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Autoren: Wagner, Hans- Ulrich / Hörburger, Christian.
Titel: Hören hat seinen Preis. Eine Chronik der Preisträger.
Quelle: Bund der Kriegsblinden Deutschlands/Filmstiftung Nordrhein- Westfalen
(Hrsg.): HörWelten. 50 Jahre Hörspielpreis der Kriegsblinden. Berlin 2001. S. 89-
190.
Verlag: Aufbau Verlag.
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autoren.
Christ ian Hörburger / Hans- Ulrich Wagner
Hören hat seinen Preis – Eine Chronik der Preisträger
Inhaltsverzeichnis1952. DARFST DU DIE STUNDE RUFEN?..............................................................................................................6
ERWIN WICKERT..................................................................................................................................................................6
Undiplomatischer Diplomat und Schriftsteller ..............................................................................................6
Darfst Du die Stunde rufen? ...............................................................................................................................7
1953. DIE ANDERE UND ICH.....................................................................................................................................8
GÜNTER EICH.....................................................................................................................................................................8
Das »Eich- Maß« und sein Preis..........................................................................................................................8
Die Andere und ich .............................................................................................................................................10
1954. NACHTSTREIFE...............................................................................................................................................11
HEINZ OSKAR WUTTIG.....................................................................................................................................................11
Alltagsgeschichten ..............................................................................................................................................12
Nachtstreife ...........................................................................................................................................................13
1955. PRINZESSIN TURANDOT.............................................................................................................................13
WOLFGANG HILDESHEIMER.................................................................................................................................................13
Der Skeptiker ........................................................................................................................................................14
Prinzessin Turandot ............................................................................................................................................15
1956. PHILEMON UND BAUCIS..............................................................................................................................15
LEOPOLD AHLSEN..............................................................................................................................................................15
Medientransfer .....................................................................................................................................................16
Philemon und Baucis..........................................................................................................................................16
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1957. DIE PANNE.........................................................................................................................................................17
FRIEDRICH DÜRRENMATT...................................................................................................................................................17
Schuld und Verhängnis .....................................................................................................................................17
Die Panne ...............................................................................................................................................................18
1958. DIE VERSUCHUNG..........................................................................................................................................19
BENNO MEYER- WEHLACK.................................................................................................................................................19
Humanität bewahren .........................................................................................................................................19
Die Versuchung ....................................................................................................................................................21
1959. DER GUTE GOTT VON MANHATTEN.....................................................................................................21
INGEBORG BACHMANN.......................................................................................................................................................21
Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar .................................................................................................21
Der gute Gott von Manhatten ..........................................................................................................................23
1960. AUF EINEM MAULWURFSHÜGEL..............................................................................................................23
FRANZ HIESEL..................................................................................................................................................................23
Archivar, Sammler und Poet...........................................................................................................................24
Auf einem Maulwurfshügel ..............................................................................................................................24
1961. DER MINOTAURUS.........................................................................................................................................25
DIETER WELLERSHOFF........................................................................................................................................................25
Nähe und Entfremdung .....................................................................................................................................25
Der Minotaurus ....................................................................................................................................................27
1962. TOTENTANZ.....................................................................................................................................................27
WOLFGANG WEYRAUCH.....................................................................................................................................................27
Alle Figuren sind Stimmen ................................................................................................................................27
Totentanz ...............................................................................................................................................................29
1963. GEH DAVID HELFEN......................................................................................................................................29
HANS KASPER..................................................................................................................................................................29
Ernster Spaßvogel ................................................................................................................................................29
Geh David helfen .................................................................................................................................................30
1964. DER BUSSARD ÜBER UNS............................................................................................................................31
MARGARETE JEHN.............................................................................................................................................................31
Die Außenseiterin ................................................................................................................................................31
Der Bussard über uns .........................................................................................................................................32
1965. NACHTPROGRAMM.......................................................................................................................................32
RICHARD HEY..................................................................................................................................................................32
Wachhund und Narr ..........................................................................................................................................33
Nachtprogra m m ..................................................................................................................................................34
1966. MISERERE...........................................................................................................................................................35
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PETER HIRCHE..................................................................................................................................................................35
Im Schatten des Wirtschaftswunders .............................................................................................................35
Miserere ..................................................................................................................................................................36
1967. ZWIELICHT........................................................................................................................................................36
ROLF SCHNEIDER...............................................................................................................................................................36
Irritation auf dem diplomatischen Parkett ..................................................................................................36
Zwielicht .................................................................................................................................................................37
1968. DAS AQUARIUM..............................................................................................................................................38
CHRISTA REINIG...............................................................................................................................................................38
Dialog als Handlung ...........................................................................................................................................38
Das Aquarium ......................................................................................................................................................39
1969. FÜNF MANN MENSCHEN.............................................................................................................................40
ERNST JANDL/F RIEDERIKE MAYRÖCKER..............................................................................................................................40
Der Meilenstein .....................................................................................................................................................40
Fünf Mann Menschen .........................................................................................................................................41
1970. PAUL ODER DIE ZERSTÖRUNG EINES HÖRBEISPIELS.......................................................................41
WOLF WONDRATSCHEK.....................................................................................................................................................41
Opposition ..............................................................................................................................................................42
Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels................................................................................................42
1971. ZWEI ODER DREI PORTRÄTS.....................................................................................................................43
HELMUT HEISSENBÜTTEL....................................................................................................................................................43
Alles ist möglich, alles ist erlaubt ....................................................................................................................43
Zwei oder drei Porträts ......................................................................................................................................44
1972. PREISLIED..........................................................................................................................................................45
PAUL WÜHR.....................................................................................................................................................................45
Das Falsche ............................................................................................................................................................45
Preislied ..................................................................................................................................................................46
1973. DER TOD MEINES VATERS..........................................................................................................................47
HANS NOEVER..................................................................................................................................................................47
Dekonstruktion .....................................................................................................................................................47
Der Tod meines Vaters. Originalton - Projekt ...............................................................................................48
1974. DAS GROSSE IDENTIFIKATIONSSPIEL....................................................................................................49
ALFRED BEHRENS..............................................................................................................................................................49
Atmende Leichen im Mediendschungel .........................................................................................................49
Das große Identifikationsspiel ..........................................................................................................................50
1975. GOLDBERG- VARIATIONEN........................................................................................................................51
DIETER KÜHN...................................................................................................................................................................51
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Hörspiel- Variationen ..........................................................................................................................................51
Goldberg - Variationen ........................................................................................................................................52
1976. CENTROPOLIS..................................................................................................................................................53
WALTER ADLER................................................................................................................................................................53
Vom Kunstkopf – zum Kunsthörspiel.............................................................................................................53
Centropolis .............................................................................................................................................................54
1977. FERNSEHABEND..............................................................................................................................................54
URS WIDMER....................................................................................................................................................................54
Deutschland vor der Glotze ..............................................................................................................................54
Fernsehabend .......................................................................................................................................................55
1978. VOR DEM ERSTICKEN EIN SCHREI...........................................................................................................56
CHRISTOPH BUGGERT........................................................................................................................................................56
Zwei Gesichter eines Hörspielers.....................................................................................................................56
Vor dem Ersticken ein Schrei............................................................................................................................57
1979. FRÜHSTÜCKSGESPRÄCHE IN MIAMI......................................................................................................58
REINHARD LETTAU............................................................................................................................................................58
Literatur und Politik ...........................................................................................................................................58
Frühstücksgespräche in Miami ........................................................................................................................59
1980. DER TRIBUN.....................................................................................................................................................59
MAURICIO KAGEL.............................................................................................................................................................59
Wider Diktatoren und Verführer ....................................................................................................................60
Der Tribun .............................................................................................................................................................60
1981. MOIN VADDR LÄBT.......................................................................................................................................61
WALTER KEMPOWSKI.........................................................................................................................................................61
Deutsche Familiengeschichte ...........................................................................................................................61
Moin Vaddr läbt. A Ballahd inne Munnohrd kinstlich med Mosseg unde Jesann von Wullar
Kinnpusku ..............................................................................................................................................................62
1982. HELL GENUG - UND TROTZDEM STOCKFINSTER.............................................................................63
PETER STEINBACH.............................................................................................................................................................63
Hörspiel- Kino.......................................................................................................................................................63
Hell genug – und trotzdem stockfinster ........................................................................................................64
1983. DIE BRAUTSCHAU DES DICHTERS ROBERT WALSER IM HOF DER ANSTALTSWÄSCHEREI
VON BELLELAY............................................................................................................................................................65
GERT HOFMANN...............................................................................................................................................................65
Schauplatz Menschenkopf ................................................................................................................................65
Die Brautschau des Dichters Robert Walser im Hof der Anstaltswäscherei von Bellelay, Kanton
Bern .........................................................................................................................................................................66
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1984. WALD. EIN DEUTSCHES REQUIEM............................................................................................................67
GERHARD RÜHM...............................................................................................................................................................67
Poetische Konstruktionen ..................................................................................................................................67
Wald. Ein deutsches Requiem ..........................................................................................................................68
1985. NACHTSCHATTEN.........................................................................................................................................69
FRIEDERIKE ROTH.............................................................................................................................................................69
Poetische Imaginationen ...................................................................................................................................69
Nachtschatten ......................................................................................................................................................70
1986. DIE BEFREIUNG DES PROMETHEUS. HÖRSTÜCK IN NEUN BILDERN..........................................70
HEINER MÜLLER/ HEINER GOEBBELS..................................................................................................................................70
Text als Landschaf t .............................................................................................................................................71
Heiner Goebbels: Die Befreiung des Prometheus. Hörstück in neun Bildern. Nach einem Text von
Heiner Müller........................................................................................................................................................72
1987. DREI MÄNNER IM FELD................................................................................................................................73
LUDWIG HARIG.................................................................................................................................................................73
Sprachsteller .........................................................................................................................................................73
Drei Männer im Feld...........................................................................................................................................75
1988. LEBEN UND TOD DES KORNETTISTEN BIX BEIDERBECKE AUS NORD- AMERIKA. EINE
RADIO- BALLADE........................................................................................................................................................75
ROR WOLF.......................................................................................................................................................................75
Fußballphäno menologe und Radiokünstler .................................................................................................75
Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nord- Amerika. Eine Radio- Ballade..........76
1989. WER SIE SIND....................................................................................................................................................77
PETER JACOBI...................................................................................................................................................................77
Lauschangriffe .....................................................................................................................................................77
Wer Sie sind ...........................................................................................................................................................78
1990. EIN NEBULO BIST DU....................................................................................................................................79
JENS SPARSCHUH...............................................................................................................................................................79
Anspielungsreich .................................................................................................................................................79
Ein Nebulo bist du ...............................................................................................................................................80
1991. STILLE HELDEN SIEGEN SELTEN...............................................................................................................80
KARL- HEINZ SCHMIDT- LAUZEMIS/R ALPH OEHME..............................................................................................................80
Wir sind das Volk.................................................................................................................................................81
Stille Helden siegen selten .................................................................................................................................82
1992. DIE SEHR MERKWÜRDIGEN JAZZABENTEUER DES HERRN LEHMANN.....................................82
HORST GIESE....................................................................................................................................................................82
Der Preis.................................................................................................................................................................82
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Die sehr merkwürdigen Jazzabenteuer des Herrn Lehmann. Ein Jazz - Hörspiel............................83
1993. SENSE...................................................................................................................................................................84
WERNER FRITSCH..............................................................................................................................................................84
Verstörend: Der Bodensatz der Gesellschaft ................................................................................................84
Sense ........................................................................................................................................................................85
1994. UNSER BOOT NACH BIR OULD BRINI.....................................................................................................86
CHRISTIAN GEISSLER..........................................................................................................................................................86
Utopia in der Wüste .............................................................................................................................................86
Unser Boot nach Bir Ould Brini.......................................................................................................................87
1995. APOCALYPSE LIVE.........................................................................................................................................88
ANDREAS AMMER/FM EINHEIT, D. I. FRANK MARTIN STRAUSS...........................................................................................88
Große Form ...........................................................................................................................................................88
Apocalypse live. Ein Hörspiel in 22 Gesängen .............................................................................................90
1996. FRAUENTAGS ENDE ODER DIE RÜCKKEHR NACH UBLIADUH....................................................91
FRITZ RUDOLF FRIES.........................................................................................................................................................91
Geschichte und Geschichten .............................................................................................................................91
Frauentags Ende oder Die Rückkehr nach Ubliaduh ...............................................................................92
1997. COMPAGNONS UND CONCURRENTEN ODER DIE WAHREN KÜNSTE.......................................93
INGOMAR VON KIESERITZKY................................................................................................................................................93
Humor und Komik ...............................................................................................................................................93
Compagnons und Coneurrenten oder Die wahren Künste .....................................................................94
1998. DIE GRAUE STAUBIGE STRASSE...............................................................................................................95
ILONA JEISMANN/P ETER AVAR...........................................................................................................................................95
Sound - Engineering .............................................................................................................................................95
Die graue staubige Straße ................................................................................................................................96
1999. RAFAEL SANCHEZ ERZÄHLT: SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD.....................................................97
EBERHARD PETSCHINKA/R AFAEL SANCHEZ..........................................................................................................................97
Hörspielkino ..........................................................................................................................................................97
Rafael Sanchez erzählt: Spiel mir das Lied vom Tod...............................................................................98
2000. UNTER DEM GRAS DARÜBER....................................................................................................................99
INGE KURTZ/J ÜRGEN GEERS..............................................................................................................................................99
Radiotag .................................................................................................................................................................99
Unter dem Gras darüber. Erinnerungen an 100 Jahre Deutschland ................................................101
2001. PITCHER..........................................................................................................................................................101
WALTER FILZ.................................................................................................................................................................101
Auf Stimmenfa ng ..............................................................................................................................................101
Pitcher ..................................................................................................................................................................102
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STATUT DES HÖRSPIELPREISES DER KRIEGSBLINDEN.............................................................................103
