerungdes Bundeskanzlers, daß die deutsche Frage auf derTagesordnung stehe, von den Alliierten nun erwartetwerde, antwortete Seiters, die Forderung nach Freiheit

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und Selbstbestimmung für alle Deutschen sei legitim,„jetzt sei aber nicht die Zeit der Pläne, sondern dieZeit der Prozesse und Entwicklungen, die man beob-achten und behutsam fördern müsse“.

Es war zu diesem Zeitpunkt sehr wohl möglich zuerkennen, daß sich ein Umbruch historischen Auß-maßes anbahnte, der nicht nur „beobachtet“, son-dern entschlossen gestaltet werden mußte. Das Wie-deraufbrechen der „deutschen Frage“ mußte direkt zuden verhängnisvollen großen Weichenstellungen die-ses Jahrhunderts führen: die wirkliche Vorgeschichtedes Ersten Weltkriegs,6 die wirklichen Hintergründedes Diktats von Versailles, die wirkliche Vorgeschich-

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6. Dazu Webster Tarpley, „London Sets the Stage for a New TripleEntente“ und „King Edward VII: Evil Demiurge of the TripleEntente and World War I“, EIR, 24. März, 1995.

Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill

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te des Zweiten Weltkriegs, vor allem die Unterstüt-zung für Hitler seitens anglo-amerikanischer Esta-blishmentkreise zwischen 1932 und 19387, und dieFrage nach dem „System von Jalta“.

Die Weltpolitik dieses Jahrhunderts wurde von oli-garchischen, imperialistisch-kolonialistischen Kräftendominiert. Aber im Frühjahr 1945 gab es bereits einenhistorischen Moment, in dem es möglich gewesenwäre, eine ganz andere, entwicklungsorientierte Welt-ordnung durchzusetzen. Im Frühjahr 1945 spitztesich der Konflikt zwischen F.D. Roosevelt und Win-ston Churchill zu. Die USA waren zu diesem Zeit-punkt zweifelsfrei in der Lage, eine Weltordungdurchzusetzen, die auf einer Prinzipiengemeinschaftsich wirtschaftlich und kulturell entwickelnder Natio-nalstaaten basierte.

Roosevelts Sohn Elliott berichtet in seinem BuchAs he saw it über den Konflikt seines Vaters mitChurchill, der schon 1941 beim ersten Treffen der bei-den Staatsmänner deutlich wurde. Roosevelt sagte:„Wir müssen den Briten von Anfang an klarmachen,daß wir nicht etwa der ,nette Onkel’ sind, den manimmer dann benutzt, wenn es darum geht, dem briti-schen Empire aus der Patsche zu helfen, nur um ihnanschließend dann auf immer zu vergessen. Churchillhat mir erklärt, es sei nicht seine Aufgabe, als PremierSeiner Majestät der Auflösung des britischen Empiresvorzusitzen. Ich denke, daß ich als amerikanischerPräsident spreche, wenn ich erkläre, daß die USA indiesem Krieg England nicht deshalb beistehen, damit

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7. Dazu findet sich ein aufschlußreiches Kapitel in dem Buch vonWebster Tarpley und Anton Chaitkin, George Bush: The Unautho-rized Biography, EIR, Washington D.C., 1992.

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es auch weiterhin seine Kolonialgebiete und derenMenschen unterjochen kann.“8

Damit brachte Roosevelt das Thema auf demTisch, um das es im Unabhängigkeitskrieg Amerikasgegen das britische Empire gegangen war. Die USAhatten die britische Kolonialherrschaft abgeworfen,um ihre Freiheit und ihr Recht auf eigenständige wirt-schaftliche Entwicklung durchzusetzen. PräsidentJohn Quincy Adams hatte später dieses Grundrechtzur Verteidigung der unveräußerlichen Bürgerrechteausdrücklich allen anderen Nationen zugestanden.9

Mit diesen wollten die USA in einer „Prinzipienge-meinschaft“ zusammenarbeiten. Mit der ErmordungPräsident McKinleys (1902) und der Machtübernah-me Teddy Roosevelts wechselte die Außenpolitik der

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8. Elliott Roosevelt, As He Saw It, Duell, Sloan and Pearce, New York1946. „We ‘re got to make clear to all the British from the veryoutset that we don’t intend to be simply a good-time Charly whobe used to help the British Empire out of a tight spot, and thenbe forgotten forever... Churchill told me that he was not hisMajesty’s Prime Minister for the purpose of presiding over thedissolution of the British Empire. I think I speak as America’s Pre-sident when I say that America won’t help England in this warsimply so that she will be able to continue to ride roughshot overcolonial peoples.“

9. In der „Monroe Doctrine“ vom 2. Dezember 1823 des US-Präsi-denten John Quincy Adams heißt es: „Die amerikanischen Kon-tinente, kraft ihres freien und unabhängigen Zustands, den sieerreicht haben und beibehalten, sind ab sofort nicht als Gegen-stand künftiger Kolonisierung durch jedwede europäische Machtzu betrachten...“ Adams hatte schon früher erklärt, daß er „dasganze System der modernen Kolonisation für einen Mißbrauchder Regierung“ halte, und es sei „an der Zeit, daß es ein Ende fin-de“. Siehe auch Lyndon LaRouche, „Renew and Expand theMonroe Doctrine of John Quincy Adams“, EIR, 11. Dezember1984.

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USA gewissermaßen zurück unter die Rockschöße desbritischen Empire. Die USA wurden zum „amerikani-schen Muskel“, der dem „britischen Gehirn“ auf denBahnen imperialistischer und kolonialistischer Politikfolgte.

Mit eben dieser Politik wollte F.D. Roosevelt bre-chen. Es ist gerade für Deutsche von entscheidenderBedeutung, dies klar zu erkennen, auch wenn Roose-velts Kampf gegen den Nationalsozialismus unglück-licherweise mit einer profund antideutschen Haltungeinherging. Trotz dieser gewichtigen Schwäche Roose-velts bleibt entscheidend, daß er am Ende des ZweitenWeltkriegs der imperialistisch-kolonialistischen Poli-tik der britisch dominierten Oligarchie ein Ende set-zen wollte.

Die USA befanden sich in einer einzigartigen Situa-tion; es gab kein Land, von dem sie etwas zu fürchtenhatten. Roosevelt war auch nicht „naiv“ gegenüberStalin, denn er wußte, daß weder Stalin noch derKommunismus sozusagen das Ende der GeschichteRußlands darstellten, vielmehr die Sowjetunion sichzwangsläufig würde wandeln müssen. 1945 konntendie USA die Grundlagen und Spielregeln der Nach-kriegsordnung bestimmen, und das galt vor allem fürdie Finanz-, Währungs- und Wirtschaftspolitik.

Es ist ein Unglück von wahrhaft historischerDimension, daß Roosevelt gerade in diesem Momentstarb. Und es ist gleichermaßen ein Unglück, daß erdurch den anglophilen und nicht sehr intelligentenTruman ersetzt wurde. Dadurch konnte die britischdominierte Oligarchie die Parameter der Nachkriegs-ordnung maßgeblich bestimmen. Die einzigartigeChance vom Frühjahr 1945 war vertan.

Es gibt diese Sternstunden der Geschichte, indenen es möglich ist, den Lauf der historischen Ent-

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wicklung richtungsgebend zu beeinflussen. In diesenMomenten entscheidet es sich, ob die Verantwortli-chen nur Politiker sind, oder ob sie als Staatsmännerhandeln. Ob sie pragmatisch die „Politik des Machba-ren“ verfolgen und sich damit den oligarchischenMachtstrukturen — vor allem bei den internationalenFinanz- und Währungsangelegenheiten — unterwer-fen, oder ob sie einer philosophischen Grundüber-zeugung folgen, welche die oligarchische Weltord-nung überwinden und dem Gemeinwohl innerhalbsouveräner Nationalstaaten und zwischen ihnenBahn brechen will.

Für Deutschland bot sich erst 1989-90 die Gele-genheit, nicht nur die eigene Zukunft wieder zugestalten, sondern diese Zukunft im Sinne einer Prin-zipiengemeinschaft mit der Vorwärtsentwicklung deranderen europäischen Staaten — und darüber hinaus— zu verbinden. Die deutsche Wiedervereinigunghätte zum Hebel werden können, mit der oligarchi-schen Ordnung zu brechen und eine neue gerechteWeltwirtschaftsordnung zu verwirklichen.

Neue Handlungsmöglichkeiten

Als Papst Paul VI. 1967 die Enzyklika Populorum pro-gressio (Über die Entwicklung der Völker) herausgab,stellte er sich einem Paradigmenwandel entgegen,den die internationalen oligarchischen Finanzkreisein den Jahren nach der Kuba-Krise und der Ermor-dung John F. Kennedys weltweit in Gang gesetzt hat-ten. Die Enzyklika ist eine machtvolle naturrechtlicheBegründung des Rechts aller Völker dieser Erde, diewirtschaftlichen und sozialen Bedingungen zu schaf-fen, unter denen jedes Individuum ein menschen-würdiges Leben führen kann, das seiner Identität als

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Ebenbild Gottes entspricht. Genau darum geht bei beider Schaffung der neuen gerechten Weltwirtschafts-ordnung.

Die „Blockfreie Bewegung“ oder „Bewegung derNichtpaktgebundenen Staaten“ kämpfte unter derFührung von Nehru, Sukarno, Nasser und anderenebenfalls für eine gerechte neue Weltwirtschaftsord-nung. Aber die Blockfreie Bewegung wurde letztlichdurch eine Vielzahl äußerer Manipulationen unddurch ihre innere Heteronomie paralysiert. Die Block-freie Bewegung wurde zu einem bloßen Spiegelbildder Vereinten Nationen: Die meisten Nationen küm-merten sich nur um „ihre“ partikulären Interessen,was es den Groß- und Kolonialmächten sehr leichtmachte, sie gegeneinander auszuspielen. Zu wenigeblockfreie Staatsführer stellten sich auf einen noble-ren Standpunkt, indem sie das Interesse der Mensch-heit als Ganzer ins Zentrum ihres Tuns stellten.

Unter UN-Generalsekretär U-Thant wurde nochvon der „Zweiten Entwicklungsdekade“ gesprochen,d.h. noch wurde die Idee aufrechterhalten, daß sichdie „Entwicklungsländer“ doch allmählich zu moder-nen Industriestaaten „entwickeln“ würden. Aber seitMitte der 60er Jahre lief international eine kulturell-politische Kampagne auf vollen Touren, deren Ziel dieZerstörung der Idee weltweiter Entwicklung war. Stattdessen wurde eine Frontstellung des industrialisiertenNordens gegen den unterentwickelten Süden aufge-baut. Es hieß nun, die Welt sei „überbevölkert“, unddie „begrenzten“ Rohstoffvorkommen und Nah-rungsmittel reichten eben nicht für alle Menschendieser Welt.

Nach 30 Jahren solcher neomalthusianischenGehirnwäsche ist die Idee, daß die sogenannte „Drit-te Welt“ dringend wirtschaftlich entwickelt werden

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müsse, vielen Vertretern der jüngeren Generationfremd geworden.

Als Lyndon LaRouche im April 1975 auf Presse-konferenzen im Bonn und Mailand den Vorschlagmachte, den entwicklungsfeindlichen Internationa-len Währungsfonds durch eine Internationale Ent-wicklungsbank (IEB) zu ersetzen, war dies ein Pauken-schlag. Die IEB sollte für den Technologietransfer imgroßen Stil vom Norden in den Süden den finanziel-len Rahmen schaffen. Eine Vielzahl wohldefinierterInfrastrukturprogramme und Industrieprojekte in derDritten Welt sollte den stagnierenden Volkswirtschaf-ten des Nordens neue Exportmärkte und damitWachstumschancen eröffnen. Obwohl auf beidenPressekonferenzen an die hundert renommierte Pres-severtreter zugegen waren, die mit gespannter Auf-merksamkeit die Ausführungen LaRouches mitnotier-ten, erschien anschließend kein einziger Artikel!

In den folgenden Monaten zirkulierte der IEB-Vor-schlag in praktisch allen Entwicklungsländern. Mitar-beiter LaRouches in vielen Ländern Europas, den USAund Lateinamerika diskutierten mit unzähligen Regie-rungsvertretern, Politikern, Bankiers, Industriellen,Gewerkschaftlern und Wissenschaftlern. MehrereZentralbanken, darunter eine europäische, erstelltensogenannte „Machbarkeitsstudien“ zur IEB undkamen zum Schluß, daß die IEB in der Tat vorzüglichfunktionieren würde.

Dennoch war die Äußerung eines Schweizer Pri-vatbankiers typisch für die vorherrschende Haltungin Europa und den USA: „Ja, die IEB würde funktio-nieren. Aber wir wollen das politische Ergebnis derIEB nicht. Wir wollen nicht, daß die Länder der drit-ten Welt zu modernen Industriestaaten europäischenTyps werden.“

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In den Entwicklungsländern war die Zustimmnugzur IEB groß. Auf dem Gipfel der blockfreien Bewe-gung in Colombo (Sri Lanka), der im August 1976stattfand, gingen viele Kernaussagen des IEB-Vor-schlags in die von 85 Nationen verabschiedete Schluß-resolution ein. Damit sprachen sich die Vertreter derMehrheit der Weltbevölkerung für die Verwirklichungeiner gerechten neuen Weltwirtschaftsordnung aus.

Und wieder geschah das für uns damals nochÜberraschende: die Medien der USA und Europasschwiegen die Schlußresolution von Colombo tot. Ichselbst rief damals beim Chef vom Dienst der Deut-schen Presseagentur an, und fragte ungeduldig, wanndpa denn über die Schlußresolution von Colomboberichten würde? Und bekam die lakonische Antwort:„Das hat doch keinen Nachrichtenwert!“

Wie bitte? Eine Erklärung von 85 Nationen, die dieSchaffung einer neuen gerechten Weltwirtschaftsor-nung fordern, hat keinen „Nachrichtenwert“? DieseEpisode offenbart mehr über die politische Realität alsein langes Studium der Politikwissenschaft!

Im September 1976 präsentierte ein guter FreundLyndon LaRouches, der damalige Außenminister vonGuyana Frederick Wills, LaRouches Konzept für eineNeue Weltwirtschaftsordnung vor der UN-Vollver-sammlung in New York. Noch ein Paukenschlag, undwiederum würgten die Großmächte eine inhaltlicheDiskussion über die neue gerechte Weltwirtschafts-ordnung ab.

Doch die „Botschaft“ war sehr wohl angekommen,das zeigte die nun folgende Gegenoffensive, derenZielscheibe diejenigen Staatsführer wurden, welchesich für die neue gerechte Weltwirtschaftsordnungeingesetzt hatten. Daß ausgerechnet Henry Kissingereine Schlüsselrolle bei den nun einsetzenden Destabi-

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lisierungsoperationen gegen eine Reihe führenderNationen der Blockfreien Bewegung spielte, solltenicht überraschen.

Es war Kissinger, der das berüchtigte Dokument„NSSM-200“ unterzeichnete, als er Nationaler Sicher-heitsberater unter Präsident Ford war. In „NSSM-200“steht, daß die Welt überbevölkert sei, während dieverfügbaren Rohstoffe der Welt so begrenzt seien, daßsie für die Weltbevölkerung auf höherer wirtschaftli-cher Entwicklungstufe nicht ausreichten. Deshalbmüßten die USA für eine Begrenzung des Bevölke-rungswachstums in der Dritten Welt sorgen, damitdie USA — weltweit — das „Recht“ auf ungehindertenZugang zu den Rohstoffen hätten.10

Indien wurde politisch destabilisiert und IndiraGhandi gestürzt; in Sri Lanka geschah das gleiche mitPremierministerin Frau Bandaranaike. Der pakistani-sche Premier Ali Bhutto wurde gestürzt und späterumgebracht. Mit diesen und weiteren Destabilisie-rungsoperationen war die Bewegung für eine gerech-te neue Weltwirtschaftsordnung erst einmal zerschla-gen. Die oligarchische Kontrolle über die Finanzinsti-tutionen der Welt wurde konsolidiert, was sich in derdamals erfolgten Verschärfung der berüchtigten„Konditionalitäten“ und „Strukturanpassungspro-gramme“ des IWF gegenüber den Staaten der DrittenWelt äußerte. Den Rest besorgte die manipulierteErhöhung der Erdölpreise, die die Mehrheit der Staa-ten der Dritten Welt in die Verschuldung stürzte.

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10. Eine deutsche Übersetzung des Dokuments „NSSM-200“ ausdem Jahre 1974 findet sich in der EIRNA-Studie: „Geopoliti-scher Malthusianismus“, Wiesbaden 1993, Seite 36ff.

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LaRouches Konzept defensiver Strahlenwaffen

Die nächste Chance für die Menschheit, sich von deroligarchischen Kontrolle zu befreien, die seit Versail-les und Jalta die Welt beherrschte, und eine Ordnungsouveräner Nationen zu errichten, war jenes GrandDesign, das LaRouche Ende der 70er Jahre entwickel-te und das später als „Strategische Verteidigungsinitia-tive“ (SDI) bekannt wurde.

Ende der 70er Jahre spitzte sich in Europa die Kon-frontation zwischen dem Warschauer Pakt und derNATO durch die Stationierung der sowjetischenAtomraketen vom Typ SS 20 und dann der Pershing IIzu. Da die Flugzeit dieser Raketen nur wenige Minu-ten betrug, würde die atomare Supermacht, die auchnur eine einzige Atomrakete auf ihren Radarschirmenentdeckte, sofort ihr ganzes Arsenal von Atomwaffenlosschicken, da überhaupt keine Zeit mehr zurKlärung der Frage bliebe, ob es sich dabei um ein„Versehen“ handelte, oder aber um einen beabsich-tigten Atomangriff. Außerdem stand fest, daß dieSowjets damals schon intensiv an der Entwicklungvon Raketenabwehrsystemen auf Basis „neuer physi-kalischer Prinzipien“ arbeiteten.

In dieser Situation entwickelte LaRouche ein Kon-zept, um die damals herrschende Militärdoktrin derUSA und der NATO, abgekürzt MAD (Mutual AssuredDestruction, gegenseitig gesicherte atomare Zer-störung) durch eine Strategie der MAS (Mutual Assu-red Survival, gegenseitig gesichertes Überleben) zuersetzen. Das Konzept erhielt später den Namen SDI:ein vierschichtiges Verteidigungssystem mit Strahlen-waffen, um gegnerische Atomraketen mit Lichtge-schwindigkeit zu zerstören. Die Realisierung dieses

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Verteidigungssystems hätte atomar bestückte An-griffsraketen obsolet gemacht; Strahlenabwehrwaffensind nicht nur um Größenordnungen effizienter, son-dern auf Dauer auch billiger als Angriffsraketen mitNuklearsprengköpfen.

Allerdings lag das Geniale des SDI-Konzepts vonLaRouche darin, daß beide Supermächte diese neueTechnologie gemeinsam entwickeln und in koordinier-ter Weise gleichzeitig stationieren sollten.

Natürlich sollte die Tatsache ausgenutzt werden,daß diese neue Verteidigungstechnologie auf der Basisneuer physikalischer Prinzipien gewissermaßen ein„Wissenschafts- und Wirtschaftsmotor“ war, der dieProduktivität nicht nur der Zivilwirtschaft der Super-mächte und ihrer Verbündeten sondern der gesamtenWeltwirtschaft um Größenordnungen steigern konn-te. Durch eine solche technische und wirtschaftlicheRevolution konnte dann auch der längst überfälligeTechnologietransfer von Nord nach Süd vollzogenund die Unterentwicklung des Südens überwundenwerden. Es ging LaRouche also bei der SDI auch umdie Idee, die „gemeinsamen Ziele der Menschheit“ zuverwirklichen, wie es der Physiker Edward Teller, derin der fraglichen Zeit auch einen wichtigen Beitragzur SDI leistete, damals ausdrückte.

Ein Jahr lang, von Anfang 1982 bis Anfang 1983,führte LaRouche im Auftrag der Regierung Reagan mitsowjetischen Vertretern Hintergrundgespräche zurFrage der SDI. An diesen Diskussionen habe ich teil-genommen, ebenso wie an den Gesprächen, dieLaRouche mit Mitgliedern des Nationalen Sicher-heitsrates (NSC) der USA führte. Wir sprachen mithohen Vertretern beider Supermächte, die ernsthaftüberlegten, ein defensives Strahlenwaffensystem zuinstallieren.

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Aber im Februar 1983 kam aus Moskau als endgül-tige Antwort ein „Njet“! Sie lehnten das SDI-Konzeptmit der Begründung ab, die Vorteile im zivilenBereich der Wirtschaft seien für den Westen vielgrößer als für die sowjetische Seite. Kurz darauf, am23. März 1983 verkündete US-Präsident Ronald Rea-gan offiziell, er wolle die SDI zum Kernstück einerneuen amerikanischen Militärdoktrin machen. Rea-gan fügte als Angebot an die Sowjets hinzu, Amerikawürde ihnen dabei helfen, diese neuen Technologienauch im zivilen Bereich der sowjetischen Wirtschaftbei der Überwindung von Engpässen und der not-wendigen Modernisierung zu nutzen. Dieses Angebotder USA galt bis zum August 1983, so daß es ein knap-pes halbes Jahr sozusagen auf dem Verhandlungstischlag.

Leider gelang den Kreisen um Bush, Baker und Kis-singer in dieser kritischen Zeit ein politischer Coupgegen den amerikanischen Präsidenten, mit der Folge,daß die SDI immer mehr abgewürgt wurde. Außerdemhatten die Sowjets — wie vorher angekündigt — Rea-gans Angebot kategorisch abgelehnt.

LaRouche war 1983 der einzige Politiker imWesten, der die Weitsicht hatte zu erkennen, daß dieSowjetunion in etwa fünf Jahren, wegen ihrer Zurück-weisung der SDI und der damit unterbleibendenModernisierung ihrer Wirtschaft, kollabieren würde.Man kann diese Prognose von 1983 nachlesen. FünfJahre später hatten sich der Niedergang der sowjeti-schen Wirtschaft und die Versorgungsengpässe für dieBevölkerungen der Comecon-Staaten drastisch ver-schärft. In dieser Situation war wiederum LaRoucheder einzige westliche Politiker, der eine brauchbarePerspektive entwickelte, wie der sich zuspitzendenKrise im Sowjetimperium und ihren unabsehbaren

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Folgen auch für den Westen zu begegnen sei. Am 12.Oktober 1988, stellte LaRouche auf einer Pressekonfe-renz im Berliner Hotel Kempinski ein Programm vor,wie das bald wiederzuvereinende Deutschland zumMotor von wirtschaftlichem Wiederaufbau undModernisierung in Osteuropa werden könne. Dabeisollte Polen eine modellhafte Vorreiterrolle überneh-men.

Ausblick

Als dann die Ereignisse von 1989 die Fundamente des„Systems von Jalta“ erschütterten, stand nicht nur diedeutsche Einheit auf der Tagesordnung, sondernzugleich die Frage einer neuen Politik für Osteuropainsgesamt. Dabei spielt die Frage wirtschaftlicher Ent-wicklung und Modernisierung in Osteuropa offen-sichtlich die Schlüsselrolle. Damals formulierte derChef der Deutschen Bank Alfred Herrhausen wirt-schaftspolitische Vorstellungen für Polen, die in eineähnliche Richtung gingen wie die von LaRouche.

Der wirtschaftliche Wiederaufbau in Osteuropadurfte nicht nach „IWF-Methoden“ erfolgen, viel-mehr mußte man sich an der — „dirigistischen“ —Wirtschaftspolitik orientieren, die dem so erfolgrei-chen Wiederaufbau in Deutschland nach dem Zwei-ten Weltkrieg zugrunde lag. Industrie und Infrastruk-tur mußten modernisiert und ausgebaut werden, dazuwaren umfassender Technologietransfer und Kapital-güterexporte aus dem Westen, vor allem aus dem wie-dervereinigten Deutschland, erforderlich. Ein produk-tiver Mittelstand mußte geschaffen werden. Massen-arbeitslosigkeit und soziale Erschütterungen mußtenvermieden werden. In dem jahrzehntelang geteiltenKontinent mußten gesamteuropäische Transportkor-

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ridore geschaffen werden. LaRouche faßte diese wirt-schaftsstrategischen Elemente Ende 1989 in seinemProgramm des „Produktiven Dreiecks“ zusammen.

Die in der Dokumentation der Bundesregierungenthaltenen Unterlagen beweisen, daß Deutschlandund Kanzler Kohl systematisch und mit brutalerDruckausübung daran gehindert wurden, diesen Wegwirtschaftlicher und staatspolitischer Vernunft zubeschreiten. Thatcher, Mitterrand und auch Bushsetzten alle verfügbaren Machthebel ein, dies zu ver-hindern. Unser eigenes zusätzliches Wissen über denZeitraum 1988 bis 1991 ergänzt die Darstellung derDokumentation der Bundesregierung, indem wir dieauf LaRouche zurückgehenden strategischen Konzep-te ausführlich darstellen, die den Verantwortlichen inden Regierungen fehlten, um den historischenUmbruch von 1989 erfolgreich zu meistern. DasGesamtbild der Zeit von 1988 bis 1991 verdeutlichtfür jeden, der ernsthaft an der Wahrheit interessiertist, den Ideenbeitrag, der von uns in den vergangenen25 Jahren geleistet wurde. Daß die Umsetzung dieserIdeen zwischen 1988 und 1991 abgewürgt wurde, istder Kern der Tragödie, die seither ihren Lauf genom-men hat.

Mit dieser Studie über den großen Umbruch von1989 wollen wir uns nicht einfach im Studium derGeschichte üben, sondern einen geistig-politischenBeitrag dazu leisten, daß die gegenwärtige globaleFinanzkrise, die ihrerseits eine Folge des Scheiternsvon 1989 ist, erfolgreich bewältigt werden kann. Diegegenwärtige Zivilisationskrise stellt eine um Größen-ordnungen schwerere Herausforderung dar als selbstder Umbruch von 1989. Lernen wir also die Lektionvon 1989! Die Lehren von 1989 sind die unabdingba-re Voraussetzung dafür, einen Ausweg aus der heuti-

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gen Weltkrise zu finden: durch die Verwirklichungeiner neuen gerechten Weltwirtschaftsordnung unddie Neuordnung des Weltfinanzsystems, ein „NeuesBretton Woods“.

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Die Dokumente zur Deutschlandpolitik, Sondereditionaus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90 ver-

mitteln in erster Annäherung durchaus einen brauch-baren Überblick über die Umstände, unter denen eszum Fall der Mauer und der Wiedervereinigung kam.Selbst aus diesen dürren Akten wird die Arroganzdeutlich, mit der Thatcher, Mitterrand, Bush und aufseine Weise Gorbatschow wie selbstverständlichdavon ausgingen, daß die Rechte der Besatzungs-mächte über Deutschland quasi für die Ewigkeit fest-geschrieben wären. Aber sie werfen eben auch einbezeichnendes Licht darauf, wie eng das Korsett war,in das sich der enge Kreis um Kohl während der stür-mischen Ereignisse dieser Jahre eingezwängt fühlte.

Was die Dokumentation, die lediglich Sitzungspro-tokolle des Bundeskanzleramtes, Briefe und Notizenüber Gespräche und Telefonate enthält, völlig ausläßtoder bestenfalls in einem Nebensatz erwähnt, sindEreignisse aus dieser Zeit, die entscheidenden Einflußauf das Verhalten Kohls und den Gang der Dinge hat-ten, die aber alle letztendlich im geheimdienstlichenBereich lagen. Dazu gehörte die von Thatchers Mini-ster Ridley angeführte „Viertes-Reich-Kampagne“gegen Deutschland1 ebenso wie die Ermordung Herr-hausens2 und der massive Aufkauf von Stasi-Agenten

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Durchsicht der Dokumente zurWiedervereinigung

Eine Chronologie mit Kommentaren von Helga Zepp-LaRouche

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und -material durch den britischen, amerikanischen,französischen und israelischen Geheimdienst sowiedie daraus folgende Erpreßbarkeit deutscher Politi-ker3.

Leider beginnt schon der erste Satz der 236 Seitenumfassenden Einführung der Sonderedition mit einerUnrichtigkeit. „Niemand rechnet im Frühjahr 1989mit der baldigen Wiederherstellung der deutschenEinheit.“ Denn der amerikanische Wirtschaftswis-senschaftler Lyndon LaRouche prognostizierte bereitsam 12. Oktober 1988 auf einer Pressekonferenz imBerliner Hotel Bristol Kempinski eine baldige Wieder-vereinigung Deutschlands mit der künftigen Haupt-stadt Berlin. (Zu dieser Zeit galt den meisten west-deutschen Politikern die deutsche Wiedervereinigungals „Jahrhundertlüge“, und sie äußerten sich dazu inverschiedenen Variationen.) Außerdem schlug La-Rouche bei der gleichen Gelegenheit ein Notpro-gramm zur wirtschaftlichen Entwicklung Polens mitHilfe des wiedervereinigten Deutschland vor, welches,hätte Kohl es bei seiner Reise nach Polen ein Jahr spä-

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1. Siehe Seite 173ff in diesem Buch.2. Siehe Seite 135ff und: EIRNA-Studie: „Terrorismus in der post-

kommunistischen Ära“, Januar 1992. Auf Seite 24 heißt es dort:„Am 1. Dezember 1989, unmittelbar nach dem Mordanschlagauf Herrhausen, schrieb der Bonner Financial Times-Korrespon-dent David Marsh: ,Herr Herrhausen erwies sich als ausdrückli-cher — vielleicht zu ausdrücklicher — Befürworter der deutschenWiedervereinigung.’ Im übrigen habe, so Marsh, „die terroristi-sche Bombe, welche Herrn Herrhausens Wagen in Bad Homburgzertrümmerte, Deutschland auf den Boden der Tatsachen zurück-gebracht“.

3. Der Konflikt zwischen Bonn und Washington wegen der Namenvon 20 000 Stasi-Mitarbeitern, welche die US-Behörden in derZeit des Umbruchs an sich gebracht und der Bundesregierungnicht zugänglich machen wollen, dauert an.

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ter im Reisegepäck gehabt, bestens geeignet gewesenwäre, die Bedenken der Polen gegenüber der Wieder-vereinigung auszuräumen.

In dem entsprechenden Abschnitt der Einführungwird zunächst die Haltung der drei Westmächte zuden Ereignissen in Deutschland beschrieben. Dabei istdie Darstellung der Position Thatchers selbst eineÜbung in britischem Understatement: „Verständnisfür das Anliegen der Deutschen vermag der Kanzlerbei der britischen Premierministerin Thatcher kaumzu entdecken.“ Und dann: „Kohl hält sie für eine sehrengagierte, aber auch sehr kritische Regierungschefin,die in überholten insularen Sicherheitskategoriendenkt und Schwierigkeiten hat, sich auf modernegesellschaftliche Entwicklungen einzustellen.“

Angesichts der schon beinahe rassistische Zügeannehmenden pathologischen Abneigung Thatchers(„Daher ist Deutschland vom Wesen her eher einedestabilisierende als eine stabilisierende Kraft imeuropäischen Gefüge.“4), die ebenfalls in denGesprächen Thatchers in ihrer Residenz in ChequersCounty über die „deutsche Krise“ zur Theorie hoch-stilisiert wurde, sind solche Formulierungen leiderAusdruck einer fatalen Blindheit gegenüber „dem bri-tischen Problem“. Nicht nur befand sich Thatcher invölliger Übereinstimmung mit Ridleys „Viertes-Reich-Kampagne“, sondern ihre Schwierigkeiten, „sich aufmoderne gesellschaftliche Entwicklungen einzustel-len“, waren nur der personifizierte Ausdruck der Tat-sache, daß für das britische, geopolitisch denkendeEstablishment Deutschland seit fast 300 Jahren als

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4. Margaret Thatcher in ihren Memoiren, The Downing Street Years,HarperCollins, New York 1993.

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Feind gilt, den zu destabilisieren, zu belügen und nie-derzuhalten das britische Interesse angeblich gebietet.

Wie später deutlich werden wird, verfolgte auchMitterrand eine für Kohl, trotz seiner zahllosen Kon-takte mit dem französischen Staatsoberhaupt, letzt-lich überraschende Politik der Schwächung Deutsch-lands.

Nun gehört es zu einer der Mythologien, die umdie Wiedervereinigung gerankt worden sind, daß die-se ohne Bush nicht möglich gewesen wäre, daß Bushals einziger sich wirklich positiv verhalten habe etc..Bei näherer Betrachtung hatte Bush aber gar keineandere Wahl, falls er den „Super-GAU“ in der ameri-kanischen Europa-Politik vermeiden wollte. Hättendie USA trotz der friedlichen Revolution inOstdeutschland an der Teilung festgehalten, hätte dasSelbstimage der USA als „Agent der Vorsehung unddes Fortschritts“, der „die Ausbreitung von Freiheitund Demokratie“5 fördert, wohl irreparablen Schadenerlitten.

Professor Detlef Junker, Direktor des DeutschenHistorischen Instituts in Washington, schrieb dazu ineinem höchst bemerkenswerten Artikel in der FAZ,daß Bush, Baker und eine kleine Gruppe von Mitar-beitern zum Zeitpunkt des Falls der Mauer „diesmaldie klassische Trias amerikanischer Deutschlandpoli-tik im 20. Jahrhundert“ formulierte: „DeutschlandsEinheit, Eindämmung und Integration“. Junker weistauf den unbestreitbaren Punkt hin, daß das Leitmotivder amerikanischen Deutschlandpolitik, von Wood-row Wilson bis George Bush, stets dasselbe war: die

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5. Prof. Detlef Junker, „Deutschlands Einheit, Eindämmung undIntegration“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. März 1997.

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Macht des deutschen Staates einzudämmen; egal obdies im Zeitalter des Imperialismus oder während derWeimarer Republik war, oder ob es die Bundesrepu-blik ab 1949 oder das wiedervereinte Deutschland ab1990 betraf.

Prof. Junker legt seinen Finger auf den wundenPunkt, wenn er schreibt: „Die Zusammenarbeit mitBundeskanzler Kohl, Außenminister Genscher undeiner begrenzten Zahl von Beratern funktionierteauch deshalb so hervorragend, weil die Bundesrepu-blik seit dem ,Zehn-Punkte-Programm zur deutschenEinheit’ des Bundeskanzlers vom 28. November 1989parallele Ziele verfolgte: Deutschlands Einheit undSelbsteindämmung durch Integration.“ Diese Ein-schätzung entspricht leider der Wahrheit.

Betrachtet man die in der Dokumentation erwähn-ten Berater Bushs genauer, so wird deutlich, wie pro-blematisch diese Parallelität der Ziele, d.h. dieSelbsteinbindung in die bestehenden Parameter derPolitik war. Denn z.B. Brent Scowcroft, der zentraleAnsprechpartner von Ministerialdirektor Horst Telt-schik in dieser Zeit, stammte nicht nur aus dem StallHenry Kissingers, sondern führte als dessen Nachfol-ger im Amt des Nationalen Sicherheitsberaters unterPräsident Ford die üble Politik fort, die in dem Memo-randum „NSSM-200“6 dargelegt ist — eine Politik, dieden Interessen Deutschlands ebenso fundamentalentgegensetzt ist wie den wirklichen Interessen Ame-rikas.

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6. Siehe Seite 38 in diesem Buch.

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Chronologie

Ende Mai 1989: Erster offizieller Besuch PräsidentBushs in Deutschland. Kohl äußert die Prognose, daßes nach seiner Einschätzung um die Jahrtausendwen-de drei regionale Schwerpunkte geben werde: Japan,Korea und Südasien; die Vereinigten Staaten vonAmerika und Kanada sowie Europa. (Offensichtlichbefand sich China damals nicht im Blickwinkel desKanzlers. Die südliche Hemisphäre spielt ebenfallskeine Rolle.) Kohl versichert, eine protektionistischeHaltung der Europäischen Gemeinschaft werde es mitihm nicht geben.

12.-15-Juni 1989: Gorbatschows Besuch in Bonn, dereine von der russischen Bevölkerung nicht nachvoll-ziehbare Gorbi-Manie in der Bundesrepublik auslöste.In einer gemeinsamen Erklärung stimmt Gorba-tschow dem Recht eines jeden Staates auf Selbstbe-stimmung zu, worin Washington allerdings keine ent-scheidenden Zugeständnisse erkennt. Die Dokumen-tation7 vermerkt: „Im Frühjahr 1989 gibt es also nochkeine Hinweise darauf, wie schnell die deutsche Fragein den Mittelpunkt rückt.“

Ende Juni 1989: Die Führung der DDR gerät zuneh-mend unter Druck. „Versorgungsschwierigkeiten, lan-ge Warteschlangen beim Kauf von Konsumgütern

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7. Dieses sowie alle folgenden Zitate stammen, wenn nicht andersvermerkt, aus Dokumente zur Deutschlandpolitik, Sonderedition ausden Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, bearb. v. Hanns JürgenKüsters, Daniel Hofmann, R. Oldenbourg Verlag, München 1998.

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und Gebrauchsgegenständen, mangelnde Infrastruk-tur im Bereich der Verkehrswege und der Kommuni-kation und unveränderte staatliche Überwachungund Repression. Bei den Menschen in der DDRnimmt das Gefühl der Ausweglosigkeit und Frustrati-on ständig zu. Die deprimierende Grundstimmungläßt den Ausreisedruck steigen.“

3.-4. Juli 1989: Kanzleramtschef Seiters besucht Ost-Berlin, verschiedene Gespräche „am Rande offiziellerBegegnungen“ und andere Anzeichen „deuten aufeinen bevorstehenden Bankrott hin. An diskretenÄußerungen einzelner hoher Offiziere des Ministeri-ums für Staatssicherheit ist abzulesen, daß sichGedanken über die deutsch-deutsche Entwicklungwandeln.“ Spätestens an diesem Punkt hätten die„Vorarbeiten“ für das Kanzleramt beginnen müssen,vor allem wenn man die damals bekannten Versor-gungsschwierigkeiten in der Sowjetunion und derenbekannten Abhängigkeit von der Produktion der DDRinnerhalb der forcierten Arbeitsteilung im Comeconin Betracht zog. Der Vorschlag Lyndon LaRouches, dieEntwicklung Polens durch das wiedervereinigteDeutschland zum Modell für die Entwicklung allerosteuropäischen Staaten zu machen, lag seit Oktober1988 in allen Hauptstädten des Westens und Ostensauf dem Tisch.

Die Flüchtlingswelle

Ende Juli, Anfang August 1989: Es kommt plötzlichzu einem rapide wachsenden Strom von Ausreisewil-ligen, die die Botschaft in Budapest und die StändigeVertretung in Ost-Berlin besetzen, in der sich am 7.August 130 Personen aufhalten. „Das Bundeskanz-

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leramt ist gezwungen, die Ständige Vertretung für denPublikumsverkehr zu schließen“, was die DDR-Führung allerdings nicht einsehen will. Als die bun-desrepublikanische Botschaft in Budapest Pässe anBürger der DDR ausgibt, verurteilt der Erste Stellver-tretende DDR-Außenminister dies als völkerrechts-widrig. 115 Ausreisewillige wenden sich in einemdirekten Schreiben an den Bundeskanzler.

25. August 1989: An diesem Tag kommt es zu einemstreng geheimgehaltenen deutsch-ungarischen Tref-fen auf Schloß Gymnich. Mit der RückversicherungGorbatschows und tatkräftiger Hilfe des Westensstimmt Ministerpräsident Németh zu, die Deutschenaus der DDR am 11. September, kurz vor Beginn desParteitags der CDU in Bremen, über Österreich ausrei-sen zu lassen. Es halten sich über 500 Flüchtlinge inder Prager Botschaft und 110 in Warschau auf, aber esist ungewiß, ob sich die ungarische Lösung auch dortdurchsetzen läßt.

19. September 1989: Die Oppositionsgruppe „NeuesForum“ gründet sich in der Ost-Berliner Gethsemane-Kirche mit der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley an derSpitze.

21. September 1989: NATO-Generalsekretär ManfredWörner läßt in seinen Bemerkungen gegenüber Bun-desminister Seiters die Diskussionen innerhalb derNATO durchblicken: Die NATO müsse auch als politi-sches Bündnis bei einem Wandel der Ost-West-Bezie-hungen größere Bedeutung erlangen.

6. Oktober 1989: Feiern zum 40-jährigen Bestehender DDR.

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7. Oktober 1989: Gorbatschow spricht mit Honeckerim Rahmen der Feiern zum 40. Jahrestag und „machterneut die Erfahrung: Der SED-Generalsekretär istreformunfähig, ein Führungswechsel unausweich-lich“.

16. Oktober 1989: Ansprache des US-AußenministersJames Baker, der das Streben der Deutschen nachSelbstbestimmung in Frieden und Freiheit als ihr legi-times Recht bezeichnet. Er spricht aber nicht von„Wiedervereinigung“, sondern nur von „reconciliati-on“, d.h. „Versöhnung“. „Dahinter verbirgt sichoffenbar der Gedanke, die DDR könne als selbständi-ger Staat fortbestehen, wenn das kommunistischeSystem beseitigt ist.“8

Es verbarg sich dahinter wohl weniger der Glaubeder US-Regierung, daß die Reformierbarkeit des Sozia-lismus unwahrscheinlicher war als dessen Zusam-menbruch, wie in der Einführung zur Dokumentationvermutet wird, sondern vielmehr das Interesse vonBush, Baker et al., die Teilung Deutschlands alsSchlüsselelement der Nachkriegsordnung aufrechtzu-erhalten.

18. Oktober 1989: Honecker wird bei der Sitzung desPolitbüros des Zentralkomitees der SED gestürzt. SeinNachfolger wird Egon Krenz. Er wird als kompromiß-loser Mann eingeschätzt, der mit aller Härte denMachtanspruch der SED verfolgt und dazu nötigen-falls alle verfügbaren Machtmittel einsetzt (Doku-ment Nr. 63, Vorlage des Ministerialdirigenten Duis-berg an Bundeskanzler Kohl vom 19. Oktober 1989).

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8. Zelikow/Rice, Germany Unified and Europe Transformed, Seite 96.

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Anfang November 1989: Bei einem Treffen mit Sei-ters läßt Schalck-Golodkowski durchblicken: „DieDDR steht in Kürze vor dem Bankrott.“

Die im Umfeld der montags stattfindenden Frie-densgebete sich ausbreitenden Demonstrationenwachsen auf über 200 000 Menschen an.

Kohl wendet sich bei den deutsch-französischenKonsultationen explizit gegen einen „Deutschland-plan“. Für ihn haben im Augenblick die bevorstehen-de Polenreise, der kommende Gipfel in Malta zwi-schen Gorbatschow und Bush und das deutsch-fran-zösische Verhältnis Vorrang. Für die Diskussion imEuropäischen Rat will er die Entscheidung über denBeginn einer Wirtschafts- und Währungsunion mitdem Einstieg in die Diskussion um die Politische Uni-on verbinden.

8. November 1989: Die Neue Solidarität veröffentlichtein von Helga Zepp-LaRouche vorgeschlagenes „Fünf-stufiges Notprogramm für den Wiederaufbau Polens“.Dieses Programm war eine explizite Alternative zudem von Jeffrey Sachs vorgeschlagenen „Schockpro-gramm“ und sah die dirigistische Schaffung eines Bin-nenmarktes vor. Im Zuge der Modernisierung von In-frastruktur und Industrie könnte ein neuer produkti-ver Mittelstand entstehen, wobei vor allem deutsche,französische und italienische Unternehmer ihr Wis-sen einbringen sollten. Unter Punkt 4 heißt es:

„Auf der Grundlage der Wirtschaftstheorie vonLeibniz’ Konzept der physikalischen Ökonomie, derKameralistik Alexander Hamiltons und Friedrich Listsmuß ein generelles Wirtschaftsprogramm für Polenausgearbeitet werden, das die Prioritäten so definiert,daß eine maximale Produktionssteigerung der Wirt-schaft und der Arbeitskräfte durch technologischen

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Fortschritt erreicht wird. Dabei können der wirt-schaftliche Wiederaufbau der BundesrepublikDeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg oder die in-dustrielle Revolution Japans als Orientierung gelten.“

Gleichzeitig fordert Helga Zepp-LaRouche in einerErklärung zur deutsch-französischen Zusammenarbeitin der Ostpolitik dazu auf, den Vorschlag des ehema-ligen französischen Botschafters in Bonn, FromentMeurice, aufzugreifen: Bundeskanzler Kohl solle mitStaatspräsident Mitterrand nach Moskau fahren undGorbatschow gegenüber Klartext reden: „Die sowjeti-sche Wirtschaft bricht zusammen, die Völker desSowjetimperiums hungern! Wir Deutsche und Fran-zosen sind bereit, im großen Stil mit Nahrungsmittelnund anderen Wirtschaftsgütern zu helfen und werdendementsprechend unseren Einfluß im Westen insge-heim wirksam werden lassen. Aber die sowjetischeFührung muß dafür den Deutschen und Polen Frei-heit und Selbstbestimmung gewähren... Deutschlandund Frankreich müssen gemeinsam die große Überle-bensfrage der Menschheit angehen: Eine neue gerech-te Weltwirtschaftsordnung, also die Lösung der Schul-denfrage für die Dritte Welt und projektgebundeneEntwicklungshilfe.“

9. November 1989: Kohl fährt in Begleitung einer 80-köpfigen Delegation hochrangiger Vertreter aus Poli-tik und Wirtschaft nach Warschau. Im Mittelpunktder Gespräche mit Ministerpräsident Mazowiecki undLech Walesa stehen die Massendemonstrationen mit600 000 bis 700 000 Deutschen in Leipzig und Ost-Berlin. Kohl sieht die Lage noch nicht so dramatischwie Walesa, der zweifelt, ob die Mauer „in ein bis zweiWochen noch stehen wird“.

Wenige Minuten nach Beendigung dieses Ge-

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sprächs tritt in Ost-Berlin ZK-Mitglied Günter Scha-bowski vor die internationale Presse und verkündetdie neue Ausreiseregelung, die de facto die Öffnungder Mauer bedeutet. Als Kohl Stunden später durchEduard Ackermann von der Maueröffnung erfährt,reagiert er zunächst skeptisch.9 „Er kann einfachnicht glauben, daß wirklich die Mauer geöffnet seinsoll, eine innere Freude ist bei ihm kaum zu ver-spüren. Eher dominiert die Ungewißheit, wie die Ent-wicklung nun weitergehen wird.“

Kohl unterbricht seine Polenreise für eineinhalbTage, um an einer von der SPD initiierten Kundge-bung in Berlin vor dem Schöneberger Rathaus teilzu-nehmen und wichtige Telefonate und Gespräche inBonn zu führen. Der damalige Regierende Bürgermei-ster Berlins Walter Momper (SPD) spricht in dieserSituation noch davon, daß die Geschichte nunmehrvom „Volk der DDR“ geschrieben werde, geht alsonoch klar von der Zweistaatlichkeit Deutschlands aus.Aber die Menschen aus Ost und West sind überglück-lich.

13. November 1989: Der sowjetische BotschafterKwizinskij verlangt von der Bundesregierung, dieDDR als souveränen Staat zu behandeln. Angesichtsder ohnehin schon sehr schlechten Versorgungslagein der Sowjetunion befürchtet man aufgrund derEreignisse in der DDR höchst negative Auswirkungen.Der Import aus der DDR macht immerhin rund 20%des sowjetischen Außenhandels aus.

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9. Eduard Ackermann, Mit feinem Gehör, Seite 309f.

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Das Zehn-Punkte-Programm fürdie Wiedervereinigung

2. Novemberhälfte: Berichte gehen an Kohl über dieStimmungslage in der DDR. Die Wut gegen die Kor-ruption wächst, aber auch Hoffnungslosigkeit undLähmung machen sich breit; bei den Oppositions-gruppen ist ein depressiver Stimmungsumschwung zubeobachten.

Die Dokumentation vermerkt: „Überraschend istnun vierzig Jahre nach Gründung der beiden deut-schen Staaten der Tag X der Grenzöffnung eingetre-ten, und die Bundesregierung verfügt über keinbrauchbares Konzept, was zu tun ist. Erst recht nichtgibt es für den Fall der bevorstehenden Wiederverei-nigung irgendwelche Vorarbeiten, Ablaufpläne oderKrisenszenarien neueren Datums, auf die das Bundes-kanzleramt zurückgreifen kann. Womit Regierungenund Planungsstäbe nicht rechnen, darüber werdenauch keine Überlegungen angestellt. Wer weiß schon,welche Bedingungen die konkrete Lage dann bestim-men. Zudem sind Vorwarnungen des Bundesnach-richtendienstes ausgeblieben.“

Aber, wie gesagt, seit Oktober 1988 lag der Vor-schlag Lyndon LaRouches auf dem Tisch, daß dasbald wiederzuvereinende Deutschland seinen Nach-barn Polen mit westlicher Technologie entwickelnsolle, und daß dieses Programm als Modell für ganzOsteuropa dienen solle. LaRouche hatte im übrigenbereits 1983 nach der Zurückweisung von ReagansSDI-Kooperationsangebot durch die Sowjetunion denKollaps der sowjetischen Wirtschaft nach rund fünfJahren prognostiziert. Es gab also durchaus „Vorarbei-ten“, wenn auch nicht von einem offensichtlich in-

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effizienten Regierungsapparat, sondern von LaRoucheund seinen Mitarbeitern.

15. November 1989: Nachdem Kohl seine unterbro-chene Polenreise beendet hat, setzt er sich gegenüberBush für die nötige Lebensmittelunterstützung derPolen ein, wozu die amerikanische Regierung miteinem Kredit in Höhe von 250 Mio. Dollar beitragensoll. „Bush mahnt zur Vorsicht. Er hat Angst, eupho-rischen Stimmungen der Europäer nachgeben zumüssen.“ Gorbatschow solle kein Anlaß zur Interven-tion mit militärischen Mitteln geboten werden.„Überzogene Forderungen nach Unterstützungslei-stungen blockt Bush ab.“

15. November 1989: LaRouche regt an, eine Politikder „realen Wirtschaftsentwicklung“ in der Traditiondes deutschen Nationalökonomen Friedrich List inGang zu setzen. Hierbei sei mit dem Ausbau der indu-striellen Infrastruktur zu beginnen. Die Industrie derDDR könne eine Scharnierrolle bei der EntwicklungPolens spielen.

17. November 1989: Telefongespräch Kohls mitBush. Bush betont, daß die USA beabsichtigen, unge-achtet einiger Äußerungen im amerikanischen Kon-greß, die Reformen im Osten zu unterstützen. „In denUSA bestünde jetzt eine Euphorie wegen der Verände-rungen in diesen Ländern. Dies sei ein gewisses Risi-ko. Man müsse unvorhersehbare Reaktionen in derDDR oder der Sowjetunion vermeiden. Deshalb müs-se man von großer Rhetorik Abstand nehmen. Manmüsse deshalb auch davon absehen, über die Wieder-vereinigung oder einen Zeitplan zum Abriß der Mau-er zu reden. Man dürfe nicht zulassen, daß der Präsi-

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dent der Vereinigten Staaten in eine Lage komme, inder er der euphorischen Stimmung nachgeben müs-se.“ Im gleichen Telefongespräch lehnt Bush es ab,den Bundeskanzler in Spanien vor dem Treffen mitGorbatschow für ein oder zwei Stunden zu treffen.

21. November 1989: Helga Zepp-LaRouche schickteinen persönlichen Brief an Bundeskanzler HelmutKohl. Darin heißt es u.a.: „Daher erscheint es um sodringender, daß Kontinentaleuropa unter der Füh-rung der Bundesrepublik und Frankreichs eine klareTagesordnung bestimmt, bei der die Hauptorientie-rung die europäische Unterstützung für Polen seinmuß. So richtig es ist, wirtschaftliche Hilfe für dieDDR mit eindeutigen politischen Zugeständnissen zuverknüpfen, darf dies angesichts des Gesamtzusam-menhangs der verzweifelten Situation des kommuni-stischen Lagers doch nicht dazu führen, daß Konti-nentaleuropa Momentum verliert. Die Situation inPolen erfordert eine sofortige Stabilisierung, aber auchfür die Menschen in der DDR ist die Dimension derHoffnung auf ökonomische Entwicklung notwendig.

Es schadet nichts, wenn die ,fünf Weisen’ bis zumnächsten Frühjahr einen Plan ausarbeiten wollen, wiedie Wirtschaft der DDR am besten entwickelt werdenkann. Aber bis zu diesem Zeitpunkt könnten dieErgebnisse uns längst überrollt haben. Die beste Art,kurzfristig Hoffnung und Momentum zu erzeugen,wäre in der Tat die Ankündigung des Ausbaus einesSchnellbahnsystems von Paris über Berlin nach War-schau als unerläßliche Voraussetzung für den Aufbaueines produktiven Mittelstands zunächst in Polenund dann in der DDR, ebenso wie eventuell inUngarn und der CSSR.

Eine klare wirtschaftliche Perspektive für die

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reformwilligen Länder in Osteuropa sollte ohne Ver-zug angekündigt und mit ihrer Realisierung begon-nen werden.“

21. November 1989: Nikolaj Portugalow, Mitarbeiterder Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU, trifftMinisterialdirektor Teltschik. „Im Auftrag Falins sollPortugalow auskundschaften, wie die Bonner Regie-rungszentrale über die Wiedervereinigung denkt. Erahnt nicht, welche Lawine er damit im Bundeskanz-leramt ungewollt lostritt, die in den nächsten Wochender sowjetischen Führung erheblich zu schaffenmacht.“ In zwei mitgebrachten Papieren reflektierensich Befürchtungen der Sowjets, daß die Entwicklungaußer Kontrolle geraten könnte, und wie das „Besat-zungsstatut“, so nennt Portugalow die Viermächte-rechte, auch von London und Paris aus aufrecht erhal-ten werden kann. „Teltschik ist ,wie elektrisiert’, schlag-artig wird ihm klar: In der sowjetischen Führung sindÜberlegungen zur deutschen Einheit schon viel weitergediehen, als die Beamten im Bundeskanzleramt ver-muten.“ Teltschik schlägt eine möglichst baldige Be-gegnung zwischen dem Bundeskanzler und Generalse-kretär Gorbatschow vor. „Denn ,schier Unglaubliches’ist für Teltschik nun ,in Gang gekommen’.“

22. November 1989: Helga-Zepp-LaRouche veröf-fentlicht ein Flugblatt, das in hoher Auflage an dendeutsch-deutschen Grenzübergängen verteilt wird.Überschrift: „Geliebtes Deutschland, weiter so — mitZuversicht“. Darin wird die Idee dargelegt, wie diePerspektive der wirtschaftlichen Entwicklung Polensmit westlicher Hilfe die friedliche Revolution zumAngelpunkt für die Entwicklung des ganzen Ostensund der Entwicklungsländer machen kann.

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23. November 1989: Kohl trifft sich mit seinem fürÖffentlichkeitsarbeit zuständigen Mitarbeiterstab.Teltschik regt an, der Kanzler müsse während derDebatte über den Bundeshaushalt in der kommendenWoche einen realistischen Weg zur deutschen Wie-dervereinigung aufzeigen. Seiters und Duisberg be-zweifeln, ob es angesichts der Reaktionen im westli-chen Ausland und der möglichen Wirkungen auf dieBevölkerung der DDR taktisch klug ist, den Kanzlerjetzt mit einem Wiedervereinigungsplan an die Öf-fentlichkeit treten zu lassen. Schließlich wird ein Planausgearbeitet und Kohl vorgelegt.10

Entgegen sonstiger Gepflogenheiten werden wederder Koalitionspartner noch die Westmächte vorher inKenntnis gesetzt. Nur Bush wird der Text eine Stundevor Beginn der Rede nach Washington gekabelt.

27. November 1989: Schreiben des BundeskanzlersKohl an Staatspräsident Mitterrand. Kohl schlägt Mit-terrand einen Arbeitskalender für das weitere Vorge-hen bis 1993 vor, der deutlich macht, daß Kohl dasEnde der D-Mark möglichst weit hinausschieben will.Der Europäische Rat solle „spätestens im Dezember1992“ feststellen, daß „die Gemeinschaft institutionel-le Vorkehrungen getroffen hat, um in den Folgejahrenentsprechend der tatsächlich erreichten wirtschafts-und währungspolitischen Konvergenz nächste Schrit-te auf dem Weg zur Wirtschafts- und Währungsunionund zur Europäischen Union einleiten zu können.“

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10. Ein faksimilierter Auszug des für die Sonderedition nicht zurVerfügung gestellten „Original-Entwurfs“ für das Zehn-Punkte-Programm zur deutschen Einheit, versehen mit handschriftli-chen Ergänzungen des Bundeskanzlers Kohl, findet sich in: Hel-mut Kohl, Ich wollte Deutschland Einheit, Seite 162.

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Eine 50-köpfige Delegation aus den USA, die soge-nannte „Benjamin-Franklin-Brigade“ des Schiller-Instituts, besucht die „alte und künftige HauptstadtBerlin und demonstriert vor dem Brandenburger Torund am Checkpoint Charlie für die deutsche Einheitin Freiheit. Der Besuch der amerikanischen Delegati-on erfolgt auf Einladung Helga Zepp-LaRouches, dierichtig einschätzt, welche Bedeutung die Zustimmungder amerikanischen Öffentlichkeit zur Wiedervereini-gung noch haben wird.

28. November 1989: Mit dem Zehn-Punkte-Pro-gramm11 legt Kohl ein Konzept zur langfristigen Eini-gung Deutschlands vor, das nach allen Seiten abgefe-dert ist: Einbettung in den europäischen Integrations-prozeß, Unterstützung der DDR bei ihren wirtschaftli-chen Schwierigkeiten, Öffnung der EuropäischenGemeinschaft gegenüber Osteuropa und Rückversi-cherung gegenüber dem Westen, es werde keineAlleingänge in der deutschen Frage geben.

Die Regierung Bush bewertet den Zehn-Punkte-Plan in erster Linie als „Anstachelung zur Wiederver-einigung“. Übereinstimmung herrscht in dem Urteil:Der Kanzler hat mit dem Plan die Handlungsinitiati-ve ergriffen. Sie muß von amerikanischer Seite ge-bremst werden, um Gorbatschow nicht zu unbedach-ten Reaktionen zu provozieren.12 „Thatcher und Mit-terrand sind äußerst verstimmt über das einseitigeVorpreschen Kohls. Einen solchen Alleingang vondeutscher Seite sind die Westmächte schon lange Zeitnicht mehr gewohnt.“

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11. Auszüge aus Kohls Rede siehe Seite 20.

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29. November 1989: Ein weiteres Flugblatt von Hel-ga Zepp-LaRouche erscheint mit dem Titel: „Was 80Millionen Deutsche Gutes in der Welt bewirken kön-nen: Für ein christliches Europa der Vaterländer!“Darin wird die Verknüpfung der europäischen Indu-striezentren im Westen und im Osten vorgeschlagen.Dieses Gebiet etwa von der Größe Japans könne zurLokomotive für die Weltwirtschaft werden. Die NeueSolidarität veröffentlicht Helga Zepp-LaRouches Vor-schlag vom Oktober 1989, das Europäische Wäh-rungssystem zum Zwecke der wirtschaftlichen Ent-wicklung des Ostens und des Südens auszubauen.

Die Kapitulation: Maastricht statt „Produktives Dreieck“

30. November 1989: Alfred Herrhausen wird ermor-det.

2. Dezember 1989: Helga Zepp-LaRouche gibt eineErklärung ab, in der sie angesichts der ErmordungHerrhausens Bundeskanzler Kohl ihre volle Unterstüt-zung in diesem Moment ausspricht und auf die geo-politischen Gründe für den Mord hinweist.

2./3. Dezember 1989: Beim Gipfeltreffen zwischenBush und Gorbatschow auf dem Kreuzer „MaximGorki“ vor Malta signalisiert der amerikanische Präsi-dent Gorbatschow, er werde keine Schritte zur Be-schleunigung der deutschen Frage unternehmen.

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12. Zelikow/Rice, Germany Unified and Europe Transformed, Seite 118-121.

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Memorandum von Kanzlerberater Joachim Bitter-lich für Kohl über die Antwort Mitterrands. Er vertrittdie Auffassung, Mitterrand halte Kohls Forderungnach mehr Rechten für das Europäische Parlament für„ein Ablenkungsmanöver von der Währungsunion”,und seine Bedenken zur Stabilität handele der franzö-sische Präsident „auffällig“ mit „Allgemeinplätzen“ab.

Mitterrands Antwort macht deutlich, daß er seineZustimmung zur „Konföderation“, noch nicht einmalder Wiedervereinigung, an die Entscheidung für dieWährungsunion knüpft, und zwar schon beim Straß-burger Gipfel des Europäischen Rates am 8.-9. Dezem-ber.

3. Dezember 1989: Treffen Kohl-Bush in Laeken beiBrüssel. Bush legt Kohl auf drei Zugeständnisse fest,darunter, daß es keine Alternative zur Entwicklungder europäischen Integration und der EinbindungDeutschlands in der NATO gibt.

4. Dezember 1989: Lyndon LaRouche veröffentlichtden Artikel „Der Mittelstand als Lokomotive für Ost-europa“, in dem er die Bedeutung solcher hochpro-duktiven kleinen und mittelgroßen Betriebe für diekünftige Wirtschaftsentwicklung in der DDR, Polen,der Tschechoslowakei und Ungarn unterstreicht.

6. Dezember 1989: In einem Brief an BundeskanzlerHelmut Kohl schreibt Helga Zepp-LaRouche u.a.: „DerStraßburger Gipfel muß eine klare Alternative zu demKonzept des Supermächte-Kondominats setzen. Diesist am besten dadurch möglich, daß sich die VertreterKontinentaleuropas klar zu der Verpflichtung ent-schließen, das Europa der nationalen souveränen

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Vaterländer zu einer Bastion des wirtschaftlichen undtechnologischen Fortschritts auszubauen.

Gerade wenn die beiden Supermächte an moneta-ristischen bzw. kollektivistischen Wirtschafts-konzepten festhalten wollen, ist es von höchsterBedeutung, daß Westeuropa den „Dritten Weg“ in derWirtschaftspolitik zeigt, der bisher immer zu erfolg-reichen industriellen Revolutionen geführt hat, näm-lich eine Wirtschaftspolitik in der Tradition von Jean-Baptiste Colbert und Friedrich List. Ein Kernstück die-ser Politik muß die Rettung Polens sein, und dieseAbsicht könnte auf keine bessere Weise bekundetwerden als durch die Ankündigung des sofortigenBaus einer zweigleisigen Schnellbahnverbindung vonParis über Berlin nach Warschau als einer unerläßli-chen Voraussetzung für den Aufbau eines produkti-ven Mittelstands in Polen.

In Straßburg sollte die Absicht deutlich ausgespro-chen werden, Kontinentaleuropa zu einer Super-macht des wirtschaftlichen Fortschritts und des Frie-dens zu entwickeln, an der alle reformwilligen Staatendes Ostblocks eingeladen sind teilzunehmen. Ange-sichts des bevorstehenden harten Winters im Ost-block ist es dringend notwendig, eine Perspektive desKulturoptimismus zu weisen, die auch für das sowjet-ische Militär eine Alternative zu militärischen Lösun-gen darstellt.“

8.-9. Dezember 1989: Gipfel des Europäischen Ratesin Straßburg. „Niemals zuvor hat der Kanzler ,einenEG-Gipfel in so eisiger Atmosphäre miterlebt’. Er mußeine ,fast tribunalartige Befragung’ zu seinen Absich-ten des Zehn-Punkte-Plans über sich ergehen lassen.“Aber er stimmt der Währungsunion zum von Mitter-rand gewünschten Datum zu. Kohl ist sich dabei

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bewußt: „Ein künftiger Verzicht auf die D-Mark stelltfür deutsche Interessen ein Opfer dar.“ Die Selbstein-dämmung ist gelungen.

12. Dezember 1989: Baker weist Kohl in einemGespräch nachdrücklich darauf hin, die Bundesregie-rung solle die Entwicklung bitte nicht weiter forcie-ren.

Daß sich die Botschafter der Vier Mächte erstmalsnach 20 Jahren wieder im Alliierten Kontrollratsge-bäude in Berlin zusammensetzen, empfindet die Bun-desregierung als einen Akt diplomatischer Degradie-rung. In Bonn herrscht große Skepsis, ob es „nichtdoch zu einem Viermächtekomplott kommt“.13

14. Dezember 1989: Beim Besuch in Budapest erklärtKohl gegenüber Németh über die Lage in der DDR:„Es liegt der Geruch von Rache in der Luft; und zwarvon der Spitze bis hinunter auf die lokale Ebene.Autoritätsverlust und totale Diskreditierung der Parteiund des Staatssicherheitsapparats einschließlich dergesamten Verwaltung seien die Hauptprobleme.“

19. Dezember 1989: Erster offizieller Besuch Kohls inder DDR in Dresden. „Als der Kanzler die jubelndenMenschenmassen bei seinem Empfang auf dem Flug-hafen in Dresden erlebt, ist ihm wohl schlagartigbewußt, welche Verantwortung er für die Menschenin der DDR trägt. Dresden ist für ihn das Schlüsseler-lebnis auf dem Weg zur Einheit.“

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13. Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Seite 667.

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Jahreswechsel 1989/1990: Die Bundesregierungstellt verschiedene Überlegungen an, wie es weiterge-hen soll. Eine neue auslandspolitische Strategie wirdgebraucht. „Mit ihrer defensiven Wiedervereinigungs-strategie kommt sie nicht viel weiter.“ Kohl beschließtdie Entwicklung voranzubringen, aber so, daß der„Druck von den Leuten auf der Straße in der DDR“ausgeht.

In seiner Neujahrsansprache sagt er: „Hat das Jahr1989 die Deutschen ein gutes Stück näher gebracht“an die Wiedervereinigung, dann könnte das neueJahrzehnt die Vollendung bringen und mindestensfür die Deutschen „das glücklichste dieses Jahrhun-derts“ werden. Doch Kohl steckt in einem Dilemma.Er will weder die kommunistische Regierung in derDDR stabilisieren noch einen politischen Kollaps ver-ursachen. Seine Hoffnung richtet sich auf freie Volks-kammerwahlen und einen möglichst reibungslosenMachtwechsel, der Gelegenheit bietet, von der Konfö-deration zur Föderation überzugehen. Doch wie solldie Form der deutschen Wiedervereinigung aussehen?Und wie ist die Zustimmung der Sowjetunion zu errei-chen?

Hätte Kohl gerade in diesem Zeitraum, der sichvom Fall der Mauer bis zum 3. Oktober 1990 und dar-über hinaus erstreckt, den LaRouche-Plan für den Auf-bau Polens und das Programm des „Produktiven Drei-ecks“ aufgegriffen und diese Perspektive in Fernseh-ansprachen an die Bevölkerung beider Teile Deutsch-lands aufgezeigt, dann hätte er das Gesetz des Han-delns behalten. Die Begeisterung und die Unterstüt-zung der Völker des Ostens wären ihm sicher gewe-sen. Mit dem Programm des „Produktiven Dreiecks“von 1989 und der „Eurasischen Landbrücke“, dasLaRouche 1991 nach dem Kollaps der Sowjetunion

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vorschlug, hätte man das Ost-West-Verhältnis aufeine Basis der Vernunft stellen und von allen geopoli-tischen Überbleibseln aus dem 19. und 20. Jahrhun-dert befreien können.

Aber letztlich erfordert die Durchsetzung dieserVision für das 21. Jahrhundert Staatsmänner und -frauen, die sich geistig von den Axiomen der altenOrdnung von Versailles und Jalta befreien und einegerechte neue Weltwirtschaftsordnung auf der Basiseiner Prinzipiengemeinschaft souveräner Nationendurchsetzen wollen!

15. Januar 1990: Die staatlichen Organe der DDRhaben völlig ihre Glaubwürdigkeit verloren, nachdemdie Bevölkerung die Zentrale der Staatssicherheit inder Ost-Berliner Normannenstraße ungehindert ge-stürmt hat.

Mitte Januar 1990: Das Programm des „ProduktivenDreiecks, Paris-Berlin-Wien: Lokomotive für die Welt-wirtschaft“ wird veröffentlicht. Von einer Arbeits-gruppe des Schiller-Instituts ausgearbeitet, berück-sichtigt es detaillierte Anregungen Lyndon LaRouches.Es wird an alle Staatschefs Europas verschickt und inden folgenden Wochen in einer Auflage von mehre-ren hunderttausend verteilt. Eine internationale Kam-pagne zur Durchsetzung des Programms beginnt undwird in den folgenden Monaten und Jahren auch inalle Länder Osteuropas hineingetragen.

Ende Januar 1990: Thatcher eskaliert die „Viertes-Reich-Kampagne“ und befindet sich offenbar in einerArt Torschlußpanik, was die deutsche Frage angeht.

Die Macht in der DDR liegt in diesen Wochen aufder Straße. Ohne die Hilfe der Bundesrepublik droht

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der DDR Chaos. Das Programm des „ProduktivenDreiecks“ ist jetzt das Gebot der Stunde, dem auchPolen sofort zugestimmt hätte.

7. Februar 1990: Helga Zepp-LaRouche schickt dieBroschüre des Schiller-Instituts: Das „produktive Drei-eck“ Paris-Berlin-Wien — Lokomotive der Weltwirtschaftan Bundeskanzler Kohl. In ihrem Begleitschreibenbetont sie: „Ich halte es für sehr dringend, daß West-europa in der jetzigen turbulenten strategischen Lageeine solche klare programmatische Perspektive auf-zeigt, womit der Frieden gesichert werden kann.“

8. Februar 1990: „Wenn die Union es zulasse,“ erklärtKohl am Abend vor dem Bundesvorstand der CDU,„daß unser Land in dieser Schicksalsstunde aus finan-ziellen Ängsten vor der Einheit zurückweiche, danndankt die Bundesrepublik vor der Geschichte ab.“

Die Diskussion vom „direkten Übergang von derPlanwirtschaft zur Marktwirtschaft“ beruhte auffalschen ökonomischen Theorien. Statt dessen hättedie produktive Kreditschöpfung im Rahmen des „Pro-duktiven Dreiecks“ ein wirkliches Wachstum der rea-len Wirtschaft in Gang gesetzt.

14. Februar 1990: Helga Zepp-LaRouche veröffent-licht Gedanken zu einem Kulturprogramm fürDeutschland, in der sie die Notwendigkeit betont, diewirtschaftliche Entwicklung des Ostens mit der Per-spektive einer kulturellen Renaissance zu verknüpfen,die an der Weimarer Klassik, der „Schillerzeit“,anknüpft.

19. Februar 1990: Vertreter der amerikanischen Bür-gerrechtsbewegung von Dr. Martin Luther King unter-

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stützen die friedliche Revolution der DDR. AmeliaBoynton-Robinson und andere sprechen bei denMontagsdemonstrationen in Leipzig.

7. März 1990: In einen Brief an Bundeskanzler Hel-mut Kohl schreibt Helga Zepp-LaRouche u.a.: „Eswäre deshalb sehr wichtig, wenn Sie bei Ihren näch-sten Reden die Ideale und Bezugspunkte aufgreifen,die am ehesten für die Menschen in der DDR zu ver-stehen sind, und die auch zugleich die Höhepunkteder deutschen Kultur darstellen, d.h. die WeimarerKlassik. Darauf können die Menschen stolz sein, unddamit können sie sich identifizieren. Und genaueinen solchen Stolz brauchen sie jetzt.

Ich habe gehört, wie Sie, Herr Bundeskanzler, gele-gentlich auf Freiherr vom Stein Bezug genommenhaben. Ein verbreitetes Studium dieser Gedankenerscheint mir gerade angesichts der neu aufgeflamm-ten Debatte um die Relevanz des Wiener Kongressesals Konzept gegen die deutsche Einheit sehr wichtig.

Ich glaube zutiefst, daß die Menschen in Krisen-zeiten etwas brauchen, an dem sie sich aufrichtenkönnen, und ich denke auch, daß Sie in der einzigar-tigen Position sind, den Menschen Hoffnung zu ver-mitteln.“

21. August 1990: Helga Zepp-LaRouche schickt demBundeskanzler die inzwischen erschienene ausführli-chere EIRNA-Studie über das „Produktive DreieckParis-Berlin-Wien“. In ihrem Begleitschreiben heißt esu.a.: „Die beigefügte Studie empfehle ich Ihrer Auf-merksamkeit. Sie enthält einen Vorschlag einesumfassenden europäischen Infrastrukturprogrammsals Voraussetzung für den wirtschaftlichen AufbauOsteuropas. Dieses Konzept wurde auf Vorschlag mei-

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nes Ehemanns Lyndon LaRouche ausgearbeitet undgeht von der Idee aus, daß nur ein solches wirtschaft-liches Entwicklungsprogramm, das auch die von einerschweren wirtschaftlichen Krise erschütterte Sowjet-union mit einbezieht, eine wirksame Politik zur Erhal-tung des Friedens sein kann...

Die rasche Verwirklichung dieses Programms istaus strategischen Gründen um so dringender, als esleider kaum zu widerlegende Hinweise dafür gibt, daßes sich bei der Golfkrise um ein von anglo-amerikani-schen Interessen manipuliertes Szenario handelt, dasvom selben Geist inspiriert ist wie die Ausfälle desehemaligen Ministers Ridley. Es spricht einiges dafür,den Beginn der Aktivierung der gegenwärtigen Krisein verschiedenen Ereignissen im Februar dieses Jahresund damit als eine Reaktion auf die beginnendedeutsch-sowjetische Verständigung zu sehen.“

Die erwähnte Studie wird auch an alle Kabinetts-mitglieder gesandt. Mehrere Minister lassen antwor-ten:

29. August 1990: Der Bundesminister der Finanzen„Sehr geehrte Frau Zepp-LaRouche,für die Zusendung der Studie über den Ausbau

eines umfassenden europäischen Infrastrukturpro-gramms danke ich Ihnen im Auftrag des Bundesmini-sters der Finanzen. Ich habe mir erlaubt, die Studie andie zuständige Abteilung des Bundesfinanzministeri-ums weiterzuleiten.

Mit freundlichen Grüßen, Wolfgang Solzbacher.“

3. September 1990: Der Bundesminister für Post undTelekommunikation

„Sehr geehrte Frau Helga Zepp-LaRouche,im Namen von Herrn Bundesminister Dr. Schwarz-

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Schilling danke ich Ihnen für Ihr Schreiben und diebeigelegte EIRNA-Studie ,Das produktive DreieckParis-Berlin-Wien’. Der Minister hat mich gebetenIhnen zu antworten. Ihre Studie wird im Bundesmi-nisterium für Post und Telekommunikation geprüftund in die weiteren Überlegungen einbezogen wer-den.

Mit freundlichen Grüßen, Klaus Reischmann.“

13. Februar 1990: Der Bundesminister für Arbeit undSozialordnung

„Sehr geehrte Frau Zepp-LaRouche,für die Broschüre „Das ,produktive Dreieck’ Paris-

Berlin-Wien. Lokomotive der Weltwirtschaft“, die Siemir am 7. Februar 1990 übersandt haben, danke ichIhnen. Ich habe sie an den zuständigen Bundesmini-ster für Wirtschaft weitergeleitet.

Mit freundlichen Grüßen, i.A. (Dr. Fendrich).“

5. November 1991: In einem Brief an den Bunde-spräsidenten Dr. Richard von Weizsäcker schreibt Hel-ga Zepp-LaRouche u.a.:

„Sehr geehrter Herr Präsident,In der Anlage zu diesem Schreiben möchte ich

Ihnen die Einladung zu der Berliner Konferenz desSchiller-Instituts zuschicken...

Gut ein Jahr nach der Erringung der formalen Sou-veränität hat Deutschland sich die politische Initiati-ve aus der Hand nehmen lassen. Unter massivemDruck durch die USA und Großbritannien hat diedeutsche Regierung in entscheidenden Fragen kapitu-liert und verfolgt derzeit eine Politik, die den deut-schen Interessen entgegengesetzt ist...

Versteht man in Bonn denn wirklich nicht, daß eszur sicheren Katastrophe führen wird, wenn das

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bankrotte anglo-amerikanische Modell des IWF aufdie Republiken der früheren Sowjetunion ausgedehntwird? Wenn wir verhindern wollen, daß bald ganzEuropa in einen Krieg hineingezogen wird, dann müs-sen IWF und GATT weg und durch eine vernünftigeWirtschaftspolitik ersetzt werden...

Deutschland muß statt dessen selber den Kurs derWeltwirtschaft in eine andere Richtung lenken undden Schluß aus der Erkenntnis ziehen, daß derFinanzkrach um so schlimmer werden wird, je längerer verschoben wird. Vor allem muß jene Habgier ausder Wirtschaftspolitik verschwinden, die Managerund Bankiers aus dem Westen in den neuen Bundes-ländern so oft praktizieren und damit so viel Bitter-keit verursacht haben. Es muß Schluß sein mit dem,was der Papst gerade in Brasilien als den ,wilden Kapi-talismus’ denunziert hat, ,dessen beherrschendesMerkmal das zügellose Gewinnstreben ist, bei damiteinhergehender Mißachtung des ursprünglichen Wer-tes der Arbeit und der Würde des Arbeiters’...

Das Programm für ein integriertes gesamteurasi-sches Infrastrukturprogramm liegt seit zwei Jahrenauf dem Tisch. Es ist der Vorschlag meines EhemannsLyndon LaRouches, das sogenannte ,produktive Drei-eck Paris-Berlin-Wien’ durch ein Schnellbahnsystemzu integrieren und von ihm ausgehend ,Ent-wicklungskorridore’ nach Warschau, durch das Balti-kum nach St. Petersburg, nach Moskau, Kiew, bisnach Sibirien, in den Transkaukasus, den Balkan, aberauch nach Sizilien und über Spanien nach Gibraltarals Brückenkopf nach Afrika zu verwirklichen...

Die Finanzierung für ein so großangelegtes Projektkann natürlich nicht ausschließlich aus dem privatenSektor kommen. Wir brauchen deshalb eine Rückkehrzu einem Nationalbanksystem, wie es am ausführ-

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lichsten vom ersten Finanzminister der USA, Alexan-der Hamilton, beschrieben und angewandt und seit-dem immer dann imitiert wurde, wenn eine erfolgrei-che industrielle Revolution in Gang gesetzt werdensollte. Friedrich List und der deutsche Zollvereinbefanden sich in dieser Tradition, ebenso wie dieRegierung Lincolns, die Meiji-Restauration in Japanund das MITI heute...

Wenn das Programm des ,produktiven Dreiecks’verwirklicht wird, dann kann Europa zur Lokomotiveder Weltwirtschaft werden und die dringende Ent-wicklung der südlichen Hemisphäre in Gang setzen.Wir brauchen ähnliche Infrastrukturprogramme inAfrika, Asien und Iberoamerika als Voraussetzung fürdie Entwicklung von Industrie und Landwirtschaftdort...

Wenn die politische Initiative für eine gerechteWeltwirtschaftsordnung von Deutschland ausginge,dann wäre das alles andere als ein ,deutscher Allein-gang’. Wenn Deutschland ein Signal setzte, würdenauf der Stelle — bis auf vielleicht ganz wenige Aus-nahmen — alle Staaten des Ostens und des Südens,aber auch Kontinentaleuropas folgen. Auf der Seiteder Deutschen wäre dann die absolute Mehrheit derMenschheit.“

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Auf einer Pressekonferenz in Bonn am 24. April1975 erläuterte Lyndon LaRouche seinen Plan für

eine Internationale Entwicklungsbank (IEB). Eine aus-führlichere Darstellung erfolgte wenig später in einerBroschüre mit dem Titel „IDB, How the InternationalDevelopment Bank Will Work“, die auch in deutscherÜbersetzung erschien.

An der Pressekonferenz nahmen 20 Journalistenteil, darunter Vertreter der New York Times, Corrieredella Sera, des amerikanischen Fernsehsenders CBSsowie der Agenturen Reuters, UPI, AFP und andere.Nicht zuletzt wegen einer massiven Verleumdungs-kampagne gegen LaRouche durch das amerikanischeAußenministerium wurde jedoch nirgends über diesePressekonferenz berichtet. Trotzdem fand der IEB-Vor-schlag dank der Anstrengungen LaRouches und seinerMitarbeiter internationale Verbreitung. LaRouche sag-te damals in Bonn u.a.:

„Wir schlagen die sofortige Einrichtung einerInternationalen Entwicklungsbank als dreiseitigesAbkommen zwischen den drei wichtigsten Sektorenvor, dem industrialisierten kapitalistischen Sektor,dem sogenannten Entwicklungssektor und den sozia-listischen Ländern. Die Bank würde Kredite und

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1975: LaRouche schlägtInternationale

Entwicklungsbank vor

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Wechsel einlösen, die aufgrund von Abkommen zwi-schen Staaten und Staatengruppen ausgegeben wor-den sind. Sie funktionierte damit als Rediskont-Bankfür solche Kredite und Wechsel, welche an Firmenausgegeben wurden, die Güter für im Rahmen der IEBvereinbarte Projekte geliefert haben.

Beispielsweise haben einige Schlüsselländer imEntwicklungssektor von den Industrieländern Ab-kommen über drei Bereiche verlangt: Energie, Roh-stoffe und Nahrungsmittel. Wir kritisieren an dieserForderung, daß sie sich lediglich auf drei statt vierBereiche beschränkt. Der vierte Bereich sollte ,Ent-wicklung’ umfassen. Unsere Bemerkungen hierzusind keineswegs willkürlich: Unter der Voraussetzung,daß bedeutende Kreise im industrialisierten Sektorannehmbare Initiativen vorschlagen, wären die aus-schlaggebenden Leute in der sogenannten ,DrittenWelt’ sofort bereit, mit den Industrieländern inArbeitsgespräche über ein allgemeines Abkommen,das diese vier Punkte umfaßt, einzutreten.

Auf der Grundlage von Studien unserer eigenenOrganisation und Diskussionen mit Regierungen undeinflußreichen politischen Kräften in der ,DrittenWelt’ über diese Studien sind wir zu der Überzeugunggelangt, daß die Bemühungen einer InternationalenEntwicklungsbank vor dem Hintergrund des gegen-wärtig gewünschten und möglichen Konsumniveausim Entwicklungssektor hinreichten, um im ent-wickelten Sektor eine höhere industrielle Wachstums-rate zu bewirken, als wir sie in den vergangenen 25Jahren hatten.

Die Umsetzung des hier vorgeschlagenen Pro-gramms erfordert allerdings, daß man bestimmte, oftvernachlässigte Grundelemente der politischen Öko-nomie versteht. Ohne das Verständnis dieser Prinzipi-

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en könnten wir uns nicht aus einer Lage befreien, dieunweigerlich in das schlimmste Desaster der mensch-lichen Geschichte münden würde.

Die Grundtatsache, von der alle politische Ökono-mie abhängt, ist zugleich der Wesenszug der Wirt-schaft: Wenn man die Produktionsmittel richtig ein-setzt und den persönlichen Verbrauch richtig gestal-tet, dann übersteigt die Gesamtproduktion die Pri-märkosten. Die zweite, für diese Lösung wichtigeGrundtatsache ist die, daß jede allgemeine Entwick-lung, einschließlich industrieller Entwicklung, davonabhängt, ob eine mehr als ausreichende Menge vonNahrungsmitteln angemessener Qualität zu gesamt-gesellschaftlich gesehen niedrigen Preisen hergestelltwerden kann. In dem Maße, wie diese beiden Prinzi-pien beachtet werden und die zu diesem Zweck erfor-derliche Technologie entwickelt wird, ist es möglich,in großem Umfang langfristigen Kredit zu schöpfen,ohne inflationäre Auswirkungen befürchten zu müs-sen.

Wir betonen, daß wir uns in dieser Zeit gleichzei-tig auf die industrielle Entwicklung und eine steigen-de Nahrungsmittelproduktion konzentrieren müssen.In dem Maße, wie langfristige Entwicklungskredite anden Entwicklungssektor dem raschen Anstieg derWeltnahrungsmittelproduktion Vorrang geben,wobei die Menge wie auch die gesellschaftliche Pro-duktivität ansteigen müssen, kann Kredit mit einerLaufzeit von 10-15 Jahren in jeder Höhe ausgegebenwerden. Denn er wäre durch die gesteigerte Nah-rungsmittelproduktion, die steigende Zahl produkti-ver Arbeitskräfte und die wachsende Produktivität dermenschlichen Arbeit im allgemeinen gedeckt.

Die neue Bank wird sich unmittelbar mit folgen-dem Problem konfrontiert sehen. Zusätzlich zu dem

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unmittelbaren Potential einer wesentlichen Steige-rung der landwirtschaftlichen Produktion und derProduktion im allgemeinen, gibt es drei Regionen imEntwicklungssektor, die ungeheure Möglichkeiten zurErhöhung der Nahrungsmittelproduktion bieten.Eine davon, die Region am Rio de la Plata in Südame-rika, eignet sich besonders gut, um schon kurzfristigzur agro-industriellen Wachstumsregion zu werden.Die beiden anderen, die Sahelzone und die RegionIndien-Bangladesch-Pakistan, stellen potentiell eineder wichtigsten Regionen zur Nahrungsmittelpro-duktion der ganzen Welt dar, es wird aber 10 bis 15Jahre massiver Entwicklungsanstrengungen bedürfen,um das enorme Überschußpotential zu realisieren.Unser Problem ist es deshalb, Entwicklungsgelder et-wa in Höhe einer Viertelbillion Transfer-Rubel proJahr aufzubringen, und zwar hauptsächlich in Formniedrigverzinster Kredite und Schenkungen, wobeidie Laufzeit der Kredite 10 bis 15 Jahre betragen soll-te.

Zunächst auftauchende scheinbare Schwierig-keiten, solche Programme durchzuführen, bestehenin Wirklichkeit nicht. In dem Maße, wie die indu-strialisierten Sektoren hohe Überschüsse über dieerforderlichen Reinvestitionen im eigenen Sektor hin-aus erzielen können, kann dieser Überschußanteilohne negative wirtschaftliche Auswirkungen als Kre-dit oder Schenkung abgegeben werden. Das einzigwirkliche Problem liegt in der Erhöhung des wirt-schaftlichen Outputs auf das erforderliche Maß...“

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Im April 1975 löste Lyndon LaRouche mit seinemVorschlag für eine Internationale Entwicklungs-

bank (IEB) eine weltweite Diskussion über die not-wendige Reorganisierung des bankrotten IWF-Systems und die sofortige Errichtung einer neuen,gerechten Weltwirtschaftsordnung aus. Gut 15 Mona-te später kam es auf der 5. Konferenz der Nichtpakt-gebundenen Staaten in Colombo, der Hauptstadt SriLankas, zu einem ersten großen Durchbruch: 85 Staa-ten, die rund zwei Milliarden Menschen repräsentier-ten, forderten in der Abschlußresolution am 19.August offiziell eine „Neue Weltwirtschaftsordnung“und als deren „wesentliches Element“ ein „neues uni-verselles Finanz- und Währungssystem“.

Um auch ein wirksames Druckmittel zur Realisie-rung dieser sehr weitgehenden Forderungen in derHand zu haben, hatten sich die in Colombo versam-melten Staatschefs weiterhin darauf geeinigt (ohnedas in der Schlußresolution ausdrücklich zu erwäh-nen), kurzfristig ein Moratorium auf die Auslands-schulden des Entwicklungssektors zu erklären, fallsdie Industriestaaten bei den laufenden „Nord-Süd-Verhandlungen“ in Paris nicht auf das historischeAngebot von Colombo eingehen sollten.

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HARTMUT CRAMER

„Sieg in Colombo!“

1976 stand die Welt vor einem politischenNeubeginn, einer neuen gerechten

Weltwirtschaftsordnung.

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Vorausgegangen war diesem bahnbrechendenEreignis eine bis dahin beispiellose Mobilisierung dervon LaRouche gegründeten politischen Bewegung aufallen Kontinenten. Einerseits wurde über den IEB-Vorschlag mit praktisch allen wichtigen Repräsentan-ten des Entwicklungssektors intensiv diskutiert: Da-mals durchlief die LaRouche-Bewegung ein geradezuexplosionsartiges Wachstum auf dem gesamten la-teinamerikanischen Kontinent, eröffnete Büros inAsien und intensivierte die politischen Kontakte amHauptsitz der Vereinten Nationen in New York sowiebei der „Nord-Süd-Konferenz“ in Paris. Aber auch inden entwickelten Industriestaaten selbst wurde dieseDiskussion „in alle Poren der Gesellschaft“ getragen:in den USA und Westeuropa, wo LaRouche sich mitseiner Organisation bereits den Status einer „politi-schen Institution“ erkämpft hatte.

Selbst die hartgesottensten Pressevertreter in denIndustriestaaten, die bis dahin alles daran gesetzt hat-ten, LaRouches programmatische Vorschläge zuunterdrücken (und diese Praxis auch weiterhin nachKräften beibehielten), mußten hinter vorgehaltenerHand zugeben, daß sich LaRouche im August 1976mit seinen „illusionären“ Vorschlägen auf der ganzenLinie durchgesetzt hatte.

Im einzelnen forderten die führenden Vertreter desEntwicklungssektors, allen voran die damalige indi-sche Ministerpräsidentin Indira Gandhi:

1. die unmittelbare Suspension der Zahlung von Aus-landsschulden „der ärmsten Länder sowie jenerLänder, die imperialistischem Druck unterworfenwaren“,

2. ein „neues universelles Währungssystem“, das diebankrotte Weltbank und den IWF ablösen sollte,

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3. die Schaffung neuer Liquidität, die automatisch andie Bedürfnisse für weltweite Entwicklung gekop-pelt sein soll,

4. das Einbeziehen der Staatengemeinschaft derganzen Welt in dieses „universelle System“ durchDreieckhandelsverträge zwischen dem Entwick-lungssektor, den damaligen sozialistischen Ländernund den entwickelten Industriestaaten der OECD(Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung).

Die Schlußresolution des Gipfeltreffens enthieltauch die (vom damaligen vietnamesischen Minister-präsidenten Pham Van Dong eingebrachte) Idee,sämtliche Pläne zur Schaffung eines „Wirtschafts-blocks der Dritten Welt“ zusammenzufassen und aufdieser Basis einen gemeinsamen Standpunkt für „Ver-handlungen mit den kapitalistischen Industriestaatenund den Comecon-Staaten“ auszuarbeiten. Dies ent-sprach tatsächlich dem ersten Schritt zur Schaffungeiner internationalen Entwicklungsbank, wie sie Lyn-don LaRouche im Vorjahr vorgeschlagen hatte. Wieweit die Überlegungen in diese Richtung damals aufinternationaler Ebene gingen, geht daraus hervor, daßder politische Ausschuß der NichtpaktgebundenenStaaten den damaligen italienischen Ministerpräsi-denten Andreotti offiziell als „Vermittler“ zwischendem Entwicklungssektor und Westeuropa vorschlugund Andreotti diesen Vorschlag auch akzeptierte!

Auch der damalige amerikanische Präsident Fordstand diesen Vorstellungen (zunächst zumindest)nicht ablehnend gegenüber — ganz im Gegensatz zuseinem Außenminister Henry Kissinger, der den Ent-wicklungsländern damals unverhüllt mit einem„Handels-“ und vor allem „Nahrungsmittelembargo“

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drohte. Unmittelbar nach dem Ende des Colombo-Gipfels verlautete aus dem Weißen Haus, die Regie-rung Ford betrachte die Erklärung von Schuldenmora-torien auf öffentliche und private Dollarschuldendurch die Dritte Welt „strikt als Angelegenheit des pri-vaten Sektors“. Inoffiziell hieß es, das Weiße Hauswerde gegen Länder, die eine Zahlung ihrer Schuldenverweigerten, keine Vergeltungsmaßnahmen ergrei-fen.

Wie stark damals die internationalen Privatbankenum ihre nackte Existenz fürchten mußten, wird ander (privat geäußerten) Einschätzung eines Mitarbei-ters des amerikanischen Präsidenten deutlich, derschlichtweg erklärte: „Die Regierung würde sich kei-nesfalls für die Banken ins Zeug werfen. Ich wäre sehrüberrascht, wenn ein Handelsembargo erfolgen wür-de. Die aus Regierungsmitteln finanzierten Getreide-lieferungen würden beispielsweise mit Sicherheit fort-gesetzt.“ Präsident Ford persönlich erklärte auf demrepublikanischen Wahlparteitag in Kansas City, derwährend des Colombo-Gipfels stattfand und auf demer von seiner Partei zum Präsidentschaftskandidatenfür die Wahl Anfang November gekürt wurde, seineRegierung werde unter keinen Umständen ein Han-delsembargo vorschlagen.

Die Gruppe der nichtpaktgebundenen Staatendrängte auf eine rasche Annahme ihres Programmsdurch einen oder mehrere OECD-Staaten. In Westeu-ropa konzentrierten sich ihre Bemühungen vor allemauf Italien, das schon aus Selbstinteresse — es wolltemöglichst schnell die drückende Last von damals 19Mrd. Dollar Auslandsschulden loswerden — den Vor-stellungen dieser Staatengruppe sehr nahe stand. Alsein erster Schritt zur Übernahme der Position vonColombo wurde gewertet, daß der italienische Außen-

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minister Forlani am 20. August 1976 die Gründungeiner (finanziell relativ gut ausgestatteten) „Organisa-tion für technische Zusammenarbeit mit den Ent-wicklungsländern“ bekanntgab. Auch die damaligejapanische Regierung Miki, welche die traditionellenExportinteressen des Landes vertrat, war sehr an derRealisierung der Beschlüsse von Colombo interessiert.

Damals wie heute kam den USA die Schlüsselrollebei der Errichtung eines neuen Weltwährungssystemszu. Um die politischen Gewichte zugunsten der IEBzu verschieben und Washington zu bewegen, derSchlußresolution von Colombo offiziell zuzustim-men, richtete Lyndon LaRouche, nachdem er seine„äußerste Genugtuung“ über das Ergebnis des Colom-bo-Gipfels erklärt hatte, im Rahmen des Präsident-schaftswahlkampfes eine Botschaft an Präsident Ford,in der er dringend zu sofortigen Schritten riet, damites über die Aussicht auf ein Schuldenmoratorium desEntwicklungssektors nicht zu einer Panik käme. Fordsolle sich in einer Fernsehansprache an die Nationwenden und die Bedeutung des auf der Colombo-Konferenz verabschiedeten Programms erläutern. Beidiesem Anlaß solle er betonen, daß die US-Regierungdarauf vorbereitet sei, auf einer „rationalen Basis übernotwendige Maßnahmen mit dem Entwicklungssek-tor zu verhandeln, im Sinne des wahren nationalenInteresses der USA als führender Industriemacht derWelt“.

Intensive Aktivitäten kennzeichneten das Bild derkommenden Wochen. Die nichtpaktgebundenenStaaten unter der Führung Indiens, Algeriens und deskleinen Guyana wollten nach dem Durchbruch vonColombo durch die tatsächliche Erklärung einesMoratoriums auf die rund 200 Mrd. Dollar Auslands-schulden des Entwicklungssektors das alte, bankrotte

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IWF-System stürzen und politische Verhandlungenüber ein neues Weltwährungssystem erzwingen.Gleichzeitig setzten die internationale Finanzweltund US-Außenminister Henry Kissinger alles daran,die in Colombo gebildete „Front“ aufzuweichen unddie OECD-Staaten, die wie Italien, Japan, Frankreichund sogar die Schweiz Interesse an der Errichtungeiner neuen gerechten Weltwirtschaftsordnungbekundet hatten, zu isolieren und destabilisieren. Kis-singer spielte auf Zeit und suchte mit Forderungennach „Fall zu Fall-Entscheidungen“ sowie einer lang-wierigen „Serie von Verhandlungen“ ein gemeinsa-mes, entschlossenes Vorgehen des Entwicklungssek-tors bei den geplanten Abschlußgesprächen der„Nord-Süd-Konferenz“ Mitte September 1976 in Pariszu verhindern. Kissinger und seine Auftraggeber inder Londoner City taten auch alles, um Präsident Fordvon einer öffentlichen positiven Stellungnahme zurColombo-Resolution abzubringen — wobei in ihrenHinterköpfen bereits der von der mächtigen Trilatera-len Kommission als nächster US-Präsident auserwähl-te Jimmy Carter herumspukte.

Wie nahe die Welt damals an einem politischenNeubeginn stand, welcher der Menschheit mit derErrichtung einer neuen gerechten Weltwirtschaftsord-nung eine völlig neue Zukunftsperspektive eröffnethätte, zeigte sich bei der 31. Vollversammlung derVereinten Nationen, die Ende September 1976 in NewYork begann. Am Montag dem 27. September tat derdamalige Außenminister Guyanas, Dr. FrederickWills, das „Undenkbare“ und forderte dort öffentlichdie Ablösung des IWF-Systems durch die IEB, wobei erdie Argumentation Lyndon LaRouches einbezog.Wörtlich sagte Wills:

„Herr Präsident, die Sicherheit der Entwicklungs-

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länder ist unauflösbar mit ihrem wirtschaftlichenÜberleben und wirtschaftlichem Fortschritt ver-knüpft. Meine Delegation glaubt, daß es keinen sinn-vollen Fortschritt geben kann, ohne daß die neueWeltwirtschaftsordnung ... eingeführt wird ... DerIWF und das Währungssystem von Bretton Woodsmüssen alternativen Strukturen wie internationalenEntwicklungsbanken Platz machen ...

Das brennende Problem der Schulden und derSchuldendienste hat ein besonderes Gewicht bekom-men. Die Entwicklungsländer können es sich nichtleisten, von ihren grundlegenden Forderungen abzu-gehen, die sie in ... Colombo gestellt haben, als sieMaßnahmen zur Umschuldung und Moratoriengefordert haben. Wir müssen allen Versuchen entge-genwirken, dieses Problem mit der Spaltertaktik einesFall-zu-Fall-Ansatzes lösen zu wollen. Wir können esuns nicht leisten, eine Hypothek auf die Zukunftungeborener Generationen zu nehmen und sie an dieVerpflichtung bürdenhafter Kapitalrückzahlungenund zerstörerischer Schuldendienste zu verpfänden.Die Zeit für ein Schuldenmoratorium ist gekommen.“

Daß der Entwicklungssektor mit seiner Haltungnicht alleine stand und Verbündete in den Industrie-staaten hatte, geht aus der Rede des damaligen italie-nischen Außenministers Forlani hervor, der am 1.Oktober 1976 vor dem gleichen UN-Gremium den„Geist der Offenheit und Zusammenarbeit Italiensmit den Entwicklungsländern“ betonte. Forlanierklärte u.a.: „Italien ist überzeugt von der auch inColombo betonten Notwendigkeit, eine neue interna-tionale Wirtschaftsordnung zu erreichen, die jedemLand den Weg zur Entwicklung eröffnen wird ... Die-ses Ziel kann nur in einem Wirtschaftssystem erreichtwerden, das die grundlegenden Probleme Rohstoffe,

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Handel, Verschuldung der Entwicklungsländer undTechnologietransfer gelöst hat ... Italien beabsichtigt,innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, aber auchunabhängig jede mögliche Anstrengung zu unterneh-men, um in dieser Richtung Fortschritte zu erzielen.“

Bei den Abschlußgesprächen der „Nord-Süd-Kon-ferenz“ in Paris Mitte September war der endgültigeDurchbruch greifbar nahe. Der Entwicklungssektortrat, wie in Colombo verabredet, mit einer Stimmeauf und war fest entschlossen, erforderlichenfalls dasDruckmittel Schuldenmoratorium einzusetzen. Dieacht Industriestaaten, die in Paris den entwickeltenSektor vertraten, hatten dagegen keine einheitlicheStrategie. Während vor allem Italien, aber auch Japanund Gastgeber Frankreich gewillt waren, auf derGrundlage der Schlußresolution von Colombo inernsthafte Verhandlungen über ein neues Währungs-system einzutreten, vertraten US-Außenminister Kis-singer und Großbritannien die kompromißlose Hal-tung der internationalen Finanzinteressen.

Bis zum 13. September sah es nach einem endgül-tigen Durchbruch für die neue Weltwirtschaftsord-nung aus. Doch an diesem Tag brach Großbritanniendie bis dahin geltende stillschweigende Übereinkunftzwischen den Industriestaaten und dem Entwick-lungssektor, in Paris „unverzüglich“ über ein „Ge-samtlösungspaket“ der Schuldenfrage zu verhandelnund stellte sich auf die Seite Kissingers, der statt des-sen Gespräche „zu einem späteren Zeitpunkt“ über„Einzelfälle“ forderte. Damit gab es grünes Licht fürKissingers Sabotagepolitik, der nun seine „Spaltertak-tik“ von „Einzelfall-Verhandlungen frühestens imDezember“ allen anderen Industriestaaten aufzwangund dadurch die Pariser Verhandlungen zum Platzenbrachte. Anstatt den historischen Durchbruch in ein

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neues zukunftsträchtiges Zeitalter zu feiern, mußtendie Delegationen ihre Koffer packen und zu weiterenVerhandlungen ins Hauptquartier der UNO nach NewYork ziehen.

Dort haben sich dann im weiteren Verlauf trotzdes heroischen Einsatzes führender Repräsentantendes Entwicklungssektors — die herausragende Persön-lichkeit unter ihnen war Guyanas Außenminister Dr.Frederick Wills, der später auf Betreiben Kissingers ausAmt und Heimatland vertrieben wurde — sowie aller-letzter Versuche seitens einiger Industriestaaten wieItalien leider die Kreise durchgesetzt, die die unselige„Kanonenbootdiplomatie“ wiederaufleben ließen.Brutale Härte auf seiten der Kontrolleure des IWF-Systems, Zögern und Feigheit auf Seiten Kontinental-europas und Japans sowie eine Mischung aus Unent-schlossenheit, Unterwerfung und Verrat bei zu vielenEntwicklungsländern haben in diesen entscheiden-den Sommer- und Herbstmonaten des Jahres 1976eine große historische Chance zunichte gemacht unddamit großes Leid über die Menschheit gebracht.

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Am 20. August 1976 druckte die algerische TageszeitungAl Moujahid die Schlußresolution von Colombo ab.Westliche Pressevertreter — so äußerte sich in Deutsch-land zum Beispiel der damalige Chef vom Dienst von dpagegenüber Helga Zepp-LaRouche — hielten diese bahnbre-chende Erklärung für „nicht berichtenswert“, so daß ihre(auszugsweise) Veröffentlichung in den Industriestaatennur auf politischen Druck bzw. in den Publikationen derLaRouche-Bewegung erfolgte. Es folgen die wichtigstenTeile der damals in der Neuen Solidarität abgedrucktenÜbersetzung dieser historischen Resolution vom 19.August 1976:

Einführung

... Die Staatsoberhäupter der nichtpaktgebundenenStaaten sind der Meinung, daß wirtschaftliche Proble-me die schwerwiegendsten in den internationalenBeziehungen geworden sind ... Die Entwicklungslän-der sind Opfer dieser weltweiten Krise ... Es wirdimmer offensichtlicher, daß das jetzige System dieEntwicklung der Entwicklungsländer nicht leistet,noch die Eliminierung von Hunger, Krankheiten undAnalphabetentum beschleunigen kann ... Ebenso istdie Errichtung der neuen Weltwirtschaftsordnung

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Der Kampf der Blockfreien für Entwicklung

Auszüge aus der politischen Schlußresolutiondes Gipfeltreffens in Colombo

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von höchster politischer Wichtigkeit ... Die Hauptauf-gabe der Entwicklungsländer ist, den Widerstandjener zu brechen, die sich dem Kampf um die Wirt-schaft der Entwicklungsländer entgegenstellen ...

Der Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit — diejetzige internationale wirtschaftliche Lage und die

Perspektiven für die Entwicklungsländer

1. Die Staatsoberhäupter haben sich intensiv mit denflagranten Ungerechtigkeiten beschäftigt, welchedie internationale wirtschaftliche Struktur zur Fol-ge hat ... Von verschiedenen internationalen Orga-nisationen sind viele Resolutionen in Bezug auf dieErrichtung der neuen Weltwirtschaftsordnung ver-abschiedet worden, doch gab es kein sichtbaresAnzeichen ihrer Durchsetzung.

2. Die Entwicklungsländer sehen sich heute einer Kri-se gegenüber, die sowohl die Realisierung wie dieBeibehaltung eines minimalen Lebensstandardsbetrifft.

3. Deviseneinnahmen der Entwicklungsländer sindim wesentlichen von den Exporten ihrer Rohstoffeabhängig.(...)

5. Das Zahlungsbilanzdefizit der Entwicklungsländerist phänomenal angestiegen:

1973: 12,2 Mrd. Dollar1974: 33,5 Mrd. Dollar1975: 40,0 Mrd. Dollar

Für 1980 wird diese Summe auf 112 Mrd. Dollargeschätzt. Die Entwicklungsländer haben ihreReserven erschöpft und bedeutende Auslandsschul-den aufgehäuft. 1973 betrug die geschätzte Aus-

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landsverschuldung mehr als 100 Mrd. Dollar, undes wird erwartet, daß diese Zahl sich bis Ende 1976mehr als verdoppeln wird.

6. Die Tatsache, daß menschliche und materielle Res-sourcen fortwährend aus gesellschaftlichen undwirtschaftlichen Aktivitäten in den Rüstungswett-lauf gezogen werden, bedroht den Weltfrieden.Somit bedroht auch die gegenwärtige Krise denWeltfrieden.

7. Industrialisierung ist ein dynamisches Entwick-lungsinstrument, das mit dem gesellschaftlichenund wirtschaftlichen Fortschritt der Entwicklungs-länder übereinstimmt. Es ist mit der Förderung undErweiterung des Austausches zwischen Entwick-lungs- und Industrieländern verbunden ... DieErrichtung geeigneter Industrien und die Steige-rung der Zusammenarbeit zur Errichtung einergesunden technischen Grundlage in unseren Län-dern muß beschleunigt werden.

8. Die ungenügende Durchsetzung der politischenMaßnahmen, die durch die internationale Ent-wicklungsstrategie festgelegt sind — was auf denMangel an politischem Willen in den meisten ent-wickelten Ländern zurückzuführen ist — kommt zuder wirtschaftlichen Krise hinzu ... Das ist derGrund, warum Hunger, Krankheiten (usw.) nochimmer ein anhaltendes Problem der Dritten Weltdarstellen.(...)

10.Die Abwesenheit eines gerechten internationalenWährungssystems ruft profunde Sorge hervor undverschlimmert die wirtschaftlichen Probleme ...Die Versuche, dieses System innerhalb des Rah-mens bestehender Währungsbeziehungen zu re-formieren ... haben nur Fehlschläge hervorge-

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bracht ... Die Staatsoberhäupter ... betonen erneut,daß die Lösung der wirtschaftlichen Probleme derEntwicklungsländer die Errichtung eines universa-len und gerechten neuen Währungssystems erfor-dert.

11. Nützlichkeit und Gerechtigkeit des zu errichten-den Systems wird von der Kontrolle abhängen, diedie internationale Gemeinschaft über die Bedin-gungen zur Schaffung und Anwendung zusätzli-cher Liquidität ausübt, wobei die Interessen derEntwicklungsländer in Rechnung gestellt werdenmüssen. Deshalb müssen wir vorrangig solcheLiquidität schaffen, die automatisch an die Fi-nanzbedürfnisse der Entwicklungsländer geknüpftist, und sicherstellen, daß die betreffenden Länderrechtmäßig an dem Entscheidungsprozeß beteiligtwerden.(...)

13. Die Konferenz der nichtpaktgebundenen Staatenstellt mit Besorgnis fest, daß bisher auf der Pariser(„Nord-Süd-“)Konferenz kein Fortschritt erzieltwurde. Die entwickelten Länder werden für dasevtl. Scheitern der Pariser Konferenz verantwort-lich gemacht werden.(...)

15. Die Staatsoberhäupter ... sind der festen Überzeu-gung, daß nur eine totale Umstrukturierung derinternationalen wirtschaftlichen Beziehungendank der Einführung einer neuen Weltwirtschafts-ordnung den Entwicklungsländern eine akzep-table Entwicklung sichern kann.