1952. Darfst Du die Stunde rufen?
Erwin Wickert
* 7.1.1915 Bralitz bei Freienwalde/Mark Brandenburg
Undiplomatischer Diplomat und Schriftsteller
»Er verkörpert den undiplomatischen Diplomaten« – so der Fernsehjournalist
Ulrich Wickert über seinen Vater – »und auch als Schriftsteller entspricht er nicht
der Norm. Denn er sitzt nicht im Elfenbeinturm, schreibt nicht über seinen Nabel,
sondern über Zeitmaschinen, die Macht oder Revolutionen.«
Erwin Wickert studierte zunächst in Heidelberg und Berlin Philosophie und
Kunstgeschichte, danach Volkswirtschaft und Politische Wissenschaften in den
USA. Während des Zweiten Weltkrieges arbeitete er in Shanghai und Tokio im
deutschen diplomatischen Korps und begann ab 1947 seine schriftstellerische
Laufbahn. Von 1955 bis 1980 war Wickert erneut in diplomatischen Diensten in
London, Bukarest und Peking.
Der junge Autor sah im Hörspiel eine der ganz wichtigen Ausdrucksformen der
Nachkriegszeit. Sein hörspieltheoretischer Aufsatz »Die innere Bühne«, 1954
erstmals in der Zeitschrift »Akzente« veröffentlicht, gehört noch immer zu den
fundiertesten Beschreibungen der radiophonen Kunstgattung und ihren
Möglichkeiten, Raum und Zeit beliebig zu verschränken.
Mit seinen Hörspielen, darunter »Alkestis« (SDR 1951), »Der Klassenaufsatz« (SWF
1954), »Cäsar und Phönix« (SWF 1956), »Robinson und seine Gäste« (NDR/BR
1960) und »Der Kaiser und der Großhistoriker« (NDR/SR/SWF 1987), will Wickert
Fragen stellen und sittliche Konflikte vor den Hörern ausbreiten.
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In seinem preisgekrönten Hörspiel »Darfst Du die Stunde rufen?« schildert er den
Gewissenskampf einer von einer unheilbaren Krankheit heimgesuchten Frau: Darf
sie ihren Tod selbst bestimmen? Nach inneren Konflikten entscheidet sie sich,
das Leiden bis zum würdevollen Ende auf dem Krankenlager zu ertragen.
Wickerts preisgekröntes Hörspiel stand bei der Jurysitzung im Frankfurter
Funkhaus in direkter Konkurrenz zu Günter Eichs »Träume«, das zu einem der
wichtigsten Hörspiele avancierte. Wickert griff die öffentliche Diskussion in seiner
Dankesrede bei der Preisverleihung indirekt auf, als er sagte: »Wenn Sie trotzdem
dem Hörspiel »Darfst Du die Stunde rufen?« den Preis zuerkannten, so ist das
wohl nur so zu erklären, daß außer ästhetischen und formalen Gründen noch
andere Ausschlag gaben. Das Entscheidende war für Sie vielleicht nicht allein die
dramaturgische Durchführung, eine Glätte oder Eleganz der künstlerischen
Lösung, sondern die Wirkung auf den Hörer, auf den Menschen.«
Darfst Du die Stunde rufen?
Produktion: SDR 1951
Mitwirkende: Elisabeth Höbarth (Christine Ellermann); Walter Andreas Schwarz(Bertram Ellermann, ihr Mann); Alfred Hansen (Professor Dr. Glaser); JohannesSchütz (Hildebrand, Oberarzt einer Klinik); Hertha Fuchs (Krankenschwester);Franz Rücker (Bender, Patient); Armas Sten Fühler (Hans Egon, FreundEllermanns); Hans Rewendt (Wärter); Gertrud Wächterhäuser (Exaltierte Dame);Anneliese Miltenberger (2. Dame); Erich Krempin (1. Herr); Edgar Bamberger (2.Herr)
Musik: Hans Vogt
Regie: Walter Knaus
Dauer: 56'05
Ursendung: SDR, 4.4.1951
»Das Preisgericht hatte die Aufgabe, die im Jahre 1951 gesendeten Hörspielenicht nur nach ihrer künstler ischen Quali tät, sondern zugleich auch nach dem
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Maß ihrer menschlich gewinnreichen Aussage zu prüfen. Die Wahl fiel nacheingehendem Abwägen auf Erwin Wickert ›Darfst Du die Stunde rufen?‹, weil hierebenso mutig wie verantwortungsvol l ein menschliches Problem unserer Zeitaufgegri f fen wird, nämlich die Bewältigung des Leidens und Sterbens. Dabei kannes nach Meinung des Preisgerichts nicht Aufgabe des Hörspiels sein, endgült igeAntworten zu geben, sondern es soll Anlaß zum Nachdenken und zur Besinnungbieten. Diese Aufgabe erfül l t Wickerts Hörspiel in einer besonders glückl ichenund dem Rundfunk gemäßen Weise, auch wenn die dramaturgische Gestaltungnoch einzelne Wünsche offenläßt.« (Aus der Jurybegründung zum 1. Hörspielpreisder Kriegsblinden)
chh
1953. Die Andere und ich.
Günter Eich
* 1. 2. 1907 Lebus an der Oder
† 20.12.1972 Salzburg
Das »Eich- Maß« und sein Preis
Eigentlich ist er Lyriker – Günter Eich, mit über 200 Hörspielen und Hörfolgen
einer der wahrscheinlich produktivsten Rundfunkautoren in Deutschland. Als
junger Student in Berlin verknüpften sich seine literarischen Anfänge mit der in
Dresden erscheinenden Literaturzeitschrift »Die Kolonne«. Doch der Traum vom
Lyriker endete jäh. »Meine schriftstellerische Tätigkeit dient seit Anfang 1933 fast
ausschließlich dem Rundfunk«, bilanzierte Günter Eich im Dritten Reich. In der
Phase des politischen Umbruchs 1932/33 gelang ihm die Karriere als
Rundfunkautor. Mehr als 100 Arbeiten entstanden allein für den von den
Nationalsozialisten kontroll ierten Rundfunk. In fast schizophrener Weise
entledigte sich Eich seiner immer wieder neu eingegangenen Verpflichtungen. Er
litt darunter, aber eine Krise fand nicht statt. Nur gelegentlich genügte ein
sarkastisches Auf- Distanz- Gehen, ein süffisantes Sich- Mokieren, aber der Bruch
mit dem Medienbetrieb wurde gescheut.
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Am Ende des Zweiten Weltkrieges, den er als Soldat von 1940 an miterlebte,
stand für kurze Zeit der Versuch, diesem Dilemma zu entkommen. Doch die
wirtschaftlichen Probleme Eichs waren bedrückend. Schon bald ergaben sich erste
Kontakte zum Rundfunk, und der versierte Rundfunkautor ging neue Bindungen
ein. Zu Beginn der 50er Jahre hatte Eich in der föderalistisch strukturierten
Rundfunklandschaft Westdeutschlands Fuß gefasst. Das Wort vom »Eich«- Maß in
puncto Hörspiel machte bald seine Runde.
»Ich hoffe, mich mit Hilfe der Rundfunkarbei t im Laufe des Jahres aus demfinanziel len Abgrund emporzuarbei ten.« (Günter Eich an Alfred Andersch, 24. 5.1950)
Am 3. März 1953 erhielt Günter Eich für »Die Andere und ich« den »Hörspielpreis
der Kriegsblinden« überreicht. Er stand auf dem Höhepunkt seiner
Rundfunkarbeit in der Nachkriegszeit. Bald schon häuften sich die Aufträge, die
Verpflichtungen gegenüber den einzelnen ARD- Rundfunkanstalten nahmen zu.
»Die Andere und ich« verdankte seine Entstehung einer solchen vertraglichen
Bindung des Autors an eine der neuen Hörspieldramaturgien. 1951 hatte Gerhard
Prager (1920- 1975) den ehemaligen »Hörspiel- Pionier« mit einem Jahresvertrag
an den Stuttgarter Sender gebunden; die Verpflichtung des Autors umfasste vier
Hörspielarbeiten und drei Hörfolgen. »Die Andere und ich«, im November 1951
geschrieben, bildete – nach »Sabeth oder Die Gäste im schwarzen Rock«, »Fis mit
Obertönen« und »Verweile, Wanderer« – die letzte der vertraglich zugesicherten
Hörspielarbeiten.