16. (Dieser Punkt drückt die Hoffnung aus, daß dieinternationale Zusammenarbeit fortgeführt wird,mit dem Ziel) der universellen Realisierung derneuen internationalen Wirtschaftsordnung ... Die

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Verwirklichung der einmütig verabschiedeten Ent-scheidung ist eine Hauptaufgabe der internationa-len Gemeinschaft.

17. Die Staatsoberhäupter betonen nochmals, daß derKampf für politische Unabhängigkeit und dieAusübung ihrer Souveränität nicht von demKampf für wirtschaftliche Emanzipation losgelöstwerden kann ... Die wirtschaftlichen Problemewerden jetzt bei den internationalen Verhandlun-gen im Mittelpunkt der internationalen Politikstehen. Dauerhafter Frieden und Sicherheit sindinternational nicht möglich ohne die Schaffungeiner gerechten Gesellschaft, die ihren Mitglie-dern wirtschaftliche und soziale Sicherheit bie-tet ... Für die Entwicklungsländer bedeutet diesfolgendes: a) individuelle Autonomie ... b) Inten-sivierung der Zusammenarbeit ... c) Bestärkungder Solidarität ...

Die neue Weltwirtschaftsordnung

1. Die Staatsoberhäupter ... sind fest davon überzeugt,daß nur eine vollständige Umstrukturierung derinternationalen wirtschaftlichen Beziehungen dieWirtschaftsprobleme der Welt lösen kann. DieSchwäche und wiederholten Fehlschläge der beste-henden Wirtschaftsordnung sind durch die jüng-sten Serien von Krisen in den entwickelten Län-dern unter Beweis gestellt worden: Zusammen-bruch des Währungssystems, Auftauchen restrikti-ver und protektionistischer Politik, Rezession,Inflation, Arbeitslosigkeit usw. ... Insbesondere die-ser Zustand der Krise hat in dramatischer Weise diegegenseitige Abhängigkeit der konstituierendenElemente der Weltwirtschaft deutlich gemacht und

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den notwendigen Anstoß zum Entwurf einer neu-en Weltwirtschaftsordnung gegeben.

2. Die Staatsoberhäupter ... fordern die Errichtungeiner neuen Weltwirtschaftsordnung, die weitrei-chende Initiativen, konkrete Neuerungen und glo-bale Lösungen verlangt und die unvereinbar ist mitden fragmentarischen und improvisierten Re-formen, die die gegenwärtigen wirtschaftlichenSchwierigkeiten unter Kontrolle halten sollen.

3. Die Staatsoberhäupter ... verurteilen die inakzeptab-le Politik und Praxis der transnationalen Unterneh-men ...

4. Sie bekräftigen das Recht eines jeden Landes, seineSouveränität auszuüben ...

5. Sie bekräftigen, daß nur eine solche vollständigeUmstrukturierung der internationalen wirtschaftli-chen Beziehungen eine dauerhafte Lösung bringenkann ... Sie bekräftigen ihre eindeutige Entschlos-senheit, durch gemeinsames Handeln die Errich-tung und Durchsetzung einer neuen Weltwirt-schaftsordnung zu erreichen, wie sie in verschiede-nen anderen Resolutionen angestrebt und ausge-führt wird. Sie muß folgendes beinhalten:a) Grundsätzliche Umstrukturierung des gesamten

internationalen Handelsapparates, um eine In-dexierung und Verbesserung der terms of trade zuerreichen ...

b) Weitgehende Umstrukturierung der Weltproduk-tion auf der Basis einer neuen internationalenArbeitsteilung mit Hilfe folgender Mittel: Verbes-serung des Zugangs für Industrieprodukte derEntwicklungsländer, Transfer von Technologie ...

c) Eine radikale Überholung der internationalenWährungsvereinbarungen, die durch den Man-gel eines rationalen, gerechten und universalen

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Systems, die Anarchie des Floatings, das Anwach-sen der Liquidität ... Inflation gekennzeichnetsind ... Das neue System muß die dominierendeRolle internationaler Währungen im Entschei-dungsprozeß abschaffen und eine Verbindungzwischen Liquiditätsschöpfung und Entwick-lungsfinanzierung herstellen.

d) Garantie für einen adäquaten Transfer von Res-sourcen.

e) Vorrangige Festlegung einer befriedigendenLösung für das Problem der öffentlichen Ver-schuldung, besonders für die am wenigsten ent-wickelten und am meisten betroffenen Länder.

f) Unterstützung zu günstigen Bedingungen oderdie gewünschten Ressourcen und geeignetenTechnologien zur Ermöglichung von Investitio-nen, um die Steigerung der Lebensmittelproduk-tion und landwirtschaftlichen Produktionsmittelin den Entwicklungsländern zu sichern ...

Kollektive Autonomie

Unter Betonung der Tatsache, daß das Prinzip derAutonomie mit der neuen Weltwirtschaftsordnungnicht nur vereinbar, sondern ein bestärkender Faktorzwischen den Entwicklungsländern ist, parallel zurIntensivierung des Handels der Entwicklungsländeruntereinander, ist es wünschenswert, daß die nicht-paktgebundenen Staaten ihre wirtschaftlichen Bezie-hungen mit anderen Ländern, und zwar den kapitali-stischen wie sozialistischen, ausbauen.

Verflechtung der Weltwirtschaft

... Internationale Zusammenarbeit ist heute zu einerunabdingbaren Notwendigkeit geworden ...

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Die Staatsoberhäupter erkennen, daß die Ein-führung einer neuen Ära fairer und ausgeglichenerBeziehungen die Verantwortung aller ist, doch fälltdiese insbesondere denen zu, die die wirtschaftlicheMacht innehaben. Darüber hinaus erfordert dieSchaffung einer neuen Weltwirtschaftsordnung aufSeiten der entwickelten Länder entschiedene undwirksame Maßnahmen in allen Hauptbereichen inter-nationaler Wirtschaftsbeziehungen. Die entwickelteWelt kann unter keinem noch so gearteten Vorwandlänger ihrer Verantwortung entfliehen, und sie kannes sich nicht mehr leisten, die grundsätzlich unteilba-re Natur des Wohlstandes der Welt fehlzudeuten.

Die Staatsoberhäupter ... fordern deshalb die ent-wickelte Welt auf, überzeugend ihren Glauben an dasPrinzip der weltweiten Verflechtung auszudrücken,indem sie eine Reihe von Maßnahmen beschließen,die allein es erlauben werden, eine authentische inter-nationale Zusammenarbeit und die Schaffung derneuen Weltwirtschaftsordnung zu ermöglichen ...

Schlußfolgerung

(Dies) ist ein neuer Schritt zur Errichtung der neuenWeltwirtschaftsordnung und insbesondere deswesentlichen Elementes einer solchen neuen Ord-nung, eines neuen Währungs- und Finanzsystems ...

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In den USA und vielleicht noch stärker anderswowird die Strategische Verteidigungsinitiative (SDI)

mit dem Namen Lyndon LaRouche verknüpft, das giltfür seine Freunde wie für seine Feinde. Die SDIberührt wie kein anderes Thema grundlegende strate-gische Fragen, die nicht nur für die nationale Sicher-heit der USA, sondern für die Sicherheit weltweit vonBedeutung sind.

Die Sowjetunion ist auseinandergefallen, den „glo-balen nuklearen Showdown“ zwischen WarschauerPakt und NATO gibt es nicht mehr. Das heutige Ruß-land sieht sich statt dessen mit einer existentiellenwirtschaftlichen und politischen Krise konfrontiert,in der die Kontrolle von über 10 000 Nuklearwaffendes Landes nicht mehr sichergestellt ist. Gleichzeitigzerfällt das seit 1968 gültige internationale Systemüber die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen,wie die jüngsten Nukleartests in Indien und Pakistanzeigen.

Von diesen beiden südasiatischen Ländern gehtkeine nukleare Bedrohung aus; sie nehmen lediglichihr Recht wahr, als souveräne Nationen das zu tun,was sie für ihre nationale Sicherheit und die Entwick-lung morderner Technologien als notwendig erach-

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MICHAEL LIEBIG UND JONATHAN TENNENBAUM

Die Geschichte von LaRouches SDI-Strategie

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ten. Auf welcher Grundlage könnte man Indien, einerNation mit fast einer Milliarde Menschen und einerkontinuierlich wachsenden Wirtschaft, ein Recht ver-weigern, das der „Atom-Club“ — die Vereinigten Staa-ten, China, Rußland, Frankreich und Großbritannien— für sich selbst in Anspruch nehmen?

Das Nonproliferationssystem — basierend auf demVertrag über die Nichtweitergabe von Atomwaffen(NPT) von 1968 und dem späteren Vertrag über Atom-testverbote (CTBT) — ist nicht nur diskriminierend,es funktioniert auch ganz einfach nicht. Trotz desAtomwaffensperrvertrages verfügt z.B. Israel über einerhebliches Arsenal von Nuklearwaffen, und etwa 13weitere Staaten wären unmittelbar in der Lage,Nuklearwaffen zu produzieren. Während es einerseitssinnlos ist zu versuchen, die Verbreitung der Nuklear-waffentechnologie aufzuhalten — sie kann nicht ein-fach „verboten“ werden —, so ist es doch gleicher-maßen unverantwortlich, keine wirksamen Mittel zurVerteidigung gegen Massenvernichtungswaffen undderen Trägersysteme zu entwickeln. Niemand kannausschließen, daß kriminelle Regimes nicht einesTages Nuklearwaffen als Mittel der Erpressung ver-wenden oder sie in einer Konfrontation oder gar ineinem Aggressionskrieg einsetzen. Doch Atomwaffensind keine „ultimativen Waffen“; es gibt Mittel, sicheffektiv gegen sie zu verteidigen und sie „unwirksamund überflüssig“ zu machen, wie sich PräsidentRonald Reagan in seiner berühmten Rede vom 23.März 1983 ausdrückte, mit der er das SDI-Programmankündigte. Und heute, 15 Jahre später, ist das strate-gische Kernkonzept der SDI noch aktueller, sinnvollerund notwendiger als je zuvor.

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Der strategische Hintergrund der SDI-Revolution

Um die strategische Revolution, die LaRouche mit derSDI-Politik verfolgte, wirklich verstehen zu können,muß man den Ursprung der gegenteiligen Politik ken-nen.

Seit Mitte der 70er Jahre hatte LaRouche vor einerpotentiell katastrophalen Diskrepanz zwischen derMilitärdoktrin des Westens und der Militärdoktrin derSowjets gewarnt. Seit den 50er Jahren und besondersmit dem Aufkommen sogenannter „utopischer“Militärdoktrinen Ende der 60er, Anfang der 70er Jah-re setzte sich im westlichen strategischen Denkenzunehmend die Ansicht durch, ein thermonuklearerWeltkrieg mit der Sowjetunion sei „undenkbar“ — diedamit einhergehenden Verluste wären derart hoch,daß ein solcher Krieg für beide Seiten absolut inakzep-tabel sei. Folglich sollte die Militärdoktrin darauf ab-zielen, eine adäquate „nukleare Abschreckung“ zugewährleisten. Das strategische Ziel wurde die „gesi-cherte gegenseitige Zerstörung [Mutually AssuredDestruction, MAD]. Gleichzeitig solle man sich daraufvorbereiten, bewaffnete Konflikte „unterhalb der ato-maren Schwelle“ zu führen.

Die Sowjets hatten eine völlig andere Militärdok-trin. Zwar versuchten sie ihre strategischen Ziele ohneeinen allgemeinen Nuklearkrieg mit den USA zu errei-chen, doch die sowjetische Führung betrachtete einensolchen Krieg als eine sehr reale Möglichkeit, und dieumfassende Vorbereitung und Planung für den Falleines solchen Nuklearkriegs hatte höchste Priorität.Dementsprechend war die sowjetische Politik daraufausgerichtet, die industriellen, technologischen, logi-stischen und militärischen Grundlagen dafür zu

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schaffen, einen „totalen“ Atomkrieg führen und gege-benenfalls auch gewinnen zu können.

Nur in wenigen Bereichen war die Divergenz zwi-schen den unterschiedlichen strategischen Einschät-zungen so extrem wie im Bereich der Zivilverteidi-gung und der Raketenabwehr [engl. Ballistic MissileDefense, BMD]. Während es die sowjetische Militär-führung als selbstverständlich ansah, Raketenabwehr-technologien zu entwickeln, war die Mehrheit derwestlichen Strategieplaner entschieden gegen dieWeiterentwicklung der Raketenabwehrtechnologie,denn diese sei eine Bedrohung für das „Gleichgewichtdes nuklearen Schreckens“, das die Grundlage globa-ler Stabilität und Sicherheit sei. Ein typischer Vertre-ter der „utopischen“ Militärstrategie war Henry Kis-singer, der für den 1972 unterzeichneten amerika-nisch-sowjetischen Raketenabwehr-Vertrag (ABM)verantwortlich ist. In dem ABM-Vertrag sollte die Ent-wicklung einsatzfähiger Anti-Raketenwaffen verhin-dert oder zumindest erheblich verzögert werden.

LaRouche und seine Mitarbeiter betonten wieder-holt, angesichts des sowjetischen Festhaltens an einerNuklearkriegsgewinnstrategie waren nicht nur derABM-Vertrag, sondern auch die folgenden SALT-Ver-einbarungen und ähnliche vermeintliche „Abrü-stungs“-Vereinbarungen nichts anderes als Wunsch-denken und Illusion. Dies wird dann klar, wenn mandie britisch gesteuerten geopolitischen Manipulatio-nen berücksichtigt, die den Hintergrund der westli-chen Militärstrategie bildeten. Bei der feindlichenFront- und Konfrontationsstellung zwischen den Ver-einigten Staaten und der Sowjetunion gab es nämlicheine „dritte Partei“ — jene oligarchische Gruppierungmit Zentrum in Großbritannien, die von Leuten wieBertrand Russell repräsentiert wurde. Diese oligarchi-

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sche Gruppierung „spielte“ nämlich den Ost-West-Konflikt — und zwar auf beiden Seiten. Ihr ging es umglobale geopolitische Kontrolle zur letzlichen Beseiti-gung der Nationalstaaten. Der Schrecken von Hiros-hima und Nagasaki, die Furcht vor der schrecklichenvernichtenden Macht der Atombombe als angeblich„ultimativer Waffe“, gegen die keine Verteidigungmöglich sein würde, dienten als Hebel, um Regierun-gen und Völker soweit einzuschüchtern, daß siesupranationale Institutionen — eine Art „Weltregie-rung“ — akzeptieren würden. Ein solches supranatio-nales, neomalthusianisches Weltregime sollte einePolitik der Bevölkerungskontrolle und Unter-drückung des technischen Fortschritts durchsetzen.

Ein Hauptbestandteil dieser oligarchischen Politikwar der „kulturelle Paradigmawandel“ im Westen: die„Rock-Drogen-Sex-Gegenkultur“ sowie die „grüne“Anti-Technologie-Bewegung gegen die traditionellenWerte einer industrieorientierten Volkswirtschaft. Diebloße Akzeptanz der MAD-Doktrin bedeutete, der täg-lichen Bedrohung nuklearer Auslöschung hilflos aus-geliefert zu sein, und das war einer der Hauptfaktorenfür den um sich greifenden Kulturpessimismus in derJugend.

Damit wird deutlich, daß LaRouches neue strategi-sche Doktrin zur raschestmöglichen Entwicklungeiner strategischen Raketenabwehr sehr viel mehrbedeutete, als nur einen grundlegenden Defekt derwestlichen Militärpolitik gegenüber der Sowjetunionzu beheben. LaRouches SDI-Politik war viel mehr alsein bloßes Rüstungsprogramm; sie bedeutete dieRückkehr zu einer nationalstaatlichen Politik mitrapidem wissenschaftlichem und technologischemFortschritt und Industriewachstum. LaRouches SDI-Strategie zielte auf das Herzstück der britischen Politik

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geopolitischer Manipulationen in der Nachkriegszeit. Ganz wesentlich für den Hintergrund von LaRou-

ches SDI-Politik ist, daß er ausführliche Gesprächemit hochrangigen Vertretern der sowjetischen Regie-rung führte, bei denen es darum ging, wie mit dergemeinsamen Entwicklung und Stationierung eines auf„neuen physikalischen Prinzipien“ basierenden Rake-tenabwehrsystems das zunehmend instabile Systemder nuklearen Abschreckung überwunden werdenkönnte. Ironischerweise war es die brüske Zurückwei-sung dieses Angebots im Anschluß an Präsident Rea-gans Ankündigung der SDI-Politik im März 1983, dieden wirtschaftlichen Kollaps und den politischenUntergang des Sowjetimperiums besiegelte.

Die Vorgeschichte der SDI

Bereits 1955 hatten die Vereinigten Staaten damitbegonnen, Anti-Raketen-Raketen zu entwickeln.Anfang der 60er Jahre gab es in den USA genaue Plä-ne für ein landesweites Abwehrsystem gegen ballisti-sche Raketen mit der Bezeichnung Sentinel, bestehendaus den nuklear bestückten Abwehrraketen Spartanund Sprint. Schon 1958 beschrieb der deutsche Luft-fahrtwissenschaftler Eugen Sänger in einer Studie dieinhärenten Mängel von Abfangraketen, die als „kine-tische“ Raketenabwehrsysteme bezeichnet werden,und forderte die Entwicklung von Waffensystemen,die gerichtete Energiestrahlen zur Abwehr ballisti-scher Raketen einsetzen. Sowjetische Pläne zur Ent-wicklung solcher Waffen wurden 1963 in MarschallW. D. Sokolowskijs Standardwerk „Die sowjetischeMilitärstrategie“ veröffentlicht. Mit dem sowjetisch-amerikanischen ABM-Vertrag war zwar die Stationie-rung „kinetischer“ Abfangraketen vom Tisch, doch

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Raketenabwehrsysteme auf Grundlage „neuer physi-kalischer Prinzipien“ fielen nicht unter diesen Ver-trag.

Sowohl die USA als auch die Sowjetunion betrie-ben Forschungsarbeiten zur Entwicklung von Rake-tenabwehrsystemen auf der Basis neuer physikali-scher Prinzipien — Strahlenwaffen bzw. Waffensyste-me mit gerichteter Energie. Besonders die Sowjetsforschten auf diesem Gebiet intensiv. Das offizielleWashington unter Kissinger-Ford und Brzezinski-Car-ter versuchte die Fortschritte der Sowjets in diesemBereich aus der strategischen Diskussion in den Verei-nigten Staaten und innerhalb der NATO herauszuhal-ten. Als der amerikanische Luftwaffengeneral GeorgeKeegan 1977 öffentlich seine Besorgnis über dieArbeiten der Sowjets mit gerichteten Energiesystemenäußerte, erteilten ihm seine Vorgesetzten eine schrof-fe Abfuhr.

LaRouches Kampagne „Sputnik der 70er Jahre“

LaRouches leidenschaftliches Interesse an fortge-schrittener Physik hatten ihn und eine Gruppe be-freundeter Naturwissenschaftler dazu gebracht, 1974das FEF (Fusions-Energie-Forum) ins Leben zu rufen.Die sich häufenden Berichte über sowjetische Fort-schritte in den Bereichen Plasmaphysik und Techno-logien mit gerichteter Energie wurden von LaRoucheund seinen Freunden intensiv diskutiert. Er kam zudem Schluß, daß die wissenschaftlichen, technologi-schen und militärischen Implikationen dieser Fort-schritte auf russischer Seite eine derart enorme Her-ausforderung für die USA darstellten, daß ein neuer„Sputnik-Schock“ bevorstünde. Auf LaRouches Initia-

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tive hin wurde am 31. Mai 1977 eine Broschüre mitdem Titel „Sputnik der 70er Jahre: die Wissenschaft hin-ter den sowjetischen Strahlenwaffen“ veröffentlicht, diesich mit den Durchbrüchen der Sowjets in fortge-schrittener Physik befaßten. LaRouche forderte, dieVereinigten Staaten sollten eine nationale Anstren-gung in den Pionierbereichen der fortgeschrittenenPhysik unternehmen, nicht zuletzt auch wegen derenormen militärischen Implikationen der wissen-schaftlichen Fortschritte in der Sowjetunion.

LaRouche wollte ein derartiges nationales For-schungs- und Entwicklungsprogramm auch aus kultu-rellen Gründen. Er wollte den Kulturpessimismus, dermit dem MAD-System des „Gleichgewichts desSchreckens“ einherging, zurückdrängen. Er wollteden Malthusianismus und die Hysterie gegen dieKernenergie beenden, die nicht nur in den USA, son-dern mehr noch in Europa zur Zeit der Carter-Äragrassierten. Deshalb beschränkte er sich nicht darauf,nur einige vertrauliche Memoranden in politischenund militärischen Führungskreisen zirkulieren zu las-sen, um diese auf die sowjetische Herausforderungaufmerksam zu machen. LaRouche wollte, daß dieamerikanische Bevölkerung über diese EntwicklungKenntnis erhielt; die Bevölkerung mußte über die„großen Fragen“ der nationalen und internationalenPolitik unterrichtet und aufgeklärt sein. Das ist derGrund dafür, warum in den USA die Broschüre „Sput-nik der 70er Jahre“ zu Tausenden verbreitet wurde.

LaRouche kann auf der anderen Seite auch größtesStillschweigen bewahren. Der Leser wäre sehr er-staunt, würden hier die Namen all der politischenund militärischen Führungspersönlichkeiten veröf-fentlicht, mit denen LaRouche international in denJahren 1977 bis 1985 zusammentraf und den strategi-

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schen Komplex, der nach 1983 als SDI bekannt wur-de, diskutierte.

Die Herausforderung der sowjetischen Wissen-schaftsdurchbrüche und deren militärische Implika-tionen anzunehmen, wurde das zentrale politischeThema von LaRouches Präsidentschaftskampagne imJahre 1980. Seine Wahlplattform enthielt an promi-nenter Stelle die Forderung nach einem Strahlenwaf-fensystem zur Raketenabwehr. Am 15. August 1979 ver-öffentlichte LaRouche eine Wahlkampferklärung zurMilitärpolitik, darin hieß es: „Für eine LaRouche-Administration“ werde einer der „wichtigsten Punkteder Militärpolitik“ die „Entwicklung modernster Waf-fen“ sein, mit denen „anfliegende Raketen in der Stra-tosphäre abgeschossen werden können.“ Man beach-te, daß diese Erklärung Präsident Reagans Rede vom23. März 1983, in der er das SDI-Programm ankün-digte, um 44 Monate vorausging.

LaRouches Kampf gegen MAD

Um zu verstehen, wie es LaRouche möglich war, dasSDI-Konzept zu entwickeln, muß man sich seineArbeiten über Staatskunst und Militärstrategie seitMitte der 70er Jahre ansehen. LaRouche hatteerkannt, daß die Fortschritte in der Physik und ange-wandten Technologie soweit gediehen waren, daß dieEntwicklung von Raketenabwehrsystemen mit gerich-teter Energie auf einer soliden wissenschaftlich-tech-nologischen Grundlage stand. Darüber hinaus hatteLaRouche systematisch die Strategie der „nuklearenAbschreckung“ — MAD — und deren Abkömmling,die NATO-Doktrin der „flexiblen Antwort“, durchge-arbeitet. Sozusagen die Zwillingsschwester der Dok-trin der „nuklearen Abschreckung“ ist natürlich das

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politische und strategische System der „Rüstungskon-trolle“ mit seinen verschiedenen Vertrags-Komplexenwie ABM, SALT, INF [über die atomaren Mittel-streckenraketen SS20/Pershing II in Europa] undSTART.

LaRouche war der wichtigste konzeptionelleGegenpol zur Schule der „nuklearen Abschreckung/Rüstungskontrolle“ und ihren Repräsentanten McGe-orge Bundy, Henry Kissinger, Robert McNamara, Zbig-niew Brzezinski, James Schlesinger und Cyrus Vance.Das strategische System der nuklearen Abschreckungmachte nuklear bestückte Angriffsraketen ganz gleichwelcher Reichweite zur „absoluten Waffe“. Das strate-gische System wurde zwar technologisch verfeinert(MIRVing, cruise missiles, Stealth), doch qualitativneue Abwehr- oder Angriffswaffen zu entwickeln, mitdenen atomare Angriffsraketen neutralisiert oderersetzt werden könnten, war unter dem System deratomaren Abschreckung buchstäblich verboten.

Stattdessen bildeten die Länder, die über Nuklear-waffen verfügten, eine Art „Schicksalsgemeinschaft“auf der Grundlage, sich gegenseitig atomar vernich-ten zu können. Das „Gleichgewicht des nuklearenSchreckens“ gewährleistete die Integrität für die Terri-torien der Supermächte, aber nicht notwendigerweisefür deren Verbündete oder andere befreundete dritteLänder. Die Menge der Nuklearwaffen konnte wohlmit Abrüstungsabkommen reduziert werden, dochder Wirkungsmechanismus der MAD-Doktrin mußteunter allen Umständen gewahrt bleiben. Mit demABM-Vertrag von 1972 sollte das System der nuklea-ren Abschreckung vor dem technologischen Fort-schritt geschützt werden, während mit SALT I undSALT II die atomaren Angriffsarsenale quantitativrestrukturiert wurden. LaRouche lehnte das System

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der nuklearen Abschreckung ab, indem er erstens dar-auf verwies, daß die politisch-militärische Führungder Sowjetunion niemals wirklich das System derAbschreckung übernommen hatte, sondern eineKriegsgewinnstrategie verfolgte. Ein Sieg sollte not-falls mit atomaren Waffen, vorzugsweise aber mitnichtatomaren oder „post-nuklearen“ Mittelnerreicht werden. LaRouche beschäftigte sich einge-hend mit dem Buch Sowjetische Militärstrategie vonMarschall Sokolowskij und der damals aufkommen-den neuen sowjetischen Militärdoktrin, die entschei-dend von Marschall Nikolai Ogarkow bestimmt wur-de. LaRouche verwies auf die marginale, kontinuier-lich zunehmende atomare Angriffsüberlegenheit derSowjets, ihre Bemühungen zur strategischen Verteidi-gung, ihre Kriegsfähigkeiten im Weltraum, ihr Zivil-schutzprogramm und ihre konsequente „konventio-nelle“ Aufrüstung. Im sogenannten „konventionel-len“ Bereich legte Ogarkow den Schwerpunkt zuneh-mend auf postnukleare, fortgeschrittene Waffensyste-me auf der Grundlage neuer physikalischer Prinzipienund eine entsprechende Einsatzplanung vor allem derLuftlande- und Spezialverbände.

Zweitens machte LaRouche auf eine zunehmendeDemotivierung im amerikanischen Militär und paral-lele Demoralisierungstendenzen in der NATO insge-samt aufmerksam. Wenn unter dem MAD-System„die Abschreckung versagen“ sollte, dann bliebe alseinzige Möglichkeit ein selbstmörderischer nuklearerHolocaust; dies stellte nicht gerade eine gute Grund-lage für die Kampfmoral der NATO-Streitkräfte dar. Inseinen Schriften und Reden verwies LaRouche auf diezahlreichen politisch-strategischen Desaster der ame-rikanischen Sicherheitspolitik: die Nichtanschaffungdes B-1-Bombers, die Aufgabe der Neutronenwaffe,

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die Konfusion um die nuklearen Mittelstreckenrake-ten (INF) in Europa, Carters Nikaragua-Politik, denSturz des Schah im Iran und die fehlgeschlagene Gei-selbefreiung in Teheran.

LaRouche warnte, daß Amerikas logistische Tiefe,sein industriell-technologisches Fundament, dieeigentliche Grundlage der Kriegführung, immer mehrausgehöhlt wurde. Er verurteilte die Neuorientierungder US-Militärstrategie auf „begrenzte“ Kriege oder„Kabinettskriege“ in Europa und der Dritten Welt. DieKriege in Afghanistan, Nikaragua, am Persischen Golfund auf dem Balkan in der darauffolgenden Zeithaben die Warnungen LaRouches vollauf bestätigt.

Drittens betonte LaRouche, daß unter dem Systemder nuklearen Abschreckung nicht nur das Militär,sondern auch die Bevölkerung in den USA und nochmehr in den anderen NATO-Ländern immer weiter indie Demoralisierung getrieben werden würde. Dieperverse Logik, einen Krieg nur mit der Androhungeines nuklearen Holocausts vermeiden zu können,mußte zwangsläufig zu Kulturpessimismus und einerzunehmenden „Ohne-Mich-Haltung“ führen. „Frie-densbewegungen“ aller Art schossen in den 70er und80er Jahren in fast allen NATO-Ländern wie Pilze ausdem Boden. Sie fanden Massenunterstützung undwurden sämtlich von sowjetischen und Ostblockge-heimdiensten gesteuert. Deren Experten für psycholo-gische Kriegführung nutzten geschickt das sehr realeDilemma aus, das mit der MAD-Doktrin entstandenwar: Die Aussicht auf einen nuklearen Holocaust,wenn die Abschreckung versagte; Verteidigung schienjeden Sinn verloren zu haben.

LaRouches positiver Ausweg aus dem MAD-Dilem-ma war eine Militärstrategie, die auf einer militärtech-nologischen Revolution im Zusammenhang mit

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Systemen gerichteter Energie basierte. Nach Feuer-kraft (Energiedichte des Strahls) und Mobilität (Licht-geschwindigkeit oder nahezu Lichtgeschwindigkeit)übertreffen Strahlenwaffensysteme die schnellstenAtomraketen um Größenordnungen.

Was ist eine Große Strategie?

Ein Raketenabwehrsystem (BMD) auf der Grundlagegerichteter Energie bedeutet die strategische Rehabili-tierung der Verteidigung. Ein solches System beseitigtdie angebliche Allgewalt nuklearer Angriffswaffen.Militärstrategie und echte Kriegsvermeidung gründensich wieder auf die Dynamik technologischen Fort-schritts und logistischer Tiefe. LaRouches Entwurfeiner Militärstrategie für die USA auf Grundlage einesBMD-Systems mit gerichteter Energie entstand ausseiner intensiven Beschäftigung mit der Geschichteder Militärwissenschaft. Es gibt einen wahren Reich-tum an Vorträgen und Aufsätzen von LaRouche zumilitärwissenschaftlichen Fragen. Seine strategischenKonzepte gründen sich auf die geistige Auseinander-setzung mit den Werken Carnots, Scharnhorsts undSchlieffens. Er studierte eingehend den amerikani-schen Unabhängigkeitskrieg, die Geschichte der Mili-tärakademie Westpoint, besonders in der ersten Hälf-te des neunzehnten Jahrhunderts, und den amerika-nischen Bürgerkrieg. Er analysierte die Inkompetenzder Militärführungen aller Kriegsparteien im ErstenWeltkrieg. Und er beschäftigte sich eingehend mitdem sowjetrussischen militärstrategischen Denkenvon Tuchatschewskij über die sowjetischen Befehls-haber im Zweiten Weltkrieg bis Sokolowskij undOgarkow. Auf amerikanischer Seite konzentrierte ersich vor allem auf den herausragenden Militärführer

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General Douglas MacArthur im Zweiten Weltkrieg.Den stärksten Einfluß auf LaRouches militärstrate-

gisches Denken hatte wahrscheinlich Lazare Carnot,über den er schreibt: „Insgesamt basierten CarnotsReformen auf zwei zentralen republikanischen Prinzi-pien: Dem Ruf der Bürger zu den Waffen und dem Ein-satz von Wissenschaft und Technologie zur Beschleu-nigung des wirtschaftlichen Fortschritts und zurErhöhung von Mobilität und Feuerkraft im Krieg.“

Von diesem militärgeschichtlichen Standpunktaus gelang es LaRouche, die „utopische“ Schuleanglo-amerikanischen militärstrategischen Denkenswirksam zu attackieren. Er stellte fest, daß die nachdem Zweiten Weltkrieg entstandene „Abschreck-ungs“-Schule historisch auf die oligarchische „Kabi-nettskriegführung“ zurückgeht. Die strategischenGrundannahmen, die der Kabinettskriegführungzugrundeliegen, sind Stagnation, Begrenzung undstarre Regeln, während Bevölkerung und Armee letzt-lich in einem Zustand von Passivität und Fatalismusverbleiben. Mit anderen Worten, diese Art der Krieg-führung ist das genaue Gegenteil der Vorgehensweisevon Carnot.

Während McGeorge Bundy, McNamara und Kis-singer mehr damit beschäftigt waren, die MAD-Dok-trin politisch zu verkaufen, war Bertrand Russell dereigentliche Vater der Abschreckungs-Schule, einMann böser Talente. Vor allem durch die Konferenzender sogenannten Pugwash-Bewegung etablierte Rus-sell in den 50er Jahren das System der nuklearenAbschreckung als der international hegemonialenstrategischen Doktrin.

LaRouches strategisches Konzept ist offensichtlichkein enges, rein militärtechnisches Konzept. Für ihn„ist Krieg nicht die Gesamtsumme einzelner Schlach-

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ten“, sondern „die Totalität des Aufeinanderprallensder gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellenund militärischen Fähigkeiten“ der feindlichen Mäch-te. Politik, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Kul-tur machen „90% der Strategie“ aus, und im moder-nen Krieg sind nur 10% der Gesamtanstrengungender eigentliche Kampf. Ob es zum Ausbruch einesKrieges kommt oder nicht, und, falls es zum Kriegkommt, ob dieser dann Sieg oder Niederlage bringt,das alles hängt ganz grundlegend von der Politik, derwirtschaftlichen Entwicklung und der Kultur ab —und das ist die Essenz „Großer Strategie“.

Nur aufgrund seiner ganzheitlichen Vorstellungvon Strategie ist außerdem LaRouches einzigartigeFähigkeit verständlich, innovative Konzepte in demBereich der Militärstrategie und der politischen Analy-se zu entwickeln. Viele Militär- und Nachrichtenexper-ten, die LaRouche respektieren, sind jedesmal wiederüberrascht, wenn LaRouche scheinbar unzusammen-hängende Fragen der Kultur und der Wirtschaft mitmilitärischen und nachrichtendienstlichen Konzepten„vermischt“. Und sie sind noch mehr verblüfft, daßLaRouche in der Lage ist, neue Ideen über Militärfragenzu entwickeln, wozu selbst „Experten“ mit umfassen-dem Spezialwissen meist nicht in der Lage sind.

In LaRouches Grand Strategy muß jede Nation einmoralisches Ziel, eine Mission in der Welt verfolgen.Für LaRouche existiert eine Nation nicht an und fürsich, sie kann sich nicht mit dem materiellen Wohler-gehen der Bevölkerung zufrieden geben und sichansonsten aus den Weltproblemen heraushalten. EineNation darf nicht wegschauen, wenn es Ungerechtig-keiten innerhalb oder außerhalb ihrer Grenzen gibt.

Entsprechend sah LaRouche in seiner Strahlenwaf-fenstrategie nicht nur die Überwindung der atomaren

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Bedrohung durch die Sowjets. Eine Strahlenwaffen-Verteidigungsstrategie bedeutete für LaRouche, derWissenschaft neue Pioniergebiete zu eröffnen, insbe-sondere die Erforschung des Weltraums. Sie bedeuteteauch, dem malthusianischen Kulturpessimismus einEnde zu setzen und mit der Einführung neuer Produk-tionsmethoden der „dritten industriellen Revolution“die angeschlagene Realwirtschaft im Weltmaßstab zuerneuern. Der amerikanische Kernphysiker EdwardTeller bezeichnete im Oktober 1982 eine Raketenab-wehr mit Strahlenwaffen als einmalige Chance, die„gemeinsamen Ziele der Menschheit“ zu verwirkli-chen.

LaRouches Strahlenwaffen-Kampagne 1981-83

Nach dem Abtritt Jimmy Carters und dem Beginn vonRonald Reagans Präsidentschaft intensivierte LaRou-che seine politischen Bemühungen, die US-Regierungzu einer politischen Entscheidung für eine Strahlen-waffenstrategie zu bewegen. Am 20. Juli 1981 veröf-fentlichte LaRouche ein weiteres militärpolitischesPapier, in dem es um die konkreten Voraussetzungenfür ein Strahlenwaffenverteidigungssystem ging: dietechnische Anlage zur Erzeugung gerichteter Energieals solche, die Energiequelle, Sensoren zur Zielerfas-sung und -verfolgung, Feuerleitsysteme, Satelliten-plattformen usw. LaRouches politische Freunde undseine Unterstützer von der FEF organisierten zahlrei-che Seminare und öffentliche Veranstaltungen in denUSA zum Thema Strahlenwaffenverteidigung.

Die wichtigste dieser Veranstaltungen war ein EIR-Seminar in Washington im Februar 1982, an dem einegroße Anzahl von Offiziellen aus der Regierung und

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dem Militär sowie Repräsentanten ausländischer Bot-schaften teilnahmen. LaRouche referierte über seineStrahlenwaffen-Strategie. Der Vortrag erschien einenMonat später unter dem Titel „Nur Strahlenwaffenkönnen die Kissinger-Ära des gegenseitigen thermo-nuklearen Terrors beenden“.

LaRouches Strahlenwaffen-Kampagne fiel in dieZeit ständig weiter eskalierender politischer Spannun-gen im Zuge der Stationierung atomarer Mittel-streckenraketen (INF) in Europa. Die Kampagnen inden USA für ein „nuclear freeze“ und „no first use“sowie die Massenaktivitäten der westeuropäischen„Friedensbewegungen“ hatten Hochkonjunktur. Ende1982 sprachen LaRouche und seine Mitarbeiter aufgutbesuchten Seminaren in Bonn, München, Paris,Straßburg, Mailand, Brüssel, Madrid und Stockholmzum Thema Strahlenwaffen. Hochstehende westeu-ropäische Militärs und Politiker baten LaRouche undseine Mitarbeiter, sie über das Konzept der Strahlen-waffen-Verteidigung zu informieren.

Als Präsident Reagan dann am 23. März 1983 seineinzwischen berühmte Fernsehansprache hielt, in derer die amerikanischen Wissenschaftler dazu auffor-derte, die militärischen Mittel zu entwickeln, um dieauf die USA und ihre Verbündeten gerichteten Atom-raketen „impotent und obsolet“ zu machen, warendie meisten der offiziellen militärischen und politi-schen Vertreter in Ost wie West zutiefst schockiert. InWashington waren der Kongreß sowie die Regierungs-und Militärbürokratie auf eine solche Präsidialdirekti-ve, mit der die MAD-Doktrin in der Tat abgeschafftworden wäre, in keiner Weise vorbereitet. Wir wissenheute, daß in den Stunden vor der Ausstrahlung vonReagans Rede Außenminister George Shultz undandere fieberhafte Anstrengungen unternahmen, den

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SDI-Teil aus der bereits vorbereiteten Fernsehrede wie-der herauszunehmen.

In der Frage der SDI wußten die Medien innerhalbund außerhalb der USA nicht, an wen sie sich wendensollten. Sie mußten sich an LaRouches Mitarbeiterwenden, denn keine anderen Personen konnte ihnenzu diesem Thema kompetente Informationen geben.Spezialisten von EIR und FEF wurden von vielenRadio- und Fernsehsendern interviewt. Schriftmateri-al von EIR und FEF über SDI zirkulierte in großer Auf-lage in den Vereinigten Staaten und Europa. Zwischen1983 und 1985 erschienen über dieses Thema Bücherin englischer, deutscher und italienischer Sprache.Bekannte sicherheitspolitische Publikationen in ver-schiedenen NATO-Ländern veröffentlichten von EIR-und FEF-Mitarbeitern verfaßte Artikel über die SDI.

Doch schon kurz danach lancierte Generalleut-nant a.D. Danny Graham, der vom Luftwaffenge-heimdienst kommend bei der „neo-konservativen“Heritage Foundation untergekommen war, seineInitiative „High Frontier“. Grahams eindeutige Ab-sicht war es, den technologischen und strategischenInhalt der SDI so zu verbiegen, daß es ihrer Diskredi-tierung gleichkam. Er behauptete, daß alleine soge-nannte „kinetische“ Systeme — Anti-Raketen-Raketen— eine realistische Chance zur Raketenabwehr böten.Dies obgleich solche kinetischen Systeme aus physi-kalisch-technischen Gründen niemals einen massen-haften Angriff atomarer Raketen abwehren könnten,denn es fehlt ihnen die überlegene Feuerkraft undGeschwindigkeit von Strahlenwaffen. Jahre späterzeigte sich mit der Patriot-Abwehrrakete während desGolfkrieges, daß Anti-Raketen-Raketen noch nichteinmal gegen ein paar veraltete irakische Scud-Rake-ten wirksam waren. Graham bezeichnete die auf

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gerichteter Energie basierenden Strahlenwaffen-systeme als nicht finanzierbare technische „Zukunfts-musik“.

LaRouche erkannte sofort, daß Reagans Rede vom23. März 1983 ein strategischer punctum saliens war.LaRouche wußte, daß ein Strahlenwaffenverteidi-gungssystem als umfassendes Paket mit all seinen wis-senschaftlichen, technologischen, militärischen, poli-tischen und kulturellen Komponenten einen qualitati-ven Phasenwechsel in der Politik der Vereinigten Staa-ten und des Westens insgesamt markieren könnte.

Am 23. März 1983 war das außen- und sicherheits-politische Establishment nicht auf der Hut gewesen.Das gleiche galt für Moskau. In Absprache mit demNationalen Sicherheitsrat hatte LaRouche zwischenWinter 1982 und Frühjahr 1983 vertraulicheGespräche mit Vertretern der sowjetischen Regierunggeführt. Im Mittelpunkt dieser Diskussionen standLaRouches Strahlenwaffen-Paket. Die sowjetische Sei-te hatte schnell die „strategische Revolution“ erkannt,die LaRouches Vorschlag bedeutete, und bestritt auchdessen Realisierbarkeit nicht. Dennoch wurde vonden Sowjets die Möglichkeit kategorisch ausgeschlos-sen, daß sich die US-Regierung jemals diese Strategiezu eigen machen könnte. Nach dem März 1983betrachteten die Sowjets LaRouche dann nicht mehrlediglich als Ärgernis mit anregenden Ideen, sondernals einen Todfeind, der neutralisiert werden müßte.

Anglo-Amerikaner und Sowjets mobilisieren gegen SDI

Bereits vier Tage nach Reagans Fernsehrede begannKPdSU-Generalsekretär Jurij Andropow Reagans SDI-Vorschlag vehement als „hirnverbrannt“ zu attackie-

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ren. Und im April 1983 hatte die politisch-militäri-sche Führung der UdSSR ihre Reaktion auf die SDIendgültig formuliert: Unter keinen Umständen werdedie Sowjetunion den Übergang zu einem strategi-schen Regime akzeptieren, bei dem die SDI einewesentliche Rolle spielte. Amerikanische Vorschlägein Richtung einer „parallelen Entwicklung und Statio-nierung“ strategischer Abwehrsysteme in den Verei-nigten Staaten und Sowjetrußland wurden katego-risch abgelehnt. Die Sowjets wußten ganz genau, daßdie SDI, jenseits der von ihr bewirkten militärtechno-logischen und strategischen Revolution, einscheiden-de Folgewirkungen auf die gesamte amerikanischePolitik und Wirtschaft haben würde.

Henry Kissinger selbst beklagte auf einem Treffender Trilateralen Kommission am 20. April 1983 inRom, daß das anglo-amerikanische Establishment,das über Jahrzehnte die westliche Strategie bestimmthatte, durch die SDI an die Seite gedrängt werdenwürde. Er und sein Umkreis erkannten, daß LaRouchedabei war, entscheidenden Einfluß auf die RegierungReagan zu gewinnen. Es bestand damit die Gefahr,daß die fest etablierte MAD-Doktrin nuklearer Ab-schreckung über den Haufen geworfen würde. Es istbekannt, daß Premierministerin Margaret Thatchereinige Tage nach Reagans Fernsehrede eine lautstarkeAuseinandersetzung mit dem amerikanischen Präsi-denten hatte und ihm vorwarf, mit der SDI die briti-schen Nuklearstreitkräfte — und damit die britischeStellung in der Weltpolitik — untergraben zu wollen.Auch der französische Präsident François Mitterrandwandte sich scharf gegen die SDI.

Hohe Vertreter des US-Außenministeriums ließenausländische Regierungen auf Anfrage wissen, sie soll-ten Präsident Reagans Rede „nicht ernst nehmen“.

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Vizepräsident George Bush gab sich zwar denAnschein, als stehe er bezüglich der SDI loyal zu Rea-gan, doch wissen wir, daß er alles in seiner Macht Ste-hende tat, um die SDI in der Regierung „zurechtzu-stutzen“, wie Kissinger es empfohlen hatte.

Die russische Führung war entschlossen, jede Formvon politischem und diplomatischem Druck sowiemilitärische Nötigung einzusetzen, um die SDI zu Fallzu bringen. Alle sowjetischen Geheimdienstkanäle,Medienkontakte, „nützliche Idioten“ oder Friedens-bewegte in den Vereinigten Staaten und dem Westengenerell wurden zum Kampf gegen die Fürsprecherder SDI aktiviert. Mehr noch als auf äußeren politi-schen und militärischen Druck setzte die sowjetischeFührung auf „interne Absprachen“ mit ihren traditi-onellen Partnern im anglo-amerikanischen Establish-ment. Mit Hilfe diskreter Vereinbarungen hoffte sie,die SDI noch im Keim zu ersticken.

Wir wissen nicht, welche einzelnen Geheimbegeg-nungen zwischen sowjetischen und amerikanischenEstablishmentvertretern in der Zeit April-Mai 1983stattfanden. Wir wissen nur, daß sich Georgij Arba-tow, Leiter des einflußreichen USA-Kanada-Institutsin Moskau, am 27. April 1983 mit Brent Scowcroft,dem damaligen Vizechef von Kissinger Associates, inDenver (Colorado) getroffen hat. Am 26. Mai 1983flog Averell Harriman, eine Schlüsselfigur des anglo-amerikanischen Establishments nach Moskau, ummit Andropow zu sprechen. Vom 24.-28. Mai 1983fand in Minnesota eine hochrangig besetzte sowje-tisch-amerikanische Konferenz statt, auf der über dieSDI diskutiert wurde.

Am 24. April 1983 hatte Andropow selbst demSpiegel ein Interview gegeben, in dem er die Haupt-punkte für eine Art Anti-SDI-Koalition mit dem an-

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glo-amerikanischen Establishment darlegte. Die SDInannte er „gefährliches Abenteurertum“. Gegen einAbrücken von der SDI würde die Sowjetunion denUSA neue, weitreichende nukleare Abrüstungsverein-barungen anbieten. Die sowjetisch-amerikanischenBeziehungen sollten zu einer neuen Art geopoli-tischem Kondominat aufgewertet werden, was auchregionales Krisenmanagement beinhaltete. Schließ-lich, so Andropow, sei die Sowjetunion eine „Konti-nentalmacht“, die andere strategische Interessen ge-genüber Westeuropa und Westasien hätte als die „See-macht“ USA. Andererseits drückte Andropow sein„Verständnis“ aus, daß es den Vereinigten Staatennicht „gleichgültig“ sein könnte, „welche Art Regie-rung in Nikaragua existiert“. Im Rahmen dieser Vor-gaben, meinte Andropow, suche die Sowjetunionnach einer „gemeinsamen Sprache mit der amerikani-schen Seite“.

Das anglo-amerikanische Establishment erledigteseine „Hausaufgaben“ prompt: Die „mittelamerika-nische Falle“, wie LaRouche sich ausdrückte, wurdezum entscheidenden Flankenmanöver der sowjeti-schen Führung zusammen mit dem anglo-amerikani-schen Establishment in ihrem gemeinsamen Feldzuggegen die SDI. Nikaragua wurde zur außenpolitischenZwangsvorstellung der Regierung Reagan, wodurchandere strategische Probleme immer mehr beiseitegedrängt wurden. Dabei spielte Vizepräsident Bushmit seiner Sonderzuständigkeit für verdeckte Opera-tionen eine führende Rolle. Am 13. Oktober 1983 tratder Sicherheitsberater des Präsidenten William Clark,ein wichtiger Fürsprecher der SDI in der RegierungReagan, zurück. Am 8. Dezember 1983 wurde LordCarrington zum NATO-Generalsekretär ernannt. Alshoher Vertreter des britischen oligarchischen Esta-

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blishments und Mitglied von Kissinger Associates warer ein erbitterter Gegner der SDI.

Die kombinierten Bemühungen des sowjetischenund anglo-amerikanischen Establishments, die SDI„zurechtzustutzen“, zeigten Ende 1983 deutlicheFrüchte. In diesem Jahr kam es zu einer dramatischenEskalation von Terrorismus, Destabilisierungsakti-onen und anderen Operationen zur Entfachung vonSpannungen und Konflikten: der Mord an dem PLO-Politiker Issam Sartawi, die Anschläge gegen die US-Botschaft und -Kasernen in Beirut, verstärkte sowjeti-sche Waffenlieferungen an Nikaragua, der US-Militäreinsatz in Grenada, der Abschuß eines südko-reanischen Verkehrsflugzeuges und der Mord an viersüdkoreanischen Kabinettsmitgliedern durch einnordkoreanisches Kommando in Rangun (Burma). ImOktober 1983 fand in Bonn die größte Friedensde-monstration gegen die Stationierung der Pershing-Raketen statt. Im November brach die Sowjetunionsämtliche Abrüstungsgespräche ab und verlegte U-Boote mit Atomraketen vor die amerikanischeKüste.

Trotz dieser massiven, konzertierten Sabotagebe-mühungen konnten die SDI-Gegner ein reales Pro-blem nicht aus der Welt schaffen: Die SDI war in deramerikanisches Bevölkerung äußerst beliebt, und LaRou-che spielte nach wie vor eine entscheidende Rolledabei. Außerdem vermochten es die Sabotagebe-mühungen nicht, den Aufbau einer SDI-Forschungs-infrastruktur zu verhindern. Unter dem Dach der Stra-tegic Defense Initiative Organization (SDIO) von Gen.James Abrahamson wurden signifikante technischeDurchbrüche erzielt.

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Die internationale Kampagne gegen SDI und LaRouche

Am 26. Oktober 1983 erschien in der sowjetischenWochenzeitschrift Literaturnaja Gaseta ein Artikel desKGB-Publizisten Fjodor Burlatzkij, der behauptete, dieSDI — nach seiner Bezeichnung der „Krieg der Sterne“— könnte zum casus belli für die Sowjetunion werden.Genauso vehement zog er über LaRouche wegen des-sen Einsatz für die SDI her.

Im Herbst 1983 und Frühjahr 1984 sprach LaRou-che in Bonn, Rom und Paris auf drei wichtigen Semi-naren über „Strahlenwaffen: Die strategischen Impli-kationen für Europa“. Die Seminare wurden vonhochrangigen Militärs, Vertretern von Politik undWirtschaft sowie der Medien besucht. In allen dreiVorträgen stellte LaRouche seine Vorstellungen überdie Zukunft der Atlantischen Allianz vor: DerAbkömmling der nuklearen Abschreckung, auchbekannt als „Flexible Reaktion“, müsse durch eine aufStrahlenwaffentechnologie basierende Strategieersetzt werden, mit der Westeuropa — insbesondereDeutschland — verteidigt werden könne, ohne daßdabei Verteidigung Selbstzerstörung bedeute. Dieskönne nur durch eine europäische Taktische Vertei-digungsinitiative (TDI) in Ergänzung der amerikani-schen SDI geschehen.

Die sowjetische Antwort auf LaRouche ließ nichtlange auf sich warten. Auf der EIR-Konferenz über SDIam 9. November 1983 in Rom, auf der LaRouchesprach, erschienen nicht weniger als zehn sowjetischeDiplomaten und Medienvertreter. Am 15. Novemberveröffentlichte die sowjetische RegierungszeitungIswestija einen beißenden Schmähartikel über LaRou-che mit dem Titel „Hexensabbat im Hotel Majestic“.

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Die Konferenzteilnehmer wurden als „Steinzeitmen-schen“ tituliert, die gekommen wären, um sichLaRouches „kriminelle“ Propaganda anzuhören, „denWeltraum mit Lasern und anderen ‘totalen Waffen’anzufüllen.“ LaRouche, so Iswestija, veranstalte„Hexensabbate“ in Rom und anderen europäischenStädten, um die Europäer dazu zu verleiten, sich ander „Militarisierung des Weltraums“ zu beteiligen.

Am 12. März 1984 erschien in Iswestija ein weite-rer Artikel über die „skandalösen Beziehungen“ derReagan-Administration zu LaRouche. Als NBC-TVnachfragte, schrieb die sowjetische Regierungszei-tung, „waren ihre Beweise [über die Zusammenarbeitmit LaRouche] so gewichtig, daß das Weiße Haus garnicht erst versuchte, sie zu leugnen.“ Iswestija bedach-te LaRouche mit Charakterisierungen wie „Diener derherrschenden Klasse“, „Faschist“ und „Agent desGroßkapitals“.

Am 2. April 1984 bezeichnete Prawda eine SDI-Konferenz in Paris, auf der LaRouche sprach, als „Kol-loquium von Mördern“. Zwei Tage lang wäre auf derPariser Konferenz in „geschäftsmäßiger Atmosphäre“darüber diskutiert worden, was „die effektivsten Me-thoden des Völkermords“ seien. LaRouche und seine„CIA-kontrollierten“ Anhänger debattierten darüber,„wie man mit einem Schlag Länder auslöscht, derenpolitische Systeme ihren Herren nicht passen, umgleichzeitig das Mekka des Kapitalismus — die Verei-nigten Staaten — [durch die SDI] zu schützen“,schimpfte das KPdSU-Parteiorgan.

Diese Breitseite wilder sowjetischer Attacken aufLaRouche hielt bis Ende der achtziger Jahre an undwurde zunehmend von Verleumdungen in den „lin-ken“ und „liberalen“ Establishmentmedien in denUSA wie in Westeuropa begleitet. Die sowjetische

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Obsession mit der SDI wurde erneut auf dem Gipfel-treffen zwischen Präsident Reagan und KPdSU-Gene-ralsekretär Gorbatschow in Reykjavik im Oktober1986 sichtbar. Gorbatschow ließ das Treffen platzen,weil Reagan immer noch nicht bereit war, die SDI fal-lenzulassen.

Zu diesem Zeitpunkt war es dem anglo-amerikani-schen Establishment allerdings bereits gelungen, dieSDI weitgehend zu verwässern und „zurechtzustut-zen“. Die Mittel für die SDI wurden zusammengestri-chen, und die Forschungsausrichtung der SDIO verla-gerte sich zunehmend auf kinetische Systeme undweg von Lasern, Teilchenstrahlen und anderen aufneuen physikalischen Prinzipien beruhenden Waffen-typen. Die Planung für Raketenabwehrsysteme verla-gerte sich immer mehr weg vom strategischen Bereichhin zu nur noch operativ-taktischen Aufgabenstel-lungen. Am 10. Jahrestag der Rede Reagans vom 23.März 1983 sagte Admiral James Watkins, frühererChef der US-Marine und ehemaliger Energieminister,daß die SDI deswegen nicht verwirklicht worden sei,„weil wir nach 1985 keine Politik für sie festlegten“.Watkins meinte: „Es ist typisch für dieses Land, sichfast an die Spitze, fast auf den Gipfel des Mount Ever-est vorzuarbeiten, und dann zurückzuschrecken.“

Zehn Jahre später, im April 1993, wurde ironi-scherweise die Wirksamkeit von Strahlenwaffen alsVerteidigung gegen Kernwaffen — in den 80er Jahrenhysterisch von der Sowjetführung dämonisiert — undderen Beitrag zur globalen strategischen Stabilität vonPräsident Jelzin auf seinem Gipfeltreffen mit Präsi-dent Clinton in Vancouver (Kanada) eingeräumt. Alsdie russische Führung vorfühlte, ob die US-Regierungan einer Zusammenarbeit bei Strahlenwaffen-systemen interessiert sei, wurde der Vorstoß — dies-

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mal von der amerikanischen Seite — abgeblockt.Nachdem im Oktober 1986 der Iran-Contra-Skan-

dal ausbrach, wurde Präsident Reagan zur „lahmenEnte“, während sich das eigentliche Machtzentrumder Regierung auf Vizepräsident Bush verlagerte. DieHauptverantwortung für die wahrhaft kriminellen,mörderischen Aktivitäten, die sich im Rahmen desIran-Contra-Komplexes ereigneten, liegt bei GeorgeBush, der seit 1981 im Weißen Haus die Aufsicht über„verdeckte Operationen“ führte. Aber Bush ging ausdem Iran-Contra-Skandal fast völlig unbeschädigthervor und wurde am 20. Januar 1989 Präsident.Während der Bush-Jahre wurde die SDI an den Randder militärstrategischen Diskussion gedrängt; manbeschäftigte sich lieber mit der „neuen Weltordnung“und dem Golf-Krieg. Und während der Bush-Jahrewurde LaRouche nach einem der skandalösesten poli-tischen Schauprozesse in der amerikanischen Rechts-geschichte ins Gefängnis geworfen.

Doch weder das SDI-Programm, das 1993 in Ab-wehrprogramm gegen ballistische Raketen — BMD —umbenannt worden war, noch LaRouche verschwan-den von der Bildfläche.

Ein Neuanfang?

LaRouche hat immer wieder betont, daß man Atom-waffen, andere Massenvernichtungswaffen und derenAbschußsysteme nicht verbieten könne. Es gibt sieund wird sie geben; ihre Weiterverbreitung läßt sichnicht verhindern. Der amerikanische Kernphysikerund Militärexperte Edward Teller, der entscheidendenAnteil an der Entwicklung der ersten amerikanischenWasserstoffbombe hatte und zusammen mit LaRou-che zu den wenigen Personen gehörte, die Präsident

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Reagan davon überzeugten, seine SDI-Direktive am23. März 1983 auszusprechen, sagte folgendes überdie jüngsten indischen Atomtests: „Offenbar besitzendie Regierungen, die für fast die Hälfte der Weltbevöl-kerung verantwortlich sind, jetzt bereits nukleareSprengsätze. Somit ist die Weiterverbreitung eine vollen-dete Tatsache. Wir sollten uns nach Wegen umsehen,damit zu leben. Wir sollten darüber nachzudenkenbeginnen, nicht was wir uns wünschen, sondern wasdie Realität ist.“

Die Initiative für einen Neuanfang in der Proli-ferationspolitik muß sicherlich von den USA ausge-hen. Nur die USA haben das Gewicht, eine Neugestal-tung der strategischen Weltordnung wie auch desWeltfinanzsystems einzuleiten. Und nur die Vereinig-ten Staaten sind wirtschaftlich und technologisch ineiner Position, schnellstmöglich effektive SDI-Syste-me zu produzieren, um das zweifellos bestehende„Restrisiko“ auszuschalten, das in der Verbreitungvon Massenvernichtungswaffen steckt. Beispielsweisebefindet sich in den USA das luftgestützte Lasersy-stem (ABL) in einem fortgeschrittenen Entwicklungs-stadium. Das in eine Boeing 747 eingebaute Strahlen-waffensystem besteht aus einem chemischen Laserund einer adaptiven Optik, die den Laserstrahl in derAtmosphäre fokussiert hält. Das ABL kann Raketen inder Aufstiegsphase in einer Höhe von 12 km undeiner Entfernung von 500 km und mehr zerstören.

Das ABL ist ein gutes Beispiel dafür, daß es durch-aus schnelle und wirksame Möglichkeiten gibt,gefährlichen Situationen entgegenzutreten, die sichaus der Verbreitung von Massenvernichtungswaffenergeben. Doch wie eben gesagt, die Vereinigten Staa-ten müssen den ersten Schritt tun, auch wenn Ruß-land trotz seiner schweren Krise nach wie vor eine

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Vielzahl von Plänen und Prototypen für eineStrahlenwaffenverteidigung besitzt. Aber es gibt nochandere Länder in unterschiedlichen Phasen der wirt-schaftlichen Entwicklung, die das Potential haben,sich durch Strahlenwaffen zu schützen.

SDI-Abwehrsysteme bieten außerdem zwei wesent-liche wirtschaftliche Vorteile. Strahlenwaffen sind ausphysikalischen Gründen den „langsamen“ Abfangra-keten nicht nur technisch überlegen, sie sind auchbilliger. Mit Hilfe von konzentrierten Energiepulsenkönnen Strahlenwaffen Angriffsraketen mit „Kostenpro Abschuß“ zerstören, die weitaus unter den Her-stellungskosten von Angriffs- wie Abfangraketen lie-gen.

Gerichtete Energiestrahlen sind eine Schritt-machertechnologie für die Industrie. Bereits heutemachen Werkzeugmaschinen, die mit energiereichenStrahlen arbeiten, erhebliche Fortschritte. Die unge-heure wirtschaftliche Bedeutung von Hochenergie-technologien war bereits Anfang der 80er Jahre einzentraler Aspekt in LaRouches SDI-Strategie. Trotzallen Geredes über die nachindustrielle „Infor-mationsgesellschaft“ hängt das Wachstum der Welt-wirtschaft und ein höherer Lebensstandard für dieWeltbevölkerung tatsächlich mehr denn je von einerAusweitung der Industrieproduktion, der Infrastruk-tur und der Energieherstellung ab. Die kommendedritte industrielle Revolution wird die volle Nutzungdes elektromagnetischen Spektrums bedeuten, zumBeispiel Laser-Werkzeugmaschinen, Kern- und Kern-fusionsenergie, Magnetschwebebahnen (wie im Kon-zept der Eurasischen Landbrücke vorgesehen) undRaumfahrt. Oftmals in der Geschichte haben neueTechnologien zunächst große Veränderungen immilitärischen Bereich erzeugt, um dann die Wirt-

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schaft insgesamt dramatisch voranzubringen.Wie LaRouche wiederholt in den letzten Jahren

gesagt hat: Abwehrsysteme gegen Massenvernich-tungswaffen auf Grundlage gerichteter Energie — egalob zu Land, zu Wasser, in der Luft oder im Weltraumstationiert — sind technologisch möglich, strategischnotwendig und moralisch zwingend geboten.

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Auf einer Pressekonferenz im Berliner Hotel Bristol Kem-pinski unterbreitete Lyndon LaRouche am 12. Oktober1988 einen bahnbrechenden Entwurf: Washington solleder Sowjetunion Unterstützung bei der Bewältigung derverheerenden Versorgungskrise im gesamten Ostblockzusagen und dafür als Gegenleistung Konzessionen hin-sichtlich der Westbeziehungen Polens und der deutschenWiedervereinigung verlangen.

Längere Passagen seiner Berliner Erklärung wurdenanschließend in einer halbstündigen nationalen Fernseh-sendung in den USA verbreitet.

Ich möchte heute darüber sprechen, welche Rolledie amerikanische Politik für die Aussichten der

deutschen Wiedervereinigung spielen kann. Ich kannmir keinen besseren Ort als Berlin vorstellen, um die-sen Vorschlag vorzustellen.

Von Beruf bin ich Wirtschaftswissenschaftler inder Tradition von Gottfried Wilhelm Leibniz und Frie-drich List in Deutschland sowie von AlexanderHamilton und der Brüder Carey in Amerika. Auchmeine politischen Grundsätze teile ich mit Leibniz,List und Hamilton, aber auch mit Friedrich Schillerund Wilhelm von Humboldt. Wie die Gründerväterder Vereinigten Staaten glaube ich ohne Einschrän-kungen an die Notwendigkeit vollkommen souverä-

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LaRouche sagte bereits 1988 die deutsche

Wiedervereinigung voraus

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ner Nationalstaaten und lehne deshalb alle suprana-tionalen Einrichtungen, die die Souveränität einerNation untergraben, ab. Wie Schiller glaube ich, daßjeder Mensch, der eine schöne Seele werden will, einwahrer Patriot und zugleich Weltbürger sein muß.

In den vergangenen 15 Jahre bin ich ein ausgewie-sener Fachmann in den außenpolitischen Angelegen-heiten meines Landes geworden. Infolge dieser Arbeithabe ich in einigen Kreisen meiner Regierung in Fra-gen der Außenpolitik und Strategie wachsenden Ein-fluß gewonnen. So arbeitete ich in den Jahren 1982und 1983 zusammen mit dem Nationalen Sicher-heitsrat am Konzept jener Politik, die später Initiativezur Strategischen Verteidigung, kurz SDI, genanntwurde. Auch wenn die Einzelheiten dieser Zusam-menarbeit vertraulich sind, so kann ich doch sagen,daß meine Ansichten über die gegenwärtige strategi-sche Lage heute in den USA mehr Einfluß haben alszu irgendeinem früheren Zeitpunkt.

Deshalb kann ich Ihnen versichern, daß das, wasich Ihnen nun zum Thema einer möglichen deut-

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LaRouche im Berliner Kempinski-Hotel am 12. Oktober 1988

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schen Wiedervereinigung sagen werde, sehr sorgfältigvon relevanten Kreisen in den Vereinigten Staatengeprüft werden wird.

Viele Menschen sind heute der Meinung, daßunter den richtigen Bedingungen die Zeit gekommenist, erste Schritte hin zu einer baldigen deutschenWiedervereinigung einzuleiten. Es ist offensichtlich,daß Berlin dann wieder die deutsche Hauptstadt wer-den sollte.

Für Amerikaner, Deutsche und alle Europäer stelltsich die Frage: Wird Deutschland wiedervereinigt,indem die Bundesrepublik und West-Berlin in dieökonomische Einflußsphäre des Ostblocks eingebun-den werden, oder gibt es einen anderen Weg? Andersausgedrückt, wird ein wiedervereinigtes DeutschlandTeil eines Europas vom Atlantik zum Ural sein, wie esPräsident de Gaulle vorschwebte, oder eines Europavom Ural bis zum Atlantik, wie es Gorbatschowanstrebt?

Ich sehe die Möglichkeit für eine Wiedervereini-gung nach de Gaulles Vorstellungen. Diese Möglich-keit ergibt sich aus der verheerenden weltweiten Nah-rungsmittelkrise, die seit einigen Monaten offen zumAusbruch gekommen ist und die die Weltpolitik min-destens für die nächsten zwei Jahre bestimmen wird.

Die weltweite Ernährungskrise

Die Wirtschaft des Ostblocks erzeugt nur nochschreckliche Fehlleistungen. In der westeuropäischenKultur hat es sich erwiesen, daß die Erfolge von Län-dern mit Großindustrie von modernen bäuerlichenFamilienbetrieben und dem Mittelstand abhängen.Die sowjetische Kultur in ihrer heutigen Form schafftes nicht, diese Lehren zu übernehmen. Trotz aller

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Reformversuche und trotz reichlicher westlicher Kre-dite hat die Wirtschaft des Ostblock einen Punkterreicht, an dem es selbst dann weiter bergab ginge,wenn es keine Nahrungsmittelkrise gäbe.

Für die nächsten dreißig bis vierzig Jahre scheintmir ein wirklicher Frieden zwischen den VereinigtenStaaten und der Sowjetunion nicht möglich. DasBeste, das wir im Namen des Friedens tun können, ist,einen neuen allgemeinen Krieg zwischen den beidenWeltmächten zu verhindern. Diese Kriegsvermeidungmuß sich teilweise auf die Stärke unserer Waffen undunseren politischen Willen stützen. Sie muß aberauch darauf beruhen, unsere wirtschaftliche Stärkezurückzugewinnen.

Während wir Moskau davon abhalten müssen,sich in gefährliche militärische Abenteuer zu stürzen,müssen wir zugleich eine Lehre beherzigen, die eingroßer Militärwissenschaftler, Nicolo Macchiavelli,vor knapp vier Jahrhunderten aufstellte: Man mußdem Gegner einen sicheren Fluchtweg offenlassen.Wir müssen unsere Volkswirtschaften soweit wiederaufbauen, daß wir den Nationen des sowjetischenBlocks einen Ausweg aus ihrem schrecklichen wirt-schaftlichen Elend anbieten können.

Ich möchte ein konkretes Beispiel anführen.Wegen der Nahrungsmittelkrise regte ich kürzlich

an, eine internationale Vereinigung mit dem Namen„Food for Peace“ (Nahrungsmittel für den Frieden) zugründen. Die Gründungskonferenz hat kürzlich inChikago stattgefunden, und die Vereinigung gewinntin den USA und anderen Nationen, aus denen Dele-gierte kamen, viele Mitglieder.

In meiner Unterstützung von „Nahrungsmittel fürden Frieden“ betonte ich, daß der Sowjetblock imnächsten Jahr ungefähr 80 Millionen Tonnen Getrei-

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de importieren muß. Und das ist nur das absoluteMinimum, um die Grundbedürfnisse der Bevölkerungzu befriedigen. Auch China erlebt eine verheerendeNahrungsmittelkrise. Die Reserven sind erschöpft. DieUSA haben keine Nahrungsmittelreserven mehr, unddank der Europäischen Kommission in Brüssel sinddie Reserven Westeuropas inzwischen verschwindendgering. Im kommenden Jahr werden auch die bislangstetig zunehmenden Importe aus der Dritten Welt indie USA und nach Westeuropa versiegen, da dieErzeugung in großen Teilen des Entwicklungssektorszusammengebrochen ist.

1988 wird die weltweite Getreideerzeugung 1,6 bis1,7 Mrd. Tonnen betragen — katastrophal niedrig.Um 1989 und 1990 die politische und strategischeStabilität zu sichern, brauchen wir jährlich ungefähr2,4 bis 2,6 Mrd. Tonnen Getreide. Damit ließe sich dersowjetische Minimalbedarf decken. Ohne eineannähernde solche Menge wäre das unmöglich.

Wenn sich die Nationen des Westens zu einemlandwirtschaftlichen Notprogramm entschlössen,könnten sie die Erzeugung dieser Menge Getreidegemeinsam sicherstellen. Es wäre eine gewaltigeAnstrengung und bedeutete, die gegenwärtige Agrar-politik der meisten Regierungen und supranationalenInstitutionen über Bord zu werfen, doch es ist mach-bar. Wenn es uns damit ernst ist, die Kriegsgefahr inden nächsten zwei Jahren zu bannen, dann mußgenau dies geschehen.

Entschlösse sich der Westen zu einer solchen Poli-tik der Nahrungsmittelversorgung und zur Lösunganderer wichtiger Wirtschaftsfragen, würden Bedin-gungen entstehen, unter denen eine Wiedervereini-gung Deutschlands im Sinne der Deutschen beider-seits der Mauer vollzogen werden könnte. Ich schlage

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vor, daß die nächste Regierung der Vereinigten Staa-ten dies zum wichtigsten Teil ihrer Außenpolitikgegenüber Mitteleuropa macht.

Wirtschaftlicher Wiederaufbau Osteuropas

Ich werde meiner Regierung folgende konkrete Per-spektive vorschlagen. Wir werden Moskau sagen: Wirhelfen euch. Wir werden uns dafür einsetzen, daßinternationale Abkommen im Sinne der Politik „Nah-rungsmittel für den Frieden“ geschlossen werden,deren Ziel es ist, daß weder die Menschen im Ostblocknoch in den Entwicklungsländern hungern.

In Antwort auf unseren guten Willen sollten wirdann gemeinsam etwas tun, um beispielhaft die wirt-schaftliche Krise im gesamten Sowjetblock lösen zuhelfen. Die Vereinigten Staaten und Westeuropa soll-ten deswegen beim erfolgreichen Wiederaufbau derpolnischen Wirtschaft zusammenarbeiten. Es wirdkeine Einmischung in das politische Regierungssy-stem geben, sondern lediglich eine Art Marshallplan-hilfe für die polnische Industrie und Landwirtschaft.Wenn die Deutschen dem zustimmen, sollte mit derWiedervereinigung der Wirtschaft beider TeileDeutschlands begonnen werden. Das würde zugleichder „punctum saliens“ für die westliche Hilfe beimWiederaufbau Polens.

Die Vereinigten Staaten und die BundesrepublikDeutschland sollten dem Sowjetblock erklären: „Zei-gen wir, was wir mit diesem Projekt, das Sie wirklichnichts kostet, für die Völker Osteuropas tun können.Urteilen Sie dann selbst anhand der Ergebnisse, ob Siedieses Beispiel auch in anderen Fällen anwenden wol-len.“

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Noch zwei weitere Punkte möchte ich anführen.Die nächsten beiden Jahre werden die gefährlich-

sten Jahre in der europäischen Geschichte werden;dasselbe gilt für die ganze Welt. Bereits jetzt droht inAfrika ganzen Nationen wie Uganda die völlige Ver-nichtung. Ein Massenwahn, wie ihn Europa seit denfinsteren Tagen des 14. Jahrhunderts nicht mehrerlebte, hat Kambodscha bereits ruiniert, droht heuteden Nahen Osten zu ergreifen und ist mehr oderweniger in allen Teilen der Welt auf dem Vormarsch.Wegen der Krisen, die sich in den kommenden Jahrendramatisch verschlimmern werden, wächst dieGefahr eines neuen Weltkrieges wie nie zuvor. DiePolitik der Regierungen in den nächsten zwei Jahrenwird das Schicksal der Menschheit im nächsten Jahr-hundert und darüber hinaus bestimmen.

Es gab in der Geschichte vergleichbare, wenn auchnicht identische Krisenzeiten. Doch soweit wir wis-sen, ereigneten sie sich niemals gleichzeitig auf globa-ler Ebene.

Ich möchte an das berühmte Beispiel eines Deut-schen aus der Weimarer Zeit erinnern. Der Herr warvon der Unausweichlichkeit eines Zweiten Weltkrie-ges überzeugt. So suchte er in der Welt nach einemOrt, an den er sich mit seiner Familie vor dem kom-menden Krieg in Sicherheit bringen könnte. Als derKrieg ausbrach, lebte er mit seiner Familie auf derInsel Guadalcanal, auf den entlegenen Salomonen.(Die Insel wurde 1942 von japanischen Streitkräftenbesetzt und später in schweren Kämpfen von derAmerikanern zurückerobert, d.Red.)

Es gibt keinen sicheren Schlupfwinkel, in den sichjemand in einer krisengeschüttelten Welt ohne Nah-rungsmittel zurückziehen könnte. Man kann sich vorder Politik nicht verstecken und sich lediglich um die

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eigene Karriere und Familie kümmern, bis die Stürmevorbei sind. Es gibt keinen Platz, an dem man sich ver-stecken könnte. Es gibt keinen Platz für die politischenPragmatiker an den Regierungsspitzen. Wenn wirüberleben wollen, müssen wir kühne und einfallsrei-che Entscheidungen treffen, die zugleich richtig seinmüssen. Es ist an der Zeit, daß die Vereinigten Staatengegenüber Mitteleuropa kühne Entscheidungen fällen.

Auch wenn hier kein sowjetischer Vertreter anwe-send ist, können wir sicher sein, daß der gesamteInhalt meiner Ausführungen binnen weniger Stun-den in Moskau sein und dort auf hoher Ebene durch-dacht werden wird. Die sowjetische Führung hat inihren Zeitungen und an anderer Stelle viele Malegeäußert, daß sie mich unter den wichtigen heutigenPersönlichkeiten für ihren Hauptgegner hält. Nichts-destoweniger betrachtet mich Moskau mit einermerkwürdigen Faszination; und seit Präsident Reagandie SDI ankündigte, hält man im Kreml alles, was ichpolitisch von mir gebe, für einflußreich und sehrglaubwürdig.

In Moskau wird man meine jetzige Erklärunglesen. Dann werden die sowjetischen Führer wiegewöhnlich abwarten, welches Echo dieser Bericht inKreisen des amerikanischen Establishments und derRegierung hervorruft. Sobald sie aus diesen Kreisenein entsprechendes Signal auffangen, werden die Her-ren in Moskau meinen Vorschlag sehr ernst nehmenund anfangen, die Meinungen darüber in den USAund Europa zu erforschen.

Deutschlands souveräne Entscheidung

Was mich betrifft, so denke ich, daß die Deutschensouverän über das Schicksal ihrer Nation bestimmen

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sollen. Meine Funktion liegt darin, das Entschei-dungsspektrum der Deutschen zu vergrößern. Darumbin ich nach Berlin gekommen, von wo aus dieserVortrag in Moskau und anderenorts die größte Wir-kung erzielen wird.

Ich möchte mit der folgenden Bemerkungschließen: Moskau haßt mich, aber auf ihre eigenemerkwürdige Weise glauben die Sowjets, daß ich Worthalte. Moskau wird zu Recht glauben, daß meineAbsichten ihnen gegenüber genau die sind, die ichIhnen heute hier darlege. Ich hoffe deshalb, daß das,was ich hier und heute in Gang setze, ein nützlicherBeitrag sein wird, daß Deutschland sein souveränesRecht auf die Wahl seines eigenen Schicksals wahr-nimmt.

Ich kenne meine deutschen Freunde und Bekann-ten recht gut und teile die Ansichten jener, dieDeutschland im ehrenden Angedenken an Leibniz,Schiller, Beethoven, Humboldt und den großenStaatsmann der Freiheit, Freiherr vom Stein, halten.Wenn ich auch Deutschlands Entscheidung nichtsicher vorhersagen kann, glaube ich doch, wenn das,was ich hier heute initiiert habe, zum Erfolg gebrachtwird, das Reichstagsgebäude der Sitz des künftigendeutschen Parlaments und das wunderschöne Char-lottenburger Schloß Regierungssitz sein wird.

Ergeben sich die Bedingungen, unter denen dasgeschieht, so wird Präsident de Gaulles Traum voneinem Europa vom Atlantik bis zum Ural das friedli-che Ergebnis geduldiger dreißigjähriger Staatskunstsein. Ein dauerhafter Frieden würde in Europa undder Welt dann noch zu Lebzeiten jener herrschen, dieheute gerade die Universitäten verlassen.

Heute bin ich auch ein Berliner.

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Drei Wochen nachdem der Fall der MauerDeutschland in einen Freudentaumel versetzt

hatte, erschütterte ein terroristisches Bombenattentatdie Republik, dessen Auswirkungen bis zum heutigenTag spürbar sind. Zwar war unmittelbar nach der Tatbereits deutlich, daß mit Alfred Herrhausen eine derbedeutendsten Persönlichkeiten Deutschlands unddarüber hinaus der internationalen Finanzwelt ermor-det worden war, jedoch blieben die eigentlichen Hin-tergründe dieses Attentats sowie seine tatsächlichenAuswirkungen verschleiert, sie wurden zumindestnicht öffentlich erörtert. Die Politik schien sich vonder Ermordung eines wichtigen und engen Beratersdes Bundeskanzlers nicht sehr beeindrucken zu las-sen, der Zug Richtung Wiedervereinigung — wennauch nicht annähernd so schnell wie sie tatsächlichverwirklicht wurde — schien ins Rollen zu kommen.

Zunächst einmal gelang es, der Öffentlichkeit mitder vorgeblich authentischen Tatbekennung der„Rote Armee Fraktion“ (RAF) ein glaubwürdiges Paketvon Scheininformationen zu verkaufen, das ange-sichts der langen Geschichte der RAF als bombendeund schießende Truppe irregeleiteter Desperados imUntergrund zunächst schlüssig zu sein erschien. War-

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RÜDIGER RUMPF

Das Attentat auf Alfred Herrhausen: Mord als

Mittel der (Geo)politik

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um sollte die Terrorbande, die den Staat bereits seitzwei Jahrzehnten bekämpft, nicht auch noch denChef der größten und wichtigsten Bank Deutschlandsermorden? Hatte die Bande es nicht auch geschafft,seit zweieinhalb Jahrzehnten immer neue Köpfe her-vorzubringen, deren nunmehr „dritte Generation“ —die erste war völlig zerschlagen worden, zum Teilschon verstorben, die zweite war entweder in Haftoder seit Jahren verschwunden — sogar den Fahn-dungsbehörden völlig unbekannt zu sein schien?Selbst nach dem Eingeständnis von Generalbundes-anwalt Kurt Rebmann gab es seit Mitte der 80er Jahrekeinen einzigen Sachbeweis für die Täterschaft einertatsächlich identifizierbaren Person im Zusammen-hang mit den der „RAF“ zugeschriebenen Terrorakti-vitäten.

Der Fall der Mauer gebiert Ungeheuer

Man muß es wohl als ironische Wendung derGeschichte bezeichnen, daß ausgerechnet der unblu-tige Sturz der SED-Diktatur dazu führte, daß einige derbestgehüteten Geheimnisse der hiesigen Nomenkla-tura hinter dem zerrissenen eisernen Vorhang zumVorschein kamen. Dies geschah, als die frisch imFrühjahr 1990 gewählte letzte DDR-Regierung anfing,auf dem eigenen Territorium plötzlich den größtenTeil der seit Jahren gesuchten RAF-Terroristen zu ver-haften und an die Sicherheitsbehörden der Bundesre-publik Deutschland auszuliefern. Bald stellte sich her-aus, daß diese Personen, die überall auf den Terrori-sten-Fahndungsplakaten („Vorsicht Schußwaffen!“)abgebildet waren, sich keineswegs zu einem Urlaub inder DDR aufgehalten hatten, sondern völlig abge-schottet als DDR-Bürger im sozialistischen Alltagsgrau

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gelebt hatten. Nach einigen Mediengeplänkeln überdie Frage, ob dann nicht die DDR schon von Anfangan die eigentliche Drahtzieherin des Terrorismus inder Bundesrepublik gewesen sein könnte, stellte sichheraus, daß zwar hier und da durchaus Mielkes Staats-sicherheitsapparat Schützen- und wohl auch Flucht-hilfe geleistet hat, aber beileibe nicht als Initiator oderAuftraggeber der RAF der ersten und zweiten Genera-tion bezeichnet werden konnte. Auch konnte in denbisherigen Strafverfahren gegen die RAF-Aussteiger,die inzwischen weitgehend ihre Strafen abgesessenhaben, die anklagende Bundesanwaltschaft keineBeweise für eine irgendwie geartete Unterstützung derTerrortruppe in der Zeit vor ihrer „Einbürgerung“ inder damaligen DDR vorbringen.

Die Bundesregierung hat stets abgestritten, vomAufenthalt der RAF-Kader in der DDR gewußt zuhaben. Die Autoren des „RAF-Phantoms — Wozu Poli-tik und Wirtschaft Terroristen brauchen“1 haben inihrem erstmals 1992 erschienenen Buch geschrieben,daß die Bundesregierung auf eine Anfrage des West-deutschen Rundfunks vom 5. Juli 1990 geantwortet hat:„Das Bundeskanzleramt hat erst durch die Festnah-men im Juni 1990 vom Aufenthalt der ,RAF’-Mitglie-der in der DDR erfahren.“ Die Autoren wiesen durchAbdruck eines Aktenvermerks der Abteilung Terroris-mus des BKA aus dem Jahre 1986 nach, daß dies nichtsein kann. Auch das Abstreiten einer Absprache zwi-schen DDR-Regierung und Bundesregierung2 hat

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1. Gerhard Wisnewski, Wolfgang Landgraeber, Ekkehard Sieker, DasRAF-Phantom, Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf.,München, erw. Neuauflage 1997.

2. RAF-Phantom, Seite 383, Bezug auf Bundestagsdrucksache vom 8.April 1992.

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unter diesen Umständen keine Glaubwürdigkeit. Indem Zusammenhang ist der Hinweis der Autoren des„RAF-Phantoms“ wichtig, daß der ehemalige BND-Chef und spätere Außenminister Klaus Kinkel 1992persönlich versuchte, dem damaligen Stern-TV-Teamden Bericht über die Regierungsabsprachen zwischenBundesrepublik Deutschland und DDR zu den RAF-Aussteigern auszureden, indem er darauf hinwies, daßeine solche Absprache „de jure mit der Unterstützungeiner terroristischen Vereinigung gleichzusetzen“ sei.Zweifelsohne eine Ansicht, der man sich nicht völligverschließen kann. Auch ist in dem „RAF-Phantom“auf die Aussage des ehemaligen CIA-Missionschefs(1976 bis 1979) an der amerikanischen Botschaft inBonn George A. Carver hingewiesen worden.3 Carverließ in der tageszeitung vom 27. März 1992 keinenZweifel daran, daß die deutschen Sicherheitsbehör-den schon Anfang der 80er Jahre von den RAF-Aus-steigern in der DDR wußten. Mehrfach sei dies zwi-schen amerikanischem und westdeutschem Geheim-dienst erörtert worden.

Wenn aber zehn der meistgesuchten Terroristen,einschließlich der jahrelang als Führungskadergemutmaßten Inge Viett, die wohl tatsächlich zu denursprünglichen Kontaktleuten der Stasi in der west-deutschen und West-Berliner Terroristenszene zählte,mit den spektakulären Terroranschlägen einer „RoteArmee Fraktion“ seit 1984 nachweislich nichts zu tunhatten, stellt sich zwangsläufig die Frage, wer denndann die sagenumwobene dritte Generation der RAFwar?

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3. RAF-Phantom, Seite 381.

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In den auf die Wiedervereinigung folgenden Jah-ren führte jeder Versuch der Bundesregierung undihrer Behörden, einen Nachweis für die Existenz die-ser „dritten Generation“ zu führen, zu immer peinli-cheren Enthüllungen wie die Präsentation des angeb-lichen Kronzeugen Siegfried Nonne und auch kata-strophalen Ereignissen wie 1993 in Bad Kleinen. Jederdieser Versuche führte dazu, ein wenig mehr derWahrheit ans Licht zu bringen, die da heißt, daß eskeine „dritte Generation der RAF“ gegeben hat. Nachlangen Jahren der Schwierigkeiten, die Öffentlichkeitan diese Wahrheit zu gewöhnen, ließ das Bundesin-nenministerium nun die Katze aus dem Sack.

Am 29. Juli 1998 berichtete die Süddeutsche Zeitungunter der Überschrift „,Rote Armee Fraktion’ bestehtaus drei Leuten“ über eine vertrauliche Analyse desBundesamts für Verfassungsschutz („Die Auflösungder RAF“), die nach der sogenannten Selbstauflö-sungserklärung der RAF von April 1998 entstandenist. In der 38 Seiten umfassenden Analyse heißt es,daß selbst bei den mit Haftbefehl gesuchten mutmaß-lichen RAF-Mitgliedern sich mittlerweile „Zweifel ander tatsächlichen Zugehörigkeit zum Kreis der Illega-len ergeben“ hätten. Dazu wird auch Andrea Klumpgezählt, die an dem Mordanschlag auf Alfred Herr-hausen beteiligt gewesen sein soll.

Der lange als Haupttäter beim Herrhausen-Atten-tat offensichtlich unschuldig verfolgte ChristophSeidler hatte sich bereits Ende 1996 den Behördengestellt, die daraufhin den Haftbefehl gegen ihn auf-heben mußten. Seidler hatte nichts mit der „RAF“ zutun.

Wer aber hat die brutalen Morde einschließlich desAttentats auf Herrhausen begangen, wenn nicht dieTruppe von „Desperados“, wie sie von den Sicher-

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heitsbehörden oft charakterisiert wurden? War esmöglich, daß sich in der elektronisch erfaßten Bun-desrepublik im Zeitraum von 1985 bis Ende 1989 eineTerrororganisation erfolgreich der Feststellung ihrerpersönlichen Zusammensetzung entziehen konnte?War es möglich, daß eine Terrororganisation bei kei-nem ihrer zahlreichen Verbrechen ein Haar, einenSpeichelrest, ein identifizierbares Kleidungsstück,wenigstens das Fragment eines Fingerabdrucks, einenverlassenen Unterschlupf, verzweifelt suchendeAngehörige oder sonst etwas hinterlassen hätte, daseiner Einkreisung hätte dienen können? Wohl kaum.Selbst in den inzwischen verstrichenen neun Jahrenseit dem Attentat haben Tausende von Terroristen-fahndern keinen brauchbaren Hinweis auf die Täterliefern können.

Immerhin hatten Zeugen am Ort der ErmordungHerrhausens — nach Angaben der Sicherheitsbehör-den hatten die Terroristen eine Sprengfalle gebaut —bis zu einem Dutzend Leute gleichzeitig gesehen, esmußten also eine erhebliche Anzahl von Personen ander Vorbereitung und Ausführung des Bombenatten-tats beteiligt gewesen sein, jedoch wissen die Sicher-heitsbehörden eigenem Bekunden zufolge nicht, werdas gewesen sein könnte. Das ist um so erstaunlicher,als die gesamte Gegend um den Ort des Anschlageseiner intensiven Beobachtung durch örtliche Polizei,Landeskriminalamt, privatem Sicherheitsdienst undwegen der Bedeutung der Persönlichkeit sicherlichauch des hessischen Verfassungsschutzamtes sowiedes Bundeskriminalamtes unterlag. Während aberHausmeister und andere zufällige Zeugen eine Viel-zahl von Joggern und anderen Personen am Tatortbemerkten, war sämtlichen offiziellen Sicherheitsspe-zialisten selbst eine halbe Stunde vor dem Anschlag

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nichts aufgefallen. Wenn man berücksichtigt, daß inder Zeit vor dem Anschlag am 30. November 1989 biszu fünf Personen den Ort des Anschlages als Baustellemit Absperrung eingerichtet hatten und mit Hammerund Meißel eine Rinne in den Asphalt schlugen, indem sie das Kabel für die angebliche Zündvorrichtungverlegten, mutet diese Art behördlicher Wahrneh-mungsstörung schon erstaunlich an.

Der damalige Bundesinnenminister WolfgangSchäuble lehnte vor dem Innenausschuß des Deut-schen Bundestages eine Woche nach dem Anschlagjede Auskunft über Untersuchungsergebnisse mitdem Hinweis auf die noch laufenden Ermittlungen abund gab lediglich zu Protokoll, daß die „Substanz desTäterschreibens in einem Gegensatz steht zur Schwe-re und technischen Perfektion des Anschlages.“ Sogardem ebenfalls von dem Innenausschuß des Deut-schen Bundestages am 7. Dezember 1989 vernomme-nen ehemaligen Präsidenten des Bundesamtes fürVerfassungsschutz Richard Meier war bekannt, daß„man durch eine Begehung der näheren Umgebungdes Tatortes eine halbe Stunde vor Alfred HerrhausensAbfahrt mit geübtem Auge hätte sehen können, daßzwei junge Männer in Joggingkleidung mit einemHörgerät im Ohr, also in Sprechverbindung zueinan-der, an einem Fahrrad hantierten“. 4

Auch provozierte Meier vor dem besagten Innen-ausschuß des Bundestages am 7. Dezember 1989scharfe Kritik gegen seine Person, als er behauptete,das Vorausfahrzeug Herrhausens sei „abgezogen“worden. 5

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4. RAF-Phantom, Seite 113.5. RAF-Phantom, Seite 112.

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Wem war Herrhausen ein Dorn im Auge?

Wenn es als weitgehend ausgeschlossen erscheint, daßAlfred Herrhausen aus „politisch-ideologischen“Gründen von „verblendeten Desperados“ umgebrachtwurde, kommt zwangsläufig die Frage auf, wer denndann ein Interesse an seiner Ausschaltung hatte. Zudieser Frage hat der amerikanische Geheimdienstex-perte Oberst a.D. Fletcher Prouty einen interessantenBeitrag geleistet. Prouty hatte in den sechziger JahrenJim Garrison, dem Bezirksstaatsanwalt von New Orle-ans, der das Attentat auf den amerikanischen Präsi-denten John F. Kennedy untersuchte, die entschei-denden Hinweise auf die Verschwörung hinter demMord gegeben. Anfang der 90er Jahre hatte Proutydem amerikanischen Regisseur Oliver Stone bei dessenVerfilmung des Mordes an Kennedy die Hintergründedieser Verschwörung erläutert. In dem Film selbst wirdProuty durch die Figur „Mr. X“ verkörpert.

Prouty sieht zwischen den Morden an Kennedyund an Herrhausen erhebliche Parallelen: „Sein Tod(Herrhausens, d. Verf.) zu dieser Zeit... und die er-schreckenden Umstände seines Todes... ähneln derErmordung Präsident Kennedys 1963. Betrachtet mandie enormen Ereignisse in der Sowjetunion, in Osteu-ropa und besonders in Deutschland, hat die Ermor-dung Herrhausens eine große Bedeutung. Er darfnicht als einer von vielen Terroranschlägen unter denTeppich gekehrt werden... Wirkliche Terroristenermorden einen Bankpräsidenten nicht ohne Grund.Die meisten Terroristen sind bezahlte Schachfigurenund Werkzeuge großer Machtzentren. Irgendeingroßes Machtzentrum wollte den Vorstandssprecherder Deutschen Bank an dem Tag auf genau die Artund als Lektion für andere beseitigt sehen. Es muß in

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der Art und Weise seines Todes eine Botschaft gelegenhaben.“

Vorher hatte Prouty erklärt: „Es ist absolut erstaun-lich, daß die brutale Ermordung dieses Mannes...Alfred Herrhausen... so plötzlich auch wieder aus denSchlagzeilen genommen wurde. Die Deutsche Bank inDeutschland ist zweifellos eine der wichtigsten Ban-ken in der Welt und ihr Sprecher Herrhausen wareiner der bedeutendsten Sprecher des Bankgewerbesauf der Welt. Er wäre eine Schlüsselfigur bei allen Ent-wicklungen in Osteuropa und der ehemaligen Sowjet-union gewesen.“

An anderer Stelle hatte Prouty gesagt, daß derSchlüssel zu Herrhausens Ermordung in den ersten elfSeiten einer Rede gelegen habe, die Herrhausen am 4.Dezember 1989 in New York hatte halten wollen. Indieser Rede wollte Herrhausen den geradezu revolu-tionären Vorschlag unterbreiten, nach dem Vorbildder deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau, dienach dem Zweiten Weltkrieg die Deutschland ausdem Marshall-Plan zufließenden Finanzmittel sehrwirkungsvoll zur Wirtschaftsförderung verteilt hatte,eine Entwicklungsbank für Polen zu gründen und mitFinanzmitteln westlicher Banken auszustatten.Dadurch sollte Polen ein westlich finanzierter Wirt-schaftsaufschwung ermöglicht werden, der zu diesemZeitpunkt sehr unwahrscheinlich war, denn Polenächzte unter einer enormen internationalen Schul-denlast, von der es sich aus eigener Kraft kaum hättebefreien können. Grundlage des von Herrhausengeplanten Wirtschaftsaufschwungs für Polen wärendenn auch ein fast völliger Verzicht der westlichenBanken und Staaten auf das Eintreiben der ausstehen-den Kredite gewesen. Offensichtlich deckte sich dieserVorschlag weitgehend mit dem, den Lyndon LaRou-

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che ein Jahr zuvor in Berlin gemacht hatte (siehe dazuden Beitrag auf S.126).

Wie Prouty hervorhob, reihte sich Herrhausendamit in eine Reihe von Politikern und Wirtschafts-führern ein, die alle aus demselben Grund ermordetworden seien, weil sie nämlich die Kontrolle der Weltdurch das „Kondominat von Jalta“ durchbrechenwollten. Dazu zählte Prouty John F. Kennedy, AldoMoro, Enrico Mattei sowie Olof Palme.

Zweifelsohne hätte Herrhausen mit dieser nichtgehaltenen Rede ein weiteres Mal das herrschendeManagement in der sich anbahnenden katastropha-len Schuldenkrise in Frage gestellt, das über seineInstitutionen Internationaler Währungsfonds (IWF)und Weltbank eine Politik betrieb (und nochbetreibt), die dem Gedankengut Herrhausens oderLaRouches diametral gegenüberstand. Ziel der Politikdieser Institutionen war gerade nicht die wirtschaftli-che Entwicklung der Schuldnerländer des IWF, zudenen auch Polen gehörte, sondern die Schuldnersollten durch sogenannte Struktur- und „Finanzrefor-men“ in die Lage versetzt werden, ihre nach allenMaßstäben eigentlich unbezahlbaren Kredite zubedienen, und sei es auf „Kosten des Lebens des Pati-enten,“ d.h. dessen Wirtschaft und Bevölkerung.Angesichts einer solchen Ausrichtung ist es nicht ver-wunderlich, daß diese Politik in der Tat in keinemLand der Erde ihre Wirkung verfehlt hat, denn in kei-nem Land hat es seit Beginn der Schuldenkrise vorüber 30 Jahren eine nennenswerte wirtschaftlicheEntwicklung gegeben. Das kann aber nicht verwun-dern, denn das letzte Jahr, in dem es einen Netto-Kapitaltransfer von den finanzstarken Industrielän-dern in die eigentlich fälschlich so genannten Ent-wicklungsländer gegeben hat, ist das Jahr 1964!

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Herrhausen hatte auch auf der Jahrestagung desIWF zwei Jahre vor seiner Ermordung der Überzeu-gung Ausdruck verliehen, daß die einzige Möglichkeitzur Beendigung der Schuldenspirale nicht nur fürPolen in einem zumindest teilweisen Schuldenmora-torium und einer anschließenden Hilfe zum wirt-schaftlichen Aufbau der Schuldnerländer bestand.Mit dem Vorschlag hatte er erneut das Feuer der inter-nationalen Finanzwelt auf sich gezogen. Der Herr-hausen-Biograph Dieter Balkhausen6 zitierte Herrhau-sen, der nach einem solchen Treffen recht fluchtartigWashington verlassen hatte mit den Worten, die Luftsei „bleihaltig“ geworden. Auch bei anderen Gelegen-heiten ließ Herrhausen erkennen, daß er sich in derTat in der Rolle eines „Erneuerers“ sah, dem schonMacchiavelli als Warnung mitgegeben habe, daß erdie Nutznießer des alten Systems zum Gegner habe,während die möglichen Nutznießer des neuenSystems ihn bestenfalls halbherzig unterstützen wür-den. Das war vor 300 Jahren nicht anders als in derGegenwart. Die Nutznießer des alten Systems warenmit Sicherheit die internationale Bankenwelt, für dieein Abschreiben ihrer Außenstände in der DrittenWelt einen existenzgefährdenden Einschnitt bedeutethätte.

Die Deutsche Bank befand sich in der internatio-nalen Bankenwelt in einer weitgehend einzigartigenSituation, da sie über Jahre ihre starken Erträge dazubenutzt hatte, ihre zweifelhaften Außenstände fastvöllig abzuschreiben! Eine ernsthaft und öffentlichgeführte Debatte darüber, daß die am höchsten ver-

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6. Dieter Balkhausen, Alfred Herrhausen, Macht, Politik und Moral,ECON-Taschenbuch-Verlag, Düsseldorf, Wien 1992.

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schuldeten Länder z.B. in Iberoamerika tatsächlichzahlungsunfähig waren, hätte völlig zwangsläufigdazu geführt, daß die internationalen Konkurrentender Deutschen Bank ihre Außenstände hätten eben-falls abschreiben müssen, jedoch ohne sich das lei-sten zu können. Eine Herabsetzung der Kreditwürdig-keit dieser Banken unter das Niveau, das für ein Enga-gement im internationalen Geschäft absolute Voraus-setzung ist, wäre unerläßlich geworden.

Herrhausen war nicht der Erfinder dieser — ange-sichts der sonst herrschenden Praktiken im interna-tionalen Bankwesen — außergewöhnlich progressi-ven Geschäftspolitik der Deutschen Bank. Schon Jah-re vor Herrhausen war Werner Blessing vom Vorstandder Deutschen Bank durch öffentliche Kritik amSchuldenkrisenkonzept der weltweit führenden Ban-ken und Finanzinstitutionen aufgefallen. Der Wirt-schaftsjournalist Balkhausen notierte, daß AlfredHerrhausen sich von den Ausführungen Blessings zudiesem Thema beeindruckt zeigte. Blessing hatte —als Vorstandsmitglied der Deutschen Bank für Nord-amerika zuständig — im Juni 1987 bekanntgegeben,daß sich sein Institut in Zukunft stärker auf dem ame-rikanischen Markt engagieren werde. Die DeutscheBank wäre damals nach der Citicorp zweitgrößte Bankin den USA geworden.

Werner Blessing starb 1987 an einem Herzinfarkt.Herrhausens Nachfolger in der Position des Sprechersder Deutschen Bank buckelte nur Monate nach Herr-hausens Ermordung: „Dagegen glaube ich, daß dieberühmte Idee von der globalen Megabank ziemlichtot ist.“ Herrhausen hatte noch unmittelbar vor sei-nem Tod verdeutlicht, daß sich die Deutsche Bankzukünftig weltweit betätigen wollte. Erstmalig in derGeschichte der Bundesrepublik hatte die Deutsche

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Bank ein international führendes Investmenthaus,Morgan-Grenfell in London, für fast drei MilliardenD-Mark aufgekauft und damit auf fast schon aggressivscheinende Art und Weise demonstriert, daß dieBeschränkung auf eine führende Rolle in Deutschlandder Vergangenheit angehörte.

Ein großes Problem, wenn auch zunächst nichtoffensichtlich, war die isolierte Position Herrhausens,die sich gerade aus der relativen Stärke der DeutschenBank im Vergleich zu anderen, auch deutschen, Ban-ken ergab. Obwohl alle deutschen Großbanken sichfrühzeitig zu großzügigen Abschreibungen ihrerAußenstände an unsichere Länder gezwungen sahenund deshalb auch einer eventuellen Schuldenstrei-chung für die ärmsten Länder gelassen hätten entge-gensehen können, hatte Herrhausen dort keineAnhänger. Bereits Blessings Ideen zu Schuldenreduk-tionen und Zinserlässen waren in Bankkreisen als„Schnapsideen“ denunziert worden. Der als führen-der Herrhausen-Gegner geltende Walter Seipp, Vor-standssprecher der Commerzbank, hatte nicht nurAbneigung gegen Herrhausen, sondern die FrankfurterRundschau bescheinigte ihm einen regelrechten Haßauf seine Kollegen von der großen Konkurrenz. DieKritik aus Bankerkreisen warf Herrhausen schlichtvor, „unsolidarisch“ zu sein.7

Herrhausen als Berater des Kanzlers

Es war vor dem Attentat weithin bekannt, daß Herr-hausen bedeutenden Einfluß auf Bundeskanzler Hel-mut Kohl genommen hatte und die Ansichten des

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7. Balkhausen, Herrhausen. Macht, Politik und Moral, Seite 162.

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Kanzlers zu den Perspektiven einer möglichen Wie-dervereinigung mitgeprägt hatte, wie dieser sie am 28.November 1989 in Form seines Zehn-Punkte-Pro-gramms dem Bundestag vortrug. Das dürfte in glei-chem Maße für die Ansichten des Bundeskanzlers zueiner Wirtschafts- und Währungsunion zutreffendgewesen sein, für deren Verwirklichung Kohl einepolitische Union europäischer Staaten als Vorausset-zung vorsah; und die lag in sehr weiter Ferne.

Wie durch die zwischenzeitliche Veröffentlichungder geheimen Regierungsakten8 bekannt geworden ist,hatte Kohl am 27. November 1989 dem auf eine bal-dige Festlegung eines Zeitrahmens für die Wirtschafts-und Währungsunion drängenden französischen Präsi-denten François Mitterrand, der gleichzeitig auf dieerforderliche Zustimmung der vier Mächte zu einermöglichen Wiedervereinigung Deutschlands pochte,die Schwierigkeiten und Bedenken auf dem Weg zurpolitischen Union geschildert. Insbesondere die„großen Divergenzen in der Stabilitätsentwicklung“gefährdeten „das tatsächliche Erreichen der Konver-genzziele in der ersten Stufe“ der Währungsunion.

Am 30. November 1989 wurde Herrhausen, derwohl wichtigste Berater Kohls in Fragen einer europäi-schen Währungsunion, ermordet, während Mitter-rand am selben Tage — der Brief ging am 1. Dezember1989 in Bonn ein — kategorisch verlangte, daß „wirin Straßburg Entscheidungen treffen, die unsunmißverständlich auf den Weg der Wirtschafts- undWährungsunion verpflichten.“

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8. Dokumente zur Deutschlandpolitik, Deutsche Einheit. Sondereditionaus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, Oldenbourg Ver-lag, München 1998.

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Bereits am 5. De-zember rückte Kohlvon seiner bisherablehnenden Hal-tung ab. Das Tref-fen in Straßburgwar für den 9.Dezember geplant.Kohl stimmte dortfür den Beschluß,ein Jahr später dieRegierungskonfe-renz zur Herstel-lung der Wäh-rungsunion einzu-setzen — gegen dieInteressen Deutschlands, wie er dem amerikanischenAußenminister James Baker drei Tage später einge-stand. 9

Während zum Zeitpunkt der Ermordung Herrhau-sens die Kritik an der von ihm vertretenen Politiknoch nicht offen hervorgebrochen war, sollte sich dasim Frühjahr 1990 ändern. Die Sabotage der britischenRegierung Thatcher an den Bemühungen Bonns, dieWiedervereinigung zu erreichen, kulminierte in derPropagandakampagne gegen Deutschland als demangeblich entstehenden „Vierten Reich“ und demunverschämten Versuch, Helmut Kohls und AdolfHitlers Ambitionen gleichzusetzen (siehe dazu denBeitrag auf S.173).

Verglichen mit den fürchterlichen Verwüstungender Weltkriege sind die Anstrengungen in einem

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9. Der Spiegel 18/1998, Seite 108ff.

Alfred Herrhausen

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„Krieg geringer Intensität“ (low intensity warfare), imVolksmund auch als terroristische Kriegsführungbekannt, ein relativ geringer Aufwand. Wenn es aberdoch gelingt, mit einer geradezu winzigen Anstren-gung dem Gegner seinen eigenen Willen aufzuzwin-gen, beweist das doch eine weitaus bessere Beherr-schung der Machtmittel, mit denen ein politischerSieg, nämlich die Unterordnung eines Gegners unterden eigenen Willen, zu erreichen ist. Sicherlich ist esbei derartigen Aktionen wichtig, daß die Art und Wei-se der Tötung bzw. mehr oder weniger grausamenHinrichtung eines nicht nur symbolischen Gegners —ihm muß schon eine strategische Rolle zukommen —eine Nachricht enthält, wie Prouty richtig sagte. DieNachricht lautet: Es gibt vor uns, den Tätern, keinenSchutz, wir begehen unsere Taten sehr öffentlich undsind unangreifbar.

Allein schon die zeitliche Überlappung zwischenden weitgehend geheimen Verhandlungen angeblichbefreundeter oder zumindest verbündeter Regierun-gen und der öffentlich geradezu zelebrierten Greuel-tat läßt keinen Zweifel daran, daß im Fall Herrhauseneine solche Nachricht an die regierende Kaste derBundesrepublik Deutschland übermittelt wurde.Erschreckend ist aber im gleichen Maße, daß sich dieInstitutionen der Bundesrepublik durch ihre Bündnis-verpflichtungen offensichtlich zur Verschleierungeiner solchen Erpressung verpflichtet fühlten.

Es ist zu vermuten, daß die Nachricht, die mit derErmordung des Beraters des Bundeskanzler inWährungs- und Wirtschaftsfragen Dr. Alfred Herrhau-sen übermittelt wurde, bis zum heutigen Tag nach-wirkt. Nicht nur wird die Vertuschung der Hinter-gründe des Mordes aufrecht erhalten und die Auf-klärung weiterhin verhindert. Fast noch schlimmer,

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es wird Herrhausen sein Platz in der Geschichte strei-tig gemacht und gerade seine Rolle als Berater desBundeskanzler auf kaum glaubliche Art negiert. In derDokumentation Deutsche Einheit. Sonderedition aus denAkten des Bundeskanzleramtes 1989/90 wird Herrhau-sen nur einige Mal beiläufig in verschiedenen Zusam-menhängen erwähnt, die Tatsache seiner Ermordunggar nur in einer Fußnote! Die Brisanz, die sich dahin-ter verbirgt, läßt der folgende Satz in der Vorbemer-kung der Dokumentation zur Deutschen Einheit erah-nen: „Auf einen Abdruck der vielschichtigen Materia-lien zur Vorgeschichte des Zehn-Punkte-Programmsmußte verzichtet werden.“ Herrhausen hatte abergerade in diesem entscheidenden Stadium der Aus-einandersetzung um eine mögliche Wiedervereini-gung großen Einfluß auf die Entwicklung gehabt.

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Vor sieben Jahren, am 1. April 1991, wurde Dr. Det-lev Karsten Rohwedder, der Chef der Treuhand,

in seinem Haus in Düsseldorf-Oberkassel ermordet.Seine Frau wurde durch einen weiteren Schuß schwerverletzt. Bis heute sind die Täter nicht gefunden, Hin-termänner nicht genannt, der Mord ungesühnt.