Die Jury hatte sich am 10. Februar 1953 in Mainz mit zehn von zwölf Stimmen für
das Hörspiel entschieden, »weil es mit einer ungewöhnlichen Beherrschung
rundfunkgemäßer Mittel eine wahrhaft dichterische Aussage verbindet; das Leid
des anderen ist dein Leid, er trägt es für dich.« (Pressemeldung)
»Eine Amerikanerin, die Italien bereist, fährt in einem kleinen trost losen undarmen Ort an einer alten Frau vorüber, deren Blick ihr im Gedächtnis bleibt. Alssie später nach dieser Frau sucht, durchkreuzen und verbinden sich ihr Lebenund das Leben der Fremden; Ellen aus Washington und Camilla in Comacchio sindwie zwei Hälften der gleichen Existenz. Der einen ist davon alles Helle, der anderndie Dunkelhei t zuteil geworden. Ellen ist dem Menschen begegnet, der ihre Bürde,ihr Leiden, ihre Armut stellvert retend übernommen hat, – eine Begegnung, die es
10
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ihr von nun an unmöglich macht, Glück ohne Schuldgefühl hinzunehmen. Einesolche Begegnung gibt es freil ich nur im Märchen, und als ein modernes Märchen,nicht etwa als ein Fall von Seelenwanderung und Okkult ismus, sollte diesesHörspiel gehört werden.« (Pressetext des Bayerischen Rundfunks für eineWiederholungssendung; nach einem Entwurf von Günter Eich vom 31. Juli 1960)
Die Andere und ich
Produktion: SDR Stuttgart 1952
Mitwirkende: Edith Heerdegen (Ellen/Camilla); Harald Baender (lohn); HansGünther Gromball (Bob); Ingeborg Engelmann (Lissy); Erich Ponto (Der Vater); ElsaPfeiffer (Die Mutter); Hans Mahnke (Giovanni); Gerd Fürstenau (Carlo); RolfSchimpf (Antonio); Horst Zeller (Antonio als Kind); Maria Wiecke (Eine Tante);Christa Hoffmann (Filomena); Peter Höfer (Ein Herr)
Musik: Rolf Unkel
Regie: Cläre Schimmel
Dauer: 69'00
Ursendung: SDR 1, 3.2.1952
Produktion: NWDR Hamburg 1952
Mitwirkende: Gisela von Collande (Ellen); Hilde Krahl (Camilla); Eduard Marks(Giovanni); Wolfgang Wahl (Carlo); Herbert A. E. Böhme (Vater); Martina Otto(Mutter); Hardy Krüger (Antonio); Hubert Fichte (Umberto); Charlotte Joeres(Lidia); Inge Windschild (Filomena); Hans Paetsch (lohn); Manfred Lotsch (Bob);Ingrid Andree (Lissy)
Musik: Johannes Aschenbrenner
Regie: Gustav Burmester
Dauer: 78'00
Ursendung: NWDR 2 Nord, 6.2.1952
11
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Das Hörspiel »Die Andere und ich« wurde – in der damaligen Hörspielpraxis nicht
unüblich – parallel vom NWDR in Hamburg und vom SDR in Stuttgart inszeniert;
beide Einspielungen lagen der Jury vor. Der unterschiedliche Regieansatz ergab
sich aus der Frage, ob Camilla und Ellen mit einer oder zwei Sprecherinnen zu
besetzen sei.
huw
Friedrich Wilhelm Hymmen, Initiator des
Hörspielpreises der Kriegsblinden und
Vorsitzender der Jury von 1951- 1995
1954. Nachtstreife.
Heinz Oskar Wuttig
* 19.7.1907 Berlin
† 12. 3. 1984 Berlin
12
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Alltagsgeschichten
Sein Name wird heute kaum mehr mit seinen Hörspielerfolgen verbunden: Heinz
Oskar Wuttig ist bekannt als Drehbuchautor der unterhaltenden TV- Serien »Alle
meine Tiere«, »Der Forellenhof«, »Salto Mortale«, »MS Franziska« und »Drei
Damen vom Grill«. »Die Popularität seiner Tele- Familien erklärt sich aus der
Wirklichkeitsnähe ihrer Probleme, Sorgen und Späße«, urteilte man unter der
Überschrift: »Heinz Oskar Wuttig schreibt TV- Serien wie am Fließband. Der Mann,
der populäre Fernsehfamilien produziert« (Die Welt, 2.1.1978).
Dabei erprobte Wuttig auch andere Medien. Als Student gehörte er in Berlin zu
einer Gruppe »junger« Literaten, die sich um den Verleger Viktor Otto Stomps
sammelte und zu denen auch Günter Eich und Peter Huchel zählten. Mit ihnen
teilte er am Ende der Weimarer Republik die Suche nach Arbeit, so dass
Tätigkeiten als Nachtwächter, Kellner, Verkehrsflieger, Buchhändler, Hilfspolizist
und Maurer ebenso zu seiner Biographie gehören wie der Versuch, als Literat und
Journalist ein Auskommen zu finden. Schon bald kam Wuttig auch mit dem
Rundfunk in Kontakt.
Als Soldat geriet Wuttig in sowjetische Gefangenschaft, aus der er erst 1950 nach
Berlin zurückkehrte. Das radiophone Schreiben, das packende und anrührende
Erzählen hatte er nicht verlernt. Mit der aufpeitschenden, gegen die Sowjetunion
gerichteten doku- fiktionalen »Hörfolge« »Ich komme aus Stalingrad« meldete er
sich zurück. Doch dem Hörspiel als politischer Waffe folgten bald andere Stücke.
Mit »Asternplatz« (RIAS 1952), »Großer Ring mit Außenschleife« (HR/SDR 1954),
»Der Mann aus den Wäldern« (NWDR 1954 und SDR 1954) und »Nachtstreife«
(RIAS 1953) entstand sein Image, »eine Art Großmeister des Liebenswürdig-
Kleinen, der genrehaft populären Bürgerlichkeit« (Oliver Storz) zu sein. Denn
heiter und rührselig agieren seine »Helden«: Franz Lehmhuhn, stolzer
Familienvater und einst glücklicher Straßenbahnfahrer, holt seinen Wagen eines
Nachts aus dem Depot (»Großer Ring mit Außenschleife«); nachdenklich werden
die gute alte Zeit und die moderne Industriegesellschaft einander
gegenübergestellt (»Der Mann aus den Wäldern«); kleine menschliche Schwächen,
13
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sympathische Hoffnungen und bald behobene Ängste liegen eng beieinander
(»Nachtstreife«).
Wuttigs Hörspiele sind Milieustudien und Alltagsgeschichten, die weniger einer
komplexen psychologischen Motivation folgen als vielmehr einer typologischen
Gegenüberstellung. In den 50er Jahren nehmen sie einen festen Platz im
Hörspielrepertoire ein.
Nachtstreife
Produktion: RIAS 1953
Mitwirkende: Jochen Brockmann (Franke); Reinhold Bernt (Müller); EduardWandrey (Fenske); Hugo Kalthoff (Strehlow); Horst Niendorf (Schäfer); GudrunGenest (Hilde Schäfer); Ruth Schwinning- Thomas (Lucile); Ralf Lothar (Renè);Klaus Schwarzkopf (Léon); Herbert Weissbach (Lange); Albert Johannes(Apotheker); Marianne Dohm- Franke (Fräulein Weber); Clemens Hasse (Korte);Max Grothusen (Dicker Herr); Walter Bluhm (Bildhauer); Ursula Diestel (Elli); AlfredBalthoff (Dr. Altkirch); Günter Pfitzmann (Otto); Alice Engel (Frau Dr. Altkirch);Eduard Wenck (Krüger) u. a.
Regie: Peter Thomas
Dauer: 66'45
Ursendung: RIAS 1, 28.1.1953
»Daß ich persönlich mit Bedacht bei meiner Arbeit Themen aus dem Alltagunserer Gegenwart bevorzuge (..), das liegt einfach daran, daß ich meine Aufgabeals Schrif tstel ler und Rundfunkautor darin sehe, den Versuch zu machen, mit demMedium des Hörspiels mitzuhelfen, brennende Fragen unserer Gegenwart hierund da ein wenig zu entwir ren (...).« (Heinz Oskar Wuttig bei der Preisverleihungam 27. April 1954)
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1955. Prinzessin Turandot.
Wolfgang Hildesheimer
* 9.12.1916 Hamburg
† 21. 8. 1991 Poschiavo/Schweiz
Der Skeptiker
Günter Sawatzki beschrieb 1954 die vielfältige und bunte Hörspiellandschaft mit
dem Hinweis: »Böll z. B. ist mit unerschütterlicher Demut bereit, die
Geistesfreiheit asketischer Armut zu preisen; seine Unbürgerlichkeit richtet sich
gegen falsche Autorität, und es ist nicht seine Schuld allein, wenn diese
Frömmigkeit manchmal als verhaltene Aufsässigkeit wirkt. Hildesheimer feiert
den Sieg des Außenseiters, des Hochstaplers über dumme Legitime: Könige,
Gesellschaftslöwen, Sachverständige.« Der Hamburger Hörspieldramaturg hatte
damit das Thema von »Prinzessin Turandot« angeschlagen, ein Hörspiel, das
Hildesheimer in der Dramenfassung von 1955 nochmals entscheidend zuspitzte
und des wankelmütigen Happy- Ends entkleidete. Das Hörspiel ließ eine Hochzeit
mit dem trügerischen Prinzen von Astrachan immerhin für möglich erscheinen,
während das Drama (radikaler, ja pessimistischer) Heirat und Kaiserwürde
ausschließt.
Wolfgang Hildesheimer, der gebürtige Hamburger, besuchte von 1929 bis 1933
die Odenwaldschule, nach dem Aufflammen des Naziterrors wanderte er nach
Palästina aus. In Jerusalem erlernte er das Tischlerhandwerk und studierte in
London Bühnenbild, Malerei und Textil. Von 1943 bis 1946 war er beim Public
Information Office der britischen Regierung in Jerusalem tätig und arbeitete
danach bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen als Simultandolmetscher.
Hildesheimers erste Erzählung »Der Kammerjäger« erschien 1950 in der
»Süddeutschen Zeitung«, gefolgt von dem Roman »Paradies der falschen Vögel«
sowie dem Hörspiel »Das Ende kommt nie« (NWDR 1952). Bald zählte Wolfgang
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Hildesheimer zu den produktivsten Dramatikern (»Der Drachenthron«, 1955;
»Nachtstück«, 1963; »Der Lauf der Welt«, 1985) und war einer der wichtigsten
Hörspielautoren der fünfziger und sechziger Jahre. Vor allem prägte er das
»dialogische Worthörspiel«, jene Hörspielkunst also, die aus der Schule des
Theaters kommend, auf den Disput der Meinungen und Überzeugungen setzen
durfte; überzeugende Hör- Beispiele hierfür: »Begegnungen im Balkanexpress«
(NWDR 1953) und »Die Bartschedel- Idee« (NDR/BR 1957).
Bei der Preisverleihung am 22. März 1955 gab Hildesheimer seinen jüngeren
Kollegen folgenden Rat: »Es empfiehlt sich für den Autor, seine Dialoge mehrmals
laut vorzusprechen. Denn es gilt, während der Arbeit die existierende Sprache
einer ständigen und eingehenden Prüfung zu unterziehen. Die Sprache nutzt sich
ab; was gestern noch echt und richtig geklungen haben mag, das klingt heute
durch Gebrauch – meist Mißbrauch abgenutzt und hohl.«
Prinzessin Turandot
Produktion: NWDR 1954
Mitwirkende: Dagmar Altrichter (Turandot); Trudik Daniel (Sklavin Liang);Anneliese Römer (Sklavin Prina); Eduard Marks (Kaiser von China); Will Quadflieg(der falsche Prinz von Astrachan); Robert Meyn (Kanzler Hü); Helmut Peine(Zeremonienmeister); Jochen Meyn (echter Prinz von Astrachan)
Musik: Johannes Aschenbrenner
Regie: Gert Westphal
Dauer: 62'30
Ursendung: NWDR, 29.1.1954
Eine zweite Fassung mit einem veränderten Schluss strahlte der SDR unter der
Regie von Otto Kurth am 10.10.1954 aus, prämiert wurde jedoch die Hamburger
Produktion und deren Textgrundlage.
»In dieser spannungsreichen und beschwingten Komödie werden Macht undFreiheit miteinander konfront iert. Der Energie der szenischen Entwicklung
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entspricht eine geistvol l sprühende Wortkunst. Das Stück gehört zu dendichterischen Hörspielen unserer Zeit.« (Aus der Begründung der Jury desHörspielpreises der Kriegsblinden)
chh
1956. Philemon und Baucis.
Leopold Ahlsen
* 12.1.1927 München
Medientransfer
Zwei Jahre lang war Leopold Ahlsen Soldat, bevor er nach dem Ende des Krieges
Theaterwissenschaften und Germanistik studieren und eine Schauspielausbildung
absolvieren konnte. Von 1947 bis 1949 arbeitete er an verschiedenen Bühnen als
Schauspieler und Regisseur und war danach bis 1960 als Lektor für die
Hörspieldramaturgie des Bayerischen Rundfunks tätig. Mit seinen Erfolgen als
Hörfunk- , Fernseh- und Bühnenautor machte er sich selbständig.