Noch am Gründonnerstag 1991, vier Tage vor dentödlichen Schüssen, hatte Rohwedders Ehefrau umverstärkten Polizeischutz gebeten. „Hier zieht sichetwas zusammen“, klagte sie bei der Düsseldorfer Poli-zei — vergeblich. In den Wochen vor der Tat hattensich die Morddrohungen gegen ihren Mann gehäuft:Anonyme Briefschreiber und Anrufer meldeten sich.

Am Karfreitag wird auf die Berliner Treuhandfilialean der Schneeglöckchenstraße ein Brandanschlag ver-übt. Verantwortlich dafür bekennt sich eine Gruppemit dem Namen „Thomas Münzers wilder Haufen“.Entscheidend dabei ist, daß Rohwedders Name indem Bekennerschreiben erwähnt ist, diese Informati-on aber nicht rechtzeitig an die für RohweddersSicherheit zuständigen Dienststellen gelangt.

In Berlin hatte Rohwedder Sicherheitsstufe 1, inDüsseldorf wurde ihm jedoch nur Stufe 2 gegeben. ImRahmen der Schutzmaßnahmen hatte man nur dieFenster im Erdgeschoß seines Hauses mit Panzerglas

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ANNO HELLENBROICH

Spuren im Mordfall Rohwedder

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versehen, nicht aber die im ersten Stock. Ein fatalerFehler.

Schon seit geraumer Zeit wurden damals von Alt-kadern der SED, aber auch verstärkt in der allgemei-nen Öffentlichkeit, die wachsenden wirtschaftlichenSchwierigkeiten im Wiedervereinigungsprozeß zuUnrecht der Treuhand und speziell ihrem Vorsitzen-den Rohwedder angelastet; besonders die giftigenAngriffe aus den Gewerkschaften und seiner eigenenPartei, der SPD, verletzten Rohwedder sehr.

Im Ausland, insbesondere in Großbritannien undvon französischen Kreisen um Mitterrand, wurde seitdem Fall der Mauer das Gespenst des „Vierten Reichs“an die Wand gemalt. Im Juli 1990 — nach der deut-schen Währungsunion und im Blick auf die von Kohlbetriebene Europäische Währungsunion — hatte derbritische Industrieminister Nicholas Ridley im Specta-tor Äußerungen getan, die so empörend waren, daß erseinen Hut nehmen mußte. Allerdings hatte Ridleynur öffentlich ausgesprochen, was viele der geopoli-tisch fixierten Eliten dachten: Die deutschen Vorstößein Richtung einer Europäischen Währungsunion sei-en „ein verbrecherisches deutsches Unterfangen zurÜbernahme ganz Europas. Das muß vereitelt werden.Diese übereilte Machtübernahme der Deutschen aufder schlimmstmöglichen Grundlage, wobei die Fran-zosen sich den Deutschen gegenüber wie Pudelbenehmen, ist absolut unerträglich. Ich bin nichtprinzipiell dagegen, Souveränität abzutreten, abernicht an dieses Pack. Dann hätten wir sie, offengesagt, gleich an Adolf Hitler abtreten können.“

In dieser innen und außen aufgeputschten Stim-mungslage traf der Mordanschlag, anderthalb Jahrenach der Ermordung des Chefs der Deutschen BankAlfred Herrhausen, den entscheidenden Mann, der

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mit größter Leidenschaft einen sozialverträglichenUmbau der verrotteten DDR-Wirtschaft angepackthatte. Erst nach Jahren wird wirklich deutlich, daßder gewaltsame Tod der beiden herausragenden Män-ner nicht nur eine für die gesamtdeutsche Entwick-lung unersetzliche Lücke gerissen hat, sondern auchden Niedergang der deutschen Industrieelite massivbeschleunigte.

Rohwedder — ein Patriot

Am 16. November 1989 traf Rohwedder, damals Chefdes Stahlriesen Hoesch, Professor Albert Jugel ausDresden, der ihm in einem langen Gespräch scho-nungslos die wirtschaftliche Lage der DDR darstelltund ihn um Hilfe bittet, u.a. beim Aufbau eines Tech-nologieparks in Dresden. Rohwedder bildet in seinemUnternehmen eine Arbeitsgruppe Deutschland(„Chefsache“). Jugel notiert sich: „Dr. Rohwedder bil-det unter seiner persönlichen Leitung ab 20.11.89eine konzerninterne AG DDR-Kooperation zur Umset-zung der vorgeschlagenen Zusammenarbeit. Er beab-sichtigt, am 18.12.1989 zu weiteren Kooperationsge-sprächen nach Dresden zu kommen.“

Jugel faßt die Gespräche zusammen und übergibtdieses Papier dem damaligen Ministerpräsidenten derDDR Hans Modrow. U.a. schreibt er: „Es wurden erör-tert Möglichkeiten der Lohnarbeit von DDR-Betriebenfür Hoesch sowie Kapitalbeteiligungen von Hoesch inder DDR. Dr. Rohwedder sagte hier jede erdenklicheUnterstützung zu, falls der demokratische Prozeß inder DDR in Richtung einer pluralistischen, demokra-tischen Gesellschaft läuft ... Verlagerung in die DDRist einfacher und billiger als Aufbau von Kapazitätenin Portugal.“

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Am 16. Dezember 1989 wird in Dresden derGrundstein für das Technologiezentrum gelegt. EinenTag später trifft Rohwedder — er ist mit Sohn Philippund seinem Freund Lothar Loewe auf einer Wande-rung „auf den Spuren des Siebenjährigen Krieges“ —einen Vertreter des oppositionellen Neuen Forums.Das nächtliche Gespräch vermittelt ihm für diezukünftige Treuhand-Arbeit unersetzliches Wissenund Gespür für die Umbruchslage.

Am 1. März 1990 wird die Verordnung zur „Um-wandlung von volkseigenen Kombinaten, Betriebenund Einrichtungen in Kapitalgesellschaften“ im DDR-Ministerrat verabschiedet und die Gründung einerAnstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volksei-gentums beschlossen; vier Tage nach Beginn derWährungs-, Wirtschafts- und Sozialunion der beidendeutschen Staaten wird Rohwedder am 4. Juni 1990zum Vorsitzenden des Verwaltungsrates der Treuhan-danstalt berufen. Zum Präsidenten der Treuhand wirdwenige Tage später Bundesbahnchef Dr. Reiner MariaGohlke ernannt, der aber bereits am 20. August dasHandtuch wirft. Am 29. August wird Rohwedder Prä-sident der Treuhandanstalt.

In seiner Rede vor der Volkskammer hatte Roh-wedder etwas für ihn sehr Typisches gesagt: „Erstkommen die Menschen, dann die Paragraphen.“Damit begründete er seine Absicht, gegen das Treu-handgesetz zu verstoßen und keine branchenüber-greifenden Aktiengesellschaften in den zukünftigenneuen Bundesländern aufzubauen. Erste Zwischen-bilanz: 8000 VEBs sind umgewandelt in AGs undGmbHs. Am 3. Januar 1991 sind von den knapp 8000Betrieben 500 privatisiert.

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„Erst die Menschen, dann die Paragraphen“

Man hätte sicher keinen besseren Manager für diegrößte Industrieholding der Welt finden können alsRohwedder. Aufgewachsen im thüringischen Gotha,hat er dann im Westen Deutschlands 16 Jahre in poli-tischer Verantwortung gestanden. 1972 wurde Roh-wedder Mitglied der SPD, bei den Ministern Schmidt,Friedrichs und Lambsdorff stand er als Staatssekretärin Diensten. 1979 übernahm er den Job bei Hoeschund sanierte Anfang der 80er Jahre erfolgreich diekrankende Stahlindustrie.

Ein typisches Beispiel für seine Art, unkonventio-nell Lösungen zu suchen, ist sein Antwortschreibenauf einen Offenen Brief des nordrhein-westfälischenLandesverbandes der Europäischen Arbeiterpartei,welcher auf Anregung der damaligen EAP-Vorsitzen-den Helga Zepp-LaRouche ab November 1980 weitverteilt und auch an den Hoesch-Vorstand geschicktworden war. Im Kern wurde in diesem Brief die Not-wendigkeit des Baus des Oxygen-Stahlwerks in Dort-mund angesprochen, aber gleichzeitig auf die Bedeu-tung solcher Innovationen im Rahmen einer globalenEntwicklungsperspektive in der Tradition FriedrichLists hingewiesen. Insbesondere wurde auf die sichabzeichnenden katastrophalen Folgen der Politik desInternationalen Währungsfonds (IWF) und die Chan-ce, die in der Phase 2 des Europäischen Währungssy-stems lag, verwiesen. In seinem Antwortschreibenvom 9. Januar 1981 bedankt sich Dr. Rohwedder alsVorsitzender des Vorstands der Estel-Hoesch-Werkefür den „eindringlichen Beitrag“ dieses Briefes zurErörterung der Lage des Ruhrgebiets und erwähnt dieBegrenzung jedweder Lösung durch die „Umfeldbe-

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dingungen“, etwa in „Hinblick auf eine Reform desIWF“.

Zehn Jahre später, bei der Übernahme der Treu-handführung — „eine Aufgabe von furchterregenderDimension“ (Rohwedder) — sind bei der Wiederverei-nigung und der globalen Wirtschaftslage die Begren-zungen der Rahmenbedingungen noch viel ein-schneidender. In Diskussionen mit DGB-Vertreternsagte Rohwedder, dem in der Frage „Privatisieren undSanieren“ stets die sozialen Konsequenzen vor Augenstanden: „Aber ich verspreche Ihnen — und daranwird sich nichts ändern, solange ich dieses Amtinnehabe —, daß wir bei unseren Entscheidungenstets die sozialpolitischen Konsequenzen bedenken.“

Reine Marktwirtschaft nicht möglich

Später meinte Rohwedder zu diesem Umgestaltungs-prozeß im Kontext der wegbrechenden Ostmärkte(immerhin waren von den 4 Mio. Jobs, über die er zuentscheiden hatte, 1,5 Mio. vom Ostexport abhän-gig): „Ich habe eine hundertprozentige Privatisierungnie für möglich gehalten. Viele Unternehmen würdenmit einer hohen staatlichen Beteiligungsquote ausdem Privatisierungsprozeß hervorgehen ... Eine rein-rassige, gedanklich saubere und schnörkellose Markt-wirtschaft“ sei für Rohwedder im Osten nicht denk-bar, war in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zulesen.

Solche Grundüberzeugungen — ähnlich wie dievon Alfred Herrhausen kurz vor seiner Ermordungvorgeschlagene Entwicklungsbank für Polen (ein-schließlich begrenzter Schuldenmoratoria) — stießenauf erbitterten Widerstand, ja Haß geopolitisch fixier-ter Kreise der Finanzoligarchie. Typische Kritik kam

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z.B. von der britischen Unternehmensberatung Eco-nomic Finance LTD, die den „Dilettantismus“, „dieEtablierung neuer, westlich orientierter Seilschaften“und „brutales Eigeninteresse“ der Deutschen monier-te. Economic-Finance-Geschäftsführer Peter Stählibeklagte sich, daß britische Investoren im OstenDeutschlands nicht so recht zum Zuge kämen. SolcheAngriffe nutzten meist das wohlfeile Argument, ins-besondere hemmten Bürokratismus und Hindernissewie die Frage der Übernahme ökologischer Altlastenneue Investitionen.

Gegen Wirtschaftskriminalität

Die Probleme waren Rohwedder durchaus bewußt. Erwollte von vornherein sicherstellen, daß Korruptionund Seilschaften unmöglich gemacht, zumindest abereingedämmt wurden. In einer Vorstandssitzung sagteer: „Hier wird mit härtesten Bandagen gefochten. Hierwird, was die Treuhandanstalt und die Verwirkli-chung kommerzieller Interessen angeht, nun aberauch wirklich jede Scham beiseitegelegt. Manche Leu-te nehmen sich gegenüber der TreuhandanstaltUnverschämtheiten heraus, die in Westdeutschlandschlechthin unmöglich wären.“ Dabei zielt er nichtnur auf die ostdeutschen Seilschaften ab: „Es gibtgroße Auswüchse an Wirtschaftskriminalität. Dassind aber alte und neue Seilschaften. WestdeutscheGeschäftemacher und alte Generaldirektoren. Dasgeht bis in die höchsten Etagen der deutschen Wirt-schaft.“

Aus diesen Gründen sucht sich Rohwedder auchfür seine Stabsstelle „Recht“ den geeigneten Mann,der solche Korruption entdecken und bekämpfen soll:Staatsanwalt Hans Richter aus Stuttgart.

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In dem WDR-Film „Wer erschoß den Treuhand-chef? Neue Spuren im Mordfall Rohwedder“, derAnfang 1998 als zweiteilige Dokumentation gesendetwurde, wird Richter in einem Kommentar über denvier Tage vor dem Rohwedder-Mord erfolgtenAnschlag auf die Berliner Treuhandfiliale zitiert: „EinAnschlag auf dieses Büro eines solchen Bürgerbeauf-tragten, das waren renommierte unabhängige Persön-lichkeiten, das ist abstrus gewesen. Und das ist es, wasmich damals dazu gebracht hat, daß ... Leute, die ver-hindern wollen, daß Stasi-Seilschaften aufgedecktwerden, viel eher in Betracht kommen. Wir habenAnhaltspunkte dafür, daß bestimmte Unterlagen indieser Niederlassung von Interesse sein könnten fürLeute, die eine Aufdeckung von Vermögensverschie-bungen verhindern wollen.“

Politischer Auftragsmord

Der WDR-Film entwickelt die These, daß Rohwedderdurch politischen Auftragsmord von bestimmten Sta-si-Seilschaften umgebracht wurde, denen er dasHandwerk legen wollte: „Fest steht: In der Endphasedes SED-Staates haben ehemalige DDR-Wirtschafts-kreise einen Großteil des alten Staats- und Parteiver-mögens beiseite geschafft und in alten DDR-Betriebenversteckt. Insgesamt geht es um rund sechs MilliardenMark. Rohwedder hatte dieses System der Schiebungund der Geldwäsche durchschaut und bereiteteSchritte vor, um effizient gegenzusteuern. Er wollteverhindern, daß verdächtige Firmen von alten Seil-schaften weitergeführt werden, und bot diese Betriebestatt dessen auf den internationalen Märkten an.“

Der Film zitiert dann erneut den Treuhand-Sonder-ermittler Hans Richter: „Ich denke, daß es die Stasi in

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dieser Zeit als Organisation nicht mehr gegeben hat.Aber es hat Gruppen gegeben, die eng mit der Stasiverbunden waren, in verschiedenen Wirtschaftsbran-chen, die schon vorher mit dem Ausland zu tungehabt haben, die ja ganz eng gehalten wurden, etwadie Außenhandelsbetriebe.“ Unserer Auffassung nachkommt Richter damit einer wichtigen Spur näher, dieaber der Film nicht wirklich substantiiert.

Bereits im Oktober 1990 hatte Rohwedder sichscharf in einem Fernsehinterview gegen die neuenSeilschaften geäußert, wie der Film dokumentiert:„Man redet ja immer, man spricht von alten Seil-schaften, Herr Lueg. Es gibt auch neue Seilschaften.Das sind dann die zwischen westdeutschen Geschäf-temachern und alten VEB-Bonzen, die sich zusam-mengetan haben, um gemeinsame Geschäfte zumachen. Und das ist auch keine gute und sympathi-sche Kombination. Aber wir haben da ein Augedrauf.“

Im ersten Untersuchungsbericht des Bundestageszur Arbeitsweise des Bereichs Kommerzielle Koordi-nierung unter seinem Chef Schalck-Golodkowski(„Schalck-KoKo-Bericht“) ist ein Dokument vom 14.März 1985 abgedruckt, das an Schalcks StellvertreterOberst Hans Seidel gerichtet war. In dem Schreibenwird noch einmal die Dringlichkeit der Devisenbe-schaffung für die DDR hervorgehoben und besonderssorgfältig die Frage der Auslandsverbindungen imNSW-Bereich („nichtsozialistisches Wirtschaftsge-biet“), insbesondere die Rolle vertrauensvoller Kon-taktpersonen für geplante Tarngeschäfte aller Art dar-gestellt. In der Anlage zu diesem Schriftstück befindensich Namen und Adressen vieler Geschäftsführer, Fir-menchefs u.a., die zu diesem Kreis zählen. An ersterStelle prangt der Name Ottokar Hermann mit Firmen

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in der Schweiz — Lugano (Intrac und Befisa) und Zug(Buri) —, Westberlin oder Wien, aber auch auf denKanarischen Inseln.

In dem Entwurfschreiben (mit handschriftlichenErgänzungen) an Hans Seidel ist zu lesen: „In Durch-setzung der Weisung des Genossen Minister wurdendurch den Bereich Kommerzielle Koordinierung spe-zielle Auslandsverbindungen geschaffen, um auchunter komplizierten Lagebedingungen bzw. in beson-deren Spannungssituationen die Weiterführung derTätigkeit des Bereichs zu sichern (Anlage)“ (Bericht S.1184ff). Zu den Aufgaben werden gezählt: „Beschaf-fung/Import strategischer und militärisch wichtigerMaterialien/Rohstoffe und Ausrüstungen/Waffen“.

Ottokar Hermann und die Ihle-Spedition

Egmont R. Koch beschreibt im Zusammenhang mitOttokar Hermann in seinem Buch Das geheime Kartell,BND, Schalck, Stasi & Co. folgendes, in vieler Hinsichtwichtige Ereignis: „Ottokar Hermann übte aber gewis-sermaßen auch eine Überwachungs- und Kontroll-funktion im Auftrag des SED-Staates aus.“ So habe erz.B. 1976 das Speditionsunternehmen Ihle in Ham-burg übernommen, ein Unternehmen, das bereitsgute Geschäftsbeziehungen zur DDR-SpeditionsfirmaDeutrans unterhalten und das auch Waffen nach Süd-afrika transportiert haben soll.

Es sei jedoch zu Spannungen zwischen demGeschäftsführer von Ihle, Uwe Harms, und seinenOst-Berliner Bossen gekommen. „Im März 1987, nacheiner Visite in der DDR, sprach sich Harms, angeblich,entnervt und verängstigt’, bei einem Bekannten aus:Er sei von Schalck gegen seinen ausdrücklichen Wil-len mit einem Waffentransport beauftragt worden.

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Die Lisowski (Leiterin der Abteilung Verkehr, einer derwichtigen Bereiche für die internationale verdeckteArbeit des Schalck-Komplexes, A. H.) habe ihn darauf-hin ,massiv bedroht’. Uwe Harms befürchtete [nachBezeugung des Bekannten], ,daß die mich umlegen’.Etwa einen Monat später entdeckte die HamburgerPolizei im Apartment eines bolivianischen Zuhältersim ,Sperrbezirk’ St. Georg, in einem Plastiksack ver-schnürt, die Leiche von Uwe Harms.“

Iran-Contragate und der Ost-West-Waffenhandel

Im gleichen Jahr hatten viele Personen ihr Wissenoder auch ihre Beteiligung an geheimen Waffenge-schäften mit dem Leben bezahlen müssen. Schwedi-sche Fahnder hatten 1985 erstmals bei Durchsu-chungsaktionen Belege über ein geheimes internatio-nales Waffen- und Sprengstoffhandels-Netz in verbo-tene Regionen gefunden. Details über die Lieferung(„Dreiecksgeschäfte“) von Waffen, die teilweise ausdem Ostblock stammten, an den Iran (im Krieg gegenden Irak) und die Contras (im Kampf gegen die San-dinisten) in Nikaragua, die vom damaligen amerika-nischen Vizepräsidenten Bush über „private Kanäle“organisiert wurden, kamen an die erschreckte undempörte Öffentlichkeit.

So wurde am 14. Juni 1986 im panamaischenHafen Balboa der Frachter Pia Vesta auf Ersuchen derperuanischen Behörden gestoppt und inspiziert. Ver-steckt unter 32 DDR-Lastwagen, der offiziellenLadung des Schiffes, fanden die Kontrolleure 1500Kalaschnikow-Schnellfeuergewehre und 1440 Rake-tenwerfer. Der Kapitän führte gleich zwei Ausferti-gungen von Frachtbriefen mit sich, von denen einer

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Peru, der andere El Salvador als Endabnehmer derWare aufführte. Beladen worden war die Pia Vesta am5. Mai im DDR-Überseehafen Rostock. Lieferant derWaffen war die KoKo-Firma Imes. Bezahlt wurde dieheiße Fracht nach Mittelamerika übrigens von der inGenf ansässigen Treuhandfirma CSF, laut US-Doku-menten eine finanztechnische Schaltstelle im Iran-Contra-Netzwerk.

Iran-Contra und die Todesspur 1987

Am 21. März 1987 wurde der italienische GeneralGeorgieri von Terroristen ermordet. Die Turiner Zei-tung La Stampa brachte die Morde an Georgieri unddem ein Jahr zuvor ermordeten schwedischen Mini-sterpräsidenten Palme mit den illegalen Waffenge-schäften an den Iran in Verbindung. Am 15. Januarwar der schwedische Konteradmiral Carl Algernonbeim Sturz vor eine fahrende U-Bahn in Stockholmums Leben gekommen. Algernon war Rüstungsin-spekteur der Handelsabteilung im schwedischenAußenministerium und dort verantwortlich für dieAusgabe von Exportlizenzen für Waffenlieferungen.Er starb wenige Tage vor seiner geplanten Verneh-mung zu den illegalen Waffenverkäufen der FirmaBofors an den Iran. Im Mai 1987 hatte Uwe Barscheleinen mysteriösen Flugzeugabsturz knapp überlebt.Kurz vor seinem Tod hielt er sich auf den KanarischenInseln auf, um sich mit Adnan Kashoggi zu treffen.

Einblick in die geheimen Waffenlieferungen der DDR

In der Zeit nach der Wende haben Bürgerrechtler nurkurze Zeit etwas Licht in diese internationalen Prakti-

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ken bringen können, die bald darauf durch offizielleSperrvermerke des BND oder anderer Stellen sowie dieEliminierung von Zeugen und Dokumenten jederweiteren Nachforschung entzogen werden sollten.

Typisch ist die Aussage eines ehemaligen DDR-Offiziers, der im Januar 1991 in einem Interview überdiese DDR-Praktiken im internationalen Waffen- undMilitärberaterbereich anschaulich und glaubwürdigberichtet hat. Hier ein Auszug:

„N.N.: Diese Einsätze nannten sich ,Sonderaufträ-ge’ und jeder Auftrag war für sich streng geheim, sogeheim, daß die 7-10 Offiziere, die meist daran teil-nahmen, manchmal noch im Flugzeug nicht wußten,wohin sie fliegen. Ich habe in der Regel ,Lieferungen’begleitet. Wir wurden in Zivil zum Flughafengebracht, Schönefeld, Marxwalde, Schkeuditz usw.,wo für uns strengstes Kontaktverbot zum Personalbestand. Wir durften nicht einmal mit den Offizierensprechen, die in anderen Flugzeugen mitflogen. Unse-re Ladung bestand in der Regel aus Waffen und Muni-tion. Ich selbst habe solche Lieferungen nach Angola,Mosambik, Äthiopien, Irak und Iran begleitet. Ichweiß von anderen Offizieren, daß sie unter anderemin Bangladesch, in Peru, Afghanistan, Jemen, Kuwait,Jordanien, Syrien und anderen Ländern waren. DieTransporte waren dann in der Regel mit einemMilitärberater-Einsatz in den jeweiligen Ländern ver-bunden.

Der Waffentransport in den Irak war wieder einsogenannter ,Blindauftrag’, d.h., wohin wir flogen,wußten wir erst, als wir schon in Bagdad waren, unse-re Ladung bestand aus Waffen und Munition, daswaren 11 Flüge 1981. Etwa 2 oder 3 Wochen nachEnde der Irak-Einsätze transportierten wir wieder Waf-fen und Munition, aber diesmal in den Iran, nach

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Teheran. Das ging eine Woche lang. Tag und Nacht,etwa 5-6 Flüge. Außer uns, die wir in Zivil als Mitar-beiter (während der folgenden Einsätze als Militärbe-rater, A.H.) des Außenministeriums auftraten, warendort noch französische und Bundeswehr-Offiziere.Wir waren mit den Bundeswehr-Offizieren in einerBaracke untergebracht und bildeten jeweils Fall-schirmjäger aus. Was die Franzosen im Iran gemachthaben, war nie herauszubekommen, wir sahen sieimmer nur zur Ausbildung wegfahren.“

Mordwaffe Rohwedders in Brüssel gefunden?

Anfang dieses Jahres hatte GeneralbundesanwaltNehm über einen „Zufallsfund“ der Brüsseler Polizeivom April 1997 berichtet. Damals wurde eine Garageauf Anzeige des Eigentümers untersucht. Mieterin derGarage war eine belgische Staatsangehörige, die nachdort geführten Ermittlungen der belgischen terroristi-schen Vereinigung FRAPO zugerechnet wird, wie dieBundesanwaltschaft berichtete. Sie stand in Verbin-dung mit der ebenfalls belgischen terroristischen Ver-einigung CCC, die ihrerseits zu Mitgliedern der terro-ristischen Action directe (Frankreich) und der RAFKontakt unterhält. Nach Erkenntnissen der Ermitt-lungsbehörden gab es eine Zusammenarbeit zwischenMitgliedern der Action Directe und der RAF, so zumBeispiel im Zusammenhang mit dem versuchtenSprengstoffanschlag auf die NATO-Schule in Oberam-mergau am 18. Dezember 1984 und beim Anschlagauf die U.S. Airbase im August 1985.

In der Garage wurden fünf Gewehre des Typs FN-FAL aus der Waffenfabrik „Fabrique National“sowie 28,5 kg Sprengstoff sichergestellt. Der Spreng-

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stoff wurde am 4. Juni 1984 aus einem Steinbruch imbelgischen Eccaussines gestohlen. Sprengstoff aus die-sem Diebstahl hatte die RAF bei dem versuchtenAnschlag auf die NATO-Schule in Oberammergaubenutzt. Die sichergestellten Gewehre stammten auseinem von Mitgliedern der Action Directe in Vielsamin Belgien im Mai 1984 verübten Diebstahl. Die Bun-desanwaltschaft hatte die belgischen Behörden gebe-ten, die gefundenen Waffen zu beschießen, um siemit den beim Attentat auf Rohwedder und beimAnschlag auf die amerikanische Botschaft gefunde-nen Patronenhülsen zu vergleichen. Der Mord an Dr.Rohwedder, so die Bundesanwaltschaft, sei mit einemvollautomatischen Gewehr des Typs FN-FAL verübtworden, das nach kriminaltechnischen Vergleichsun-tersuchungen auch bei dem Anschlag auf die ameri-kanische Botschaft in Bonn am 13. Februar 1991 ver-wendet wurde.

Verbindungen zum Mord an André Cools?

Drei Monate nach der Ermordung Rohwedders wurdeAndré Cools, Führungsmitglied der belgischen Sozia-listen und Vizepremier Belgiens, der „Boss“ von Lüt-tich, dem Firmensitz der großen Waffenfabrik „Fabri-que National“, ermordet. Dieses Attentat ereignetesich nur wenige Tage nach Cools’ Rückkehr aus derSchweiz, wo er angekündigt hatte, über einen großenKorruptionsskandal, in dem belgische Waffen- undSprengstoffkartelle verwickelt seien, auszusagen.

Ein Jahr zuvor war bereits im März der Waffenkon-strukteur Gerald Bull vor seinem Haus in Brüsselermordet worden. Seine Arbeitsunterlagen waren ver-schwunden, der Mord wurde bisher nicht aufgeklärt.Cools saß auch im Aufsichtsrat des Flughafens Bierset

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in der Nähe Lüttichs, der in der Zeit des Waffenem-bargos als Schleuse für Waffenlieferungen an den Irakund den Iran genutzt wurde.

In der Presse wurde auch die Frage aufgeworfen, obJean Gol, ehemaliger Verteidigungs-und Innenmini-ster Belgiens, Vorsitzender der belgisch-israelischenFreundschaftsgesellschaft mit mutmaßlichen gutenBeziehungen zum Mossad, nicht etwas Licht in diesesmörderische Geschäft bringen könnte, zumal er einCousin Schalck-Golodkowskis sei?

Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, daß dieErmittlungen im Mordfall Rohwedder weitergehen. Esgilt, die Hintergründe des Schalck-Hermann-Komple-xes und die internationalen Verbindungen jener Kräf-te auszuleuchten, die einen erfolgreichen Aufbau Ostexemplarisch durch den Terrormord an Rohweddervereiteln wollten.

Dieser Beitrag ist die stark gekürzte Fassung eines zwei-teiligen Artikels, der in Neue Solidarität Nr. 12 und 13vom 8. und 15.3.1998 erstmals veröffentlicht wurde.

Literatur

George Bush and the 12333 serial murder ring, EIR News Service, Wa-shington 1996.

Faustrecht oder Völkerrecht? Amerika: Koloß auf tönernen Füßen, EIR-Nachrichtenagentur, Wiesbaden 1990.

Michael Jürgs, Die Treuhändler. Wie Helden und Halunken die DDRverkauften, München, Leipzig 1997.

Egmont R. Koch, Das geheime Kartell. BND, Schalck, Stasi & Co.,Hamburg 1992.

Erster Teilbericht des „Schalck“-Untersuchungsausschusses des Deut-schen Bundestages, Oktober 1992.

Werner Czaschke und Clemens Schmidt, Wer erschoß den Treuhand-chef? Neue Spuren im Mordfall Rohwedder, WDR-Feature, 1998.

telegraph, Hrsg. Umwelt-Bibliothek Berlin.

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Lyndon LaRouche beauftragte im Dezember 1989eine Gruppe von Wissenschaftlern und Fachleu-

ten, ein Wirtschaftsprogramm für den gesamteuropäi-schen Raum auszuarbeiten. Mittelpunkt des Pro-gramms ist das „Produktive Dreieck Paris-Berlin-Wien“.Das Wirtschaftsprogramm fand sofort eine weite Ver-breitung, wurde in viele, besonders auch osteuropäi-sche Sprachen übersetzt und war Thema einer ganzenReihe von Konferenzen. Das geographische Gebiet inForm eines Dreiecks — etwa von der Größe Japans —mit den Städten Paris, Berlin und Wien als Eckpunk-ten, das die Industrieregionen Nordfrankreichs, West-und Ostdeutschlands sowie Teile der Tschechoslowa-kei umfaßt, sollte zum Zentrum der Weltwirtschaftwerden. Es sollte als Gebiet mit der größten Konzen-tration produktiver Wirtschaftskraft der zerfallendenWeltwirtschaft als „Lokomotive“ dienen.

Das Grand Design dieses Entwurfs sah vor, nachdem Fall des „Eisernen Vorhangs“ sofort die gesamteWirtschaft Ost- und Westeuropas durch große Moder-nisierungsprojekte im Bereich der Transport-, Energie-,Wasser- und Kommunikationsinfrastruktur anzukurbeln,wobei die modernsten Technologien zum Einsatzkommen sollten. Diese Projekte — hauptsächlichfinanziert durch staatliche Kreditschöpfung und mit

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ANGELIKA BEYREUTHER-RAIMONDI

Das Programm des „ProduktivenDreiecks Paris-Berlin-Wien“

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niedrig verzinsten Krediten— sollten die Nachfragenach Investitionsgüternüber längere Zeit stimulie-ren, die Beschäftigungsichern und die Schaffungneuer, moderner Industrie-betriebe begünstigen. Die volkswirtschaftliche Pro-duktivität würde so enorm gesteigert und damit dieGrundlage für ein prosperierendes Europa gelegt.

Das Rückgrat des Dreiecks bildet ein integriertesSystem von Eisenbahnverbindungen für Hochge-schwindigkeitszüge und Magnetbahnen, die sowohl fürden Personen- als auch für den Güterverkehr einge-setzt werden. Das Verkehrsnetz ist ergänzt durchStraßen und Wasserwege, die durch automatisierteUmladestellen mit der Schiene verknüpft sind.Magnetbahnen verbinden die städtischen Zentren.

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BERLIN

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RotterdamRotterdam

Budapest

Lyon

RomeRome

Tunis

MadridMadrid

Istanbul

KievKiev

Warsaw

MoscowMoscow

St. PetersburgStockholmOsloOslo

BERLIN

WIENPARIS

Rotterdam

Budapest

Lyon

Rom

Tunis

Madrid

Istanbul

Kiew

Warschau

Moskau

St. PetersburgStockholmOslo

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Innerhalb des Dreiecks ist es möglich, über ein com-putergesteuertes Container-Transportsystem Fracht-güter innerhalb von 24 Stunden von Tür zu Tür zu lie-fern.

Der Personenverkehr und der Güterumschlag sindintensiviert und ausgeweitet, die durch die TeilungEuropas unterbrochenen Ost-West-Verbindungenwiederhergestellt und erweitert. Europas Infrastrukturwird zu einer integrierten Einheit. Ausgehend vondieser Kernregion des „produktiven Dreiecks“ er-strecken sich spiralartig infrastrukturelle Korridore indie restlichen Regionen Europas, die einen Markt vonüber einer halben Milliarde Menschen verbinden. Die„Arme“ des Dreiecks ziehen den Bau ganz neuer Städ-te und Industrien nach sich. Vor allem moderne Kern-kraftwerke, die Strom, Prozeßwärme und Fernwärmeliefern, übernehmen die Energieversorgung im „Drei-eck“ und in dem Bereich der „Spiralarme“ oder „Ent-wicklungskorridore“.

Diese „Entwicklungskorridore“ reichen im Ostenvon Berlin nach Warschau, mit einer Verzweigungüber die baltischen Republiken bis zum damals nochLeningrad genannten St. Petersburg und nach Mos-kau über Minsk, sowie durch die Ukraine nach Kiewund Charkow; und daneben von Prag und Dresdenüber Breslau nach Krakau; und im Südwesten entlangder Donau zum Schwarzen Meer mit einer Verzwei-gung nach Istanbul. Im Süden reicht ein Arm nachItalien bis hinunter nach Sizilien. Im Südwesten gehtes über Lyon und Marseille nach Spanien, im Nord-westen zu den niederländischen Häfen und über denÄrmelkanal nach Großbritannien, im Norden in dieskandinavischen Länder.

Das Besondere an LaRouches Vorschlag bestehtdarin, die geographischen und technologischen Ge-

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gebenheiten für eine integrierte europäische Infra-struktur so einzusetzen, daß eine möglichst hohe Lei-stungsdichte erreicht wird. Gemeint ist die Leistungs-dichte der Produktivität, eine Größe, die in der Wirt-schaftswissenschaft korreliert mit dem Anstieg der Be-völkerungsdichte, mit der quantitativen und qualita-tiven Steigerung des Energieeinsatzes pro Kopf undHektar, mit der Intensität der landwirtschaftlichenund der industriellen Aktivitäten und mit der Dichteder Passagier- und Güterbewegungen pro gegebenerFläche.

Unter Bedingungen des wissenschaftlichen undtechnologischen Fortschritts bewirkt die Steigerungder Leistungsdichte zugleich die Steigerung derWachstumsrate der Produktivkraft. Diese Produkti-vitätssteigerung bringt einen Gewinn, der die anfäng-lichen Investitionen um ein Mehrfaches übertrifft.Deshalb sind die staatlichen Kredite für ein solchesProgramm in keiner Weise inflationär.

Ein derartiger Aufbau einer gesamteuropäischenInfrastruktur kann nur funktionieren, wenn er nichtdem „freien Spiel der Marktkräfte“ überlassen wird.Die bewußte politische Entscheidung der beteiligtenRegierungen für das „produktive Dreieck“ ist dazunotwendig, und damit eine bewußte politische Ent-scheidung gegen die monetaristischen wirtschaftspo-litischen Konzeptionen der „Schocktherapien“ à laJeffrey Sachs und IWF. Notwendig ist die Entschei-dung für eine Wirtschaftspolitik, die auf den Prinzipi-en der physischen Ökonomie basiert, einer Wirtschafts-theorie, die davon ausgeht, daß der eigentliche Reich-tum einer Gesellschaft in der menschlichen Kreati-vität und deren Umsetzung im Arbeitsprozeß bestehtund nicht in Immobilien-, Rohstoff- oder Geldbesitz.

In Anlehnung an dieses Konzept des „Produktiven

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Dreiecks“ entwickelte die Europäische Union ineinem Weißbuch unter ihrem damaligen PräsidentenJacques Delors im Oktober 1993 eine ähnlicheEntwicklungsidee. Bis zum Jahr 2010 seien etwa 500Mrd. Dollar an Investitionen notwendig, heißt es dort, und 26 Projekte höchster Priorität werden auf-gelistet, wozu die Entwicklung eines umfangreicheneuropaweiten Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnnet-zes gehört. Auch der Bau einer modernen Bahnver-bindung von Berlin über Warschau nach Moskau warin diesem Weißbuch vorgesehen, der eine wichtigeVerbesserung der „Kontinentalbrücke“ zum asiati-schen Teil Rußlands und nach China bedeuten wür-de.

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Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus inOsteuropa und dem Fall der Berliner Mauer ist die

„deutsche Frage“ zum Zentrum britischer Geopolitikin Europa geworden. Ein Rückblick auf die Ereignisseim Jahre 1989/90 zeigt, daß es vor allem England war,das sich mit allen Mitteln hysterisch der Dynamik derhistorischen Ereignisse in Deutschland entgegenstell-te, indem es versuchte, die übrigen drei der vier Sie-germächte gegen die deutsche Wiedervereinigung zumobilisieren. Um die deutsche Einheit zu verhindern,setzte England — wohl wissend, daß auch der franzö-sische Staatspräsident Mitterrand erhebliche Beden-ken gegen dieselbe hatte — auf den Ausbau der bri-tisch-französischen Entente cordiale, die an die Stelleder deutsch-französischen Allianz treten sollte.

Als sich jedoch angesichts der sich überstürzendenEreignisse in der DDR und Osteuropa abzeichnete,daß es Thatcher nicht gelingen würde, das Rad derGeschichte in die von ihr gewünschte Richtung zudrehen, initiierten die zum Hollinger-Presseimperiumgehörenden britischen Zeitungen wie Sunday Times,Daily Telegraph, Spectator etc. unter dem Stichwort„Deutschland das Vierte Reich“ eine der perfidestenPropagandafeldzüge gegen Deutschland, die — einer

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Elisabeth Hellenbroich

Thatcher gegen die Wiedervereinigung

Die deutsche Frage aus dem Blickwinkel englischer Geopolitik

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psychologischen „Bombardierung“ gleichkommend— die Wirkung haben sollten, in ganz Europa, undvor allem bei den Osteuropäern (Polen, Ungarn,Tschechen, Russen), die Angst vor dem „Moloch“Deutschland erneut zu schüren.

Auf Betreiben Englands wurden die USA und dieeuropäischen Verbündeten nacheinander in zwei blu-tige Kriege hineingezogen: den Krieg am persischenGolf und den Krieg auf dem Balkan. Strategisches Zielbeider Kriege war in erster Linie die „Eindämmung“Deutschlands, und damit verbunden die Eindäm-mung des Potentials für einen großangelegten wirt-schaftlichen Wiederaufbau Osteuropas und derSowjetunion. Londons Kalkül zufolge galt es, die wirt-schaftlichen, finanziellen und politischen EnergienDeutschlands in möglichst vielen kostspieligen Kon-flikten an der Flanke „aufzureiben“ und „einzubin-den“, um dadurch ein entschlossenes VorgehenDeutschlands, aber auch Kontinentaleuropas, in Ost-europa und auf dem Balkan unmöglich zu machen.

Am Ende der 80er Jahre lautete das Credo engli-scher Außenpolitik:

1. Alles muß getan werden, um eine deutsche Wie-dervereinigung zu verhindern bzw. zu unterminie-ren.

2. Niemals darf Deutschland ein wirtschaftlich hege-monialer Faktor auf dem europäischen Kontinentwerden.

3. Deutschland muß daran gehindert werden, einewichtige Rolle bei der wirtschaftlichen Entwick-lung Osteuropas zu spielen.

Wenn schon der Zusammenbruch des Kommunis-mus aufgrund der wirtschaftlichen Dynamik unver-

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meidbar war, dann — so die britische Strategie — soll-te Osteuropa lediglich die Rolle eines billigen Roh-stofflieferanten zugewiesen werden, der mit Hilfeinternationaler Finanzinstitutionen wie dem IWF unddessen berüchtigter Politik der „Konditionalitäten“ausgebeutet und somit in permanenter Rückständig-keit gehalten werden sollte.

Aus den im Juli 1998 veröffentlichten Dokumentenzur Deutschlandpolitik, Sonderedition aus den Akten desBundeskanzleramtes 1989/90, in denen erstmals Lichtauf Helmut Kohls Außenpolitik der letzten 15 Jahregeworfen wird, sowie dem Studium der MemoirenThatchers und anderer führender Politiker wie z.B.Mitterrand und Gorbatschow wird deutlich, daß es imKonzert der vier Mächte USA, Großbritannien, Frank-reich und Sowjetunion vor allem Frau Thatcher unddie meisten ihrer Kabinettsminister waren, die sichmit ungeheurer Energie dafür einsetzten, die deutscheWiedervereinigung zu sabotieren.

Thatchers Memoiren

In ihren Memoiren Downing Street Nr. 10 gibt die ehe-malige englische Premierministerin Maggie Thatchereinen klinisch interessanten Einblick in die geopoli-tischen Manipulationen der englischen Politikwährend der Jahre 1989/90.

Ihre Vorbehalte gegen die deutsche Wiedervereini-gung begründet Thatcher in dem Kapitel „Die deut-sche Frage und das Machtgleichgewicht“ mit demHinweis auf den „deutschen Nationalcharakter“, derseit Bismarck stets auf unberechenbare Weise zwi-schen Aggression und Selbstzweifeln schwankend,„von Natur eine destabilisierende Kraft auf demeuropäischen Kontinent darstellt“, indem Deutsch-

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land versucht sein könnte, sich als „Großmacht“ aufKosten anderer Geltung zu verschaffen.

„Der wahre Ursprung der deutschen Angst ist dieQual der Selbsterkenntnis“, schreibt Thatcher.„Deutschland ist vom Wesen her eher eine destabili-sierende als eine stabilisierende Kraft im europäischenGefüge. Nur das militärische und politische Engage-ment der USA in Europa und die engen Beziehungenzwischen den beiden anderen starken souveränenStaaten Europas, nämlich Großbritannien und Frank-reich, können ein Gegengewicht zur Stärke der Deut-schen bilden. In einem europäischen Superstaat wäredergleichen nicht möglich.“

Thatcher bezieht diesen Hinweis vor allem auf dieEuropäische Union und die potentielle Führungsrolle,die Deutschland darin spielen würde. Ein wiederver-einigtes Deutschland sei viel zu groß und mächtig, alsdaß es nur einer von vielen Mitstreitern auf demeuropäischen Spielfeld wäre, so lauten die Befürch-tungen Thatchers, und es habe sich traditionell stetszum Osten hin orientiert, was eher auf wirtschaftli-che, denn auf kriegerische territoriale Expansionabziele.

Schon Monate vor dem Fall der Mauer sprachThatcher persönlich bei Gorbatschow vor. Zugleichredete sie US-Präsident Bush ins Gewissen, allesErdenkliche zu unternehmen, damit die deutsche Fra-ge nicht zum Gegenstand einer strategischen Neuord-nung in Europa werde, während sie gleichzeitig gera-dezu hysterisch — wie sogar Mitterrand selbst in sei-nem Buch Über Deutschland anmerkt — auf den fran-zösischen Staatspräsidenten einredete, dieser mögemit ihr zusammen alles tun, um die deutsche Wieder-vereinigung aufzuhalten. Obwohl Mitterrand auchnicht gerade von den Aussichten einer deutschen

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Wiedervereinigung begeistert war, vertrat er die Auf-fassung, daß falls die Wiedervereinigung nicht aufzu-halten sei, dann um so beschleunigter die europäi-sche Wirtschafts- und Währungsunion (vor der politi-schen Union) betrieben werden müsse. Denn nur diesgewähre eine effektive Einbindung einer zukünftigenGroßmacht Deutschland, wozu die deutsch-französi-sche Achse unvermeidbar sei.

• Im September 1989 fand der bereits erwähnteBesuch der englischen Premierministerin Thatcherbei Gorbatschow statt. Dabei legte Thatcher demsowjetischen Präsidenten die englischen Vorbehaltezur deutschen Frage dar, worauf ihr „Gorbatschowbestätigte, auch die Sowjetunion wünsche keine deut-sche Wiedervereinigung. Dies bekräftigte mich inmeinem Entschluß, das damals schon rasante Tempoder Entwicklung zu bremsen“.

Zu Thatchers großem Bedauern überschlugen sichjedoch sehr bald die historischen Entwicklungen ineinem atemberaubendem Tempo, was schließlich dieSowjets veranlaßte — wie Thatcher verächtlichanmerkt — die Zustimmung zur Wiedervereinigungfür eine bescheidene Finanzhilfe zu verkaufen, umihre marode Wirtschaft auf die Beine zu stellen.

• Am 9. November 1989 wurde die Berliner Mauergeöffnet.

• Am 10. November 1989 führte Thatcher ein Tele-fongespräch mit Bundeskanzler Kohl und ersuchteihn, sich angesichts der sehr „beunruhigenden“ Ereig-nisse, wo alles mögliche passieren könne, umgehendmit Gorbatschow in Verbindung zu setzen.

In einer Regierungserklärung im Deutschen Bun-destag erklärte Kohl damals, der Kernpunkt der deut-schen Frage sei die Freiheit. Die Deutschen in derDDR müßten die Chance erhalten, ihre Zukunft selbst

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zu bestimmen. Dazu brauchten sie keinen fremdenRat, dies gelte auch für die Frage der Wiedervereini-gung und der deutschen Einheit.

Völlig entrüstet stellte Thatcher fest, der Ton habesich bei den Deutschen bereits geändert und werdesich auch weiterhin ändern — und dies trotz der Tat-sache, daß Genscher dem englischen AußenministerHurd versichert hatte, „die Deutschen wollten dasGerede von der Wiedervereinigung unterbinden“.

• In Panik über die sich überstürzenden Ereignisseberief Mitterrand, so berichtet Thatcher in ihrenMemoiren, für den 18. November die EG-Regierungs-chefs zu einem informellen Abendessen nach Parisein, auf dem — wie Mitterrand selbst in dem BuchÜber Deutschland schreibt — die Ereignisse inDeutschland besprochen und die Tagesordnung derfür den 6. Dezember 1989 anberaumten Tagung desEuropäischen Rates in Straßburg festgelegt werdensoll.

„Das Straßburger Treffen... wird unter einem ande-ren Licht als dem gegenwärtigen stattfinden, mit demnotwendigen Abstand, um die durch die deutscheEinheit gestellten Probleme in ihrer Gesamtheit zuprüfen“, hatte Mitterrand in Über Deutschland rück-blickend geschrieben. (Wie aus Mitterrands Memoi-ren hervorgeht, hatte er damals eine Wende vollzo-gen und beharrte nun, angesichts der sich überschla-genden Ereignisse in der DDR gegenüber dem deut-schen Bundeskanzler darauf, daß in Straßburg derFahrplan über die rasche und unverzügliche Ein-führung der Wirtschafts-und Währungsunion verbind-lich beschlossen werden solle — eine Maßnahme, dieden Zweck hatte, Deutschland faktisch in die Strukturvon Maastricht einzubinden.)

• Kurz vor dem Treffen in Paris am 18. November

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schickte Thatcher einen Brief an US-Präsident Bush,in dem sie betont, daß zwar der Einführung demokra-tischer Verhältnisse in der DDR Priorität eingeräumtwerden sollte, in dem sie aber auch hervorhebt, „diedeutsche Wiedervereinigung dagegen sei kein Thema,das derzeit behandelt werden müsse.“ Bush habe mitihr übereingestimmt und sie zu einem Gedankenaus-tausch nach Camp David eingeladen.

• Am 18. November 1989 eröffnete Mitterrand dasArbeitsessen der zwölf EG-Regierungschefs in Parismit einer Reihe von Fragen – wie Thatcher schreibt –,darunter auch jene, ob die „Grenzen Europas“ zurDebatte stünden. Kohl unterstreicht in seiner Rede, essolle keine Grenzdiskussion geben, „doch müsse esdem deutschen Volk ermöglicht werden, selbst überseine Zukunft zu entscheiden.“ Thatcher erklärte inihrer Rede, man dürfte sich „keiner Euphorie hinge-ben, auch wenn derzeit historische Veränderungenim Gang seien... jegliches Bestreben, irgendwelcheGrenzänderungen wie auch die deutsche Wiederver-einigung zu diskutieren, werde Gorbatschows Auto-rität untergraben und zudem in ganz Mitteleuropa imHinblick auf Grenzstreitigkeiten eine wahre Büchseder Pandora öffnen. Um eine grundlegende Stabilitätzu gewährleisten, müßten wir meines Erachtenssowohl die NATO wie auch den Warschauer Paktintakt halten.“

• Am 24. November 1989 besprach Thatcher mit„hochgelegten Füßen“ diese Fragen in Camp Davidmit George Bush. „Ich wollte alles versuchen, um ihnvon der Richtigkeit meiner Ansichten über die Vor-gänge im zerfallenden kommunistischen Lager zuüberzeugen. Daher wiederholte ich viele meiner inParis vorgebrachten Argumente zum Thema der Gren-zen und zur deutschen Wiedervereinigung. Auch

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betonte ich, es sei notwendig, den sowjetischen Par-teichef zu unterstützen, von dessen Verbleib an derMacht so vieles abhing.“

• Am 28. November 1989 machte Kohl einenStrich durch Thatchers Rechnung, indem er ohneAbsprache mit den vier Mächten während einer Bun-destagssitzung sein „Zehn-Punkte-Programm zurÜberwindung der Teilung Deutschlands und Euro-pas“ vorlegte, in dem er auf die Zukunft der deut-schen Entwicklung eingeht. Punkt fünf betrifft seinenVorschlag „konföderative Strukturen zwischen beidenStaaten in Deutschland zu entwickeln mit dem Ziel,eine Föderation, d.h. eine bundesstaatliche Ordnungin Deutschland, zu schaffen.“ In Punkt zehn bekräf-tigte Kohl, seine Regierung erstrebe die „Wiederverei-nigung, d.h. die Wiedergewinnung der staatlichenEinheit Deutschlands“.

Auch die amerikanische Position erfuhr (wie derdeutsche Historiker Detlef Junker ausführlich ineinem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitungam 13. März 1997 rückblickend korrekt analysierthat) eine deutliche Akzentverschiebung angesichtsder Ereignisse. Wollten Bush und sein AußenministerBaker nicht jede Glaubwürdigkeit Amerikas in West-und Osteuropa verspielen, dann mußte Washington— zumindest nach außen — die BestrebungenDeutschlands auf friedliche Wiedervereinigung unter-stützen. Und so entschied sich Washington damals,die amerikanische Deutschlandpolitik nach der (altenund neuen) Formel: „Einheit, Eindämmung und Inte-gration“ zu gestalten. Auf einer Pressekonferenzmachte der amerikanische Außenminister Baker diesePosition deutlich, indem er betonte, das Ziel der deut-schen Selbstbestimmung werde unbeschadet der Kon-sequenzen weiterverfolgt. Deutschland sollte nicht

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nur Mitglied in der NATO, sondern Bestandteil „einerzunehmend integrierten europäischen Gemeinschaftsein.“

• Direkt nach seinem Treffen mit Gorbatschow inMalta Anfang Dezember 1989 bekräftigte US-Präsi-dent Bush diesen Kurs amerikanischer Außenpolitik,indem er in Brüssel von der „zukünftigen Architek-tur“ Europas sprach und dabei „mit Nachdruck aufdie europäische Integration verwies.“

„Falls es noch Hoffnung gab, die deutsche Wieder-vereinigung aufzuhalten oder zumindest zu ver-langsamen,“ schreibt Thatcher in ihren Memoiren,„so mußte eine entsprechende Initiative von Großbri-tannien und Frankreich ausgehen.“

• Die Zeit im Vorfeld des für den 7. Dezember 1989anberaumten EG-Gipfels in Straßburg nutzte That-cher, um Mitterrand — wenn das überhaupt nochnötig war — von ihren Zielen zu überzeugen.

Auf diesem Straßburger Gipfeltreffen des Europäi-schen Rates, der in „eisiger Atmosphäre“ verlief —und der, wie Kohl im Rückblick vermerkt, zu den dun-kelsten Stunden seines Lebens gehörte, da er Mitter-rands Vorschlag einer zeitlich vorgezogenen Ein-führung der Währungsunion zustimmen mußte —,hatte Thatcher während einer Pause zu Kohl übrigensden Satz gesagt, der ihre ausgesprochen enge geopoli-tische Sichtweise so treffend entlarvt: „Zweimalhaben wir euch in diesem Jahrhundert geschlagen,nun seid ihr wieder da“; Kohl selbst hat diesen Aus-spruch Thatchers im April 1998 bei seiner Rede aufdem Leipziger Sparkassentag, die im Fernsehen Phoe-nix live übertragen wurde, wiedergegeben.

„Die letzte und auch größte Chance“ — Deutsch-land einzubinden und eingedämmt zu halten —,schreibt Thatcher, „bestand demnach in der Schaf-

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fung einer stabilen politischen Achse zwischen Groß-britannien und Frankreich, die gewährleisten würde,daß in jedem Stadium der Wiedervereinigung, wieauch bei zukünftigen wirtschaftlichen und politi-schen Entwicklungen, nicht alles nach dem Willender Deutschen verlief.“

Zweimal traf Thatcher am Rande der StraßburgerTagung mit Mitterrand zusammen, um mit ihm diedeutsche Frage zu erörtern. In ihren Memoirenschreibt Thatcher über diese Treffen: „Er war nochbesorgter als ich und stand dem Zehn-Punkte-Planvon Bundeskanzler Kohl sehr kritisch gegenüber.Deutschland, bemerkte er, habe in der Geschichtenoch nie seine wahren Grenzen gefunden... Darauf-hin holte ich aus meiner Handtasche eine Landkarte,auf der Deutschland in seinen vielfältigen Konfigura-tionen der Vergangenheit abgebildet war. Diese Ver-änderungen waren im Hinblick auf die Zukunft nichtbesonders beruhigend.“

Sichtlich beunruhigt über Kohls Vorgehen, habeMitterrand ihr, Thatcher, damals gesagt: „In der Ver-gangenheit habe Frankreich in Augenblicken großerGefahr stets eine besondere Beziehung zu Großbri-tannien entwickelt. Nun habe er das Gefühl, eine sol-che Zeit sei wiedergekommen. Wir müßten zusam-menrücken und in Verbindung bleiben. Auch wennwir noch nicht herausgefunden hatten, wie wir dendeutschen Moloch in die Schranken weisen konnten,so hatten wir doch offenbar beide den Willen dazu.Das war immerhin ein Anfang.“

• Um die britisch-französische Zusammenarbeit zuvertiefen, fand am 20. Januar 1990 ein weiteres Tref-fen der beiden Politiker im Elysée-Palast statt. „Mit-terrand war offensichtlich verärgert über die Einstel-lung und das Verhalten der Deutschen,“ so berichtet

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Thatcher in ihren Memoiren. „Er konnte den Deut-schen zwar das Recht auf Selbstbestimmung zugeste-hen, doch hatten sie seiner Meinung nach nicht dasRecht, die politischen Realitäten in Europa umzu-stoßen.“ Mitterrand sei damals ratlos gewesen was zutun sei, woraufhin Thatcher ihm erklärt habe, „wirsollten zumindest alle Register ziehen, um den Prozeßder Wiedervereinigung zu verlangsamen... Weiterführte Mitterrand aus, er teile meine Besorgnis überdie sogenannte ,Mission’ der Deutschen in Mitteleu-ropa. Tschechen, Polen und Ungarn wollten nichtausschließlich unter politischem Einfluß der Bundes-republik stehen, doch würden sie deutsche Unterstüt-zung und Investitionen brauchen. Ich fand, wir soll-ten nicht nur hinnehmen, daß die Deutschen einenbesonderen Einfluß auf diese Länder ausübten, son-dern sollten lieber unsererseits alles unternehmen,um unsere Beziehungen zu ihnen auszubauen.“

• Im Februar 1990 reiste Kohl nach Moskau. Gor-batschow wurde damals, so bewertet es Thatcher, alsGegenleistung für das sowjetische Ja zur Wiederverei-nigung und für den Abzug der Truppen aus der DDRvon Kohl eine riesige Summe geboten. „Von jenemZeitpunkt an war jede realistische Chance, den Wie-dervereinigungsprozeß zu verlangsamen, dahin.“

Im Rückblick auf die Entwicklungen seit 1989, soThatchers Resümee am Schluß ihrer 1993 erschiene-nen Memoiren, trat nun ein Europa hinter dem Eiser-nen Vorhang hervor, „das viele Züge des Europa von1914 und 1939 trägt: ethnische Konflikte, Grenzstrei-tigkeiten, politischer Extremismus, Nationalismusund wirtschaftliche Rückständigkeit. Und noch einweiteres Schreckgespenst aus der Vergangenheit istwiederauferstanden: die deutsche Frage.“

Der eigentlich Leidtragende der Wiedervereini-

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gung war und ist, gemäß Thatcher, die EuropäischeUnion, die die Einheit Deutschlands mit Rezessionund steigender Arbeitslosigkeit bezahlen mußte. Diepolitische Unreife der Ostdeutschen habe sich inForm eines wiederauferstandenen Neonazismus undausländerfeindlichem Extremismus in ganz Deutsch-land ausgebreitet. Der deutsch-französische Block ver-wandele sich zusehends in einen von Deutschlanddominierten DM-Block.

Englands Propagandafeldzug gegen das „Vierte Reich“

Thatcher und etliche Kabinettskollegen im engli-schen Establishment waren von der rasanten Ge-schwindigkeit und Dynamik damaliger Ereignisseüberrascht worden.

Der französische Staatspräsident Mitterrand sagtedamals gebetsmühlenartig in der Öffentlichkeit,wenn man ihn zur Wiedervereinigung befragte, dassei eine freie Entscheidung der Deutschen: „Wenn dasdeutsche Volk beschließt, daß dem so sein soll, wirdsich Frankreich einem solchen Votum nicht entge-genstellen... Freilich muß das deutsche Volk bei seinerEntscheidung das europäische Gleichgewicht berück-sichtigen... Ich sage also, daß die deutsche Einheitauch Angelegenheit der Nachbarn ist, die sich nichtan die Stelle des Willens der Deutschen zu setzenhaben, aber deren Pflicht es ist, über das Gleichge-wicht Europas zu wachen... In diesem Prozeß (derWiedervereinigung — Red.) wird die EuropäischeGemeinschaft eine wichtige Rolle zu spielen haben,denn diese Institution kann mit Ländern wie demIhren Verträge schließen. Im übrigen muß sie sichverstärken, damit das Problem nicht nur ein deut-

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sches, sondern ein europäisches Problem ist. Dannwerden wir uns auch gut verstehen und die richtigeLösung finden.“ (Zitiert nach: Mitterrand ÜberDeutschland, Suhrkamp 1998)

Als klar wurde, daß die Dynamik in der DDR undim übrigen Osteuropa unumkehrbar war, begann diebritische Presse eine nie dagewesene „Viertes Reich“-Kampagne.

Auf eine Formel gebracht lautete die Botschaft:eine zukünftige Großmacht Deutschland wird derBeginn eines neuen „Vierten Reiches“ sein. Was Hit-ler mit militärischen Mitteln versuchte, wird nun mitwirtschaftlichen Mitteln eine Wiederholung von Hit-lers „Drang nach Osten“ darstellen.

• Bereits am 31. Oktober 1989 — noch vor demFall der Mauer, erschien in der Londoner Times einKommentar von Connor Cruise O’Brien, der Signal-

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Britische Zeitungsartikel diffamieren Deutschlandals „Viertes Reich“

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wirkung haben sollte: „Nehmt Euch in acht vor demVierten Reich“, war der Titel.

„Wir sind auf dem Weg in ein Viertes Reich — einpangermanisches Gebilde unter der Führung deut-scher Nationalisten... Das erste Reich wurde 800 n.Chr. unter Karl dem Großen gegründet und 1806unter Napoleon aufgelöst. 1871 gründeten dieHohenzollern das zweite Reich, welches 1918 in Wei-mar zerstört wurde. Das Dritte Reich wurde 1945 zer-stört und den Deutschen wurden von den Sieger-mächten neue Institutionen auferlegt.... In einemneuen wiedervereinigten Deutschland werden dieNationalisten das Vierte Reich ausrufen...“, so derKommentar in der Londoner Times.

Weiter hieß es da, daß in einem wiedervereinigtenDeutschland die Rassenkunde eine Renaissance erle-ben werde „und Nationalisten und Intellektuelle wer-den sagen, die wahren Deutschen brauchten sichnicht schuldig fühlen, sondern könnten stolz sein aufden Holocaust, jenen großen befreienden Akt... Ichbefürchte, wenn das Vierte Reich kommt, wird es demVorgänger ähnlich sein.“

• Am 12. November 1989 erschien in der SundayTimes ein Kommentar mit dem Titel „Das VierteDeutsche Reich“. Die Ereignisse in Berlin — gemeintwar natürlich der Fall der Mauer — stellten den erstenSchritt zur Schaffung eines 80 Millionen starken Vier-ten Reichs dar, und weiter: „Ein wiedervereinigtesDeutschland wird dann zur Lokomotive beim Wie-deraufbau der neuen Wirtschaftsmärkte Osteuropas“,schließlich besitze Deutschland gerade das nötigeKapital und industrielle Know How, das diese Länderbrauchten. „Das Vierte Reich wird aufblühen undEuropas Supermacht werden... Die Frage ist: Wo bleibtEngland in dem Ganzen?“

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Die Töne wurden immer schriller und aggressiver.Nach dem G-7-Gipfel in Houston (Texas) im Juli 1990gingen die Anglo-Amerikaner offen auf Konfrontati-onskurs gegenüber Osteuropa. Während Kohl undMitterrand auf diesem Gipfel dafür plädierten, daßman die Sowjetunion und Osteuropa ohne die Kondi-tionalitäten des IWF entwickeln müßte, beharrte dieRegierung Bush auf einer rein monetaristischen Poli-tik des IWF.

• Am 12. Juli 1990 erschien im Spectator, der vonder britischen Hollinger Corp. herausgegeben wird,ein Interview unter dem Titel „Das Unsagbare sagen“,das Dominic Lawson, Sohn des ehemaligen Schatzmi-nister Nigel Lawson, mit dem damaligen englischenIndustrie- und Handelsminister Nikolas Ridleygeführt hatte. Illustriert mit einer Karikatur, die Kohlmit Hitler-Look auf einem Plakat zeigt, vor dem einevon Entsetzen gezeichnete Thatcher steht, stellte derbritische Minister Kohl auf eine Stufe mit Hitler...

Die Deutschen wollten ganz Europa übernehmen,erklärt Ridley und dabei verhielten sich die Franzosenwie Pudel gegenüber den Deutschen. Es folgt ein Aus-zug des Interviews:

Lawson: Entschuldigen Sie, aber inwiefern bedeutetein Schritt in Richtung Währungsunion, daß dieDeutschen ganz Europa übernehmen?

Ridley: Die DM wird aus Gewohnheit stets die stärksteWährung bleiben.

Lawson: Aber Herr Ridley, es ist doch nicht axioma-tisch vorgegeben, daß die deutsche Währung stetsdie stärkste sein wird?...

Ridley: Es ist wegen der Deutschen.Lawson: Aber die Europäische Gemeinschaft ist nicht

nur die Deutschen.

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Ridley: Wenn ich mir die Institutionen betrachte, andie Souveränität abgegeben werden soll, dann binich im Schock... Ich bin im Prinzip nicht dagegen,Souveränität aufzugeben, aber nicht diesem Packgegenüber. Dann könnte man es ebensogut AdolfHitler übergeben.

Lawson: Aber Hitler wurde gewählt.Ridley: Nun ja, zumindest, er wurde gewählt...Lawson: Aber sicherlich ist Herr Kohl Hitler vorzuzie-

hen. Immerhin wird er uns nicht bombardieren.Ridley: Da bin ich mir nicht sicher...

Lawson wirft an dieser Stelle in dem Interview ein,daß insbesondere zwischen Thatcher und Ridley einegroße Ähnlichkeit bestehe. Beide seien derselbenGeneration zugehörig (beide waren damals rund 60Jahre alt), die ausgesprochen deutschfeindlich einge-stellt ist. So habe sich Thatcher gegen die deutscheWiedervereinigung gestellt, „auch wenn sie es in derÖffentlichkeit vorzog, keine direkten Parallelen zwi-schen Kohl und Hitler zu ziehen.“

Um das Ausmaß der Deutschlandphobie Thatcherszu demonstrieren, erzählt Lawson von einer Begeben-heit, die ihm einst ein Berater Thatchers mitgeteilthabe. Dieser sei einmal zu einem Treffen mit Thatchermit einem deutschen Wagen erschienen: „Was hatdieser ,ausländische Wagen’ hier zu suchen?“ habeThatcher ausgerufen. „Es ist ein Volkswagen,“ lautetedie Antwort. „Parken sie nie wieder so etwas hier!“,habe Thatcher gerufen.

Von Lawson über die Rolle Englands in Osteuropabefragt, verweist Ridley auf die englische Politik des„Machtgleichgewichts (Balance of Power)“.

Ridley: Wir haben stets in Europa das Machtgleichge-wicht gehalten. Es war stets Englands Rolle, für ein

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Gleichgewicht zwischen den Ländern Osteuropaszu sorgen... und es war zu keinem Zeitpunkt nötigerals jetzt, wo die Deutschen sich dominant verhal-ten.“

Lawson: Aber nehmen wir an, wir haben nicht die,Balance of Power’, und die deutsche Wirtschaft be-herrscht Europa?

Darauf entgegnet Ridley, daß sich ein Engländerniemals von einem Herrn Pöhl oder irgendeinembloody German etwas sagen oder sich von einemDeutschen „herumkommandieren“ lasse.

Als Reaktion auf das Ridley-Interview kam es zueiner erheblichen Verstimmung zwischen Großbri-tannien und Deutschland, und auch internationalregte sich Protest. Die Bundesregierung sprach von„skandalösen“ Äußerungen und wies darauf hin, dasInterview diskreditiere die gesamte EuropäischeGemeinschaft. Kohls Sicherheitsberater, Horst Telt-schik, erklärte gegenüber der Sunday Times, es hängejetzt ganz allein von Frau Thatcher ab, über das wei-tere Schicksal von Ridley zu entscheiden.

• Am 14. Juli 1990 schrieb auch die SPD-PolitikerinAnnemarie Renger in Die Welt, die Aussagen Ridleyserinnerten sie an Äußerungen des britischen Publizi-sten und Pressezaren Robert Maxwell, die dieser vonsich gab, als er im Oktober 1989 Erich Honeckergetroffen habe. Der ehemalige britische Besatzungsof-fizier Maxwell hätte am 3. Oktober 1989 der BBC ge-genüber erklärt: „Ein wiedervereinigtes Deutschlandsei eine Bedrohung für Europa, die Russen, Polen, dieDeutschen und uns (die Briten). Wir wollen sie nicht.Sie ist weder gut für uns noch für die Deutschen. Wirwünschen, daß es zwei deutsche Staaten gibt.“Maxwell hätte die „beeindruckenden Leistungen“

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Honeckers gepriesen und erklärt, daß nichts getanwerden solle, was dieses Land (DDR) destabilisiere.Gleichzeitig habe er Honecker als großen Reformergepriesen. Man müßte allerdings, so Renger, daranzweifeln, ob die Blindheit von Herrn Maxwell nur einEinzelfall sei, da immerhin Ridley dasselbe von sichgegeben hatte. Erklärungen wie die von Ridley undMaxwell seien Ausdruck fehlgeleiteter politischerErziehung und zeigten einen Mangel an Demokratie— und dies im Mutterland der Demokratie, worüberalle Europäer beschämt sein sollten.

Aber auch normale englische Bürger in einem Ortwie Coventry, der immerhin im Zweiten Weltkriegvon der Deutschen Luftwaffe zerstört worden war,erklärten in Interviews mit dem Independent am 14.Juli 1990: „Thatcher hat mehr zerstört als die deut-sche Luftwaffe... Herr Ridley ist eine größere Bedro-hung als die Deutschen.“

Scharf wurden Ridleys Äußerungen vom Europa-parlament verurteilt. Kurze Zeit später trat Ridley vonseinem Amt zurück. Bis zuletzt hatte Thatcher jedochan ihrem Kandidaten festgehalten und sich geweigert,ihn aus dem Amt zu entlassen.

Das Protokoll von Chequers

Am 15. Juli 1990 veröffentlichte Der Spiegel ein Proto-koll über ein Treffen, das unter der Leitung Thatchersauf ihrem Landsitz Chequers im März desselben Jah-res stattgefunden hatte. Wie aus dem von ThatchersSekretär Powell aufgezeichneten Protokoll hervor-geht, zählten zu den Teilnehmern des informellenTreffens, das sich mit der „deutschen Frage“ beschäf-tigen sollte, Mitglieder des Kabinetts Thatcher sowiesechs englische und amerikanische Deutschland-Ex-

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perten. Darunter George Urban, Gordon Craig, Timo-thy Garton Ash, Fritz Stern, Norman Stone und LordDacre (Hugh Trevor Roper). Wie aus dem Protokollhervorgeht, waren sich die Teilnehmer einig in ihrerSorge über das potentielle Wiedererwachen einesexpansionistisch/chauvinistischen Deutschland.

Verschiedene Themenkomplexe wurden dabeidurchgesprochen:

„Wer sind die Deutschen?“ Es wurde gefragt, ob manaus der Geschichte Lehren ziehen könne, um künfti-gen Gefahren von deutscher Seite zu begegnen.

„Die Teilnehmer meinten, es sei einfacher und die-ser Diskussion angemessener, an die weniger ange-nehmen Merkmale zu denken: an die mangelnde Sen-sibilität der Deutschen den Gefühlen anderer gegen-über (am deutlichsten erkennbar an ihrem Verhaltenin der Grenzfrage gegenüber Polen), ihre Selbstbezo-genheit, einen starken Hang zum Selbstmitleid unddas Verlangen, geliebt zu werden.

Noch weniger schmeichelhafte Attribute wurdenals typisch deutsche Charakterzüge erwähnt: „Angst,Aggressivität, Überheblichkeit, Rücksichtslosigkeit,Selbstgefälligkeit, Minderwertigkeitskomplexe, Senti-mentalität. Zwei weitere Aspekte des deutschen Cha-rakters wurden als Gründe dafür angeführt, daß mansich um die Zukunft zu sorgen habe. Zum einen dieNeigung der Deutschen, Dinge zu übertreiben, überdie Stränge zu schlagen. Zum anderen ihre Neigung,ihre Fähigkeiten und die eigene Stärke zu überschät-zen.“

Haben die Deutschen sich geändert? Dazu heißt es imProtokoll: „Vorbehalte gegen Deutschland bezögensich nicht allein auf die Nazizeit, sondern auf diegesamte Ära nach Bismarck und hätten notwendiger-weise zu einem tiefen Mißtrauen geführt... Die Art,

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wie die Deutschen gegenwärtig ihre Ellenbogengebrauchten und ihr Gewicht in der EuropäischenGemeinschaft zum Tragen brächten, lasse vermuten,daß sich noch nicht allzu viel geändert habe... Nie-mand hatte ernsthafte Bedenken gegen die derzeitigepolitische Führung in Deutschland. Aber wie sähe esin 10, 15 oder 20 Jahren aus? Könnte einer der unse-ligen Charakterzüge der Vergangenheit wiederaufle-ben — womöglich mit verheerenden Konsequen-zen?“

Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Wiederver-einigung? „Schon jetzt sei eine Art Siegestaumel imdeutschen Denken spürbar, der für alle andernungemütlich sei. Es wurde auch auf die BemerkungGünter Grass’ verwiesen, am Ende werde die Wieder-vereinigung alle gegen Deutschland aufbringen... Wirkönnten nicht annehmen, daß ein vereintes Deutsch-land sich so reibungslos in Westeuropa einfügen wür-de wie die BRD. Es werde die Neigung wachsen, dasKonzept ,Mitteleuropa’ wiederzubeleben, in demDeutschland die Rolle des Maklers zwischen Ost undWest zufiele.“

Wird ein wiedervereinigtes Deutschland danach stre-ben, Osteuropa zu dominieren? „Es gebe zumindestensfür die absehbare Zukunft keinen Grund zu derAnnahme, daß Deutschland irgendwelche Gebietsan-sprüche geltend machen würde. Es sei wahrschein-lich, daß Deutschland Ost- und Mitteleuropa in wirt-schaftlicher Hinsicht beherrschen würde... Aber dasmüsse nicht gleich Unterjochung bedeuten. Es müsseauch nicht unbedingt heißen, daß Deutschland nunmit wirtschaftlichen Mitteln erreichen würde, wasHitler mit militärischen Mitteln erreichte... Die Ost-europäer würden sich lieber an Briten oder Franzosenhalten, aber keiner von beiden sei bereit, die nötigen

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Mittel bereitzustellen.“Die Chequers-Gruppe stimmte darin überein, daß

„Deutschland in einen Sicherheitsrahmen eingebun-den werde, um das Wiederaufleben des DeutschenMilitarismus zu unterbinden.“

Was die Europäische Gemeinschaft anbelangt,wurde das „deutsche Verhalten: ,Wir zahlen, also wol-len wir auch bestimmen’, von einigen Teilnehmernals Vorbote der deutschen Wirtschaftshegemonie inWesteuropa bewertet.“

• Am 22. Juli 1990 schrieb Peregrine Worsthorne,dessen Stiefvater in den 30er Jahren der ehemaligeGouverneur der Bank of England Montagu Normanwar, unter dem Titel „Das Problem der guten Deut-schen“, er stimme mit der Ansicht seines Stiefvatersüberein, wonach „die Last der deutschen Tugendensehr viel schwerer auf England liegt als die Last derDeutschen Laster.“

„Wie soll man gegen ein wiedervereinigtesDeutschland gewinnen, das sich an die Spielregelnhalten will?... Deutschland kann jetzt seine Stärkeausnutzen, die durch die Wiedervereinigung aus-gelöst wird.“ Es werde in Zukunft viele Länder geben,die sich gegen die „guten Deutschen“ zur Wehr setzenmüssen... „Indem Deutschland Gutes schafft, wird esebenso viel Unheil stiften und sich Feinde schaffen.Früher oder später wird eine Politik des Machtgleich-gewichts nötig sein, eine Gelegenheit für England,sich in diesem Prozeß einzumischen.“

• Am 4. und 5. August 1990 zog die englische Zei-tung Sunday Correspondent eine direkte Verbindungzwischen den Bekennerschreiben der RAF, die damalseinen mißlungenen Anschlag auf den stellvertreten-den Innenminister Neusel unternommen hatte, undden Äußerungen prominenter englischer Politiker.

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„Letzte Woche,“ schrieb Sunday Correspondent „gabdie RAF bekannt, daß der Angriff auf Herrn Neuselnur der Beginn einer langen Periode des Kampfesgegen die neu auftauchende großdeutsche-westeu-ropäische Supermacht sei. Westdeutschland und diepolitische Elite Ostdeutschlands verfolgten (gemäßdem Bekennerschreiben der RAF — Red.) dieselbenZiele und politischen Pläne wie der Nazi-Faschismus.Die dritte Invasion Europas durch deutsches Kapital,so die RAF, wird in diesem Jahrhundert nichtmilitärisch, sondern auf wirtschaftlichem und politi-schem Wege erfolgen.“ Während vor einem Jahr(Sommer 1989) solche Ansichten als absurd erschie-nen wären, seien nun mehr und mehr Menschenbereit, diese zu hören. „Die Bemerkungen des Han-delsministers (Ridley) waren im Kern schließlichnicht viel anders“, so der abschließende Kommentarim Sunday Correspondent.

Aber auch in Deutschland reihten sich führendeSPD-Politiker, darunter Peter Glotz, Oskar Lafontaineu.a. in den Chor der von England ausgehenden Pro-pagandakampagne vom „Vierten Reich“ ein.

In seinem Buch Die Zentralmacht Europas —Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne (Siedler Ver-lag), weist der Bonner Politologe Hans Peter Schwarzdarauf hin, daß Peter Glotz der erste war, „durch dendie damals nur als Denkmöglichkeit aufleuchtendeWiedervereinigung Deutschlands mit dem diffamie-renden Schlagwort „Viertes Reich“ abqualifiziert wur-de. In einem Aufsatz am 2. August 1989 in der Frank-furter Rundschau habe dieser (noch vor der Massen-flucht Deutscher über Ungarn) geschrieben: „Derzeitist keine europäische Architektur denkbar, die es aus-hielte, daß der wirtschaftlich stärkste Staat der EGund der wirtschaftlich stärkste der RGW sich vereini-

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gen. Bitte zumindest in diesem Jahrhundert keine Plä-ne mehr zu einem Vierten Reich.“

Auch Oskar Lafontaine, der laut Schwarz innerhalbder SPD ein führender Verfechter der deutschen Zwei-staatenidee war und in der SPD zu den wichtigstenStichwortgebern gehörte, habe am 25. September1989, als die DDR eben ins Wanken geriet, in einemSpiegel-Interview gesagt: „Das Gespenst eines starkenVierten Deutschen Reichs erschreckt unsere westli-chen nicht weniger als unsere östlichen Nachbarn.“

• 30. März 1990, zwölf Tage nach den ersten freienWahlen in der DDR, bei denen sich das Volk für dieWiedervereinigung ausgesprochen hatte, warf JürgenHabermas in Die Zeit das Stichwort „DM-Nationalis-mus“ in die Debatte.

Im Winter 1989/90 erschien eine Streitschriftunter dem Titel „Das Vierte Reich“, in welcher der seit1959 in Deutschland lebende spanische linke Publi-zist Heleno Sana vor dem Schreckgespenst eines teu-tomanisch ausgerichteten Vierten Reiches warnte.Ideologische Grundlage eines Vierten Reichs, so Sana,sei eine „kontrollierte und bespitzelte Pseudodemo-kratie sowie der Drang der Deutschen, die anderenVölker brutal auszubeuten und zu unterdrückendurch offene Repression.“ Das neue germanischeHegemonialsystem wäre ein Europa, „dessen ideologi-scher Hintergrund eine Mischung aus instrumentellerVernunft, utilitaristischer Macht, Geldgier und rassi-stischer Pathologie sein wird.“

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Nach 1945 haben die Ostdeutschen nicht wenigerfleißig und verbissen Wiederaufbau betrieben als

die Westdeutschen. Was ist von diesem Volksvermö-gen geblieben? Nun, die Leute haben Wohnungen,kleiden sich, fahren mit dem Auto über Straßen, undauch bei ihnen kommt Strom aus der Steckdose undWasser aus dem Hahn. Das alles ist nicht unterzube-werten und auch im Einzugsbereich des Westens —man denke an die zugrunde geplünderten Gebiete dersogenannten „Dritten Welt — keineswegs überallselbstverständlich.

Das Wort „vermögen“ ist dem Wort „können“inhaltlich verwandt. Volksvermögen wäre demnachdas, was ein Volk vermag. In wirtschaftlicher Bezie-hung wird das heute gleichgesetzt mit Kapital, demGeld, womit man sich Produktionsstätten entwederkaufen kann oder das man in solche bereits investierthat. Was ist von diesem DDR-Volksvermögen geblie-ben? Die beschämende Antwort lautet: „gut 400 Mrd.DM Schulden“, für die der deutsche Bürger aufWunsch seiner Regierung neben seinen Steuern soli-darisch mit dem „Solidarbeitrag“ aufkommt.

„Das kann doch nicht wahr sein“, denkt derungläubige Zeitgenosse und erinnert sich, daß dieDDR-Wirtschaft kurz vor dem Ende immerhin auf

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DR. HELMUT BÖTTIGER

Der Milliardenschwindel mit den DDR-Altschulden

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Platz 11 — oder war es nur 13 — der Weltrangliste derIndustrienationen der Welt geführt worden war. DieProduktionsanlagen, die das ermöglichten, sollennun weniger wert sein als nichts? Sie sollen sogar mit„minus“ 400 Mrd. DM zu Buche schlagen? Der nor-male deutsche Fernsehzuschauer denkt über solchenWidersinn nicht nach, seine Medien liefern ihm dieeinfache Erklärung: „Die DDR war wirtschaftlich einScherbenhaufen, und Scherben zu beseitigen, kosteteben Geld.“ Dieser Zeitgenosse glaubt im allgemeinenzwar immer, von „denen da oben“ betrogen zu wer-den, hält das in jedem konkreten Fall aber für ausge-schlossen — er nicht.

Die Vorgeschichte

Die DDR hatte natürlich — wie jeder ordentlicheStaat, deren Regierende an einem gedeihlichen Ver-hältnis zu den privaten Großbanken interessiert sind— direkte Auslandsschulden. Sie beliefen sich aufrund 30 Mrd. DM und wurden von der Nachfolgere-gierung, der Bundesregierung fraglos übernommen.Dagegen kann ein auf Recht und Anstand bedachterBürger auch nichts einwenden. Diese Schulden wer-den im folgenden nicht weiter berücksichtigt. Es gehtvielmehr um die anderen Schulden: die sogenanntenAltschulden der volkseigenen Betriebe, Produktions-genossenschaften und Kommunen der DDR.

Daß es mit dem „real existierenden Sozialismus“zu Ende gehen würde, zeichnete sich Anfang der 80erJahre ab. Auf die Gründe wollen wir hier nicht einge-hen. Die SED-Führung reagierte auf diese Perspektivesofort. Sie ließ über Schalck-Golodkowski und seine„Koko“ alles, was nicht niet- und nagelfest war, inharte westliche Devisen versilbern und auf entspre-

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chende westliche Banken sachgerecht verstauen. DerSache gerecht waren Konten, zu denen die Polizeinicht unbedingt Zugang hat und deren eigentlicheBesitzer gewöhnlich im Dunkeln bleiben. Da die ent-sprechenden Banken an solchen Aufträgen gut ver-dienen, bestand ein „materielles“ Interesse an gegen-seitiger Diskretion. Verscherbelt wurden dabei u.a.auch die Goldbestände der DDR im Wert von damals2,1 Mrd. DM.

Wo das nicht ausreichte, wurde in den letztenTagen der DDR, als man schon am „runden Tisch“verhandelte, hemmungslos Geld gedruckt und ohneRücksicht auf die Kurse auf dem Markt in westlicheDevisen umgetauscht. Dabei halfen die alten Freundebei den privaten internationalen Großbanken rührigmit, wenn und solange die dabei für sie abfallendeProvision stimmte.

Neben dem „Schalck“ wurden auch die Buchhalterder DDR-Zentralverwaltungswirtschaft tätig. In die-sem System werden nämlich alle Einnahmen einerStadt oder Gemeinde zentral abgeführt und verbucht.Im Gegenzug erhielt die Stadt oder Gemeinde von derZentrale Finanzzuweisungen. Es gab bei der Zentralefür die Kommunen unter anderen drei Fonds, vondenen einer den kommunalen Wohnungsbau finan-zierte, der zweite gesellschaftliche Einrichtungen wieKindergärten oder Schwimmbäder, der dritte denWohnungsbau der Kombinate (Großfirmen) vor Ort.Wieviel Geld zu fließen hatte und wofür, das regeltenausgeklügelte Fonds-Bestimmungen der DDR, auf diewir hier nicht eingehen müssen, von denen wir aberannehmen dürfen, daß sie deutschgründlich unddetailliert waren. Diese Finanzzuwendungen warenkeine Kredite, darauf hatten die Empfänger einenrechtlichen Anspruch.

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Die Buchhalter verbuchten unter Umständen, dieim einzelnen nicht mehr nachvollziehbar sind, aberwohl etwas mit der Bilanzschieflage des DDR-Staats-haushaltes zu tun hatten, diese Fondszuteilungenbald als Quasikredite und schließlich einfach nur alsKredite. Das fiel in der Routine der Bürokratiezunächst nicht auf, wo allenfalls die Höhe der Zah-lung umstritten war, weil sie stets zu gering ausfiel.Erst nach der Wende wurden die kommunalen Ver-waltungen auf den Buchhaltertrick aufmerksam, alsnämlich die nunmehr privatisierten Banken dieseangeblichen „Kredite“ von den Kommunen mit Zin-sen einzufordern begannen. Es kam zu Klagen undGegenklagen und entsprechenden Prozessen.

Um die Sache aus dem Tagesgespräch, in das siezwischen 1990 und 1995 geraten war, wieder heraus-zunehmen, entschied man sich zu einer „gütlichen“Regelung abseits der Öffentlichkeit, wohl um nichtaufdecken zu müssen, wie diese zweifelhaften Nicht-kredite zu Krediten und vor allem, wie sie dann „pri-vatisiert“ worden waren. Die Kommunen erkannteneinen kleineren Teil dieser „Schulden“ an, währenddie Bundesregierung den größeren Teil über den Aus-gleichsfonds dem Steuerzahler an den Hals hängte.Man ging davon aus, daß letzterer zahlen und, wieüblich, keine unangenehmen Fragen stellen würde,vor allem, wenn die Medien sich der Sache in geeig-neter Weise annahmen. Und so entstanden gleichsamaus dem Nichts — nämlich aus Rückerstattungsan-sprüchen — gut 65 Mrd. DM Altschulden, die derbundesdeutsche Steuerzahler solidarisch schulterte.Auch der Bund der Steuerzahler hatte erstaunlichwenig dagegen einzuwenden.

65 Mrd. sind aber noch keine 400; oder sind essogar 600 Mrd.? So recht weiß das bis heute kaum

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jemand. Ähnliche Fonds gab es natürlich nicht nurfür die Kommunen, sondern auch für die Landwirt-schaft und die Industrie. Da in beiden Bereichen ähn-liche Verfahren angewendet wurden, beschränken wiruns auf den Bereich der güterproduzierenden Wirt-schaft, in der sich 1990 Betriebsschulden von 130Mrd. DM angesammelt hatten. Die innovativen undauf ihre Weise kompetenten westlichen Banken ver-standen es, aus diesen 130 Mrd. bis 1994 250 Mrd.DM Schulden werden lassen.

Wie kamen diese Betriebsschulden zustande? ZumTeil geschah es wie bei den Kommunen. Auch dieBetriebe hatten ihre Gewinne an die Zentrale abzulie-fern und erhielten im Gegenzug allerlei Geldzuwei-sungen in ihre Fonds. Es gab da Fonds für die Beleg-schaft, für Innovationen, für Investitionen und ande-res. Diese Geldzuweisungen wurden von irgendeinemZeitpunkt an nicht mehr als berechtigter Anspruch,sondern als „Kredit“ geführt und später entsprechendprivatisiert. Soweit lief es wie bei den Kommunen.

Ein neuer Zug kommt zutage, wenn man sich dieInvestitionen der Betriebe näher anschaut. Die relativkleine DDR konnte nicht alle produktionstechni-schen Entwicklungen im eigenen Land zuwege brin-gen. Daß man das zu lange versucht hatte, war einerder Gründe für die sogenannte Mißwirtschaft derDDR. Wollte man konkurrenzfähig sein, mußte manSpezialmaschinen auch aus dem westlichen Auslandeinkaufen. Dazu benötigte man westliche Devisen,auf welche die DDR-Führung bekanntlich sehr eifer-süchtig achtete.

Hatte ein DDR-Betrieb eine geeignete Maschine imWesten gefunden und war mit dem Handelspartnerund, was weit schwieriger war, mit der Behörde han-delseinig geworden, dann lief folgendes ab. Die

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Maschine kostete, sagen wir, 1 Million DM, das ent-sprach bis kurz vor Toresschluß etwa 4,8 Mio. DDR-Mark, die der Betrieb aufbringen mußte. Zusätzlichmußte der Betrieb aber 30% der Kaufsumme an denDevisenbeschaffer der DDR Schalck-Golodkowski ent-richten. Daneben gab es einen zentralen Handelsver-treter der Regierung, der bei der Abwicklung derGeschäfte förderlich oder hinderlich war, der aber injedem Fall für seinen unumgänglichen Einsatz eineProvision von 12-14% beanspruchte. So entstand der„Importaufwandpreis“. Nun wollte aber das Außen-handelsministerium der DDR, das letztendlich zugenehmigen hatte, auch nicht leer ausgehen undschlug noch einmal 12% drauf. Aus der 1 Million DMWest oder 4,8 Mio. DM Ost war so ein „Importabga-bepreis“ von 7,6339 Mio. DM Ost geworden. Dabeisind die Schmiergelder, Vergünstigungen und sonsti-gen Aufwendungen, die erforderlich waren, um dieentsprechenden Unterschriften und Stempel auchwirklich und in der gewünschten Zeit (Zeit ist Geld,und da sprechen Beamte ein Wort mit) zu bekom-men, noch nicht mitgerechnet.

Die Endsumme mußte schließlich „finanziert“werden. Das geschah meistens über Kredit. Kredit wardamals in der DDR kein Thema. Man bezahlte soziali-stische 0,5% Zinsen. Für vergleichbar niedrige Zins-sätze im Westen sorgte erst der Finanzkrach der spä-ten 90er Jahre, der in Japan zum Zweck der wunder-samen Geldvermehrung für die notleidende Finanz-wirtschaft die Zinsen gegen Null gehen ließ. DieWende brachte auch in diesem Punkt ein Umdenken.Als einen ihrer letzten Akte nur wenige Stunden vorder Selbstauflösung paßte die DDR-Volkskammer am1. Juli 1990 die sozialistischen Zinsen dem westdeut-schen Niveau von damals 9-11% an.

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Fragt man nach dem Grund dieser volkswirtschaft-lich und für die Zukunft der produzierenden Wirt-schaft der DDR vernichtenden Entscheidung, so istder leicht gefunden, wenn man die Sache mit privati-sierenden Augen sieht. Der Verkaufswert einer alten,verwohnten Wohnanlage richtet sich ja auch nichtnach ihrem „tatsächlichen“ Wert. Wie wäre der zubestimmen? Er richtet sich nach den damit erwirt-schafteten Mieteinnahmen. Liegt der Mietzins hoch,kostet das Objekt mehr. Ähnlich ist das mit Schuldendes einen, die ja immer des anderen „Wertpapiere“sind, und deren Wert ist abhängig von den Zinsen,die sie angeblich abwerfen — so einfach ist das. DiePapiere wuchsen im Wert umgekehrt proportionalzum Wert der Betriebe, die nichts mehr, nicht einmaldie Kapitalzinsen erwirtschaften konnten.

Die DDR-Volkskammer unter Lothar De Maizièreentschied das sicherlich nicht ohne den Segen ihrerwestlichen politischen Vorbilder, denen sie sich amTag nach diesem Todesstoß für die produzierendeDDR-Wirtschaft und deren Arbeitsplätze zuordnenwollte. Dementsprechend verpflichtete sich die nun-mehr alleinverantwortliche Bundesregierung imStaatsvertrag, für diese „Kredite“, die in den Büchernder 550 Geldinstitute der DDR standen, nunmehrvierteljährlich Zinsen in der Höhe des FIBOR-Zinssat-zes in Frankfurt zu zahlen. Dazu wurde der Vorganginstitutionell so geregelt, daß diese Schuldenlast nichtsogleich als Staatsschuld zu Buche schlug, sondernerst nach dem 1.1.1995. Bis dahin sollte endgültiggeregelt sein, wer in der Solidargemeinschaft Deutsch-land für diese Zinszahlungen und Schulden aufkom-men sollte. Das heißt, diese Schulden wurden bei derDeutschen Treuhand, in allerlei Sonderhaushaltenund „Fonds“ zwischengeparkt. Die vierteljährliche

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Zinseszins-Vereinbarung sorgte im übrigen dafür, daßdiese Schulden rasch an Umfang zunahmen.

Die hohen Schulden in den Büchern der Betriebehatten den weiteren Vorteil, daß viele ehedem enteig-nete Besitzer, ohne Entschädigung beanspruchen zukönnen, von der erneuten Inbesitznahme abge-schreckt wurden. Die damit „frei“ gewordenen Betrie-be ließen sich an politisch erwünschte und vertrautePersonen für den sprichwörtlichen Apfel und das Eiverscherbeln. Ob dabei Provisionen an Private oderInstitutionen — etwa Parteikassen — geflossen sind,entzieht sich unserer und mit Sicherheit auch derKenntnis der Staatsanwaltschaft, die ja sonst tätiggeworden wäre.

Was also geschah mit der Schuld unseres Beispiel-DDR-Betriebs zwischen dem 1.7.90 und, sagen wir,dem „Tag der Deutschen Einheit“ des gleichen Jahres?Aus der finanzierten Maschineninvestition von 1Mio. DM war, wie gezeigt, ein 7,6339 Mio. schwererOstmarkkredit geworden. Nach der 2:1-Umstellungbei der Währungsunion 1990 blieben somit 3,816Mio. DM Schulden in den Büchern des Betriebs, dienoch dazu plötzlich und aus heiterem Himmel miteinem 20mal höheren Zinssatz zu verzinsen waren!Eine solche Umstellung hätte auch kein wohl aus-gerüsteter westdeutscher Betrieb in technologischerHöchstform verkraftet. Damit rechnete ja auch nie-mand, sonst hätte die Bundesregierung nicht sogleichmitbeschlossen, die Zinszahlungen bis zum 1.1.95anderswoher aufzubringen. Jedenfalls war sicherge-stellt, daß durch die Folgen dieser Umstellung die altePropaganda von der DDR-Mißwirtschaft, die esimmerhin auf Platz 11 bis 13 der Weltranglistegebracht hatte, bestätigt wurde. Das DDR-Volksver-mögen zerrann so schnell wie Schnee auf einem

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geheizten Kanonenofen, allerdings mit dem Unter-schied, daß man das Zischen nicht hörte.

Umgang mit den Altschulden

Alfred Herrhausen hatte eine Vision, wie sich die ver-hängnisvolle Ost-West-Spannung, die im Kalten Kriegoft genug bedrohliche Formen angenommen hatte,grundlegend entschärfen sollte. Das würde nur durchdie Ankurbelung der Ostwirtschaft zur deutlich besse-ren Versorgung der eigenen Bevölkerung gelingen. Erstellte sich vor, daß die technisch runderneuertenDDR-Betriebe dabei eine entscheidende Rolle über-nehmen könnten. Auch die Industrie im Westen, vorallem der westdeutsche Maschinenbau, würde bei derRunderneuerung der DDR-Betriebe ihren Schnittmachen. Dies würde so viel Leute in Arbeit bringen(und zu regulären Steuerzahlern machen), daß sichder gesamte Aufbau Ost ähnlich wie das westdeutscheWirtschaftswunder selbst finanzieren würde und amEnde sogar noch so etwas wie ein „Julius-Turm“ übrig-bliebe. Diese Vision löste bei unseren VerbündetenAlpträume aus und Alfred Herrhausen bezahlte seineVision mit dem Leben. Der Mord ist bis heute nichtgeklärt.

Auch Detlev-Carsten Rohwedder, der erste Leiterder Treuhandanstalt, welche die Privatisierung desostdeutschen Volksvermögens abzuwickeln hatte,hatte eine Vision. Sie fiel bescheidener als die desDeutsche-Bank-Chefs Herrhausen aus, dafür lag sieaber auch näher an den aktuellen Problemen der ost-deutschen Wirtschaft. Er forderte einfach, „Sanie-rung“ müsse „vor Privatisierung“ kommen. Das heißt,man könne nicht auf die oft langwierige rechtlicheKlärung der Besitzverhältnisse warten, sondern solle

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alles versuchen, diese Betriebe so um- und aufzurü-sten, daß sie gewinnbringend und konkurrenzfähigproduzieren konnten. Auch er wollte — wie Herrhau-sen — die ostdeutsche Industrie vor allem im Pro-gramm „Aufbau Ost“ beschäftigen. Zum Beispiel soll-te die DDR-Stahlindustrie das wegen ausgebliebenerInvestitionen abgenutzte Schienenmaterial derReichsbahn erneuern, Baukombinate könnten dieerforderlichen Autobahnen ausbauen usw.

Wie Herrhausen ereilte auch Rohwedder dasSchicksal. Er wurde am 1.4.1991 so fachmännischerschossen, daß sich der Mord ebenfalls nicht auf-klären ließ. An seiner Statt übernahm nun BirgitBreuel vom berüchtigten Bankhaus SchroederMünchmeyer Hengst die Führung der Treuhand. Es istdaher nicht verwunderlich, daß letzteres Bankhausden recht einträglichen Beratervertrag für die Privati-sierung der ostdeutschen Wirtschaft bei der Treuhandbekam.

Ein Rat des anerkannten Bankhauses mag gewesensein, der Privatisierung den unbedingten Vorrang vorder Sanierung einzuräumen. Man ließ demnach dieBetriebe bis zur schließlichen, oft wegen der kompli-zierten Rechtslage recht langwierigen „Privatisierung“formal weiterwursteln wie bisher. Dadurch wuchsendie Betriebsschulden zinseszinsartig an, ohne daß imBetrieb eine Weiche für seinen möglichen Weiterbe-trieb gestellt wurde. Die Bankschulden entwickeltensich dabei für die Banken gedeihlich — vorausgesetztes gab jemanden, der schließlich dafür aufkommensollte, denn ihre Übernahme durch den eventuellenKäufer wurde immer unzumutbarer. Außerdem verbil-ligten sich die Erwerbskosten der Betriebe für Käuferohne Anrechte aus vorsozialistischer Zeit, die ohne-hin weniger an den Arbeitsplätzen als an den Märkten

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dieser Betriebe interessiert waren. Viele Betriebewechselten nach dem Verzicht der Alteigentümer füreinen Spottpreis den Besitzer. Die neuen Besitzererhielten neben dem preisgünstigen Betrieb oft nochhohe finanzielle Zuwendung für den Wiederbeginn.

Die Treuhand erwirtschaftete aus dem Verkauf vonBetrieben in den Jahren bis zu ihrer Auflösung 1995rund 70 bis 80 Mrd. DM. Für diese Verkaufsleistungwendete sie 344 Mrd. DM auf. Die „Verluste“ bestan-den zu 154 Mrd. DM aus Verlustübernahmen und 190Mrd. aus der Übernahme von Schulden der Alt-schuldner. Das waren die meisten der Altschulden,denn Käufer — meist von kleineren und früher ein-mal familienbezogenen Betrieben — übernahmeninsgesamt Schulden im Wert von insgesamt 7 Mrd.DM. Außerdem gingen noch weitere 60 bis 70 MrdDM Altschulden an die Nachfolgeinstitutionen derTreuhand über.

Die gewinnbringende Privatisierung der Altschulden

Am 17.1.1995 titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung:„Die von der Treuhand abgelösten Altkredite sind ech-te Schulden“. Der Verfasser Klaus Kemper meinte,„nach der Währungsunion haben nur die Schuldnerund die Gläubiger gewechselt“. Er kann so dummeigentlich nicht gewesen sein, daß er den Unterschiedzwischen sozialistischen Fondszahlungen und Kredi-ten nicht kannte. Kemper beschränkte sich eben aufden kurzen Zeitraum von unmittelbar vor und unmit-telbar nach der Selbstauflösung der DDR-Volkskam-mer. Für diesen Zeitraum mag seine Aussage richtigsein. 1995 diente sie natürlich zur propagandistischenEntlastung der politisch Verantwortlichen.

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Mehr Klarheit in die Sache brachte ein Gerichtsur-teil vom 21.9.95 in Magdeburg. Das Gericht vernein-te, daß die DG Bank Rechtsnachfolgerin der von ihrerst am 10.9.1990 gekauften „Bank für Landwirtschaftund Nahrungsgüterwirtschaft“ der DDR sei und daherberechtigt sei, die „Kredite“ an die ehemaligen Land-wirtschaftlichen Berufsgenossenschaften einzukla-gen. Geklagt hatten 20 LPGen, bei denen die DG-Bank versucht hatte, Zinsen für ein Kreditvolumenvon 7,6 Mrd. DM einzutreiben.

Die DG Bank hatte besagte Bank für ganze 106Mio. DM von der Treuhand gekauft. Dabei mag es derTreuhand entgangen sein, daß die „Bank für Land-wirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft“ zu diesemZeitpunkt bereits über eine Barschaft von mehr alsdem Doppelten, nämlich von 250 Mio. DM verfügte.Das war ein gutes Geschäft für die DG Bank. Die Bankverfügte aber auch noch über zahlreiche Liegenschaf-ten, das heißt Häuser mit entsprechenden Filialräu-men überall in den landwirtschaftlichen Zonen derDDR, über das ganze Land verstreut. Diese Liegen-schaften gab es gratis dazu. Das Geschäft für die DGBank wurde damit also noch besser.

Das Beste für die DG Bank kommt aber erst. War esin dem Magdeburger Prozeß nicht um Forderungenvon 7,6 Mrd. DM gegangen? Hatte die Bank dieseetwa auch für ihre 106 Mio. bekommen? Hatte sie!Und noch mehr! Insgesamt hatte sie nämlich Forde-rungen im Wert von über 15 Mrd. DM erworben. Beiden 7,6 Mrd. handelte es sich nämlich nur um dieSchulden der 20 klageführenden LPGen. Nun mag einwestdeutscher Regierungsfreund sagen, „die 15 Mrd.DM können wir vergessen, denn die waren bei derMißwirtschaft der ehemaligen DDR sowieso nicht bei-zutreiben“. Er irrt. 600 Mio. DM an Zinszahlungen

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hatte die Bank zu diesem Zeitpunkt — also in knappeinem Monat — bereits beigetrieben, bis das Gerichtdieser Zwangseintreiberei vorerst ein Ende setzte.

Aber das war ja nicht alles. Die Bundesregierunghatte über ihren institutionellen Zwischenhändler,die Treuhand, diese Schulden zu anerkannten undgesetzlich abgesicherten Werten gemacht, die beimstaatlich verwalteten Erblastenfonds mit größererGewißheit als beim zivilen Gericht in Magdeburg ein-klagbar waren.

Was da vor dem Magdeburger Gericht aktenkundigwurde, war also wirklich ein ganz außerordentlichgutes Geschäft für die DG Bank — nicht für den Steu-erzahler. Um es besser zu verstehen, stelle sich der mitgroßen Zahlen wenig vertraute Leser vor, er kaufe beieinem „ehrenwerten“ Kaufmann einen Geldbeutelaus Safranleder für 1 DM und 6 Pfennige, in demGeldbeutel stecken bereits 2,50 DM und zusätzlichnoch ein Scheck über 15 000 DM. Und dieser Schecktrage noch dazu das „Indossament“, die Bürgschafts-anerkennung seiner Regierung. Zweifellos würde ersich über ein solches Geschäft freuen. Aber würde erden Kaufmann oder in diesem Fall die Kauffrau des-halb für eine ehrenwerte Person halten? Und was hal-ten Sie als steuerzahlender Bürger von so viel treuhän-derisch regierendem Verantwortungsbewußtsein fürdas Gemeinwesen? Die Bank gab sich damit abernoch nicht zufrieden, sie ließ sich auch noch für den„Aufwand“, der ihr mit der Abwicklung diesesGeschäfts zugemutet worden war, mit einigen Millio-nen „entschädigen“.

Die DG Bank war nicht der einzige Nutznießer sol-cher ehrenwerten Treuhandgeschäfte. Beamte desBundesrechnungshofes haben dem Magazin Der Spie-gel einen 48seitigen, streng vertraulichen Bericht über

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ähnliche Geschäfte großer in- und ausländischer Pri-vatbanken mit der Treuhand zugespielt. Ob die „ver-antwortungslosen“ Beamten, die sich eines solchenVertrauensbruches schuldig gemacht hatten, dafürzur Verantwortung gezogen wurden, entzieht sichunserer Kenntnis. Auch das meiste aus diesen 48 Sei-ten blieb dank der Diskretion des Magazins der Öf-fentlichkeit unbekannt. Der Spiegel verriet in seinerAusgabe vom 27.9.95 daraus nur das wenige, was wirhier zusammenfassen:

Die Deutsche Kreditbank hatte die Aufgabe, alleSchulden der staatlichen DDR-Betriebe zu bündeln.Sie kaufte Schuldscheine im Wert von 80 Mrd. DMauf, und zwar so, wie sie in den Büchern standen undohne zu berücksichtigen, auf welch zweifelhafte Wei-se sie dort hineingeraten waren. Die Oberaufsichtüber diese Arbeit der Deutschen Kreditbank führte dieDeutsche Bank. Als die Aufgabe getan war, wurden dieDDR-Kreditinstitute verhökert. Die Deutsche Bankerwarb davon 112 Niederlassungen in den bestenLagen für 310 Mio. DM. Eine ihrer Töchter erhielt 74gut gelegene Grundstücke für 164,4 Mio.. Für dieDresdner Bank fielen 41 Liegenschaften für 87,3 Mio.ab. Wieviel Geld bei den jeweiligen Kreditinstituteneinlag, erfuhr man so wenig wie die Tatsache, welcherAnteil der Schuldforderungen bei dem Preis miter-worben wurde.

Aus der Berichterstattung, die erstaunlicherweiseschon wenige Tage nach der Veröffentlichung im Spie-gel wieder verstummte und selbst den Bund der Steu-erzahler nicht sonderlich aufregte, war auch noch zuerfahren, daß die Berliner Bank für 49 Mio. DM For-derungen im Wert von 11,5 Mrd. DM erworben hatte.Die Bank hatte sich außerdem für den Fall, daß diesesGeschäft scheitern würde, von der Treuhand 115 Mio.

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DM als Verwaltungsaufwand oder Schadenersatzzugestehen lassen. Außerdem soll dem nur in Auszü-gen bekannt gemachten Papier des Bundesrechnungs-hofs zu entnehmen sein, daß insgesamt „Kredite“ imUmfang von 177,5 Mrd. DM auf diese Weise für einpaar Millionen den Besitzer gewechselt haben. Dabeiwar den Banken für den Fall, daß sich die Schuldenals uneintreibbar erweisen sollten, zugestanden wor-den, die Forderung „wertberichtigt“ beim „Aus-gleichsfonds Währungsumstellung“ geltend zumachen. Für den würde dann der Solidarbeitrag desBundesbürgers und Steuerzahlers geradestehen.

Um die Schuldenregelung auf keinen Fall rückgän-gig machen zu können, hat die Treuhand schon früh— vermutlich wieder auf Anraten ihres teuren Bera-ters, des hochgeachteten Bankhauses Lloyds — schon1993 begonnen, die Schulden der DDR-Betriebe, dieeigentlich keine richtigen Schulden waren, in richtigeSchulden umzuwandeln. Das geschah einfach durchihre Refinanzierung. Das heißt, die Treuhand bezahl-te einen großen Teil der Forderungen, nämlich 105Mrd. DM an die Banken. Das erforderliche Geldbeschaffte sie sich durch den Verkauf von Anleihenund Obligationen. Damit waren die Altschulden weg,die neuen Wertpapiere mit ihren Zahlungsforderun-gen blieben und mußten auf jeden Fall vom Staat, dasheißt von den Steuerzahlern bezahlt werden.

Das Geld zahlte die Treuhand an die Deutsche Kre-ditbank. Die Bank gehörte zwar der Treuhand, arbei-tete aber in der Obhut der Deutschen Bank. Damitstellte sich die Frage, die eigentlich den Staatsanwaltbeschäftigen sollte: „Was hat die Deutsche Bank mitdiesem Geld der Deutschen Kreditbank gemacht?“Wahrscheinlich war es — wie im Falle der „Bank fürLandwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft“ ein-

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fach in den Tresoren der Filialen geblieben, als diese— wie erwähnt — von den Banken für ein paar Mil-lionen gekauft wurden.

Für die Anleihen und Obligationen, welche dieTreuhand verkauft hatte, steht natürlich der deutscheSteuerzahler gerade; vielleicht zu Recht, er hätte sichals Wähler und politisch mündiger Mensch darumkümmern können oder doch Politiker wählen kön-nen, die seine Sache vertreten und nicht die anderer.