Ahlsens preisgekröntes Hörspiel »Philemon und Baucis« ist das Beispiel für einen
geglückten Medientransfer: Nach den Rundfunkaufnahmen 1955 präsentierten
die Münchner Kammerspiele eine Bühnenadaption und noch im selben Jahr fand
das Werk unter der Regie von Werner Völker den Weg in die deutschen
Fernsehstuben.
Zu Leopold Ahlsens bemerkenswerter Erfolgsstory als Autor gehören die
Hörspiele »Die Zeit und der Herr Adular Lehmann« (BR 1951), »Die Ballade vom
halben Jahrhundert« (BR 1956), »Tod eines Königs« (BR 1964), »Fettaugen« (BR
1969) und »Denkzettel« (BR 1970) sowie vor allem in späteren Jahren die
Fernsehproduktionen »Die Berliner Antigone« (ZDF 1968), »Die Dämonen« (NDR
1977), »Vom Webstuhl zur Weltmacht« (BR 1983) und »Klassentreffen« (ZDF
1989). Zu erwähnen sind ebenso seine zahlreichen Drehbücher zur ZDF- Reihe
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»Der Alte«. 1998 veröffentlichte Ahlsen seine »sämtlichen Erzählungen und
Verse« unter dem Titel »Liebe und Strychnin«.
»Philemon und Baucis« – ein Mythos aus Ovids »Metamorphosen«: Zeus belohnt
die beiden alten Eheleute für ihre selbstlose Gastfreundschaft und erlaubt ihnen,
im selben Augenblick sterben zu dürfen. Leopold Ahlsen siedelte den Stoff in
Griechenland im Jahr 1944 an, als deutsche Soldaten das Land besetzt halten.
Nikolaos und seine Frau Marulja beherbergen – nach dem Gesetz der Götter: »Wer
an meine Hütte klopft, ist mein Gast« – zwei verwundete Deutsche vor den
Partisanen. Doch der griechische Gastgeber wird von den eigenen Landsleuten
des Verrats angeklagt und muss sterben; Philemon folgt ihm – wie im antiken
Mythos – in den Tod.
Philemon und Baucis
Produktion: NWDR 1955
Mitwirkende: Paul Bildt (Nikolaos); Hedwig Wangel (Marulja); Hermann Schomberg(Petros, ein Partisanenoffizier); Heinz Reincke (Alexandros, Partisan); Krafft - GeorgSchulze (Georgios, Partisan); Joseph Dahmen (Panagiotis, Partisan); Gisela vonCollande (Alka, ein junges Mädchen); Hanns Lothar (ein deutscher Soldat)
Musik: Johannes Aschenbrenner
Regie: Fritz Schröder- Jahn
Dauer: 63'25
Erstsendung: NWDR, 6.10. 1955
Die Ursendung erfolgte vom BR am 3. 5. 1955; ausgezeichnet wurde jedoch dieNWDR-Fassung.
»Der junge bayerische Dramatiker Leopold Ahlsen hat – ein ganz seltener Fall –bereits mit seinem Erstlingswerk ›Philemon und Baucis‹ bald nach der Ursendung(aus München) die Chance einer zweiten Produktion erhalten. Der NWDR Hamburgregte den ungewöhnl ich mutigen und sprachmächtigen Dichter zudramaturgischen Änderungen an und gab seinem Werk eine Besetzung von hoherVollkommenheit: Hedwig Wangel sprach, nein verkörperte (neben dem exzellentenBildt als Philemon) den Part der urwüchsigen, fast männl ich robustengriechischen Bäuerin (...). Die achtzigjähr ige Künstlerin, einst eine der Großen in
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Max Reinhardts großer Zeit, sprach, als seien die Jahrzehnte spurlos an ihrvorübergegangen.« (Die Zeit, 13.10. 1955)
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1957. Die Panne.
Friedrich Dürrenmatt
* 5. 1. 1921 Konolfingen/Schweiz
† 14. 12. 1990 Neuchâtel/Schweiz
Schuld und Verhängnis
Friedrich Dürrenmatt, Enkel des Satirikers und Politikers Ulrich Dürrenmatt,
wuchs in einem protestantischen Pfarrhaus auf. Lange Zeit konnte er sich nicht
zwischen dem Beruf des Malers und dem des Dichters entscheiden. Er studierte
Philosophie, Literatur und Naturwissenschaften. 1947 kam es zur Uraufführung
seines Schauspiels »Es steht geschrieben«. Welt und Theater sollen in der
Auffassung des Dichters »spielerisch und kritisch«, dabei »unideologisch und mit
Phantasie« betrachtet werden. Weltberühmtheit erlangten die Dramen »Der
Besuch der alten Dame« (1956), »Die Physiker« (1962), »Der Meteor« (1966) und
»Achterloo« (1983).
Neben dem preisgekrönten Hörspiel »Die Panne« schrieb Dürrenmatt sieben
weitere Hörspiele: »Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen« (BR
1952), »Der Prozeß um des Esels Schatten«- (BR 1952), »Stranitzky und der
Nationalheld« (NWDR 1952), »Herkules und der Stall des Augias« (NDWR 1954),
»Das Unternehmen Wega« (BR/SDR/NDR 1955), »Abendstunde im Spätherbst«
(NDR 1957) und »Der Doppelgänger« (NDR/BR 1960).
Das Hörspiel »Die Panne« dürfte 1955 kurz vor der gleichnamigen Erzählung
entstanden sein. Eine spätere Einrichtung als Fernsehspiel unter der Regie von
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Fritz Umgelter fand im Februar 1957 statt. Die Vorlage wurde 1960 für die Bühne
(New York) unter dem Titel »A Deadly Game« von James Yaffe bearbeitet. Drei ihre
Pension auskostende Juristen – ein Richter, ein Staatsanwalt und ein
Strafverteidiger – nehmen bei ihren abendlichen Zusammenkünften die großen
Prozesse der Weltgeschichte noch einmal durch, doch lieber ist ihnen »lebendiges
Material«. Den unerwarteten Gast, Generalvertreter Alfredo Traps, der sich
zunächst unschuldig wähnt, »überführen« die weintrunkenen Juristen der Schuld
am Tode seines einstigen Chefs. Kurz vor der »Hinrichtung« wird der Spuk als
böses Spiel der alternden Akademiker aufgelöst – doch der ambivalente
Schuldspruch bleibt, trägt die Handschrift unerbitt l icher Rachegötter. Gerhard P.
Knapp stellt in seiner Monographie über Dürrenmatt fest: »In seiner Konzeption
eines neuen, jeder Verbindlichkeit entkleideten Gerechtigkeitsbegriffs ist das
Funkspiel als Variante der gleichzeitig entstandenen Komödie ›Der Besuch der
alten Dame‹ zu betrachten.« Selbstverschuldete Katastrophen sind zum
Normalfall geworden. Das gilt für die korrupte Dürrenmatt - Metropole »Güllen«
ebenso wie für die schicksalhafte Absteige des Hörspiels. Sophokleische
Verhängnisse lauern überall und scheinen unausweichlich.
Die Panne
Produktion: NDR Hamburg 1956
Mitwirkende: Kurt Meister (Alfred Traps); Albert Florath (Richter); Paul Bildt(Staatsanwalt); Günther Hadank (Verteidiger); Ludwig Linkmann (Pilet); RuthPoelzig (Simone); Werner Schumacher (Garagenbesitzer); Rudolf Fenner (Wirt);Joseph Offenbach (Tobias)
Regie: Gustav Burmester
Dauer: 68'30
Erstsendung: NDR 1, 19.5. 1956
Die Ursendung veranstaltete der BR, der »Die Panne« am 17. 1. 1956 in der Regievon Walter Ohm ausstrahlte. Der Jury des Hörspielpreises der Kriegsblinden lagjedoch die Hamburger Fassung zum Abhören vor.
»Je mehr ich mich in meinem Berufe, oder besser, mit meinem Berufebeschäft igte, desto klarer ist es mir geworden, daß ich meine Stoffe im Alltag,
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jenseits der Fiktionen, in der Gegenwart zu suchen habe. Wir müssen den Muthaben, zu unserer Zeit zu stehen. Nur getrost, auch sie hat ihre Helden undRaubrit ter, und in der Wirtschaft geht es nicht gnädiger zu als in der Schlacht imTeutoburger Wald.« (Friedrich Dürrenmat t bei der Verleihung des Hörspielpreisesder Kriegsblinden am 30. März 1957 in Berlin)
»Ein aufregendes, beklemmend in die Tiefe zielendes Hörspiel! Und dabei soliebenswürdig in den Mitteln, so versöhnl ich in den Farben, so weit weg vonKanzel - Pathos und betul icher Ermahnung! Ohne Frage ein Kunstwerk,durchpoint ier t bis zur letzen Zeile (bisweilen darin fast zu penetrant) und beialler spielerischen Eleganz ein zentrales Thema unserer Zeit aufgreifend.Burmesters Regie ließ den Kontrast zwischen der behaglichen Atmosphäre derRunde und dem Unheimlichen des Gegenstandes sehr deutlich werden. Es bedarf– wie bei den meisten Hamburger Inszenierungen – kaum der Erwähnung, daßhervorragende Sprecher die Aufführung zu einem ungetrübten Genuß machten.«(epd/Kirche und Rundfunk, 17.9. 1956)
chh
1958. Die Versuchung.
Benno Meyer- Wehlack
* 17. 1. 1928 Stettin
Humanität bewahren
Benno Meyer- Wehlack wuchs in Kiel, Hiddensee und Berlin auf. Unmittelbar vom
Gymnasium kam er noch vor Kriegsende zum Militär. Nach 1945 schlug er sich
zunächst als Verlagsbote, Bauhilfsarbeiter und Landvermessungsgehilfe durch,
nahm Schauspielunterricht und war Regieassistent. Von 1959 bis 1961 arbeitete
er als Fernsehspieldramaturg beim SWF in Baden- Baden, danach von 1965 bis
1967 beim SFB in Berlin.
Neben seiner umfangreichen Hörspielarbeit fanden auch seine Fernsehspiele –
darunter das Bauarbeiterstück »Modderkrebse« – internationale Beachtung. Seit
1967 entstanden auch Texte und Stücke in Zusammenarbeit mit Irena Meyer-
Wehlack, geborene Vrkljan.
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In den fünfziger Jahren machte sich der Autor bereits einen Namen mit seiner
sehr reduzierten, nahezu minimalistischen Hörspielästhetik. Nicht der große
dramatische Weltentwurf stand in seinen Hörspielen im Vordergrund, vielmehr
die Entwicklung einer humanitären Zwischenmenschlichkeit in introspektiven, oft
imaginären Hörräumen. Berühmt wurde in diesem Zusammenhang sein Hörspiel
»Kreidestriche ins Ungewisse« (NDR 1957), ein eindringlicher Dialog zwischen
Vater und Sohn in einem Hotel. Beide erschaffen sich eigene und neue
Phantasieszenarien und überleben damit die Widrigkeiten der sie umgebenden
Realität. Neben dem preisgekrönten Hörspiel »Die Versuchung« sind überdies
»Die Grenze« (NWDR 1955), »Das goldene Rad« (NDR 1956), »Das Buch des
Lebens« (SDR/SWF 1978) »Die Frau in Blau« (SDR 1981) und »Der alte Mann und
das Stilleben« (SWR 1999) zu erwähnen.
Das 1957 – wegen seiner Sendelänge von nur knapp 35 Minuten – oft als
»Kurzhörspiel« titulierte Radiostück »Die Versuchung« berichtet von einem alten
und einem jungen Mann, die sich an einer zufällig angetriebenen Wasserleiche
bereichern könnten, denn der Tote hat jede Menge Geldscheine in der Tasche.
Die Männer erträumen sich eine behagliche Zukunft mit Zigarrenladen oder
Würstchenbude als Anfang eines neuen Lebens. Doch beide widerstehen der
Versuchung und bewahren damit ihre unbestechliche Humanität im Umfeld ihrer
kleinen, scheinbar unbedeutenden Biographie.
Die Jury für den 7. Hörspielpreis der Kriegsblinden argumentierte in ihrer
Entschließung: »Die besondere Kunst Meyer- Wehlacks besteht darin, der
Wirklichkeit mit verklärender Phantasie und doch mit geringstem Aufwand eine
überraschende Fülle zu geben, dabei aber alles Triviale und auch alles
Pessimistische zu vermeiden. Es zeigt sich hier ein neues
Wirklichkeitsbewußtsein, das in seiner inneren Wahrhaftigkeit wegweisend ist und
über die Mittel des Naturalismus hinauswächst.«
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Die Versuchung
Produktion: NDR 1957
Mitwirkende: Erich Weiher (ein alter Mann); Gerd Martienzen (ein junger Mann)
Regie: Fritz Schröder- Jahn
Dauer: 31'40
Ursendung: NDR 1, 21. 3. 1957
»Benno Meyer - Wehlack bringt nun in der Tat einen neuen Ton in dieseliterarische Gattung, er hat einen neuen, eigenwil l igen und sehr poetischenZugrif f auf den Stoff, den sich das Ohr des Hörers erst gewinnen muß. Es ist zuhoffen, daß die Wahl seines Spiels ›Die Versuchung‹ die Aufmerksamkeit derHörer für diesen eigenwil l igen, neuen Ton weckt. Es wäre ein Gewinn für dasHörspiel und damit für den Hörer selbst. Das Hörspiel des jungen Preisträgerszeichnet sich vor allem dadurch aus, daß es mit allen gegebenen Mittelnunüberbietbar sparsam umgeht.« (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. 3. 1957)
chh
1959. Der gute Gott von Manhatten.
Ingeborg Bachmann
* 25. 6.1926 Klagenfurt /Kärnten
† 17. 10. 1973 Rom/Italien
Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar
»... Und sie redete nicht, sie flüsterte, sie sprach mit Zartheit und mit
Hemmungen – man hätte ihr am liebsten dort oben auf dem Rednerpodium zu
Hilfe kommen mögen.« – So erinnerte sich Friedrich Wilhelm Hymmen, der
langjährige Juryvorsitzende, an die Hörspielautorin und Dichterin, als sie zur
Preisverleihung in Bonn erschien. Bis heute wird die stille, nach innen gekehrte
Lyrikerin neben den Hörspielkoryphäen der Anfangsjahre, Dürrenmatt und Eich,
genannt.
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Ingeborg Bachmanns Vater war Lehrer, die Familie der Mutter betrieb eine
Strickwarenfabrik in Niederösterreich. Ingeborg besuchte das Ursulinen-
Gymnasium und legte 1944 die Matura ab. In dieser Zeit entstanden erste
Gedichte und ein fünfaktiges Versdrama. Von 1945 an studierte sie
Rechtswissenschaft, Philosophie, Psychologie und Germanistik, 1950 promovierte
sie in Wien über Martin Heidegger. Nach längeren Aufenthalten in Paris und
London arbeitete sie bis 1953 als Redakteurin bei der Sendergruppe
»Rot/Weiß/Rot« in Wien. Dort entstand 1952 ihr Hörspieldebut »Ein Geschäft mit
Träumen«, ein surreales Stimmenspiel über Lebensschmerz und - lust. Ihm
folgten 1955 das »Erzählhörspiel« »Die Zikaden«. Dazwischen lag ihr Durchbruch
als Lyrikerin, nachdem sie 1953 mit dem Preis der »Gruppe 47« ausgezeichnet
worden war. Ihre Gedichte »Die gestundete Zeit«, »Anrufung des Großen Bären«,
»Im Gewitter der Rosen, »Große Landschaft bei Wien« haben bedeutende Spuren
hinterlassen. Walter Helmut Fritz hielt fest: »Das Unausweichliche war das, was
Leser und Kritiker beim Erscheinen der Gedichte dieser Frau sofort faszinierte.
Man begriff, daß es entscheidend für sie war, Sätze haltbar zu machen und
damit auszuhalten in dem Bimbam von Worten , wie sie in ihrem Anna
Achmatova zugedachten Gedicht Wahrlich schrieb.«
Ingeborg Bachmann lebte seit 1953, von kurzen Unterbrechungen abgesehen, in
Italien, vornehmlich in Rom. 1958 schrieb sie die Hörballade »Der gute Gott von
Manhattan«; 1959/60 hielt sie als erste Gastdozentin ihre viel beachteten
Frankfurter Poetik- Vorlesungen. In den 60er Jahren arbeitete sie vor allem an
Prosaprojekten, darunter dem groß angelegten »Todesarten»- Zyklus, von dem
nur dessen Auftakt »Malina« 1971 veröffentlicht werden konnte. Ingeborg
Bachmanns tragischer Tod, ausgelöst durch einen Brandunfall in ihrem römischen
Domizil, erschütterte im Oktober 1973 die literarische Welt.
»Der gute Gott von Manhattan« wurde gelegentlich als »moderne Romeo- und-
Julia- Paraphrase« (Münchener Abendzeitung, 29. 5. 1958) gedeutet. Doch ist die
Ballade über die Liebenden Jan und Jennifer in der zeitgenössischen Presse
keineswegs einhellig gebilligt und verstanden worden. Häufig gab es Irritationen
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und Mißverständnisse, nicht selten war die Hörspielkritik verunsichert. Während
man »Bedeutungshuberei« beklagte (epd/Kirche und Rundfunk, 7. 7. 1958) und
Ror Wolf in einem Rückblick auf das Hörspiel der fünfziger Jahre in der Zeitschrift
»Merkur« 1970 nicht ohne Schärfe von einem »Traum in beschädigten Bildern«
und »Scheinfragen« sprach, hieß es dagegen in der »Frankfurter Rundschau«:
»Das oft Traumhaft - Versponnene, Tiefverhüllte ist kaum in glasklare Helligkeit
zu heben, es sei denn, man ginge an dem Eigentlichen ihrer Dichtung vorbei. Es
wird zuweilen ein Spiel mit Zeichen und Chiffren getrieben, das mehr vom
Hintergründigen der Wirklichkeit zeigt als die Wirklichkeit selbst« (29.5. 1958).
Der gute Gott von Manhatten
Produktion: BR/NDR 1958
Mitwirkende: Ernst Schröder (Der gute Gott); Fritz Schröder- Jahn (Richter); HorstFrank (Jan); Margrit Ensinger (Jennifer); Hans Clarin (Frankie); Carl Lieffen (Billy);Adalbert von Cortens (Gerichtsdiener); Gustl Datz (Wärter); Anja Buczkowski(Zigeunerin); H. W Zeiger (Portier); Rainer Loose (Liftboy); Ilwa Günten (Frau); HansQuitschorra (Polizist); Mario Adorf (Barmann); Nils Clausnitzer, Ursula Kube, LeoBardischewski, Horst Raspe, Alexander Malachowski (Stimmen); Bettina Braun, ElliHaase, Hartmut Friedrich (Kinder)
Regie: Fritz Schröder- Jahn
Dauer: 81'50
Ursendung: BR/NDR, 29.5.1958
Am selben Tag gab es auch eine eigenständige Ausstrahlung vom SWF unter derRegie von Gert Westphal.
»Die zwingende Kraft der Fragen, die Ingeborg Bachmann, ohne selbst grif f igeLösungen anzubieten, dem Hörer aufdrängt, Ernst und Intensität der Bewältigungeines durch die Niederungen bil l iger Literatur geschleif ten Themas haben die Juryzu ihrer Entscheidung mitbest immt (...). ›Der gute Gott von Manhatten‹ handeltvon der Explosivkraf t einer vollkommen auf sich selbst bezogenen Liebe zweierMenschen, die, aus dem Zusammenhang mit der Welt und ihren Ordnungengelöst, in Selbstvernichtung endet. Ingeborg Bachmann leugnet die Ordnungenkeineswegs, doch sie hat, ohne sich auf das sichere Terrain einer bil l igen Moralversöhnl icher ›Lösungen‹ oder selbstgefäl l iger Resignation zurückzuziehen, denMut zur konsequenten Härte des Konfl ik ts.« (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. 3.1959)
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chh
1960. Auf einem Maulwurfshügel.
Franz Hiesel
* 11. 4. 1921 Wien
† 2. 11. 1996 Mannersdorf /Burgenland
Archivar, Sammler und Poet
Aus der Hörspielgeschichte ist er nicht wegzudenken: Franz Hiesel, der Dichter,
Archivar und Hörspielmacher. 1969 besorgte er als Dramaturg zusammen mit
Heinz Schwitzke, dem umtriebigen Hamburger Hörspielleiter, mit Werner Klippert
und Jürgen Tomm die Edition des legendären »Hörspielführer« im Reclam Verlag.
Zwanzig Jahre später – Hiesel war längst zum Leiter der Abteilung Hörspiel und
Literatur am ORF avanciert – publizierte er ein voluminöses »Literaturdenkmal-
Hörspiel«, ein zweibändiges Nachschlagewerk zur Geschichte des deutschen und
internationalen Hörspiels, das »Repertoire 999«. Eigenwillig und souverän
beschrieb der gebürtige Wiener darin Glanz und Höhepunkte des Hörspiels,
bibliographierte und annotierte knapp tausend Titel der Hörspielgeschichte.
Hiesel war durch und durch Praktiker. In den 30er und 40er Jahren arbeitete er
als Drogist, Soldat, Waldarbeiter, Straßenbahnschaffner und Bibliothekar, von
1960 bis 1967 leitete er die Hörspieldramaturgie beim NDR, von 1976 bis 1983
die Produktionsabteilung »Hörspiel und Literatur« beim ORF.
Als Autor war er vielseitig und erfolgreich. Die ersten der mehr als 200
Prosaveröffentlichungen entstanden 1948; ihnen folgten Bühnenstücke wie »Die
enge Gasse« (1952) und »Menschen ohne Himmel« (1953). Franz Hiesel schrieb
im Verlauf der Jahre mehr als zwanzig Hörspiele, darunter »Die gar köstlichen
Folgen einer mißglückten Belagerung (SFB/HR 1975) und »Was halten Sie von Irma
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Prein?« (BR/SFB 1976). Schließlich wechselte Hiesel gelegentlich auch zum
Fernsehen, beispielsweise mit den Drehbüchern für die Fernsehfilme »An der
schönen blauen Donau« (NDR 1965), »Blaues Wild« (BR 1970) und »Die
Ausnahme« (ORF 1977).