„Man kann ja doch nichts machen“ oder: Gab es eine Alternative?

Was hätte eine Bundesregierung, die wie es ihr Amts-eid vorsieht, im Interesse des Deutschen Volkesregiert, tun können? In dem erwähnten 48seitigenBericht des Bundesrechnungshofs wurde behauptet,es wäre den Steuerzahler billiger gekommen, wenndie Altschulden gleich in einem staatlichen Fondsgesammelt worden wären. Das ist sicher richtig. Aberwarum sollte man sie nicht als das werten, was siewirklich waren, vergessene Fondszahlungen an dieKommunen, Betriebe und LPGen nach vergangenemDDR-Recht? Mit dem Ende des SED-Staates ver-schwand auch der Pseudo-“Gläubiger“, der auf ihreRückzahlung in den meisten Fällen auch gar keinenRechtsanspruch hätte geltend machen können.

Dagegen, daß man die Guthaben der kleinen Leu-te 1:1 umtauschte — auch wenn das ganz offensicht-lich „Geschenke“ enthielt —, hatte wohl niemandetwas, und es wäre auch leicht zu finanzieren gewe-sen. Die Frage, warum man aber die anderen Buch-kredite der DDR 2:1 und nicht zum inzwischen übli-chen Tagesumtausch von 10:1 bewertete, blieb bisherungeklärt. In diesem Falle wäre niemandem etwas

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geschenkt worden und man hätte den Spielregeln desrichtigen Kapitalismus, der keine Geschenke erlaubt,Genüge getan.

Noch sinnvoller wäre eine gezielte Umschuldungder Betriebe gewesen, die nur so viel an Schulden bei-behalten hätte, wie zur Finanzierung der aufgewerte-ten Spargroschen der DDR-Bürger und einige andereKosten der Währungsumstellung nötig war. Den Resthätte man à la fond perdue vergessen, nach dem Mot-to: Wo kein Gläubiger, da kein Schuldner. Niemandwäre dabei geschädigt worden, allerdings hätte sichauch niemand — wie geschehen — auf zweifelhafteWeise dabei bereichern können.

Eine solche Null-Regelung hätte den neuen Bun-desländern einen sehr viel besseren Start ermöglicht.Die DDR-Betriebe wären kaum noch mit Kreditenbelastet gewesen und hätten großzügig in neue Tech-nologien investieren können. Das hätte die produkti-ven Arbeitsplätze gesichert und noch dazu die Wirt-schaft im Westen angekurbelt. Die DDR-Betriebewären dadurch leistungs- und konkurrenzfähiggeworden. Aber damit wären wir wieder bei demTraum des Deutsche Bank-Chefs Alfred Herrhausen,den dieser mit seinem Leben bezahlt hat. Wer weiß,was mit dem deutschen Bundeskanzler geschehenwäre, wenn er so etwas versucht hätte?

Sicher wäre mehr über unser wiedervereinigtesLand hereingebrochen als nur die Propaganda vom„Vierten Reich“. Wir brauchen darüber nicht zu spe-kulieren. Der Kanzler hat es nicht versucht, und derBürger hat ihn nicht darum gebeten. Der Bürger wun-dert sich nicht einmal darüber, wie es zugegangen ist,daß in wenigen Jahren aus dem auf 600 Mrd. DMgeschätzten Volksvermögen im Osten (das ist niedriggeschätzt, andere errechneten das Doppelte und

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mehr) in wenigen Jahren eine Schuld von rund 400Mrd. DM werden konnten. Das ist immerhin ein Fehl-betrag von einer Billion DM. Da der Bürger keine Fra-gen stellte, brauchten die Medien und Politiker ihmauch keine zu beantworten. Der Bürger zahlt brav,solange er kann — und da reden die Leute von Poli-tikverdrossenheit.

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Im Osten Deutschlands sind seit dem Fall der Berli-ner Mauer mehr Investitionen getätigt worden als

in allen Ländern Osteuropas zusammengenommen.Rund 1300 Mrd. DM wurden bis zum Jahresende1998 in den neuen Ländern investiert: in dringendbenötigte Verkehrsverbindungen, in leider viel zuwenige neue Produktionsanlagen, in unzählige Super-märkte und gelegentlich auch in später leerstehendeBürokomplexe. Heute weisen die neuen Länder ge-genüber dem früheren Bundesgebiet eine doppelt sohohe Arbeitslosigkeit auf, bei halber Wirtschaftslei-stung, halbem Steueraufkommen und auch der hal-ben Menge an Industriearbeitsplätzen pro Kopf derBevölkerung. Der Trend der vergangenen zwei Jahreist eindeutig: Der Aufholprozeß des Ostens ist auf hal-bem Wege steckengeblieben. Die Schere zwischen Ostund West ging zuletzt sogar wieder auseinander.

Die erste „Raketenstufe“ des Wiederaufbaus istabgebrannt. Wenn nicht rechtzeitig die zweite Stufegezündet wird, die diesmal die ReindustrialisierungOstdeutschlands und den Wiederaufbau der traditio-nellen Exportmärkte in Osteuropa und Rußland miteinschließen muß, dann droht der Rücksturz in wirt-schaftliches und politisches Chaos. Anhand einigerZahlen und Statistiken lassen sich die Schwächen desbisherigen „Aufbaus Ost“ ersehen.

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LOTHAR KOMP

Die unerledigte Herausforderungdes „Aufbaus Ost“

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Der LaRouche-Plan von 1990

Im Oktober 1988, als prominente westdeutsche Poli-tiker noch das Verfassungsziel der deutschen Wieder-vereinigung öffentlich als „unrealistisch“ oder gar als„Lebenslüge“ bezeichneten, sprach Lyndon LaRoucheauf einer Pressekonferenz in Berlin vom bevorstehen-den Zusammenbruch des östlichen Wirtschaftssy-stems. Er bot der sowjetischen Führung ein umfassen-des Wirtschaftsaufbauprogramm an, das zunächstexemplarisch in Polen beginnen könne, wenn die So-wjetunion im Gegenzug die deutsche Wiedervereini-gung zuließe. Dreizehn Monate später war die Berli-ner Mauer gefallen.

Im Jahre 1990 stellte LaRouche seinen detailliertenPlan für den industriellen und infrastrukturellen Auf-bau des Ostens vor, das „Produktive Dreieck Paris-Ber-lin-Wien“. LaRouche betonte, daß nach mehr als 50Jahren vernachlässigter Investitionen in Industrieund Infrastruktur die gewaltige Herausforderung nurdann gemeistert werden könne, wenn hierzu das imDreieck Paris-Berlin-Wien in weltweit beispielloserDichte vorhandene Potential an Maschinenbaukapa-zitäten mobilisiert würde. Nebenbei schüfe dieserWirtschaftsaufbau in Osteuropa die günstigsten Rah-menbedingungen für die Modernisierung von Indu-strie und Infrastruktur im Osten Deutschlands, ein-schließlich der Schaffung eines technologisch führen-den industriellen Mittelstands.

Bekanntlich wurden entsprechende Überlegungenund Ansätze der Bundesregierung spätestens nach derErmordung von Alfred Herrhausen und Carsten Roh-wedder fallengelassen. Statt dessen bemühte man sichum den isolierten Aufbau Ostdeutschlands. Es kam,was kommen mußte. Die alten Exportmärkte im

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Osten brachen weg, während zugleich die Maastricht-Sparpolitik eine verheerende Rezession in Westeuropaauslöste. In diesem Umfeld mußte der „Aufbau Ost“in einen Prozeß des unternehmerischen Kannibalis-mus ausarten: Gegen kurzfristige Investitions- und Ar-beitsplatzzusagen verschenkte die Treuhand Ostfir-men an Westfirmen. In kürzester Zeit verschwandendrei Millionen industrielle Arbeitsplätze sowie ein un-ermeßlicher Schatz an Fähigkeiten und Erfahrungen,die für den Wiederaufbau des früheren Ostblocks vonentscheidender Bedeutung gewesen wären.

Hohe staatliche Investitionen...

Zum Glück für die neuen Bundesbürger hat sich dieBundesregierung in ihrer Wirtschaftspolitik nichtimmer buchstäblich an die radikal marktwirtschaftli-chen Rezepte gehalten, die man zur gleichen Zeit, imEinklang mit dem IWF, gegenüber Osteuropa undRußland predigte. So investierte der Staat bis zum Jah-resende 1997 insgesamt 162 Mrd. DM in die ostdeut-sche Infrastruktur, davon allein 76 Mrd. DM in Ver-kehrswege (40 Mrd. DM für Schienenwege, 21 Mrd.DM für Bundesfernstraßen, 14 Mrd. DM für öffentli-chen Personennahverkehr und kommunale Straßensowie 1,6 Mrd. DM für Bundeswasserstraßen). Dabeikonnten 11 500 km an Straßen und 5300 km anSchienenwegen modernisiert oder neu gebaut wer-den. In den Aufbau der ostdeutschen Telekommuni-kation wurden 50 Mrd. DM und in wirtschaftsnaheInfrastruktur weitere 36 Mrd. DM investiert.

Neben den eigenen Sachinvestitionen hatte derStaat zugleich auch bei den von privater Seite in denneuen Ländern getätigten Investitionen seine Händemaßgeblich im Spiel. Im Unterschied zur dirigisti-

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schen Investitionsförderung der unmittelbaren Nach-kriegszeit in Westdeutschland, die den eigentlichenSchlüssel zum späteren „Wirtschaftswunder“ bildeteund auf einem Gesamtkonzept des Wirtschaftsauf-baus beruhte, ging die Regierung nun allerdings weit-gehend nach dem Prinzip der Gießkanne vor. So wur-den bis zum Jahresende 1997 mit 22 Mrd. DM an In-vestitionszulagen und 47 Mrd. DM an Sonderab-schreibungen Investitionen der privaten Wirtschaftvon insgesamt 510 Mrd. DM angestoßen. Viele dergeförderten Investitionen waren außerordentlichwichtig für die regionale Wirtschaftsentwicklung,andere waren reine Verschwendung.

Weitere 38 Mrd. DM machte der Staat für Investi-tionszuschüsse im Rahmen der „Gemeinschaftsaufga-be“ locker, mit denen Investitionen in einer Höhevon 181 Mrd. DM angestoßen wurden. Zusätzlichwurden investierende Unternehmen und Wohnungs-eigentümer auch mit Krediten unterstützt, wobei ins-besondere die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW)eine herausragende Rolle spielte. So vergab die KfWbis Ende 1997 rund 720 000 einzelne Investitionskre-dite in den neuen Ländern mit einem Gesamtvolu-men von 121 Mrd. DM. Damit wurden Investitionenvon insgesamt 210 Mrd. DM angestoßen, mehr als 3Millionen Wohnungen modernisiert und nichtzuletzt etwa 2,5 Millionen Arbeitsplätze gesichertoder neu geschaffen.

Alles in allem erreichten die öffentlichen und pri-vaten Investitionen in den neuen Bundesländern zwi-schen 1991 und 1998 nach Berechnungen des IFO-Instituts ein Volumen von 1300 Mrd. DM. Davon ent-fiel der größte Brocken, 430 Mrd. DM, auf Investitio-nen von Unternehmen des Dienstleistungssektors,während die Investitionen von Industrie, Bauwirt-

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schaft und Landwirtschaft zusammen lediglich 320Mrd. DM ausmachten. Weitere 330 Mrd. DM flossenin den Wohnungsbau und die übrigen 220 Mrd. DMan Investitionen leistete der Staat, hauptsächlich fürdie Modernisierung der Infrastruktur.

Diese beeindruckenden Zahlen können aber überalarmierende Tendenzen nicht hinwegtäuschen.Obwohl die Wirtschaftskraft der neuen Länder nochweit unter dem Niveau des Westens liegt und obwohlim Bereich der Infrastruktur noch ein gewaltigerBedarf an dringend notwendigen Modernisierungenbesteht, fahren sowohl öffentliche Haushalte wie pri-vate Unternehmen seit geraumer Zeit ihre Investitio-nen wieder zurück. Beispielsweise sind die Infrastruk-turaufwendungen der ostdeutschen Gemeinden von18,7 Mrd. DM im Jahre 1992 Schritt für Schritt auf12,9 Mrd. DM im Jahre 1998 gesenkt worden.

Ein erheblicher Teil der in den vergangenen Jahrengetätigten privaten Investitionen gehörte noch zuden Zusagen, die westliche Unternehmen bei derÜbernahme eines privatisierten Ostbetriebes gemachthatten. Diese vertraglich festgelegten Investitionenhaben aber ihren Zenit bereits in den Jahren 1995und 1996 überschritten und sind nun zum überwie-genden Teil ausgelaufen. Hier zeigt sich nur zu deut-lich, daß von einer selbsttragenden Entwicklungüberhaupt nicht die Rede sein kann. Lagen die Inve-stitionen im ostdeutschen Verarbeitenden Gewerbe inden Jahren 1993 bis 1995 noch jeweils deutlich über18 Mrd. DM, so werden sie in diesem Fall unter 14Mrd. DM bleiben. Dieser Niedergang wäre noch sehrviel steiler ausgefallen, wenn nicht einige wenige in-dustrielle Großprojekte (insbesondere in der Chemieund Elektrotechnik), für die keine Nachfolger in Sichtsind, gerade ihren Höhepunkt durchlaufen würden.

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...aber kein gezielter Industrieaufbau

Und die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist schon jetztmehr als düster. Statt zehn Millionen Erwerbstätigenwie im Jahre 1989 gibt es heute in den neuen Ländernnur noch sechs Millionen. Rund 1,5 Millionen Men-schen haben ihrem Bundesland aus wirtschaftlichenGründen den Rücken gekehrt. Mehr als 300 000Pendler, die noch in östlichen Bundesländern woh-nen, verdienen ihr Geld im Westen. Weitere 1,5 Mil-lionen sind als arbeitslos registriert. Von den verblie-benen 6 Millionen Arbeitsplätzen wird eine Millionnur durch staatliche Maßnahmen aufrechterhalten.Der Bausektor, der zwischenzeitlich in die Rolle deswirtschaftlichen Schrittmachers geraten war, erlebtseit zwei Jahren einen regelrechten Einbruch, dernoch lange nicht zu Ende ist.

Geradezu katastrophal ist die Unterversorgung derneuen Länder mit industriellen Arbeitsplätzen. ImSommer 1999 lag die Zahl der ostdeutschen Industrie-beschäftigten (einschließlich Bergbau und Gewin-nung von Steinen und Erden) unterhalb der Markevon 600 000. Abgesehen von einigen wenigen Vorzei-gefabriken, etwa in der Automobilbranche oder derElektrotechnik, sind die neuen Bundesländer in eineindustrielle Wüste verwandelt worden. Im gleichenZuge wurde auch Berlin, einst die größte Industrie-stadt Europas, in atemberaubendem Tempo deindu-strialisiert, so daß 270 000 der 400 000 Industriear-beitsplätze zu Beginn des Jahrzehnts verschwanden.

Die Rückwirkungen auf die öffentlichen Haushaltesind beträchtlich: Die Steuereinnahmen der Gemein-den pro Kopf der Bevölkerung liegen immer noch beirund 40% des Westniveaus. Und auf unabsehbare Zeitkann die ungefähre Angleichung der Lebensverhält-

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nisse in beiden Teilen Deutschlands nur mit jährli-chen Transfers von beinahe 200 Mrd. DM gewährlei-stet werden.

Maschinenbau als technologischer Motor

Die verbliebenen industriellen Kapazitäten leidenzudem an einem akuten Mangel an Forschungsauf-wendungen, mit denen neue Produkte und Verfahrenentwickelt und auf diese Weise die Arbeitsplätze lang-fristig gesichert werden können. Aufgrund ihrerschlechten Ertragslage und äußerst dünnen Eigenkapi-taldecke können sich viele ostdeutsche Industrieunter-nehmen aus eigener Kraft überhaupt keine For-schungsaktivitäten leisten. So ist das Forschungs- undEntwicklungspersonal der ostdeutschen Industrie seitder Wende von 80 000 auf 19 000 zusammenge-schmolzen. Ohne die staatliche Förderung von FuE-Aktivitäten, die aber bereits seit 1996 rückläufig ist,sähe die Situation noch erheblich schlechter aus. DerMangel an industrieller Forschung drückt sich unteranderem darin aus, daß lediglich 3,6% des gesamt-deutschen Exports auf ostdeutsche Produkte entfallen.

Von zentraler Bedeutung für die Forschungsinten-sivität einer Industrieregion ist der Bestand an Ma-schinenbauunternehmen, insbesondere an Unterneh-men im Werkzeugmaschinenbau. Die beständigentechnologischen Neuerungen, die jeden exportinten-siven Maschinenbaubetrieb charakterisieren, besitzeneine besonders breit gestreute Anschubwirkung aufandere industrielle Bereiche, etwa auf die Herstellungneuer Werkstoffe oder auf die Meß-, Steuer- und Rege-lungstechnik.

Ein Viertel der gesamten industriellen Forschungin Ostdeutschland entfallen heute auf den Maschi-

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nenbau. Aber gerade auf diesem Sektor ist der Kahl-schlag seit der Wende noch umfassender ausgefallenals in der übrigen Industrie. Nachdem der sächsischeMaschinenbau mit seinen Betrieben in Chemnitz undanderswo bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts zurtechnologischen Weltspitze zählte, war der Maschi-nenbau in DDR-Zeiten zumindest innerhalb desCOMECON von enormer Bedeutung geblieben. Bei-nahe ein Fünftel des gesamten industriellen Umsatzesder DDR entfiel auf den Maschinenbau. Von den660 000 Arbeitsplätzen im ostdeutschen Maschinen-bau zu Beginn des Jahrzehnts ist heute nur noch einZehntel übriggeblieben.

Ohne eine Renaissance des Maschinenbaus kannauch die dringend erforderliche Reindustrialisierungin den neuen Ländern nicht gelingen. Beide Ziele sinderreichbar, wenn die erzwungene Isolation des „Auf-baus Ost“ überwunden und der überfällige „Marshall-Plan“ für den Rest des untergegangenen Ostblocksendlich in Angriff genommen wird.

Tabelle: Industriearbeitsplätze je tausend Einwohner (nur Unternehmen mit mindestens 20 Beschäftigten):

—————————————————––––––Berlin 36Brandenburg 36Mecklenburg-Vorpommern 24Sachsen 44Sachsen-Anhalt 38Thüringen 43————————————————–––––––––Westdeutsches Mittel 85Baden-Württemberg 117————————————————–––––––––

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Nach einem Jahrzehnt des wirtschaftlichen Nie-dergangs — in einem in Friedenszeiten wohl nie

dagewesenen Ausmaß — hat in allen Nachfolgestaa-ten der untergegangenen Sowjetunion eine Dynamikhin zu kriegerischen Konflikten eingesetzt. Selbst inRußland, das im Vergleich zu seinen ex-sowjetischenNachbarn noch mit am besten dasteht, sind Lebens-standard und Lebenserwartung der Bevölkerung imVerlaufe der 90er Jahre dramatisch gesunken.Zugleich wurden aus Rußland nach Expertenschät-zungen mindestens 300, vermutlich aber eher 600Milliarden Dollar an Geldern und Gütern illegal her-ausgepreßt, die dann schließlich ihren Weg in die ver-schiedenen spekulativen Blasen der internationalenFinanzmärkte fanden.

Wer immer noch dem Propagandamärchen auf-sitzt, es handele sich hier um irgendwelche unver-meidbaren Härten, die nun einmal den „Transforma-tionsprozeß“ hin zu einer westlichen Marktwirtschaftbegleiten, der muß schon über ein ungewöhnlichesMaß an Ignoranz verfügen. Die russische Wirtschafthat heute weit weniger Ähnlichkeit mit der Markt-wirtschaft kontinentaleuropäischer Prägung als zuBeginn des Jahrzehnts.

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LOTHAR KOMP

IWF-„Schocktherapie“ –oder die planmäßige Zerstörung

Rußlands

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Statt dessen wurden im Namen der „Schockthera-pie“ systematisch diejenigen Wirtschaftsprozesseabgewürgt, die für das mittelfristige Überleben jederWirtschaft unverzichtbar sind: Während sich schonin sowjetischen Zeiten die Investitionen in dieModernisierung von Industrie und Infrastruktur aufjämmerlichem Niveau befanden und die Fähigkeitenvon fünf Millionen Wissenschaftlern und Technikernnur innerhalb des militärischen Sektors wirksam wer-den durften, bedeuteten die sogenannten „Reformen“der 90er Jahre ein fast vollständiges Versiegen staatli-cher oder privater Anlageinvestitionen und zugleichauch der Forschungsausgaben.

Auch mit den Illusionen, der eingeschlagene Wirt-schaftskurs sei allein das Werk der russischen Mafia,muß aufgeräumt werden. Es gilt, Autoren und Hand-langer auseinander zu halten. Schon Ende der 80erJahre hatten George Bush und Margaret Thatcher kei-nen Zweifel daran gelassen, daß sie einen russischenWiederaufbau nach dem Vorbild des Marshall-Plansin Westeuropa oder gar nach den von Lyndon LaRou-che seit 1988 veröffentlichten Ideen niemals zulassenwürden. Vielmehr stellten sie die Rückzahlung dersowjetischen Altschulden in den Mittelpunkt jederDiskussion über Rußlands Zukunft. In ihren geopoli-tischen Vorstellungen war nur Platz für ein „afrikani-siertes“ Rußland, das politisch und wirtschaftlich zer-fällt und auf diese Weise die riesigen Rohstoffvorkom-men Rußlands und Zentralasiens zur leichten Beutewerden läßt.

Für die konkrete Umsetzung der entsprechendenWirtschaftspolitik ist der Internationale Währungs-fonds (IWF) verantwortlich, der mehrere hundert sehrdetaillierte Anweisungen über einzelne Posten desStaatshaushalts und über neue Gesetzesentwürfe an

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die jeweiligen russischen Regierungen richtete. Als1996 ein paar Dutzend dieser Handlungsanweisungenan die Öffentlichkeit gelangten, stellten russische Zei-tungen mit Recht die Frage, warum sich Rußlanddenn überhaupt eine Regierung leiste, wenn allewichtigen wirtschaftlichen Entscheidungen ohnehinvom IWF diktiert werden.

1992/93 — Die organisierte Hyperinflation

Zu den wichtigsten Mittelsmännern des IWF in Ruß-land zu Beginn der Schocktherapie zählten Minister-präsident Jegor Gajdar, Privatisierungsminister Anato-lij Tschubajs und Finanzminister Boris Fjodorow. LordHarris, der Chef des zur radikalliberalen Mont-Pèle-rin-Gesellschaft gehörenden Instituts für wirtschaftli-che Angelegenheiten in London, hatte die drei schonseit Mitte der 80er Jahre auf diese Aufgabe vorbereitet.Ein paar westliche Anhänger ultraliberaler Kulte wieGeoffrey Sachs von der Universität Harvard wurdendiesen russischen „Reformern“ als Berater zur Seitegestellt. Zunächst zielte ihr Werk der Zerstörung auf die um-fangreichen Sparguthaben der russischen Bevölke-rung. Die Ausgaben des russischen Staates sollten ins-gesamt drastisch gesenkt, die Schuldendienste an dasAusland aber gleichzeitig aufrechterhalten werden.Dabei waren die aus den Spareinlagen russischer Bür-ger resultierenden Verpflichtungen des Staatesstörend.

Man hätte hier den Weg einer geordneten Wäh-rungsreform beschreiten können. Aber eine chaoti-sche Hyperinflation schien den Zielen der „Reformer“eher zu entsprechen. So läutete Gajdar zu Beginn desJahres 1992 die Schocktherapie mit der Freigabe der

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Preise für die wichtigsten Güter ein. Eine solche Maß-nahme wäre beim deutschen Wiederaufbau nach demKrieg undenkbar gewesen und auch heute in Deutsch-land gesetzeswidrig. Denn die von der Preisliberalisie-rung betroffenen Produkte wurden noch fast vollstän-dig von entweder staatlichen oder privaten Monopo-len hergestellt, die nun, ohne Wettbewerb und ohneEinschreiten irgendeiner Kartellbehörde, den Preisdiktieren konnten. Die Regierung ging mit entspre-chendem Beispiel voran und vervielfachte abrupt ihrePreise, unter anderem für Energie. Die Kettenreaktionnahm ihren Lauf. Schon für das Jahr 1992 erreichtendie „Reformer“ einen Anstieg der Verbraucherpreisevon 2600%, während sie es 1993 gar auf eine Ver-dreißigfachung der Preise brachten.

Nach zwei Jahren waren die Sparguthaben der rus-sischen Bevölkerung keinen Pfifferling mehr wert. Einebenfalls beabsichtigter Begleiteffekt der Preisfreigabewar die Übertragung des Güterhandels auf denSchwarzmarkt sowie die Entstehung eines privatenBankensystems, das sich ausschließlich mit derAbschöpfung spekulativer Profite unter Bedingungenvon Hyperinflation befaßte.

Seit dem Herbst 1992 wurde zudem eine Orgie vonPrivatisierungen der großen Staatsbetriebe eingeleitet,die von russischen Ökonomen treffend als größtePlünderungsaktion des organisierten Verbrechens inder Geschichte der Menschheit bezeichnet wurde. ZuRamschpreisen wurden überlebensfähige Industriebe-triebe mit fünfstelliger Beschäftigtenzahl an Mafia-kreise verscherbelt, die natürlich nicht an der Moder-nisierung der Produktion, sondern lediglich am Ein-tausch unmittelbar verwertbarer Rohstoffe und son-stiger Güter gegen Dollar über ihre ausländischenPartner interessiert waren. Ende 1993 befanden sich

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selbst nach offiziellen Angaben bereits 60 000 vorhe-rige Staatsbetriebe in der Hand des organisierten Ver-brechens.

Wirtschaftskollaps

Die Konsequenzen für die Bevölkerung und die Real-wirtschaft waren verheerend. Mit der rasantenSchrumpfung der Reallöhne brach die Nachfragenach Gütern schockartig ein. Die großen Industrieun-ternehmen, von denen vielfach die gesamte Wirt-schaftstätigkeit einer ganzen Region abhing, produ-zierten zunächst auf Halde und häuften riesige Verlu-ste an. Dennoch mußten sie ihre Produktion Schrittfür Schritt herunterfahren. So fiel die industrielle Pro-duktion in Rußland im Verlaufe der 90er Jahre ummehr als die Hälfte. Ähnlich erging es der Landwirt-schaft, die am Ende nur noch 55% des Ertrages vomBeginn des Jahrzehnts erreichte.

Und gerade diejenigen Industriebranchen, die dasgrößte Potential für Modernisierung und Wiederauf-bau darstellten, erlitten den schlimmsten Produkti-onseinbruch. So sank die Maschinenbauproduktionauf ein Drittel des Standes von 1990. Die Produktionder Leichtindustrie schrumpfte gar auf ein Neuntelzusammen. Ein Blick auf den allgemeinen Niedergangder realwirtschaftlichen Aktivität zeigt der Stahlver-brauch russischer Unternehmen. Während sich dieStahlproduktion Rußlands halbierte, wurde einimmer größerer Anteil dieser verbliebenen Produkti-on zu Billigpreisen auf die Auslandsmärkte geworfen.Dabei schmolz der Verbrauch an Fertigstahl zwischen1992 und 1998 von 58 Mio. Tonnen auf 14,6 Mio.Tonnen zusammen.

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Tabelle:

Rückgang der Anlageinvestitionen inRußland zwischen 1991 und 1995

Maschinenbau -92%Leichtindustrie -96%Baugewerbe -94%Chemie -86%Transportsektor -79%Landwirtschaft -95%Energiesektor -53%

(Quelle: BIOst)

Noch schneller als die Produktion brachen dieInvestitionen ein, die nun einmal den Schlüssel fürjeden wirklichen Wiederaufbau darstellen. Einer Un-tersuchung des Kölner Ostinstituts (BIOST) zufolgekollabierten die industriellen Investitionen zwischen1992 und 1996 um durchschnittlich 79%, und einzel-ne Bereiche wie der Maschinenbau erlitten nochgrößere Einbrüche. Rund 60% der russischen Indus-triebetriebe haben nach eigenen Angaben zwischen1991 und 1996 überhaupt keine Investitionen vorge-nommen.

Die Forschungsausgaben in Rußland gingen schonim Jahre 1991 um ein Drittel zurück. Im darauffol-genden Jahr wurden sie erneut halbiert. Und 1998lagen sie bei einem Fünftel des Wertes von 1989. Tat-sächlich sind auch diese Zahlen noch beschönigend.Denn aufgrund der raketenhaft angestiegenen Ausga-ben der Forschungsinstitute für Mieten, Strom, Steu-ern usw. betragen die Mittel, die sie wirklich noch fürihre Forschungen einsetzen können, allenfalls einZwanzigstel des Wertes von 1989.

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Völkermord

Die russische Bevölkerung mußte die Ausplünde-rungspolitik der 90er Jahre mit einem sehr starkenRückgang ihres Lebensstandards bezahlen. Nach derPhase der Hyperinflation kam im Anschluß an dasSchuldenmoratorium und die Freigabe des Rubelkur-ses im August 1998 eine erneute Beschleunigung die-ses Niedergangs. Nach dem ersten Halbjahr 1999lagen die Reallöhne in Rußland um 47% unter demNiveau des Vorjahres. Ende 1998 lagen die mittlerenRenten bei nur noch 80% des Existenzminimums.Dabei werden auch diese extrem niedrigen Löhneund Renten aufgrund der vom IWF diktierten Prio-ritäten des Staatshaushalts und der riesigen Schul-dentürme der privaten Unternehmen immer häufigergar nicht ausgezahlt. Nennenswerte soziale Netze sindnicht vorhanden. Und die Gesundheitsausgaben sindabsolut unzureichend.

Es kann unter diesen Umständen nicht verwun-dern, daß Rußland heute von einer demographischenKatastrophe heimgesucht wird. Viele üblicherweisemit Armut verbundene Seuchen, die schon einmalweitgehend ausgerottet waren, feiern heute in Ruß-land ein Comeback. Die Geburtenraten sind auf dieHälfte des Niveaus abgesunken, das für die einfacheErsetzung der gegenwärtigen Generationen durchihre Kinder erforderlich ist. Sogar in Kriegszeiten hates in Rußland niemals so geringe Geburtenraten gege-ben. Währenddessen sind die Sterberaten, insbeson-dere bei Männern, in atemberaubendem Tempo ange-stiegen. Allein zwischen 1990 und 1994 fiel die durch-schnittliche Lebenserwartung russischer Männer von64 auf 57,7 Jahre.

Nach Angaben des führenden russischen Ökono-

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men Sergej Glasjew resultierten die ersten sechs Jahreder IWF-Reformen in Rußland in einem Bevölke-rungsverlust von acht Millionen: Drei Millionen star-ben vorzeitig und fünf Millionen wurden nicht gebo-ren. So betrachtet sind dieser Periode mehr Men-schenleben zum Opfer gefallen als der massenhaftenHungersnot in Rußland Anfang der 30er Jahre.

Wie Glasjew in seinem Buch Völkermord — Ruß-land und die Neue Weltordnung dokumentiert, erfüllendie Auswirkungen der „Schocktherapie“ auf die russi-sche Bevölkerung die Definition von Völkermord, wiesie in der „Internationalen Konvention zur Verhinde-rung und Bestrafung des Verbrechens des Völker-mords“ der Vereinten Nationen festgelegt wurde. Dar-in werden Handlungen als Völkermord identifiziert,welche „vorsätzlich solche Lebensbedingungen füreine Gruppe von Menschen schaffen, die zu einerphysischen Zerstörung der gesamten oder eines Teilsder Gruppe führen sollen“. Wie Glasjew betont, ste-hen die Auswirkungen der „Reformen“ auf einer Stu-fe mit drei anderen russischen Katastrophen der ver-gangenen 200 Jahre: der Invasion Napoleons, demrussischen Bürgerkrieg nach der Oktoberrevolutionund Adolf Hitlers Aggression in den Jahren 1941-1945.

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Ich möchte Ihnen heute ausführlich die internatio-nale strategische Lage schildern — wie sie entstan-

den ist, welches die unmittelbaren Gefahren sind undwas getan werden muß, um diese Gefahren zu über-winden. Folgen Sie mir auf meiner Reise durch ver-schiedene Teile der Welt, und haben Sie bitte Geduld:Denken Sie nicht, es sei belanglos, wenn ich vonanderen Teilen der Welt spreche, die Ihnen vielleichtnicht gut bekannt sind.

Immer wenn ich in die Vereinigten Staaten reise(wahrscheinlich geht es auch vielen Amerikanern so,die außer Landes waren und dann zurückkehren), binich verblüfft über die „virtuelle Realität“ in diesemLand. Viele Amerikaner wissen kaum etwas darüber,was in der Welt vorgeht. Die meisten haben keineAhnung, welche Politik ihre Regierung in der Weltverfolgt, was die Auswirkungen dieser Politik sindoder was andere Nationen über die USA denken. Des-halb will ich versuchen, Ihnen ein in die Tiefe gehen-des Verständnis der strategischen Situation zu vermit-teln.

Der große Mangel wurde mir jetzt wieder bewußt,als ich das Fernsehen einschaltete, weil ich bestimm-

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ANHANG

Die Eurasische Landbrücke alsglobale Strategie

Rede von Helga Zepp-LaRouche auf einer Konferenzdes amerikanischen Schiller-Instituts in Reston/Virginia bei Washington am 5. September 1999.

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te Entwicklungen verfolgen wollte. Als die DDR nochexistierte, versuchten viele Menschen dort herauszu-finden, was in der Welt geschieht, indem sie west-deutsches Fernsehen oder Radio verfolgten, wasnatürlich verboten war. Praktisch alle haben dasgetan. Die einzige Ausnahme waren die Bewohnereines Tales in der Nähe von Dresden. Wegen der geo-graphischen Verhältnisse konnten sie keine westli-chen Sender empfangen. Dieses Gebiet nannte manin der DDR „das Tal der Ahnungslosen“.

Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß Amerikader „Kontinent der Ahnungslosen“ ist. Und ich willversuchen, das ein bißchen zu ändern. Ich möchte Siemotivieren, eine Art „Untergrundkämpfer“ zu wer-den. Wenn Sie regelmäßig das NachrichtenmagazinEIR oder die Zeitung New Federalist [die amerikanischeSchwesterzeitung der Neuen Solidarität, d. Red.] lesen,dann wissen Sie Bescheid.

Die besondere Bedeutung Lyndon LaRouches

Es gibt eine ungeheure Diskrepanz zwischen dertatsächlichen Rolle Lyndon LaRouches auf der Welt inden letzten 20 Jahren und der Art und Weise, wie erin den amerikanischen Medien dargestellt wurde. Ichhoffe, auch Sie werden das im Laufe meiner Rede mer-ken. In den letzten 25 Jahren, und besonders den letz-ten 16 Jahren, ist wirklich kein größerer Gegensatzvorstellbar als der zwischen der historischen Persön-lichkeit Lyndon LaRouche, der wie keine anderelebende Person maßgeblich die Weltpolitik beeinflußthat, und den haßerfüllten Verleumdungen und absur-den Charakterisierungen, mit denen ihn die Mediendieses Landes bedachten.

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Nur wenn Sie genau wissen, wer dieser LyndonLaRouche wirklich ist, können Sie die notwendigeinnere Autorität entfalten, um uns dabei zu helfen,LaRouches Präsidentschaftswahlkampf in den vor unsliegenden Wochen auf Hochtouren zu bringen. Denndas wird entscheiden, ob wir in die schwerste Krisedieses Jahrhunderts (trotz der beiden Weltkriege) stol-pern oder ob wir sie vermeiden können.

Wir stehen vor dem Zusammenbruch des Weltfi-nanzsystems. Die internationalen Finanzinstitutio-nen haben schon seit einigen Jahren eine passendeScheinerklärung dafür parat: das „Jahr-2000-Problem“der Computer, das angeblich alle möglichen Krisenhervorrufen soll. Aber wenn man den Begriff „Jahr-2000-Problem“ durch „Zusammenbruch des Weltfi-nanzsystems“ ersetzt, ist man von der Wahrheit nichtweit entfernt.

In wenigen Tagen (ab 9.9.99) wird die britischeRegierung spezielle militärische und sicherheits-dienstliche Maßnahmen einleiten, die sog. „Operati-on Bürgschaft“ (Operation Surety). Unter dem Vor-wand, das „Jahr-2000-Problem“ könne schon am9.9.99 einsetzen, soll das Militär darauf vorbereitetwerden, daß es zu größeren Aufständen und innerenUnruhen kommen wird, welche die etablierte Ord-nung Großbritanniens gefährden könnten. Wennman bedenkt, daß es in Wirklichkeit um den Finanz-krach geht, dann sind gewalttätige Reaktionentatsächlich sehr wahrscheinlich. Es ist durchaus denk-bar, daß der Amok laufende Daytrader Mark Bartonaus Atlanta zu einem Massenphänomen wird.

Fragen Sie sich: Was geschieht, wenn die Aktien-börse in New York um 40-50 Prozent abstürzt? Einigeinternationale Finanzexperten sprechen sogar davon,daß es dem Dollar wie der indonesischen Währung

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ergehen könnte, die 80 Prozent ihres Wertes verlor.Sie können sich ausmalen, wie es den Leuten geht, diesich völlig der Spekulation verschrieben haben, undwas dann passieren wird.

Die Zeitbombe der japanischen Bankenkrise ticktweiter; Lateinamerika steht kurz vor einer neuen Ex-plosion von Finanzturbulenzen; die russische Krisekommt noch dazu.

Das ist der Hintergrund, vor dem die drei Krisen-punkte zu sehen sind, bei denen die Britisch-amerika-nische Commonwealth-Machtgruppe (BAC) ihreHände im Spiel hat. Diese Krisen haben eine so großeSprengkraft, daß sie insbesondere in Verbindung mitdem Finanzkollaps kurzfristig einen größeren Kriegauslösen könnten, sogar mit der Gefahr des Einsatzesvon Kernwaffen.

Der erste Krisenpunkt ist der Transkaukasus. Dortist das Ziel die Zerstörung Rußlands. Die zweite Kriseist der Konflikt zwischen Pakistan und Indien überKaschmir. Dabei ist das Ziel, Indien zu zerstören. Diedritte Krise betrifft Taiwan, das zur Unabhängigkeitgedrängt wird. Das soll der Beginn der AuflösungChinas sein. Die Kombination dieser Krisen könntedurchaus außer Kontrolle geraten und in kurzer Zeitin den Dritten Weltkrieg münden.

Die StrategischeVerteidigungsinitiative SDI

Um zu verstehen, wie die Weltgeschichte sich bis zudiesem Punkt entwickeln konnte, muß man minde-stens bis auf die berühmten Ereignisse im Oktober1986 zurückgehen. Damals war die Strategische Ver-teidigungsinitiative SDI, die Lyndon LaRouche vorge-schlagen hatte und die Präsident Reagan am 23. März

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1983 zur offiziellen amerikanischen Politik erklärthatte, zum letzten Mal Gegenstand von Regierungs-verhandlungen. Zu jedermanns Überraschung brach-te Präsident Reagan auf dem Gipfeltreffen in Reykja-vik die SDI wieder zu Sprache und bot der Sowjetuni-on die Zusammenarbeit bei der Entwicklung undAnwendung der SDI an.

Reagan erklärte explizit, er wolle mit der SDI dieWelt vom Terror der Vergeltungswaffen befreien. Die-ser Vorschlag wurde nicht nur von Gorbatschowabgelehnt, sondern auch praktisch von allen Mitglie-dern in Reagans eigener Regierung — George Bush,Don Regan, George Shultz, Sir Caspar Weinbergerusw. Damit wurde eine große Chance, die Welt zu ver-ändern, vertan. Die beiden Supermächte — Gorba-tschow auf der einen und diese üblen Kreise in Rea-gans Kabinett auf der anderen Seite — lehnten nichtnur die SDI ab, sie trafen auch eine Absprache, denEinfluß LaRouches ein für allemal auszuschalten.

Warum war das ein so zentraler Streitpunkt?Dazu muß man die Bedeutung der SDI verstehen.

LaRouche entwickelte 1979 das Konzept einer Vertei-digung gegen strategische Raketen, die sich auf neuephysikalische Prinzipien stützte. Er legte dies 1981-82auf Konferenzen in Europa (Paris, Rom, Bonn Stock-holm) und in der amerikanischen Hauptstadt Wa-shington vor, lange bevor es amerikanische Politikwurde. Die Idee dahinter war, die vorherrschendeMilitärdoktrin der „Gegenseitig gesicherten Zer-störung“ (MAD) durch eine neue Doktrin abzulösen,die er als „Gegenseitig gesichertes Überleben“ (MAS)bezeichnete. In einem fortdauernden „Crashpro-gramm“ sollte ein System zur Abwehr von Atomrake-ten mit Hilfe von Lasertechnologien entwickelt wer-den.

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Das Ziel der SDI war niemals, einen Krieg gegen dieSowjetunion zu gewinnen. Entgegen der damaligenPropaganda vom „Krieg der Sterne“ (die typisch warfür den „Kontinent der Ahnungslosen“) war es dasgenaue Gegenteil. Es ging vielmehr darum, den Alp-traum des nuklearen Schreckens und die Gründe fürsolche Kriege ein für allemal aus dem Weg zu räumen.

Das läßt sich sehr leicht beweisen. Als PräsidentReagan am 23. März 1983 der Sowjetunion dieZusammenarbeit anbot, gehörte auch das Angebotdazu, bei der Anwendung dieser Technologien in derzivilen Wirtschaft zu helfen. Er wiederholte diesesAngebot noch einmal in einem Schreiben im Augustdes gleichen Jahres.

Moskau lehnte jedoch ab, mit der Begründung, daßder Westen von diesen Technologien stärker profitie-ren würde als die UdSSR. Der eigentliche Grund aberwar, daß die Sowjets ihre eigenen Pläne für eine Welt-herrschaft verfolgten — den sog. „Ogarkow-Plan“.

Ein anderer Mann, der in dieser Angelegenheiteine wichtige Rolle spielte, Dr. Edward Teller, wies zuRecht darauf hin, daß die SDI eine „Erfüllung dergemeinsamen Ziele der Menschheit“ bedeute. Am 27.Oktober 1982 erklärte er: „Im Rahmen einer Zusam-menarbeit mit denjenigen, die wirklich in vollemUmfang kooperieren wollen, können wir die schreck-lichen Lebensbedingungen in der Dritten Welt ver-bessern. Durch den Einsatz von Technik können wirerreichen, daß sich die Gründe für Krieg verringernund immer weiter verringern werden.“

Hätte die Sowjetunion dieses Angebot angenom-men, so hätte das auch das Ende der Pläne für eine„Weltregierung“ bedeutet. Die Politik, die auf H.G.Wells und Bertrand Russell zurückgeht — daß die Län-der der Welt sich eher einer Weltregierung unterwer-

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fen würden, als sich von Atomwaffen zerstören zu las-sen — und durch die Pugwash-Konferenzen und dieAbrüstungsverhandlungen nach der Kuba-Krisebetrieben wurde, wäre zunichte gemacht worden.

Als es LaRouche gelang, den Präsidenten der USAzu diesem Angebot an die Sowjetunion zu bewegen —wahrlich keine Kleinigkeit —, reagierten die Verfech-ter der „Weltregierung“ in Ost und West hysterisch.Die sowjetische Presse schäumte. Sie nannten die SDIeinen casus belli. LaRouche wurde als „Höhlen-mensch“ bezeichnet; die Iswestija nannte ihn „Ram-bo“ und mich „Teutonia mit Hörnern“.

Im November 1986 griff Gorbatschow kurz vordem Gipfeltreffen in Reykjavik LaRouche öffentlichan; wenn er ihn auch nicht mit Namen nannte, sowar doch klar, wer gemeint war. Am 30. September1986 klagte die Zeitschrift Sowjetskaja Kultura überden wachsenden Einfluß LaRouches und fragte, war-um denn in den USA nicht z.B. die Steuerbehörde IRSetwas gegen ihn unternähme, wenn man ihm schonpolitisch nichts anhaben könne.

Das Vorgehen gegen LaRouche

Sie haben sicher in den Medien gehört, daß jetzt eini-ge häßliche Wahrheiten über das Vorgehen des FBI inder Waco-Affäre ans Licht gekommen sind. Das FBIhat Justizministerin Reno belogen. Es hat brennbaresTränengas eingesetzt und das Anwesen mitsamt denMenschen darauf, darunter viele Frauen und Kinder,in Brand gesetzt. Das ist ein unglaublicher Terroris-mus gegen die eigene Bevölkerung.

Es gibt einen besonderen Grund, warum ich aufdiese Enthüllungen emotional so stark reagiere: Am 6.Oktober, nur wenige Tage vor dem Gipfeltreffen in

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Reykjavik, unternahmen die gleichen Kräfte — dasFBI, Teile des Pentagon und andere — eine Razziagegen unsere Büros in Leesburg und das Haus, wo wirdamals wohnten. Niemals werde ich diesen 6. Okto-ber 1986 vergessen. Ich wurde morgens gegen Viertelvor Sieben vom Lärm der Hubschrauber geweckt, dievor unserem Schlafzimmerfenster flogen. 400 Beamtemit gepanzerten Fahrzeugen, Panzern und Gewehrenhatten das Haus umzingelt. Man hatte diesen Beam-ten erzählt, wir seien eine terroristische Organisation,extrem gefährlich, sie müßten mit dem Schlimmstenrechnen. Sie befanden sich daher unter hoher Span-nung und hatten Angst.

Eigentlich ist es ein Wunder, daß ich noch amLeben bin. Durch eine persönliche Intervention Lyn-don LaRouches und eine internationale Mobilisie-rung erreichten wir, daß das Weiße Haus sich ein-schaltete und die Sache zurückpfiff. Nur deshalbhaben wir überlebt. Es war ein gezielter Versuch, unszu töten, genau wie in Waco, und teilweise warensogar die gleichen Personen daran beteiligt. So waretwa der damalige stellv. FBI-Chef Larry Potts für dieOperation verantwortlich — der gleiche Mann, derauch das Vorgehen des FBI in Waco und in Ruby Rid-ge, wo eine unschuldige Frau und ihr Kind getötetwurden, zu verantworten hat. Dieselben Leute vonder „geheimen Nebenregierung“ waren es auch, diePräsident Clinton über das Amtsenthebungsverfahrenstürzen wollten.

Gorbatschow und die SDI-Gegner in der RegierungReagan einigten sich darauf, LaRouches Kopf aufeinem Silbertablett zu präsentieren, als Beweis dafür,daß diese Politik auf immer zurückgewiesen werde. Esist eine bittere Ironie der Geschichte: Hätten dieSowjets Reagans SDI-Angebot in Reykjavik angenom-

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men, dann wäre die Menschheit jetzt aus demSchlimmsten heraus. Es war vielleicht eine der beidengrößten Chancen dieses Jahrhunderts. Sie wurde ver-tan, weil der damalige sowjetische GeneralsekretärJurij Andropow das Angebot ausschlug, ohne über-haupt zu verhandeln.

In einer neuen Schrift über den ABM-Vertrag erin-nert LaRouche an das Märchen von dem Fischer, dereine Perle wegwirft, die mehr wert war als seine ganzeInsel. Die Sowjetunion hat diese Perle weggeworfen,obwohl der Vorschlag nicht gegen sie gerichtet war,sondern im Gegenteil ein Versuch war, Rußland unddie Russen zu retten. Man kann nur sagen: „Was füreine grenzenlose Dummheit!“ Inzwischen haben dasviele führende Wissenschaftler, Akademiemitgliederu.a. in der früheren Sowjetunion erkannt und dierichtigen Schlußfolgerungen daraus gezogen.

Sehen Sie sich an, was in den Spielzeugläden imZusammenhang mit dem Krieg der Sterne angebotenwird, diese häßlichen kleinen Monster. Gibt es einegrößere Perversion? Es ging um eine der schönstenIdeen überhaupt: wahren Frieden in die Welt zu brin-gen. Und was haben sie daraus gemacht! Das zeigtdeutlich die Perversität der Leute, die heute in Hol-lywood das Sagen haben.

LaRouche sagte 1984 voraus: Wenn die Sowjetuni-on das SDI-Angebot ablehne, werde sie innerhalb vonfünf Jahren zusammenbrechen. Und so geschah esauch. LaRouche war der einzige Staatsmann, der denZusammenbruch der Sowjetunion prognostizierte.

1988 hielt LaRouche dann seine berühmte Presse-konferenz im Berliner Hotel Kempinski, wo er wieder-um als einziger die bevorstehende deutsche Wieder-vereinigung vorhersagte.

Angesichts der wirtschaftlichen Probleme des

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Comecon sollte man Deutschland wiedervereinigenund Polen mit Hilfe westlicher Technologien und denMethoden der physischen Wirtschaft entwickeln. Diessagte er am 12. Oktober 1988. Und nur Wochen späterim November 1988 leiteten die gleichen Kräfte imJustizministerium das Schnellverfahren gegen LaRou-che und mehrere seiner Mitarbeiter ein, das man nurmit Freislers Gerichtshof der Nazi-Zeit vergleichenkann. Wie wir heute wissen, war Reagan damals nurnoch formal Präsident, eigentlich regierte der durchdie Iran-Contra-Affäre berüchtigte damalige Vizepräsi-dent George Bush. Am 27. Januar 1989, nur wenigeTage nach dem Amtsantritt Bushs als amerikanischerPräsident, wurde LaRouche ins Gefängnis geworfen.

Der Fall der Mauer

Im November 1989 fiel die Mauer, und das signali-sierte auch den kommenden Zusammenbruch derSowjetunion. Noch im gleichen Monat entwickelteLaRouche im Gefängnis die Idee vom „produktivenDreieck Paris-Berlin-Wien“: daß man dieses Gebiet,wo sich das größte Industrie-, Hightech- und Werk-zeugmaschinenbaupotential der Welt konzentriert,als Motor benutzt, um Ost- und Westeuropa durchEntwicklungskorridore zu integrieren.

Dieses Konzept hätte die Ost-West-Beziehungenauf eine völlig neue Grundlage gestellt. Es wäre dieerste Friedensordnung des 20. Jahrhunderts gewesen.Viele Menschen verstehen nicht, daß das gleiche Kon-zept auch der SDI zugrunde lag: modernste Technolo-gien als Wissenschaftsmotor und Eckpfeiler einer neu-en, gerechten Weltwirtschaftsordnung einzusetzen.

Die große Frage war, wie der Westen auf denZusammenbruch des Ostens reagieren würde. Würde

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er die Richtung eines weltweiten Wiederaufbaus ein-schlagen, die LaRouche mit dem „produktiven Drei-eck“ vorschlug und später zur „eurasischen Land-brücke“ erweiterte? Oder würde er sich den Ideen vonWells und Russell, dem Konzept der Weltregierungverschreiben?

Es gibt zwar einige Nuancen — daß Präsident Clin-ton in Irland und auf dem Balkan Positives erreichthat, um Frieden im Nahen Osten bemüht ist und ander strategischen Partnerschaft mit China arbeite-te —, aber im Rückblick auf die zehn Jahre seit derWende muß man zu dem Schluß kommen, daß dieEntwicklung eher in die Richtung geht, die ZbigniewBrzezinski in seinem Buch Die einzige Weltmacht be-schreibt. Geopolitik und die strategische Politik derBAC-Machtgruppe dominieren heute die Politik derVereinigten Staaten. Brzezinski schrieb in dem Buch:

„Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hatsich die Weltlage tiefgreifend verändert. Zumersten Mal in der Geschichte trat ein außereura-sischer Staat nicht nur als der Schiedsrichter eura-sischer Machtverhältnisse, sondern als überragen-de Weltmacht schlechthin hervor. Mit dem Schei-tern und dem Zusammenbruch der Sowjetunionstieg ein Land der westlichen Hemisphäre, näm-lich die Vereinigten Staaten, zur einzigen und imGrunde ersten wirklichen Weltmacht auf ...

Inwieweit die USA ihre globale Vormachtstel-lung geltend machen können, hängt aber davonab, wie ein weltweit engagiertes Amerika mit denkomplexen Machtverhältnissen auf dem eura-sischen Kontinent fertig wird — und ob es dortdas Aufkommen einer dominierenden, gegneri-schen Macht verhindern kann ... Eurasien ist

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somit das Schachbrett, auf dem sich auch inZukunft der Kampf um die globale Vorherrschaftabspielen wird.“ Soweit Brzezinski; wenn Sie nun vergleichen, was

geschehen ist und heute geschieht, können Sie sichein eigenes Urteil bilden.

Am 31. Oktober 1989 — wenige Wochen nachdem Fall der Mauer — wurde Alfred Herrhausen, derdamalige Vorstandssprecher der Deutschen Bank, vonder nichtexistenten „dritten Generation“ der RAFermordet. Warum? Neben LaRouche war er der einzi-ge gewesen, der eine Entwicklung Polens außerhalbder IWF-Struktur vorgeschlagen hatte. Die Finanzie-rung sollte über eine Bank nach dem Vorbild der Kre-ditanstalt für Wiederaufbau erfolgen. Damit rief er dieGeopolitiker auf den Plan.

Am 2. Dezember 1989 trafen sich Bush und Gorba-tschow zu einem Gipfel in Malta. Dort einigten siesich darauf, die Entwicklungen in Deutschland abzu-bremsen. Das erwies sich allerdings als zwecklos, dieWiedervereinigung war nicht mehr aufzuhalten. ImMai 1990 betonte dann die Regierung Bush in Personvon Scowcroft und Eagleburger auf einer OSZE-Konfe-renz, Osteuropa müsse sich der Schocktherapie und„Reformpolitik“ des IWF unterwerfen und in das glo-balisierte System integriert werden.

Die Ausplünderung Rußlands

Sie haben alle vom größten Geldwäscheskandal derGeschichte gehört. Die Bank of New York hat 15 Mrd.Dollar „gewaschen“, die zum Teil vom IWF stammtenund dann auf Auslandskonten der Familie Jelzin undanderer „Reformer“ landeten. Bei diesen schweizeri-schen und auch amerikanischen Untersuchungen

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kommt jetzt ans Tageslicht, was LaRouche vonAnfang an gesagt hat: Die ganze „Reformpolitik“ ge-genüber der früheren Sowjetunion war stets nur einEuphemismus für die ungehinderte AusplünderungRußlands, die Übernahme der russischen Wirtschaftdurch kriminelle Elemente.