Auf einem Maulwurfshügel
Produktion: NDR/ORF 1959
Mitwirkende: Walter Kohut (Georg); Hans Thimig (Sebastian); Adrienne Gessner(Georgs Mutter); Maria Emo (Hannemarie); Eva Zilcher (Leutnant Lydia); AdrianFedorowski (russischer Oberst)
Regie: Egon Monk
Dauer: 54'50
Ursendung: NDR 1, 25.10. 1959
»Herr Georg, der Held des Stückes, nimmt sich so wicht ig, daß er alle, auch dieintimsten Lebensäußerungen von sich selbst und seiner Familie, seiner Frau vorallem auch, für spätere wissenschaft l iche Auswertung auf Tonband genommenhat. Nun will er sein Werk mit der Dokumentat ion seines Selbstmordes krönen.Während die Vorberei tungen von seinem Diener Sebastian zelebriert werden,erfähr t er durch den Zufall eines Telefonats, daß der alte Sebastian dieTonbänder, die sein Leben dokument ieren, bereits an eine Illustr ier te verkaufthat. Und auf einmal wird ihm klar, daß er nicht auf einem Gipfel steht, sondernauf einem Maulwurfshügel.« (Franz Hiesel über sein Hörspiel »Auf einemMaulwurfshügel« in: Repertoire 999, Nr. 242)
Nach den Jahren der ernsten und hintergründigen Selbstbesinnung schien die
Jury des Hörspielpreises der Kriegsblinden Ende der 50er Jahre regelrecht froh zu
sein, auch einmal die komödiantische Sicht der Welt prämieren zu können. Die
Frankfurter »Abendpost« kommentierte: »Hiesel wollte seinen Hörern Spaß
machen, und das wurde ihm gelohnt. Nach oft schwerer Kost im
Hörspielprogramm – bei der Preissitzung war das nicht anders – atmete das
erschöpfte Publikum auf, wenn jemand die Welt ein wenig aufspießt und der
autonome Mensch daran sein Mütchen kühlen kann.« (10.3. 1960)
chh
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1961. Der Minotaurus.
Dieter Wellershoff
* 3.11.1925 Neuss
Nähe und Entfremdung
Das Hörspiel war für ihn nach eigenem Bekunden nur ein »Probierfeld«, freilich
ein äußerst wichtiges. Über ein Dutzend Hörspiele schrieb Dieter Wellershoff für
die Rundfunkanstalten in der Zeit zwischen 1956 und 1973, darunter »Die
Sekretärin« (NDR 1956), »Die Bittgänger« (SDR 1958), »Der Minotaurus« (SDR
1960), »Bau einer Laube« (SDR/NDR 1964), »Null Uhr Null Minuten und Null
Sekunden« (WDR 1973). Doch damit nicht genug. Neben seinem Arbeitsfeld als
Romancier und Essayist erprobte Wellershoff, der experimentelle Verfechter einer
neuen Literaturerfahrung, dem es immer wieder darum ging, tradierte
Sichtweisen zu erschüttern und zu verrücken, sich auch als Theaterautor,
Librettist und als Verfasser hintergründiger Fernsehdrehbücher.
Dieter Wellershoff, der als Gymnasiast zum Arbeitsdienst und zum Militär
einberufen wurde, schloß sein Studium 1952 mit einer Promotion über Gottfried
Benn ab und wurde Redakteur bei der »Deutschen Studentenzeitung«. Von 1956
an freier Autor mit ersten literarischen Veröffentlichungen, wechselte er 1959 in
den Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch, bei dem er bis 1981 verschiedene
Lektorate leitete.
Bis heute entstand ein umfangreiches literarisches Werk, das zahlreiche Romane
und Novellen umfasst, darunter »Zikadengeschrei« (1995) und der als
Meisterwerk gerühmte Liebesroman »Der Liebeswunsch« (2000). Hinzukommen
eine Fülle von literatur- und zeitkritischen, poetologischen und essayistischen
Veröffentlichungen wie etwa »Das geordnete Chaos. Essays zur Literatur« (1992)
und die Frankfurter Poetikvorlesungen unter dem Titel »Das Schimmern der
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Schlangenhaut. Existenzielle und formale Aspekte des literarischen Textes«
(1996).
In einem dieser Essays notierte Wellershoff auch einige »Bemerkungen zum
Hörspiel«. 1961, in dem Jahr, in dem er den Hörspielpreis der Kriegsblinden
erhielt, führte er aus: »Es ist überhaupt fragwürdig, über die Dramaturgie des
Hörspiels zu sprechen, weil jedes charakteristische Stück seine eigene
Dramaturgie hat, weil die Ausdrucksmöglichkeiten des Genres ihren Sinn und
Ausdruckswert erst aus Idee und Gehalt des jeweiligen Stückes bekommen.«
Wellershoffs Hörspiel »Der Minotaurus« wurde von der Kritik einhellig positiv
bewertet. Der kühl- distanzierte Doppelmonolog eines sich entfremdenden Paares
definiert in letzter Konsequenz die einsame Frau als unangefochtene
Sympathieträgerin. Sie obsiegt gegen männlichen Dünkel, der sich noch einmal
auslebt, und erschüttert wie ganz selbstverständlich ein wankendes Patriarchat.
Dieter Hasselblatt, der spätere Hörspieldramaturg beim Bayerischen Rundfunk,
schrieb am 10. März 1961 im »Badischen Tagblatt«: »Das Hörspiel ›Der
Minotaurus‹ besticht durch die intensive Deutung unserer widersprüchlichen und
problematischen Gegenwart. Dieter Wellershoff hat in dem auf nur zwei Stimmen
aufgebauten Hörspiel die Bewußtseinssituation des modernen Menschen erhellt;
die auf jede Situation eingespielte Intelligenz bietet die Möglichkeit zu Ausflucht
und Zerstörung.«
Der Minotaurus
Produktion: SDR 1960
Mitwirkende: Hans Quest (Er); Julia Costa (Sie)
Musik: Enno Dugend
Regie: Friedhelm Ortmann
Dauer: 58'00
Ursendung: SDR, 22.6. 1960
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»Es mag Autoren geben, denen der letzte Satz keine Schwierigkei ten macht. Siehaben ihn schon in der Tasche, bevor sie zu schreiben beginnen. Sie sindbeneidenswert, sie werden nicht irri t ier t. Allerdings glaube ich, daß sie währenddes Schreibens keine Erfahrung machen, daß ihnen nichts passiert, weil sie nurfleißig und geschickt ein Schema ausfül len. Ich glaube ihnen ihre letzten Sätzenicht. Sie sind eilfert ige Lieferanten. In einer verworrenen, schwerdurchschaubaren Welt besteht ein großer Bedarf an letzten Sätzen, summarischenWeisheiten, strahlenden Eindeutigkeiten – die Psychologie nennt diesen Drang zurVereinfachung die Prägnanztendenz.« (Dieter Wellershof f bei der Preisverleihungam 21. März 1961)
chh
1962. Totentanz.
Wolfgang Weyrauch
* 15.10.1904 Königsberg
† 7.11.1980 Darmstadt
Alle Figuren sind Stimmen
Er gehört zu den Hörspielautoren der Frühzeit: Bereits 1931 reüssierte der
27jährige Schauspieler und Student mit »Anabasis« beim jungen Medium
Rundfunk. Der antike Stoff, der Gewaltmarsch der vom Tod bedrohten
griechischen Soldaten unter Xenophon, wurde gemeinsam mit Ernst Gläser für
den Rundfunk eingerichtet. Der in Königsberg geborene und in Frankfurt am
Main aufgewachsene Wolfgang Weyrauch wurde mit einem Schlag bekannt. Zügig
folgten eine stattliche Reihe von Buchveröffentlichungen, zahlreiche Erzählungen
und Essays sowie eine lebenslange produktive Auseinandersetzung mit der
Hörspielform.
Schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, den er als Soldat erlebt
hatte, widmete sich Weyrauch wieder der Hörspielarbeit; zum Repertoireautor
avancierte er in den 50er und frühen 60er Jahren, u. a. mit den Hörspielen »Die
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Minute des Negers« (SDR 1953), »Die japanischen Fischer« (BR 1955), »Das grüne
Zelt« (1957) sowie dem 1962 preisgekrönten »Totentanz«.
Bei aller formalen Vielfalt, die Weyrauch in seiner Rundfunkarbeit demonstrierte,
die Form der Ballade, das Konzert der Stimmen waren seine Charakteristik. Martin
Walser, der als Hörspielregisseur des öfteren Weyrauchs Texten zum Ausdruck
verholfen hatte, lieferte in seinem Nachwort zu »Dialog mit dem Unsichtbaren« –
einer Auswahl von Weyrauch- Hörspielen aus dem Jahr 1962 – eine eindrucksvolle
Schilderung dieser balladesken Hörspielform. »Weyrauch ist von allen mir
bekannten Hörspielautoren der radikalste. Was er handeln und leiden läßt,
handelt und leidet lediglich als Stimme. Der Schleichweg zur Szene bleibt
unbenutzt (...): Die Figuren setzen sich nicht ein, um für ihre Handlungen
Verständlichkeit zu erkämpfen. Sie sind dazu da, um einen sie übersteigenden
Prozeß sichtbar zu machen: Weyrauchs Ballade von den Zuständen der Welt. Und
diese Ballade ist ein Monolog. Alle Figuren sind Stimmen, in die sich Weyrauchs
Monolog vervielfältigt, sind letzten Endes Instrumente, durch die er seinen
Monolog vortragen läßt, als Gleichnis und Warnung oder als Klage.«
Doch Weyrauch war nicht nur zeitlebens ein produktiver, kritischer und politisch
engagierter Hörspielautor. Besonders seine Anthologien – sie entstanden vor
allem in seiner Zeit als Redakteur und Lektor im Rowohlt - Verlag – und seine
Essays wirkten auf die literarische Nachkriegsgesellschaft. So prägte etwa
»Tausend Gramm«, die Prosa- Anthologie von 1949, den »Kahlschlag«- Begriff,
und der Titel seines Aufsatzes »Mein Gedicht ist mein Messer« avancierte zum
Schlagwort für kritisch engagierte Lyrik. Doch Weyrauch, ein schwierig
einzuordnender Sonderfall zwischen widerständlerischem Engagement und
formaler Raffinesse, spielt mittlerweile – sicherlich zu Unrecht – eine
untergeordnete Rolle im literarischen Bewusstsein.
Totentanz
Produktion: NDR/BR 1961
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Mitwirkende: Robert Graf (W.); Richard Münch (T.); Hans- Helmut Dickow (Polizist);Sascha von Sallwitz (1. Junge); Klaus von Twardowsky (2. Junge); ChristianMachalet (3. Junge); Hans Goguel (Lehrer); Armas Sten Fühler (Männliche Stimme);Werner Schumacher (Pilot); Horst Breitkreutz (1. Passant); Hans Emons (2.Passant); Rudolf Ferner (Straßenkehrer); Wolfgang Katzke (4. Junge); Hartmut Reck(Junger Mann); Conrad Mayerhoff (Mann); Manfred Steffen (Redner); Eduard Marks(Alter Mann); Angela Schmid (Mädchen); Gudrun Gerlach (2. Mädchen); GüntherDockerill (2. junger Mann); Klaus Höhne (3. junger Mann); Brigitte Gerloff(Freundin); Herbert Fleischmann (Vertreter)
Regie: Martin Walser
Dauer: 53' 10
Ursendung: NDR 1, 22.11. 1961
»Ein seltsamer Mann in einer der verkehrsreichen Großstadtstraßen spricht daund dort Menschen an, die ihn nicht verstehen, geht weiter durch dasgleichgült ige Gewühl, hält wieder jemanden auf, nennt wieder einunverständliches Datum – alles mit der Bestimmtheit eines Richters. Es istderjenige, der über jeden Urteil zu sprechen hat: das Todesurtei l. Auch derDichter, auch der Hörer, alle Menschen müssen es vernehmen.« (Pressemeldungzu »Totentanz«)
huw
1963. Geh David helfen.
Hans Kasper
*24.5.1916 Berlin
† 3. 9. 1990 Frankfurt am Main
Ernster Spaßvogel
Die Fachkritik machte es sich mit der Jury- Entscheidung für Kaspers erstes
Hörspiel »Geh David helfen« nicht leicht. Im Nachhinein diskutierten Journalisten,
ob nicht zum Beispiel auch Dieter Meichsner, Ilse Aichinger, Jürgen Becker oder
gar Peter Weiß – namhafte Autoren, die mit ihren Hörspielarbeiten zur Auswahl
gestanden hatten – preiswürdig gewesen wären. Vor allem wurde in den
Zeitungen diskutiert, ob der Rückgriff auf einen antiken Stoff – hier das
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Lysistrata- Motiv – sich mit den aktuellen Ansprüchen der Radiokunst in Einklang
bringen lasse.
Doch was das »beste« Hörspiel des Jahres sei, das war und ist gar nicht so
eindeutig zu entscheiden und unterliegt vielen Faktoren: ästhetischen
Einschätzungen der Jury und den Launen der örtlichen Regie beim Abhören.
Werner Klippert brachte es auf den Punkt:
»Glaube niemand, der Träger des Hörspielpreises der Kriegsblinden würde insti l ler Versenkung ausgewählt. Die achtzehn Preisrichter sitzen nicht inselbstzufr iedener Zurückgezogenheit beieinander, um dann, nachdem sie acht bisvierzehn vorgeschlagene Hörspiele kommentar los über sich ergehen ließen, zurWahl zu schreiten. Im Gegenteil! Die Wahl eines Hörspielpreist rägers ist einProzeß der Meinungsbi ldung, der sich zwischen den Hörspielen und denAnwesenden und unter den Anwesenden abspielt. Fast immer geht es hoch her,und ein klein wenig hat Fortuna ihre Hand im Spiel.« (Abendpost, Frankfur t amMain, 14.3. 1963)
Von 18 Jury- Mitgliedern stimmten zehn für Hans Kaspers Hörspiel, das den
männlichen Hurra- Patriotismus für Krieg und Vaterland am Rande eines antiken
Schlachtfelds mit Witz und Biss aufs Korn nimmt. Die Frauen obsiegen, ähnlich
wie im klassischen Vorbild, über den Wahnwitz der Krieger, auch wenn sie selbst
dem Schlachtenlärm in ironischen Volten zu huldigen scheinen.
Hans Kasper, der mit bürgerlichem Namen Dietrich Huber hieß, schrieb viele
Jahre in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« Aphorismen und hintersinnige
Verse. Über zwanzig Hörspiele hat Kasper nach seinem Debüt 1962 zu Papier
gebracht, dazu Schauspiele wie »Die Flöte von Jericho«. Kaspers Credo lautete:
»Manchmal scheint mir, einige Weltanschauungen könnten angenehm verdünnt,
einige Kriege unterblieben sein – wenn die kompetenten Herren sich aus
lieblicheren Gründen hätten als Helden fühlen können.«
Geh David helfen
Produktion: RB/HR 1962
Mitwirkende: Helga Feddersen (Berenice); Elisabeth Widemann (Larissa); MichaelHinz (Hurra); Hermann Schomberg (Asklepiodor); Hans- Otto Hilke (der großeSoldat); Eric Schildkraut (der kleine Soldat)
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Regie: Ulrich Lauterbach
Dauer: 66'05
Ursendung: RB, 23.2. 1962
»›Geh David helfen‹ ist ohne Zweifel ein gekonntes, ein bravouröshingeschriebenes Hörspiel – eines der wenigen aus der einheimischenProduktion, über die man wirkl ich lachen kann. Die Geschichte von den beidenGriechenmädchen, die sich zwei Soldaten der gegnerischen Heere für den privatenBedarf beiseite schaffen und auf eine friedfert ige Lebensweise dril len, ist gewißnachahmenswert, und zu beherzigen ist nicht weniger die Schlußmetapher desHörspiels, daß man nur dort leben könne, wo man die Türen respektiert, weshalbeiner der beiden Krieger wieder auszieht, um dem winzigen Soldaten David zuhelfen, der eben bei ihm angeklopf t und nicht nach Kriegerart die Tür eingetretenhatte.« (Die Welt, 15.2. 1963)
chh
1964. Der Bussard über uns.
Margarete Jehn
* 27.2.1935 Bremen
Die Außenseiterin
Die Presse sprach von einer »Außenseiterin«, als Margarete Jehn mit dem
Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet wurde, eine junge Autorin, gerade
einmal 28 Jahre alt, Frau eines Organisten und Mutter zweier musikalischer
Kinder. Doch die eigentliche Überraschung: Margarete Jehn hatte ihren
Hörspieltext gar nicht selbst an den Sender geschickt. Eine Freundin, die das
Manuskript als Weihnachtsgeschenk erhalten hatte, fand das Stück so
beeindruckend, dass sie es versuchshalber beim SWF einreichte. In Baden- Baden
wurde man hellhörig und übergab die Antikriegsparabel dem Brecht- Schüler
Peter Schulze- Rohr zur Inszenierung. Nach dem überraschenden Durchbruch in
der Hörspielkunst schrieb Margarete Jehn insgesamt noch acht weitere
Originalhörspiele, übersetzte zahlreiche Hörspiele aus dem Skandinavischen,
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darunter Stücke der Autoren Gunnar Pettersson, Åke Hodell und Ole Henrik Kock.
Beim SWF arbeitete sie viele Jahre als Lektorin für skandinavische Literatur. Sie
schrieb mehrere Kinderhörspiele und erhielt in den Jahren 1985 und 1987 den
Hörspielpreis von »terre des hommes«. Wer übrigens jemals den kleinen
Straßenfegern aus der Hörspielserie »Papa, Charly hat gesagt« im Radio erlegen
ist, ist Margarete Jehn ganz unweigerlich wieder begegnet: als Autorin der Folgen
»Die Pille« und »Homosexualität«.
Heute leitet die Bremer Schriftstellerin gemeinsam mit ihrem Mann und den
Söhnen den Autorenverlag »Worpsweder Musikwerkstatt«, gestaltet
Musikseminare für Lehrer und Erzieher und gibt Liederbücher, Liederhefte und
CDs heraus.
Der Bussard über uns
Produktion: SWF/NDR 1963
Mitwirkende: Jürgen Goslar (Jascha); Siegfried Wischnewski (der Bussard); HellmutLange (der Schlaf); Fritz Rasp (der Sandmann); Hanni Schneider- Wenzel (eineFrauenstimme)
Musik: Peter Zwetkoff
Regie: Peter Schulze- Rohr Dauer: 40'30
Ursendung: SWF, 19.1. 1963
»Margarete Jehn verbindet in ihrem preisgekrönten Erstl ing beides:Zeitgeschehen und funk - eigene Mittel, Realität und Traumwelt, Barbarei desKrieges und die noch in der äußersten Bedrohung ›heile‹ Welt des Kindes. ›DerBussard über uns‹ – das ist ein anderer ›Gesang im Feuerofen‹, das Kinderliedvom Plumpsack, der umgeht, auch wenn die Bomben fallen, wenn ein braununiformier tes Sandmännchen noch im Angstt raum der Kinder als Gehirnwäscherauftaucht oder wenn ihr Balalaika spielender Kamerad, ein russischerKriegsgefangener, vor ihren Augen von einem deutschen Kapozusammengeschlagen wird. Dies ist mit hörspielgerecht ineinanderglei tendenSpielebenen und einem sicheren, mitunter etwas weichen Gefühl für Sprache undSprachklang (die Autorin hat Musik studiert) wirkl ich ein ›Spiel für Stimmen‹, vorallem für Kinderst immen, die Peter Schulze- Rohr in seiner hervorragendenInszenierung so natürl ich geführt hat.« (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. 3.1964)
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chh
1965. Nachtprogramm.
Richard Hey
* 15.5.1926 Bonn
Wachhund und Narr
Auf die Frage, warum er Hörspiele schreibe, antwortete Richard Hey in einem
fingierten Selbst- Interview 1966: »Früher aus Ahnungslosigkeit, Neugier, Zufall,
eine Möglichkeit zum Geldverdienen vermutend – wie man eben so anfängt.
Später aus sportlichem Vergnügen, ob es mir gelingen würde, mit den inzwischen
erkannten Schwierigkeiten fertig zu werden. Heute, weil das Hörspiel offiziell
kaum mehr beachtet wird (...). Das Hörspiel genießt Narrenfreiheit. Es ist also
mehr denn je geeignet zu ernsthafter Arbeit, zur Entwicklung neuer Formen, zur
Mitteilung von Wahrheiten.« Das Hörspiel musste sich, nicht zum ersten und
nicht zum letzten Mal, der Konkurrenz durch das Fernsehen erwehren.
Doch der vielseitige Autor Richard Hey beschränkte sich niemals auf die
Radioarbeit. Seine bislang mehr als 70 Hörspielproduktionen bilden nur eine von
vielen literarischen Ausdrucksmöglichkeiten, flankiert von Theaterstücken,
Übersetzungen, Filmdrehbüchern und Romanen.
Richard Hey startete seine schriftstellerische Karriere in den Nachkriegsjahren.
Dem Studium, der Regieassistenz beim Film, der gelegentlichen Arbeit als
Journalist und Musikkrit iker folgten erste Theaterstücke Mitte der 50er Jahre.
Dem jungen Dramatiker, eingeladen bei der Gruppe 47, wurden 1955 der
Schiller- Gedächtnispreis und 1960 der Gerhart- Hauptmann- Preis verliehen. In
dieser Zeit entstanden auch seine ersten Hörspiele, zeitkrit ische Stücke wie »Kein
Lorbeer für Augusto« (NWDR 1954) über die Wiederbewaffnung in der
Bundesrepublik und »Olga 17« (NDR 1956), die ausdrucksstarke Geschichte über
einen Spreekahnreeder im geteilten Berlin.
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Der radikale Demokrat, der leidenschaftlich engagierte Autor beherrschte die
radiophonen Ausdrucksmittel souverän, als er 1964 mit dem fingiert -
dokumentarischen, Authenzität vortäuschenden Hörspiel »Nachtprogramm« ein
satirisch entlarvendes Zerrbild der restaurativen Nachkriegsgesellschaft entwarf.
»In ›Nachtprogramm‹ wird die Analyse eines Offiziers aus dem letzten Kriegversucht – anhand von Tonbandfragmenten, die unter den Trümmern eineszerbombten Hauses gefunden worden sind. Sie enthalten dieTonbandaufzeichnung der Sitzung eines besorgten Familienrats, der in derletzten Phase des Krieges die Entmündigung eines Familienmi tg l iedes, nämlichdes besagten Offiziers, verhandelt hat. Leider ist die gesamte Familie mit all ihrenVorsätzen durch die Bombe getötet worden, nur der Gegenstand der Verhandlung,weil er nicht zugegen war, ist am Leben.« (Pressemeldung des NDR- Hörspiels)
Spektakulär wie sein Hörspiel geriet auch der Auftritt bei der Preisverleihung im
Bundesrat im März 1965. In Gegenwart von Bundeskanzler Adenauer und
Bundesinnenminister Höcherl griff Hey die deutsche Politik an:
»Die Demokrat ie, die die Spielregeln für alle Widersprüche festlegt, stirbt ebennicht, wie ihre Gegner hoffen, an ihren Widersprüchen. Sondern sie stirbthöchstens an der Verkleisterung ihrer Widersprüche. Der Schrif tstel ler, der nunzusieht, wie dieser Kleister etwas außerhalb der Legalität angerühr t wird, täuschtsich allerdings meistens sehr über die Wirksamkeit seines Protestes.«
Im Gegensatz zum tödlichen Ende in »Nachtprogramm« führte Hey, der sich als
»Wachhund und Narr« begriff, aus:
»In Wirkl ichkei t, das wissen Sie so gut wie ich, leben diese Leute alle noch, habenneues Geld und alte Vorurteile, sprechen nach demokrat ischen Gesetzen Recht,sind demokrat ische Staatssekretäre, tragen die Entwürfe zu demokrat ischenNotstandsgesetzen unter dem Arm und planen einen demokrat ischen Atom-Minengürtel quer durch Deutschland. Ich habe sie alle aus dem Spiel entfernt.Aber eben nur aus meinem.«
Auch wenn Heys im letzten Jahrzehnt entstandene Hörspiele immer große
Beachtung fanden, einer breiteren literarischen Öffentlichkeit ist der in Berlin und
in Italien lebende Autor eher als Krimi- Schriftsteller und Verfasser einiger
»Tatort«- Fernsehfilme bekannt sowie schließlich der Fan- Gemeinde als Science-
Fiction- Autor. 1983 erhielt er den Kurd- Laßwitz- Preis für den SF-Roman »Im Jahr
95 nach Hiroshima«, 1997 den »Ehren- Glauser« auf der Criminale Jever.