Am 5. Juni 1991 ernannte Bush den DemokratenRobert Strauss aus Texas zum US-Botschafter in Mos-kau. LaRouche sagte damals: „George Bush schickt denKönig der Diebe nach Moskau, um dem KGB das Steh-len beizubringen“ — leider mit Erfolg. Strauss saß zuder Zeit im Vorstand des Getreidekartells ArcherDaniels Midland, des Konzerns R.J.R. Nabisco und desDirektoriums des anglo-kanadischen MedienkonzernsHollinger. Strauss hatte die vordringliche Aufgabe,Rußland in den IWF hineinzubugsieren und sicherzu-stellen, daß niemand die Ausplünderung des Landesstört.

Am 21. August 1991 sprang Jelzin dann auf denPanzer, und das Bild ging um die Welt. Rückblickenderwies sich das als der Todesstoß für die Sowjetunion.Ungefähr zur gleichen Zeit traf ein gewisser MichailKagalowskij mit dem britischen Premierminister JohnMajor in dessen Amtssitz in der Downing Street Nr. 10zusammen. Dieser Mann gehörte zu einer Gruppegeschickter junger Krimineller, die von der Mont-Pèle-rin-Gesellschaft handverlesen waren, die zukünftigen„Ökonomen“ der Schocktherapie im Osten zu wer-den. Zusammen mit Leuten wie Tschubajs, Fjodorowund Potanin sollten sie bei der Ausplünderung Ruß-lands mit dem Westen zusammenarbeiten. Kagalows-kij, der über seine Frau in den Bank of New York-Geld-wäscheskandal verwickelt ist, stieg zum Verbindungs-mann zwischen Rußland und dem IWF und späterzum IWF-Direktor für Rußland in Washington auf.

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Jelzin machte Jegor Gajdar zum russischen Mini-sterpräsidenten. Als dann die Regierung Clinton kam,erklärte Gore sich zuständig für die Rußlandpolitikund übernahm die Netzwerke der Mont-Pèlerin-Klep-tokraten aus der Ära Bush.

LaRouches Neunte Vorhersage

Noch vom Gefängnis aus regte LaRouche 1992 zurErweiterung des „produktiven Dreiecks“ zur „Eura-sischen Landbrücke“ an. Er schlug drei Hauptroutenvor: eine Strecke im Norden durch Sibirien und zweiweitere im Süden, die weitgehend auf die alte Seiden-straße zurückgehen. So wollte er nach dem Zusam-menbruch der Sowjetunion die wirtschaftliche Ent-wicklung weit nach Osten ausdehnen.

Ein Jahr später setzte Jelzin die Panzer gegen dasParlament in Moskau ein. Alles, was an demokra-tischen Tendenzen in diesem zerrütteten Rußlandvorsichtig gewachsen war, wurde von Jelzin niederge-macht.

1994 wurde LaRouche aufgrund einer massiveninternationalen Mobilisierung aus dem Gefängnisentlassen. Viele bekannte Persönlichkeiten — Hun-derte von Parlamentariern, frühere Staatschefs, Kir-chenvertreter und viele, viele andere — hatten sichfür seine Entlassung eingesetzt.

Unmittelbar nach seiner Freilassung im Februar1994 veröffentlichte er seine berühmte Neunte Vorher-sage, worin er prognostizierte, wenn die Spekulationso weitergeht, werde dies unvermeidlich zum Zusam-menbruch des Weltfinanzsystems führen. Im Aprilfuhr er nach Moskau zu einem Seminar mit wichtigenÖkonomen wie dem früheren sowjetischen Minister-präsidenten Pawlow, den Akademiemitgliedern Ossi-

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pow und Lwow u.a. Dort schlug er als einzigen Aus-weg aus der Misere eine neue Allianz im Sinne vonF.D. Roosevelt vor, in der die USA, China, Rußland,Indien und andere Nationen zusammenarbeiteten,um die Kräfte der BAC-Machtgruppe auszuschalten,die große Teile der russischen „Intelligenzija“ über-nommen hatte.

Aber die Freibeuter um Präsident Jelzins Familie inRußland und Al Gore in Amerika wollten es anders.Schon 1995 hatten sie Rußland über die Privatisie-rung ausgeplündert, d.h. alles, was nicht niet- undnagelfest war, verscherbelt und mit dem Erlös auf deninternationalen Märkten spekuliert. Dies verschärftensie nun noch mit der Politik „Kredite gegen Anteile“,die auf die Bereiche Energie, Telekommunikation undRohstoffreserven wie Erdgas und Erdöl zielte.

Tschubajs stimmte dem Plan „Kredite gegen Antei-le“ auf einer Kabinettssitzung im März 1995 zu undnannte ihn einen „Pakt mit dem Teufel“. Zu diesemZeitpunkt legte die CIA Al Gore einen Bericht mitBeweisen dafür vor, daß Tschernomyrdin fünf Milliar-den Dollar in die eigene Tasche gesteckt hatte. Goreunterdrückte den Bericht, er schickte ihn der CIA miteiner unflätigen Bemerkung zurück.

Die Spekulationsblase war nun auch durch die ausRußland gestohlenen Gelder weiter angewachsen.Selbst Präsident Clinton und der französische Staats-präsident Jacques Chirac bezeichneten auf dem Gip-feltreffen in Halifax die Spekulation als das „AIDS desFinanzsystems“.

Aufgrund der Ausplünderung Rußlands war Jelzinsehr unbeliebt geworden, und es schien, als würde derChef der Kommunistischen Partei Sjuganow 1996 diePräsidentschaftswahl gewinnen. Nach dem Sieg derKommunisten bei der Parlamentswahl entließ Jelzin

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Tschubajs, der daraufhin nach Davos zum Weltwirt-schaftsforum reiste und für die „Reformer“ warb. Diewestlichen Bankiers erklärten, sie würden die „Refor-mer“ unterstützen, weil das in ihrem Interesse liege.

Die neue Seidenstraße

Im Mai 1996 reiste ich mit einer Delegation des Schil-ler-Institutes nach Beijing, wo wir als Redner an einerKonferenz über die Eurasische Landbrücke teilnah-men, auf der mehr als 34 Staaten vertreten waren. Diechinesische Regierung erklärte, diese geplante Inte-gration von Europa, Rußland, Südostasien, Indienund China zu einem Wirtschaftsblock markiere eineneue Ära für die Menschheit. Zum ersten Mal könn-ten entlegene Regionen ohne Zugang zum Meer ihregeographisch nachteilige Situation überwinden. DieEntwicklung der Infrastruktur könne praktisch jedenTeil der Welt für Entwicklung öffnen.

Unser Vorschlag stellt das Konzept der Entwick-lungskorridore in den Mittelpunkt. Diese „Infrastruk-turarterien“ sollten das Rückgrat sein, von denen ausbillige Energie über inhärent sichere Kernkraftwerkeverfügbar gemacht werde. So könnten Tausende neueStädte und Industriegebiete gebaut werden. Die Infra-struktur sei nicht nur dazu da, Rohstoffe aus den zuerschließenden Gebieten herauszubringen, vielmehrsollte sie Entwicklung in diese Regionen bringen. Eineechte neue Weltwirtschaftsonung werde sich heraus-bilden.

An der Konferenz nahm auch ein Vertreter derBAC-Machtgruppe teil, der damalige Vizepräsidentder Europäischen Union Sir Leon Brittan. Die EU hat-te die Konferenz mit unterstützt. Brittan erklärte, dasKonzept der Eurasischen Landbrücke werde sich nie-

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mals verwirklichen lassen, weil es in den Ländern ent-lang der Landbrücke so viel politische Destabilisie-rung geben werde, daß dies niemals funktionierenwerde.

Im Sommer 1997 sagte LaRouche dann den Aus-bruch der globalen Finanzkrise für Oktober voraus.Und in der Tat begann im Oktober die „Asienkrise“,die nur der regionale Ausdruck der globalen Krise war.Zwischen Oktober 1997 und Oktober 1998 standenwir dreimal vor der völligen finanziellen Kernschmel-ze. Der IWF reagierte, indem er massiv Liquidität indas System pumpte, um den Kollaps zu verhindern.

Am 17. August 1998 erklärte sich die RegierungKirijenko für zahlungsunfähig. Die Spekulation hattedazu geführt, daß die russischen Staatsanleihen, dieberüchtigten GKOs, mit immer kürzeren Laufzeitenund höheren Zinsen ausgegeben werden mußten.Zuletzt betrugen die Zinsen bei einer Laufzeit von dreiMonaten 150 Prozent — und niemand wollte sie mehrkaufen, weil man befürchtete, trotz der extrem hohenRendite am Ende mit leeren Hände dazustehen.

Vor einigen Wochen, am 28. August, veröffent-lichte die New York Times ein Interview mit MichailTschodorowskij, dem früheren Chef Kagalowskijs beiMenatep und Yukos Oil. Er sagte, die 15 Mrd. Dollar,die von der Bank of New York gewaschen wurden, sei-en Gelder gewesen, die russische Regierungsleute mitInsiderwissen aus der GKO-Pyramide abgezogen hät-ten, bevor sie zusammenbrach. Diese Leute hättenvon Gerüchten über Abwertungen und Einfrieren desGKO-Marktes gewußt. Bereits im Sommer 1998 hät-ten einige damit begonnen, Regierungspapiere zu ver-kaufen.

Schon 1998 hatten Ermittlungen des russischenFöderationsrates ergeben, daß das im Juli 1998 ange-

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kündigte große IWF-Paket mit einer ersten Rate von4,5 Mrd. Dollar nur dazu dienen sollte, den Insiderngenug Zeit zu geben, ihre Gelder aus der GKO-Pyra-mide abzuziehen, in Dollar einzutauschen und insAusland zu schaffen.

In Wahrheit war die IWF-Reformpolitik vonAnfang an, wie wir immer gesagt haben, nichts als dieAusplünderung Osteuropas und der früheren Sowjet-union — so lange, bis die Länder auseinanderbre-chen.

Ende August 1998 telefonierte Al Gore hinter demRücken von Präsident Clinton hektisch herum, umTschernomyrdin wieder zum russischen Ministerprä-sidenten zu machen. Als ihm das nicht gelang, bracheiner der größten Hedge-Fonds der Welt, LTCM,zusammen, und das ganze System stand vor der Kern-schmelze.

Was kommt nach dem Crash?

An dem Punkt traf die BAC-Machtgruppe zwei Ent-scheidungen: einerseits, massiv Liquidität bereitzu-stellen, um solche Zusammenbrüche zu verhindern,und andererseits die beschleunigte Globalisierung derNATO. Die BAC-Gruppe setzte auf Kriege, um für dieZeit nach dem Crash die Kontrolle über die Rohstoffeund die Kontrolle über die Welt an sich zu reißen.

Vor wenigen Monaten sagte Brzezinski vor einemDutzend Staatschefs aus Ost- und Mitteleuropa aufeiner Konferenz in Wien, weltweite „Hegemonie“ derVereinigten Staaten — d.h. BAC — sei nicht der rich-tige Begriff, um die Rolle Amerikas zutreffend zubeschreiben, besser wäre „Omnipotenz“.

Diese Kreise sind fest entschlossen, Rußland aus-einanderzubrechen. Denn Rußland ist das Land mit

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der größten territorialen Ausdehnung und ein Landmit einem außerordentlichen Rohstoffreichtum. Des-halb wollen diese Kreise sich mit der Zerstörung derSowjetunion nicht zufrieden geben, sie wollen denUntergang Rußlands. Sie sind ebenso entschlossen,China, das bevölkerungsreichste Land der Welt, sowieIndien und Indonesien gleichfalls zu zerstören.

Der erste Schritt nach der Beinahe-Kernschmelze(die jetzt auch die BIZ und Camdessus zugegebenhaben) war der Plan zur Bombardierung des Irak imNovember 1998. Dies scheiterte, weil Präsident Clin-ton in buchstäblich letzter Minute intervenierte unddie Angriffe abblies. Aber damit wurde Clinton an derTeilnahme am APEC-Gipfeltreffen gehindert, wo ermit Primakow, Jiang Zemin und Mahathir zusam-mentreffen wollte, was genau die Kombination vonPersönlichkeiten ergeben hätte, die einen Ausweg ausdieser internationalen Krise bahnen könnte.

An seiner Stelle nahm Gore an dem Gipfeltreffenteil und nutzte die Gelegenheit zu beleidigendenAngriffen auf den Gastgeber und MinisterpräsidentenMalaysias Dr. Mahathir. Dies war das erste Zeichendafür, was eine Welthegemonie der BAC-Machtgrup-pe bedeutete.

Im Dezember 1998 kam es dann zu einer dramati-schen Wende in der Weltpolitik. Mit dem betrügeri-schen Butler-Bericht als Begründung wurde der Irakbombardiert, während noch der UN-Sicherheitsrat zudem Thema tagte. Das Völkerrecht, so wie es sich seitdem Westfälischen Frieden von 1648 entwickelt hat-te, wurde ebenso mit Füßen getreten wie die UN-Charta und die Schlußakte von Helsinki, und durchdie anglo-amerikanische Welthegemonie ersetzt.

Der Krieg gegen Jugoslawien im März 1999 solltedemonstrieren, daß Rußland durch die IWF-Reformen

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so zerstört und ausgeplündert war, daß es auf demBalkan, der historisch als seine traditionelle Einfluß-sphäre galt, keine entscheidende Rolle mehr spielenkonnte. Er sollte weiter demonstrieren, daß ChinasStimme im UN-Sicherheitsrat ohne Bedeutung seiund es nicht mehr als globaler strategischer Partnerbehandelt würde. Die gezielte Bombardierung der chi-nesischen Botschaft in Belgrad am 7. Mai war ein Sig-nal an China, daß es praktisch „nichts tun kann“.China sollte damit in eine feindliche Haltung zuAmerika gedrängt werden, auch um zukünftigemilitärische Operationen zu rechtfertigen.

Dieser Krieg in Europa sollte aber auch Kontinen-taleuropa eine Lehre erteilen: Er sollte das bestätigen,was Brzezinski in Wien erklärt hatte, Europa sei keinPartner, sondern Protektorat der USA, da ihm diemilitärische Stärke fehle, sich den geopolitischen Plä-nen der Anglo-Amerikaner zu widersetzen. Außerdemsollte die prorussische Regierung in Serbien gestürztund eine prowestliche eingesetzt werden. Der Planwar, Jugoslawien als prorussisches Land auszuschal-ten.

Über die Türkei und das NATO-Programm „Part-nerschaft für den Frieden“ sollte gleichzeitig dieErweiterung in Richtung Zentralasien in Angriffgenommen werden. Dazu wollte man die SüdflankeRußlands aufbrechen und so die NATO direkt an dieGrenze Rußlands und Chinas bringen, was beide Staa-ten natürlich als Bedrohung ihrer vitalen Interessenansehen.

Der 78 Tage dauernde Krieg hinterließ auf dem Bal-kan und in Südosteuropa eine absolute wirtschaftli-che Katastrophe. Selbst die konservative Neue ZürcherZeitung schrieb, in Serbien, Albanien, Kosova undMazedonien breite sich Hunger aus, und es gebe kei-

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ne nennenswerte wirtschaftliche Aktivität mehr. Die-se Regionen sterben dahin.

In Kosova und Albanien übernimmt jetzt praktischdie UCK mit Unterstützung Madeleine Albrights dieMacht. Die UCK ist eine narko-terroristische Bande,nicht weniger gefährlich als die FARC oder die ELN inKolumbien. Die wirtschaftliche Destabilisierung desBalkans und die Tatsache, daß jetzt größere Drogen-transportwege durch diese Region verlaufen, stellenderzeit eine wesentliche Sicherheitsbedrohung fürEuropa dar.

Als die NATO in Washington den 50. Jahrestagihrer Gründung feierte, wurde sie als atlantisches Ver-teidigungsbündnis zu Grabe getragen. Es wurde einneues strategisches Konzept erörtert. Das alte strategi-sche Konzept der NATO basierte auf Artikel V des Wa-shingtoner Vertrages von 1949, in dem es um die Ver-teidigung der nationalen Integrität eines NATO-Mit-gliedsstaates gegen einen möglichen Angriff derSowjetunion ging.

So ist es jetzt nicht mehr. Der amerikanische Gene-ralstabschef Gen. Hugh Shelton sagte vor dem RoyalServices Institute in London am 8. März: „Diebeschränkte Sicht kollektiver Verteidigung ist jedochunzureichend, wenn es um die raffinierten und heik-leren Gefahren geht, denen wir uns heute gegen-übersehen. Daher muß die NATO ihre strategischePerspektive erweitern, um alle unsere Interessen voreiner Myriade komplexer asymptotischer Bedrohun-gen zu schützen, die das Konfliktkontinuum umspan-nen. Die NATO muß der unvorhersehbaren und ausvielen Richtungen kommenden Natur der Bedrohung— wie etwa regionalen Konflikten, Massenvernich-tungswaffen und Terrorismus — größeres Gewichtbeimessen.“ Mit anderen Worten, er will einen Blan-

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koscheck für weltweite Interventionen unter jeder Artvon Vorwänden.

Zwei Wochen später begann der NATO-Krieggegen Jugoslawien. Es war klar, daß es nicht um dieserbischen Greueltaten ging. Denn hätte der WestenMilosevic stürzen oder etwas gegen ihn unternehmenwollen, hätte man dies 1992 tun sollen, als Milosevicden Völkermord in Kroatien und Bosnien begann. DieNATO nutzte eine gegebene Situation aus, um ihreglobalstrategischen Ziele zu erreichen. Und Brzezins-ki, die heutige Verkörperung der GeopolitikerMackinder und Haushofer, bezeichnet heute den Kau-kasus als „eurasischen Balkan“.

Die Hintergründe des Kaukasuskrieges

Nach dem Krieg gegen Jugoslawien wurde von dreiRegionen möglicher Eskalation her die gesamte russi-sche Südflanke bedroht.

Das russische Militär hat den Vereinigten Staatenund dem europäischen Establishment unmißver-ständlich bedeutet, daß jeder Versuch einer NATO-Erweiterung in die baltischen Staaten (Estland, Lett-land und Litauen) oder die kaukasischen Länder(Georgien, Armenien und Aserbeidschan) nicht hin-genommen werde. Sowohl die armenische als auchdie georgische Regierung haben bereits eine Aufnah-me in die NATO beantragt und die Errichtung ameri-kanischer oder türkischer Militärstützpunkte oderAufnahme einer UN-Friedenstruppe angeboten. Am29. Juni erklärte der aserbeidschanische Parlaments-präsident Murtus Alexerow, sein Land solle NATO-Mitglied werden. Und am 1. Juli sagte der stellv.Außenminister Georgiens Giga Burduli, sein Land set-ze sich für den Beitritt zur NATO ein. Als der ameri-

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kanische Verteidigungsminister Cohen im Augustnach Georgien reiste, bot er dem Land die NATO-Mit-gliedschaft an. Aserbeidschan und Georgien habendie Entsendung von NATO-Friedenstruppen gefor-dert, welche die Einheiten der GUS ersetzen sollten.NATO-Soldaten sollten auch in den um ihre Unab-hängigkeit streitenden Republiken Abchasien undSüdossetien stationiert werden.

Um nur ein Land herauszugreifen: Armenienbefindet sich in einer schwierigen Situation. Währendder Sowjetzeit war Rußland praktisch Armeniens ein-ziger Handelspartner. Dieser Handel ist jetzt völligzusammengebrochen. Es existieren nur noch militäri-sche Beziehungen, auf die Armenien angewiesen ist,weil es ohne russische Hilfe die Kontrolle über diearmenische Enklave Berg-Karabach in Aserbeidschanverlöre.

Sollte der jetzige Ministerpräsident AserbeidschansGajdar Alijew sterben, wäre ein Bürgerkrieg sehrwahrscheinlich. Und die Opposition in Aserbeid-schan ist ziemlich aggressiv. Sie hatte 1992-94 denKrieg um Berg-Karabach angefangen. Sie stellt auchterritoriale Forderungen an den Iran. Die USA botenArmenien jüngst 100 Mio. Dollar an, wenn es zu Ver-handlungen über Berg-Karabach mit Aserbeidschanentlang der Formel „Mehr Autonomie, weniger Unab-hängigkeit“ bereit wäre. Dahinter steht das Ziel, denWeg für die transkaukasischen Pipelines frei zumachen.

Das wird naturgemäß mit dem Iran böses Blutschaffen, denn die Armenier wären dann gezwungen,das Gebiet südlich von Berg-Karabach, das sie jetztbesetzt haben, aufzugeben. Der Iran und Armenienhaben jetzt eine etwa 180 km lange gemeinsameGrenze. Bei einem armenischen Abzug würde sich

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diese gemeinsame Grenze auf etwa 50 km verringern.Die iranische Pipeline verläuft durch die Region, diein dem größeren gemeinsamen Grenzgebiet liegt.Offensichtlich eine sehr angespannte Situation.

Was nun den Aufstand in Dagestan angeht, sowird dieser vor allem von sogenannten „islamisti-schen Rebellen“ getragen — den Wahhabiten, einerislamischen Terrororganisation, die von Saudi-Arabi-en, aber auch von England und anderen westlichenStaaten unterstützt wird. In Dagestan allein lebenetwa 30 verschiedene nationale Minderheiten. DasNachbarland Tschetschenien ist seit August 1996praktisch ein unabhängiger Staat. Dort marodierenzahlreiche bewaffnete Banden von Extremisten undsog. Mudschaheddin, die alle die Regierung desgemäßigten Präsidenten Aslan Maschadow stürzenwollen.

Seit Beginn dieses Jahres kam es zu zahlreichenÜberfällen über die Grenze gegen russische Einheiten,die in Grenznähe zu Tschetschenien stationiert sind.Diese Überfälle wurden von Gruppen begangen, dieKirgisistan, Usbekistan und Tadschikistan als Operati-onsbasis benutzen und aus Saudi-Arabien und demWesten finanziert werden. Sie werden unterstützt vonislamischen Veteranen des Afghanistankrieges undden Taliban. Der britische Geheimdienst verfügt indiesen terroristischen Netzwerken über immensenEinfluß.

Als Reaktion auf den Krieg gegen Jugoslawien unddie Ereignisse im Kaukasus hat die russische Militär-führung angekündigt, daß sie 10 000 taktischenukleare Sprengköpfe entwickeln wird. Sie war zudem Schluß gekommen, daß die NATO sie nicht mehrernst nimmt und davon ausgeht, daß Rußland seinstrategisches Arsenal nicht einsetzen werde. Diese

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10 000 taktischen Nuklearsprengköpfe sind für denEinsatz in Militäroperationen wie dieser (im Kauka-sus) konzipiert. Und das ist nur eine Krisenregion vonvielen.

Die jüngsten russischen Militärmanöver nach demNATO-Krieg in Jugoslawien gingen von der Annahmeeines strategischen Nuklearangriffs auf Rußland aus.Rußland hat seine gesamte Militärstrategie geändertund der Annahme angepaßt, daß dies die künftigeBedrohung darstelle. Das russische Militär ist über-zeugt, daß die NATO-Politik auf eine AufspaltungRußlands abzielt. Dies ist ein Spiel mit dem Feuer.

Die indisch-pakistanische Krise

Die nächste Krise betrifft den Konflikt zwischen Indi-en und Pakistan. Die hoffnungsvolle Stimmung, diesich mit der „Erklärung von Lahore“ verbreitet hatte,als sich Sharif und Vajpayee im Rahmen der „Bus-Diplomatie“ trafen, ist völlig verflogen. Die derzeitigePolitik der beiden Länder läßt scheinbar keine Alter-native als Krieg zu. Und beide sind Atommächte.

Pakistan steckt in einer verzweifelten Lage.Während des Kalten Krieges wurde es ausgenutzt undinsbesondere nach dem sowjetischen Einmarsch inAfghanistan in ein Zentrum des Drogen- und Waffen-handels verwandelt. Dabei kamen Generäle an dieMacht, die von der BAC-Machtgruppe kontrolliertwurden. Immer wieder wird die Lage in Kaschmir, dasteilweise von Pakistan und teilweise von Indienbesetzt ist, manipuliert.

Ein weiteres Problem in Pakistan bilden die Feu-dalherren, die die beherrschende soziale Kraft im Lan-de sind. Sie werden von den Anglo-Amerikanernunterstützt. Deshalb gibt es praktisch keine Industrie

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in Pakistan. Das Land muß alle nahezu alle Fertigwa-ren importieren, und für den Export stehen praktischnur Baumwollprodukte zur Verfügung. Pakistanhängt völlig vom IWF ab, der alles kontrolliert. Daseinzige, was in Pakistan wächst, sind Arbeitslosigkeitund Ausbildungsmängel.

Die Anglo-Amerikaner haben das pakistanischeMilitär als Bollwerk gegen Rußland und Indien aufge-baut, vor allem aber gegen das hinduistische Indien,und das führte zu einer massiven intellektuellen Kor-ruption innerhalb der pakistanischen Führungselite.

Seit 1979 hat sich Lage immer weiter verschlech-tert. Die Anglo-Amerikaner förderten den massivenAnbau von Opium und die Herstellung von Heroin.Viele Moslems aus anderen Staaten werden zu „heili-gen Kriegern“ ausgebildet. Früher richtete sich dasgegen den Kommunismus, heute verbreiten sich die-se Leute über die ganze Welt. Diese „Dschihad“-Kämpfer sind jetzt in Tschetschenien, Pakistan,Kaschmir und auch der chinesischen Provinz Xinji-ang aktiv. Diese Terroristen werden zum großen Teilvon britischen Geheimdiensten kontrolliert. Dasmeinte Brittan, als er davon sprach, daß aus politi-schen Gründen die Landbrücke niemals verwirklichtwürde.

Indien andererseits hat niemals wirklich die Fol-gen der britischen Kolonialpolitik aufgearbeitet.Immerhin ist es die bevölkerungsmäßig zweitstärksteNation der Welt und sieht sich als eine der Nationen,die maßgeblich zur Entstehung der menschlichenZivilisation beigetragen haben. Wenn man die6000jährige indische Geschichte betrachtet, stößtman auch auf bewundernswerte Dinge.

Aber Indien ist erstaunlich nach innen orientiert,und seine größte Schwäche ist Kaschmir. Dieser Kon-

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flikt beeinflußt das Denken und Handeln übermäßigstark. Die Inder fühlen sich betrogen, denn nochwährend die „Bus-Diplomatie“, die positivenGespräche zwischen Vajpayee und Sharif, liefen,bereiteten die sog. Rebellen aus Pakistan den Krieg inder Region Kargil in Kaschmir vor. Pakistanische Sol-daten kämpften als Mudschaheddin verkleidet ineiner unzugänglichen, schwer zu verteidigenden Ber-gregion. Wegen dieser Kämpfe in Kargil wurden dieGespräche zwischen Indien und Pakistan völlig abge-brochen.

Ich will damit aber nicht sagen, daß ein Kriegunvermeidlich sei. Aber die Briten und die BAC-Machtgruppe arbeiten auf diesen Krieg zwischen Indi-en und Pakistan hin und sehen das als eine Möglich-keit, Turbulenzen zu erzeugen. Daß Indien und Paki-stan Nuklearwaffen haben, muß an sich kein Problemsein, denn es besteht ein gewaltiger Unterschied zwi-schen einer Nuklearpolitik und dem tatsächlichenEinsatz von Nuklearwaffen. Schließlich hat Indienmit seiner Nukleardoktrin nichts anderes getan als deGaulle in Frankreich, der sich auf Frankreichs Souve-ränität und das Recht auf eine allseitige Verteidi-gungspolitik berief. Dennoch ist die Lage in der Regi-on extrem gefährlich.

Angriffe gegen China

Die dritte Krise, die relativ kurzfristig zum Ausbrucheines Nuklearkrieges führen könnte, betrifft Taiwanund die Bemühungen der BAC-Machtgruppe, Taiwanzur Erklärung der Unabhängigkeit zu drängen. Auschinesischer Sicht ist das so, als würde irgendjemandKalifornien oder einen anderen US-Staat drängen,sich von den USA unabhängig zu erklären.

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Bis zum vergangenen Dezember besaß trotz einigerSpannungen in den Beziehungen die strategischePartnerschaft mit den Vereinigten Staaten im 21.Jahrhundert für China die höchste außenpolitischePriorität. China hätte nichts unternommen, was die-se Partnerschaft in Frage stellte. Der erste schwereSchlag, der diese Überzeugung traf, war die Bombar-dierung des Irak im Dezember, der zweite die Bom-bardierung der chinesischen Botschaft in der jugosla-wischen Hauptstadt Belgrad durch die NATO.

Als Ministerpräsident Zhu Rongji im März die USAbesuchte, versuchte er noch, diese strategische Part-nerschaft zu festigen. Aber die Bombardierung derBotschaft am 7. Mai war ein politisches Erdbeben.Man muß die letzten 200 Jahre der chinesischenGeschichte kennen, um zu verstehen, warum diesesEreignis eine so nachhaltige Reaktion hervorrief.Denn China erlebte in den letzten 15-20 Jahren Sta-bilität und wirtschaftliche Entwicklung. Und dassehen die Chinesen jetzt bedroht.

In China glaubt niemand, daß dieser Bombenan-griff ein Versehen war; alle sind davon überzeugt, daßer bewußt geschah. Ich war im Mai in China, unddort hat man mich gefragt: „Wer hat in den USA dasSagen? Der Präsident? Das Pentagon? Was heißt dasfür die Zukunft, wird es wieder geschehen?“

Dann erschien im Kongreß der sogenannte Cox-Bericht, in dem behauptet wurde, China habe Ameri-ka alle möglichen Militärgeheimnisse gestohlen.

Die bewegendste Erfahrung während meines Besu-ches in China hatte ich, als ich in einer freien Minu-te einen kleinen Tempel besuchte, wo ich zufällig einMädchen aus einer Schulklasse traf, die den bei derBombardierung ums Leben gekommenen Journali-sten die Ehre erwies. Das Mädchen sprach nur sehr

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wenig Englisch, doch ich fragte sie, was sie über dieBotschaftsbombardierung dächte. Sie sagte: „SagenSie Ihrem Präsidenten: Kommen Sie nach China. Lie-ben Sie mein Land.“ Dann fing sie an zu weinen.

Vom 9.-11. Juli fand in Hongkong ein von der „Tai-wan Peaceful Reunification Association“ organisiertesSymposium über die friedliche WiedervereinigungChinas statt. Hochrangige Delegationen aus Beijingund aus Taiwan waren gekommen, und 80 Zeitungenwaren vertreten. Es gab sehr konstruktive Gespräche,und die Medien berichteten ausführlich. Gerade alsdas Abschiedsessen dieser Konferenz stattfand, ließTaiwans Präsident Lee Teng-hui eine politische Bombehochgehen, indem er erklärte, die Beziehung zwischenBeijing und Taipei sei nicht mehr die des „Einen Chi-na“, sondern die zwischen zwei Staaten.

Das war eine eindeutige Provokation am Vorabenddes 50. Jahrestags der Gründung der VolksrepublikChina. Auch die bevorstehende Präsidentschaftswahlin Taiwan sollte damit beeinflußt werden. Lees Favo-rit (er selbst kann nicht mehr kandidieren) ist einMann namens Lee An-Chen, dem nachgesagt wird,im Vergleich zu ihm sei der hölzerne Gore ein charis-matischer Wirbelwind. Er ist einer der reichsten Män-ner Taiwans. Er tritt für die Unabhängigkeit ein, eben-so wie die DDP.

Nach dem Jugoslawienkrieg und der Botschafts-bombardierung war das in den Augen der Chinesenein weiterer Hinweis darauf, daß die Vereinigten Staa-ten gegen China vorgehen wollen. Aus Beijing kamenäußerst scharfe Töne. U.a. hieß es:

„Das chinesische Volk liebt den Frieden und wirdnur im äußersten Fall zu militärischen Mitteln grei-fen. Aber China wird sich auch keiner Interventionvon außen beugen.

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Die USA verkaufen ganz offen Waffen an Taiwan,halten Manöver mit Flugzeugträgern ab, setzenErpressung und andere abstoßende Methoden ein,um gemeinsam mit Lee Teng-hui und den anderenFührern Taiwans die Spaltung des Landes zu betrei-ben. Dies kann nur zu einer weiteren Verschlechte-rung der chinesisch-amerikanischen Beziehungenführen, indem es die Arroganz der taiwanesischenBehörden bei Aktionen zur Spaltung des Landes stei-gert und die nervöse Lage auf beiden Seiten der Straßevon Taiwan bis an den Rand des Krieges aufheizt.

Am 14. August hat der Sohn des früheren Präsi-denten Bush und heutige Gouverneur von TexasGeorge Bush jr., der sich Hoffnungen auf die Präsi-dentschaftsnominierung bei den Republikanernmacht, lautstark versprochen, wenn er Präsident wer-de, würde er Taiwan militärisch verteidigen. Bush jr.erklärte, die USA würden eine harte und unverrück-bare Haltung gegenüber China als strategischem Geg-ner und Konkurrenten einnehmen.“

Ich zitiere weiter aus einer chinesischen Presse-meldung: „Es wäre ein sehr großer Fehler anzuneh-men, China könne lediglich einen Medienkriegführen. Es hat bereits alle notwendigen Vorbereitun-gen für einen militärischen Angriff auf Taiwan getrof-fen.“

Jetzt herrscht in der Region große Angst davor, wasgeschehen wird, wenn entweder China Taiwan befreitoder die USA Taiwan vor Festlandchina beschützen.Präsident Clinton hat zwar wiederholt betont, dieUSA hielten an der Ein-China-Politik fest, aber de fac-to wird Taiwan der Eindruck vermittelt, es könne demFestland nicht trauen. Außerdem gebe es den TaiwanRelation Act, weswegen man neue Strategien undWaffensysteme, neue Manöver und ein neues Militär-

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bündnis zwischen Südkorea, Japan, den Philippinenund Taiwan gegen Festlandchina brauche.

Lee Teng-hui verschärfte die Lage weiter, als er Mit-te August sagte, Taiwan sei daran interessiert, sichzusammen mit den USA, Japan, Korea u.a. an einemregionalen Raketenabwehrsystem (TMD) zu beteili-gen. Das TMD-Konzept, wie es die USA und Japangegenwärtig verfolgen, ist zwar technisch eine Absur-dität, wie Lyndon LaRouche in seiner jüngsten Schriftzu dem Thema darlegt. Aber leider wird es psycholo-gisch einen großen Effekt haben, weil es das Militär inChina zu der Überzeugung bringt, daß es nur nocheine Frist von etwa zwei Jahren für eine militärischeOption hat, falls Taiwan sich für Unabhängigkeit ent-scheidet. Aus diesen Provokationen und Vorstößenkommt die Kriegsgefahr.

Im August erschien in Beijing eine Schrift, worin eshieß, die Ausweitung der NATO beweise, daß dieNATO keine Rücksicht mehr auf das geschwächtekonventionelle Militärpotential Rußlands und auchnicht auf dessen funktionierendes Kernwaffenarsenalnehme. Da niemand glaube, daß Rußland seine eige-ne atomare Auslöschung riskiert, könne Rußlandnichts tun.

Weiter wird betont, Rußland plane jetzt, 10 000miniaturisierte Atomsprengköpfe zu bauen, mitdenen Rußland militärische Ziele an jedem Ort derErde mit höchster Präzision angreifen könnte, ohneeinen atomaren Weltkrieg auszulösen.

Aber letzteres ist nur eine Annahme. Man stellesich vor, der Finanzkollaps kommt, Rußland wird amKaukasus in seinen vitalen Interessen bedroht, dieindisch-pakistanische Krise eskaliert, die Taiwan-Pro-vokation — bei all dem kann ich mir leicht vorstellen,daß die Dinge ganz schnell außer Kontrolle geraten.

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Der Club der Überlebenswilligen

Zweifellos hat die militärische Zusammenarbeit zwi-schen China, Indien und Rußland zugenommen. WasLaRouche den „Club der überlebenswilligen Natio-nen“ nennt, also die Länder Asiens, die sich gegen dieAuswirkungen der Weltfinanzkrise schützen, be-kommt nun immer mehr auch eine militärische Kom-ponente. Die Beziehungen zwischen China und Indi-en sind enger geworden. Beide sprechen von gleichenstrategischen Interessen. Die engere Zusammenarbeitdieser Länder ist aber nur ein Echo auf die Globalisie-rung der NATO durch die britisch-amerikanischeCommonwealth-Machtgruppe (BAC). Wenn sich dieregionalen Konflikte intensivieren und dazu das Welt-finanzsystem explodiert, dann ist das der sichere Wegin den dritten Weltkrieg — entweder Chaos oder ein30jähriger Krieg oder ein nuklearer Weltkrieg undneues finsteres Zeitalter.

Die einzige Möglichkeit, die Welt vor dieser Kata-strophe zu bewahren, mit der verglichen die beidenWeltkriege eine Kleinigkeit wären, ist die, daß die Ver-einigten Staaten, China, Indien, Rußland und hof-fentlich Kontinentaleuropa, Japan und andere Ländersehr bald LaRouches Programm für ein Neues BrettonWoods und die Eurasische Landbrücke übernehmen.

Wir müssen in uns selbst die Begeisterung dafürwecken, wie die Welt schon in kurzer Zeit mit derNeuen Seidenstraße aussehen könnte. Große Infra-strukturkorridore durch ganz Eurasien würdengebaut, ähnlich dicht, wie sie heute z.B. in Deutsch-land vorhanden sind. Das wären integrierte Magnet-bahnen, Autobahnen, Wasserstraßen: von Rotterdamnach Jakarta, von Gibraltar nach Afrika und nachSibirien, und über die Beringstraße nach Amerika.

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Vergessen Sie einmal, wie die Volkswirtschaftenheute funktionieren. Denken Sie zurück daran, wiePräsident Franklin Roosevelt die amerikanische Wirt-schaft aus der Depression herausholte und in eineboomende Volkswirtschaft verwandelte. Stellen Siesich vor, daß alle Regierungen entlang der Eura-sischen Landbrücke die gleichen Methoden anwen-den wie Roosevelt zu Kriegszeiten — und sie würdenes tun, wenn die USA, China, Rußland und Indienzusammenarbeiten. Aber diesmal diente es dazu, dendritten Weltkrieg zu verhindern.

Die Regierungen vergeben Kredite für Projekte, diedem Gemeinwohl dienen, die Arbeitslosigkeit beseiti-

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Im Jahre 1846 - elf Jahre nach der ersten deutschen Ei-senbahnfahrt zwischen Nürnberg und Fürth - wurde dieerste ungarische Eisenbahnstrecke zwischen Pest und Váceröffnet. Der ungarische Dichter Sándor Petöfi verfaßte zudiesem Anlaß das folgende Gedicht:

Baut tausend Bahnen, baut noch mehr!Daß unbebaut nichts bleibe,Daß Bahnen laufen kreuz und querWie Adern in dem Leibe.

Die Adern sind’s, die Saft und KraftDurch alle Länder leitenUnd Handel, Kunst und WissenschaftBefördern und verbreiten.

Und wenn ihr sorgenvoll euch fragt,Wo man das Eisen fände:Sprengt alle Ketten, die ihr tragt,Viel Eisen gibt’s am Ende!

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gen und die Produktivität durch maximale Ausnut-zung von Wissenschaft und Technik steigern. JiangZemin hat kürzlich davon gesprochen, Wissenschaftund Technik zum Hauptelement einer neuen chinesi-schen Renaissance zu machen.

Wir bauen tausend schöne neue Städte entlang derInfrastrukturkorridore. Keine häßlichen Vorstädteund Einkaufszentren, sondern schöne Städte, für diewir die besten Traditionen der Architektur der jeweili-gen Kulturen aufgreifen. Die gesamte moderne Infra-struktur wird unterirdisch gebaut, und über der Erdedann Einrichtungen für Studium, Forschung, Bil-dung: Universitäten, Museen, Theater, Opernhäuser,Bibliotheken. Am Rande der Städte kommen dannmoderne Industrieanlagen hinzu, inhärent sichereKernkraftwerke, die reichlich und billig Energie fürIndustrie und Landwirtschaft liefern, Bewässerungs-und ggf. Entsalzungsanlagen.

Mit der Infrastruktur käme wirtschaftliche Ent-wicklung, welche die unterentwickelten Gebiete ver-ändert. Man würde nicht nur die Rohstoffe ausbeu-ten, sondern Industrien ansiedeln, die die Rohstoffein Halbfertig- und Fertigprodukte veredeln. Dadurchwürden Lebensstandard und Lebenserwartung derdort lebenden Menschen steigen, die Gesundheitsver-sorgung wäre gesichert, und das Prinzip der amerika-nischen Verfassung „Recht auf Leben, Freiheit undStreben nach Glück“ würde auf alle diese Länderangewendet. Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wennalle Kinder eine gute Allgemeinbildung erhielten.

Glauben Sie nicht, daß, wenn sich das allgemeineKlima in dieser Art und Weise verändert, die terrori-stischen Banden, die jetzt marodieren und ein Landnach dem anderen destabilisieren, ihre Anhänger ver-lören? Daß die vereinte Macht von Amerika, Rußland,

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China und Indien ausreichen würde, diese Pest zubeseitigen? Was im Kaukasus, in Kaschmir, in Zentral-asien oder in Kolumbien geschieht, wäre nicht mög-lich, wenn es dort nicht 90 Prozent Arbeitslosigkeitgäbe. Wenn man dieses Problem beseitigt, würdeauch der Terrorismus verschwinden. Glauben Sienicht, daß die Menschen im Kosovo, in Albanien,Kolumbien oder dem Kongo lieber echte wirtschaftli-che Entwicklung hätten, als sich von Narkoterroristenund Waffenhändlern terrorisieren zu lassen?

Clinton muß die US-Politik ändern

Geschehen kann dies nur, wenn die Vereinigten Staa-ten die Führung übernehmen, wenn Präsident Clin-ton die amerikanische Politik ändert und Amerikasich für die Eurasische Landbrücke einsetzt. Unddabei spielen Sie eine entscheidende Rolle. Denn dazuwird es nur kommen, wenn LaRouches Präsident-schaftskampagne sich explosionsartig ausweitet. Siemüssen, wenn Sie von dieser Konferenz nach Hausegehen, die Überzeugung mitnehmen, daß die Misereso nicht weitergehen kann und Sie ein Werkzeug sind,um Amerikas Politik zu ändern. Nur wenn LaRoucheein bestimmender Faktor in der amerikanischen Poli-tik wird, werden diese Länder wieder Vertrauen fas-sen.

LaRouche wird in Rußland hochgeachtet. VonAnfang an hat er gewarnt, die Politik des IWF würdedas Land zerstören. Er brachte den Russen das Prinzipder physischen Ökonomie bei. Er hat ihnen ein Bünd-nis mit Amerika im Geiste von Franklin Roosevelt fürden Aufbau der Landbrücke vorgeschlagen. Diepatriotischen Russen wissen, daß LaRouche ihr wah-rer und ehrlicher Freund ist.

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In China ist LaRouche genauso hochrespektiert,weil er vor dem „Finanz-AIDS“ gewarnt hat. SeineWirtschaftstheorie ist weit verbreitet. Unsere Zusam-menarbeit mit Indien reicht schon lange zurück, biszu der Zeit, als wir Indira Gandhi den Vorschlag fürein 40jähriges Entwicklungsprogramm für Indienunterbreiteten.

In Indien hat gerade ein bemerkenswertes Ereignisstattgefunden. Als der damalige russische Ministerprä-sident Primakow im vergangenen Dezember nachNeu-Delhi reiste, hat er ein „strategisches Dreieck“Rußland-China-Indien vorgeschlagen. Damals rea-gierten die Chinesen etwas zurückhaltend, weil sie diestrategische Partnerschaft mit den USA nicht aufsSpiel setzen wollten. Aber nach dem Jugoslawienkriegund der Bombardierung der chinesischen Botschaft inBelgrad änderte sich das. Und kürzlich trafen nunProfessoren aus den drei Ländern zusammen undgründeten die „Dreiecks-Vereinigung“ als erstenSchritt zur Koordination der Arbeit der drei Länderauf verschiedenen Ebenen.

Diese Transasiatische Vereinigung hat LaRoucheoffiziell zu ihrem Berater ernannt.

Es ist eigentlich ganz leicht, den Schaden zu behe-ben und für die Vereinigten Staaten überall auf derWelt wieder Freunde zu gewinnen: Man muß nurdafür sorgen, daß LaRouche zur wichtigsten StimmeAmerikas wird, dann werden alle Länder Amerika lie-ben. Denn keines will Feindseligkeit. Die Völker wol-len Freunde sein, aber sie brauchen eine Vertrauens-basis. China hat erklärt, die Grundlage für eine guteBeziehung seien Vertrauen und gemeinsame Interes-sen. Es gibt viele gemeinsame Interessen, aber wiekönnen wir in dieser fortgeschrittenen Lage Vertrau-en schaffen?

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Wem vertraut man? Offensichtlich einem Men-schen oder einer Nation, den oder die man gut kennt.Bei einem guten Freund kennt man seine Gewohn-heiten, seinen Charakter, seine positiven Beiträge,aber auch seine Schwächen. Wenn man weiß, daßjemand bestimmte Gewohnheiten hat und immer beieinem bestimmten Punkt „ausrastet“, dann kannman auch damit leben: denn man weiß, daß das ebenso „seine Art“ ist. Man hat keine Angst vor ihm. Dasgleiche gilt für fremde Kulturen.

Es herrschen bereits ungeheure politische Wirbel-stürme überall auf der Welt, und dieser Hurrikan wirdin der kommenden Zeit an Stärke und Zerstörungs-kraft zunehmen. Sehr bald, im Augenblick des Finanz-krachs und anderer politischer Erdbeben, werden beiden Menschen in Amerika und rund um die Welt tief-gehende Umwälzungen vor sich gehen.

Die Menschen werden feststellen, daß das System,das sie für selbstverständlich und unveränderlichhielten, und alle mit diesem System verbundenenInstitutionen plötzlich einstürzen. In diesem Augen-blick der Umwälzung wird die Bevölkerung offendafür sein, tiefgehende Konzepte über ihre eigeneIdentität und die ihrer Nation aufzunehmen —Gedanken über die Ziele der Menschheit und dieBedeutung ihres eigenen Lebens.

Das wird der „fruchtbare Moment“ sein, wie MosesMendelssohn es nannte, der eine Rückkehr zum klas-sischen Denken auslösen kann, vorausgesetzt, einigeherausragende Individuen wirken als Lehrer.

Jeder muß in der eigenen Kultur nach den Höhe-punkten suchen, die nicht nur zur Größe der eigenenKultur beigetragen haben, sondern auch zur Univer-salgeschichte. Und wer sich auf diese Stufe erhebt,betrachtet auch den Rest der Welt mit den Augen sei-

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ner großen Vorgänger, um zu versuchen, die Höhe-punkte der anderen Kulturen zu verstehen.

Für Amerikaner heißt das, zu denken wie Benja-min Franklin, Alexander Hamilton, John QuincyAdams, Martin Luther King und Lyndon LaRouche.

Wenn Sie wie diese großen Menschen denken undsich dann mit deren Augen Hollywood und die heutevorherrschenden Ideen betrachten, dann werden Siemit Konfuzius übereinstimmen, der vor 2400 Jahrenin China lebte und damals sagte, die Welt habe denrechten Weg, den wu tao verloren. Und Sie werdenmit ihm übereinstimmen, daß die Welt dringend renbenötigt, Liebe und Güte — agape — statt Selbstsuchtund Materialismus.

Konfuzius sagt: „Meine Lehre enthält ein allumfas-sendes Prinzip, ren, und dessen Realisierung.“ Ren istder Wunsch, sich selbst zu entwickeln, um andere zuentwickeln. Die Liebe hat ihre Quelle in sich selbst. Esist eine geistige Kultivierung des eigenen Innern. Esist also sehr leicht zu verwirklichen. Sobald ich ren —Liebe — begehre, ist die Liebe da.

Nikolaus von Kues, Leibniz, Moses Mendelssohn,Schiller, Wilhelm von Humboldt stimmen alle über-ein, daß uns die bewußte Entscheidung zur Liebeaugenblicklich verändert. Man entscheidet voneinem Moment zum andern: „Ich werde aufhören,die Menschen zu hassen, und ich werde die Men-schen lieben.“

Konfuzius sagt: „Die Menschen brauchen ren drin-gender als Wasser und Feuer. Das Prinzip der Liebesollte auf die Regierenden ebenso angewandt werdenwie auf die Regierten. Und wenn die Edlen gegenüberihresgleichen aufrichtig sind, wird das Volk von Liebeinspiriert sein. Der Schlüssel ist nicht, Liebe zu besit-zen, sondern sie zu praktizieren.“

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Wir brauchen in der heutigen Weltlage herausra-gende Menschen — wie Sie hier in diesem Raum —,die entschlossen sind, die Geschichte zu verändern,weil sie von einer leidenschaftlichen Liebe zurMenschheit erfüllt sind, einer Liebe nicht nur zureigenen Kultur, sondern auch zur Größe anderer Kul-turen, und der Idee einer friedlichen internationalenVölkergemeinschaft.

Wenn in jedem Land eine solche große Renais-sance kommt, inspiriert durch große Lehrer unsererZeit, wird etwas geschehen, was es noch niemals gege-ben hat. Die besten Werke Indiens, des Sanskrit, derGupta-Periode, die großen Ideen von Denkern wieTilak und Mahatma Gandhi — die große Tradition derrussischen Kultur mit der Wissenschaftstradition vonMendelejew und der wunderbaren Poesie Puschkins— die spanische Kultur mit Goya und Cervantes —die Renaissance des 15. Jahrhunderts — die WeimarerKlassik — ich nenne diese nur als Beispiele für alleLänder: Wenn ein bewußter Austausch und Dialogzwischen diesen Ideen aus verschiedenen Kulturenstattfindet, kann ich schon jetzt eine Explosion derKreativität vorhersagen, eine Renaissance, schöner alsjede, die es bislang gegeben hat. Die Geschichte istvoller Beispiele dafür, daß Menschen in einemMoment der Krise und eines großen Schocks sich tief-gehenden Konzepten zuwenden möchten.

Die Perspektive eines neuen Bretton-Woods-Systems, das schon sehr bald realisiert werden muß,und einer gerechten neuen Weltwirtschaftsordnungmuß mit der Idee einer kulturellen Renaissance ver-bunden werden. Wenn große Lehrer im Geiste vonKonfuzius, Puschkin, Tilak und Schiller die Bevölke-rung erheben, und wenn der Austausch und Dialogzwischen diesen Ideen genauso ernst genommen wird

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wie die Produktion und der Handel mit realenGütern, dann wird daraus der „prägnante Moment“,der die schönste Renaissance gebiert.

Ich glaube mit Konfuzius, Platon, Leibniz undSchiller, daß der Mensch unbegrenzt vervollkomm-nungsfähig ist. Deshalb glaube ich auch nicht, daßdie Ming-Periode oder das frühe 19. Jahrhundert dieletzten Perioden waren, in denen Menschen außerge-wöhnliche Werke schaffen konnten. Ich bin mirgewiß, daß die Ära der Eurasischen Landbrücke derwahre Frühling der ganzen Menschheit sein wird.

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Geboren am 25. August1948 in Trier; nach dem

Abitur Ausbildung als Journali-stin in Hamburg und Hanno-ver. 1971 reiste sie als eine derersten europäischen Journali-sten nach dem Höhepunkt derKulturrevolution mehrere Mo-nate lang durch China. Nachihrer Rückkehr Studium an derFreien Universität Berlin (Poli-tische Wissenschaften, Geschichte und Philosophie),dann in Frankfurt/Main und Mainz.

Seit 1977 mit Lyndon LaRouche verheiratet; ge-meinsam mit ihm führten sie seitdem ihre politischenAktivitäten in viele Länder Asiens, Europas, Ibero-amerikas, Afrikas und durch fast alle Staaten der USA.Dabei Kooperation mit zahlreichen Politikern, u.a.Indira Gandhi (Indien) und López Portillo (Mexiko).

1974 Gründungsmitglied (und Bundesvorsitzende)der Europäischen Arbeiterpartei. 1982 Gründerin desClub of Life als Gegenpol zum Club of Rome. 1984Gründerin des Schiller-Instituts, Vereinigung fürStaatskunst e.V., mit dem Ziel der Errichtung einerneuen gerechten Weltwirtschaftsordnung und einer

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Wer ist Helga Zepp-LaRouche?

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weltweiten humanistischen Renaissance. Seit 1992Bundesvorsitzende der Bürgerrechtsbewegung Solida-rität.

1994 Mitverfasserin des Konzepts der EurasischenLandbrücke, demzufolge die rasch voranschreitendeWirtschaftsentwicklung entlang der „modernen Sei-denstraßen“ ein immenses Potential für die euro-asia-tische Zusammenarbeit im Bereich der produktivenWirtschaft eröffnet. Im Mai 1996 Rednerin auf einerKonferenz über „Wirtschaftliche Entwicklung derRegionen entlang der neuen Eurasischen Land-brücke“ in Beijing. Im Februar 1997 Verfasserin desAppells für die Schaffung eines Neuen Bretton Woods,der mittlerweile von Tausenden Persönlichkeitenweltweit mitgetragen wird. Im Frühjahr 1999 zusam-men mit Faris Nanic, dem ehem. Kabinettschef desbosnischen Präsidenten Izetbegovic, Initiatorin desAufrufs „Frieden durch Entwicklung für den Balkan“,in dem ein umfassender (Wieder-)Aufbau der Infra-struktur ganz Südosteuropas gefordert wird.

Umfangreiche Studien und Veröffentlichungenu.a. zu den Themen Friedrich Schiller, Deutsche Klas-sik, Humanistische Tradition der Universalgeschichte,Nikolaus von Kues, Leibniz, Lessing, Moses Mendels-sohn, Konfuzianische Tradition. Gerade die Beschäfti-gung mit Schillers Gesamtwerk ist ein Leitfaden inHelga Zepp-LaRouches Reden und Schriften.

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