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Nachtprogramm
Produktion: NDR/HR/SFB 1964
Mitwirkende: Hans Clarin (Autor); Wolfgang Büttner (Katasterbeamter); RobertLossen (Leupold); Konrad Georg (Anton); Rolf Nagel (Arthur); Renate Danz(Adelheid); Heinz Schimmelpfennig (Fotograf)
Regie: Fritz Schröder- Jahn
Dauer: 58'30
Ursendung: NDR 1, 22.4. 1964
»Hey gehört zu den Autoren, für die Resignation ein Fremdwort ist: das kommtdaher, weil er genug Phantasie hat, sich immer alles ganz anders vorstellen zukönnen.« (Karlheinz Braun)
huw
1966. Miserere.
Peter Hirche
* 2.6.1923 Görlitz
Im Schatten des Wirtschaftswunders
Wohlmeinende Stimmen betonten seit Anfang der 60er Jahre, der ehemalige
Kabarettist und Gelegenheitsarbeiter aus Görlitz hätte schon seit längerem den
Hörspielpreis verdient. Vor allem sein Hörspiel »Die seltsamste Liebesgeschichte
der Welt« (NWDR 1953), das radiophone Märchen einer monologischen
Traumbegegnung, wurde weltberühmt und fand Eingang in viele Schulbücher, die
sich mit der Radiokunst beschäftigen. Die Entortung der Wirklichkeit im Hörspiel
generell, die Hirche so meisterhaft vorführte, wurde in dieser Zeit als Möglichkeit
verstanden, sich aus neuer Perspektive über die Gegenwart zu verständigen.
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Hirches preisgekröntes Hörspiel »Miserere« Mitte der 60er Jahre gab im Sinne
eines simultanen Abbilds Einblick in ein Mietshaus. Eine viersätzige »schreckliche
Sinfonie monotoner Hoffnungslosigkeit« schwärmte der »Hörspielpapst« Heinz
Schwitzke. Denn Hirche zeigte hier die Menschen in liebloser Traurigkeit; eine
akustische Depression, die möglicherweise eine Antwort darstellte auf die
florierende Außenfassade der Republik, die viele ihrer Bürger im Schatten des
Wirtschaftswunders vergaß. Der Hörspielhistoriker Stefan Bodo Würffel schrieb
über »Miserere«: »Auf diese Weise verdeutlicht das Hörspiel noch einmal, wie in
diesen Jahren Kritik an gesellschaftlichen Zuständen innerhalb der Gattung
geäußert wurde: die sich am Schluß unter ganz normalem Erwachsenengerede
entfernenden Kinder werden zu Symbolen einer äußeren Entartung, die gerade in
ihrer eigentümlichen Vermischung von heiterem Spiel und grausamem Ernst
verstören, erschrecken soll, um die nicht explizite Kritik an den alltäglichen
Zuständen beim Hörer zu wecken.«
Miserere
Produktion: WDR 1965
Mitwirkende: Hannes Messemer (Edmund); Cornelia Boje (Sigrid); HerbertFleischmann (Klaus); Otto Rouvel (Herr Kubak); Lilly Towska (Frau Kubak); RudolfJürgen Bartsch, Manfred Georg Herrmann, Lothar Ostermann (3 Zeitungsleser)
Regie: Oswald Döpke
Dauer: 28'00
Ursendung: WDR, 10. 11. 1965
»Vielstimmig und temperamentvol l konzert ierend, aber in kompositor ischerStrenge und mit sprachlicher Präzision beschwört Peter Hirche am Beispiel vonein paar Mietshausbewohnern das Böse und die Bedrohthei t unserer Welt. Erentwir f t ein zwar düsteres Bild, aber es ist ohne jeden Zynismus von leiderfül l terMenschlichkei t getragen. Seine Trauer um die Hinfäll igkei t des Menschenverbrämt Hirche weder mit poetisierender modischer Ornament ik noch mitpharisäerhaf ter Rhetorik. Um so eindringl icher klingt sein notvol ler Ruf:›Miserere‹ – Erbarme Dich!« (Aus der Begründung der Jury des Hörspielpreises derKriegsblinden)
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chh
1967. Zwielicht.
Rolf Schneider
* 17.4.1932 Chemnitz
Irritation auf dem diplomatischen Parkett
Zwischen Ost und West tobte der Kalte Krieg, Ludwig Erhard übermittelte eine
Friedensnote zur Abrüstung und Entspannung an fast alle Staaten – nur die
Machthaber in der DDR bekamen keine Post vom Kanzler. In diesem eisigen Klima
setzte sich der Bund der Kriegsblinden Deutschlands über alle Feindseligkeiten
der Tagespolitik hinweg und zeichnete erstmals einen Autor jenseits der Mauer
aus.
»Musstet Ihr nun ausgerechnet einen Repräsentanten der Unfreiheit und der
totalitären Staatlichkeit aller Lebensbereiche erwählen«, umriss Friedrich Wilhelm
Hymmen rhetorisch jene skeptisch fragenden Stimmen, die nicht verstehen
mochten, dass der Hörspielpreis sich nicht politisch vereinnahmen lassen würde
und stets eine künstlerische Auszeichnung war und ist.
Die Auszeichnung des damals in Ost- Berlin lebenden Schriftstellers Rolf
Schneider traf den Nerv deutsch- deutscher Befindlichkeit: Immerhin musste die
feierliche Preisübergabe erstmals in der Provinz stattfinden. Der Bonner
Plenarsaal blieb versperrt; das Münchner Funkhaus wurde zum diplomatischen
Ausweichquartier. Verständlich, dass alle führenden Bonner Politiker sich zum
Festakt hatten entschuldigen lassen: Auf die Vergabe des Hörspielpreises für
einen »real existierenden« östlichen »Bruder« war niemand vorbereitet.
Rolf Schneider, der Jahre später zum konstruktiven Grenzgänger zwischen den
beiden deutschen Staaten werden sollte, hüben und drüben auf dem Theater
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inszenierte, 1976 zu den Unterzeichnern der Protestresolution gegen die
Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR zählte, er schlug mit seinem Hörspiel
»Zwielicht« eine zunächst fragile Brücke zwischen den Systemen.
Über 50 Hörspiele, ein Opernlibretto (»Europa und der Stier«) und rund ein
Dutzend Theaterstücke (»Die Mainzer Republik«, »Die Juden von Paris. Heine und
Börne. Eine Collage«) hat Schneider inzwischen verfasst. Seine Radioarbeit hat
zum Teil vorweggenommen, was erst spät eingelöst werden konnte: die Deutsche
Einheit im Spiegel ihrer heterogenen gemeinsamen Geschichte.
Zwielicht
Produktion: BR/HR/WDR 1966
Mitwirkende: Lina Carstens (Sie); Friedrich Maurer (Er)
Regie: Otto Kurth
Dauer: 45'45
Ursendung: BR, 16.11. 1966
»In den fünfziger Jahren wurde vor einem polnischen Wojewodschaftsgericht einsonderbarer Prozeß geführ t. Eine Bauernfami l ie in entlegener Gegend hattewährend des Krieges einen jüdischen Flüchtl ing versteckt, gegen Bezahlung. Umdiese Einkünfte nicht zu verlieren, ließ man den Flüchtl ing in dem Glauben,Hitlers Herrschaft dauere immerfor t. « (Vorspruch zum Hörspiel »Zwielicht«)
»Wie behutsam ist hier inszeniert worden. Das echte Pathos hätte ständig insfalsche umschlagen können. Otto Kurth hat die Gefahr jedoch vermieden. DieRegie kannte den großen Unterschied zwischen dem Simplen und dem Einfachen,zu dem Lina Carstens ein wenig leichter fand als Friedrich Maurer. Vergessen wirnicht: Es ist sehr schwer für den Schauspieler, das Einfache zu finden – die›Natürl ichkei t des Gefühls‹, wie es G. B. Shaw nannte.« (Stuttgarter Zeitung, 23. 6.1967)
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1968. Das Aquarium.
Christa Reinig
* 6.8.1926 Berlin
Dialog als Handlung
Ihre Hörspiele, sechs an der Zahl – »Die kleine Chronik der Osterwoche« (SDR
1962), »Der Teufel, der stumm bleiben wollte« (RIAS 1963), »Tenakeh« (SDR
1965), »Das Aquarium« (SDR 1967), »Wisper« (SDR/HR/SR/SWF1968) und
»Mädchen in Uniform« (SWF 1979) – sind allesamt hintergründige Spiele mit dem
Surrealen, Phantasiedialoge, ohne zeitliche und räumliche Fixierung. Die Sprache
selbst wird zum dramatischen Mittelpunkt des Geschehens und zeigt die Welt als
ein widerstreitendes Stimmenspiel, das sogar der traditionellen Fabel entbehren
kann. Diesen damals neuen Ton beschrieb der Literaturwissenschaftler Stefan
Bodo Würffel mit den Worten: »Wenn man einerseits meint, Verbindungen mit
einzelnen Elementen der Spiele Ilse Aichingers und Ingeborg Bachmanns ›Knöpfe‹
und ›Zikaden‹ aufzeigen zu können, so erscheinen andererseits noch wichtiger
die Bezüge zu den Formen des Neuen Hörspiels, in denen ein logischer
Handlungszusammenhang nur noch in Ausnahmefällen angestrebt wird.«
Christa Reinig hatte zunächst als Blumenbinderin am Alexanderplatz in Ost-
Berlin gearbeitet, bevor sie an der Humboldt - Universität Kunstgeschichte und
Archäologie studieren konnte. Als junge Autorin hatte sie nach 1948 zu den
Beiträgern der satirischen DDR- Zeitschrift »Ulenspiegel« gehört. Doch Christa
Reinig eckte bei den Offiziellen sehr bald an. In einem bissigen Prosatext mit dem
Titel »Ein Dichter erhielt einen Fragebogen« enthüllte sie, was sie von der
Kulturpolit ik der DDR hielt, wenn dort die Frage gestellt wurde: »Können Sie uns
ein Arbeitsmittel zur Anfertigung möglichst hochwertiger Kunstwerke nennen,
das in unserem Wirtschaftsbereich nicht als Mangelware eingeplant ist?« 1964
kehrte Christa Reinig, als sie für ihren Band »Gedichte« (1963) mit dem
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Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen ausgezeichnet wurde, der DDR den
Rücken. In den 70er und 80er Jahren in der Frauenbewegung stark engagiert,
wird die Autorin vom offiziellen Literaturbetrieb wenig beachtet. Christa Reinig
lebt, infolge eines Unfalls schwerbehindert, in München.
Das Aquarium
Produktion: SDR 1967
Mitwirkende: Gustl Halenke. (Weißer Engel, genannt Argil); Giselheid Hönsch(Schwarzer Engel, genannt Bruno); Jürgen Goslar (Morgen Montag, ein toterFroschmann); Elisabeth Schwarz (Li, seine Frau); Peter Roggisch (Japser, seinBruder); Hans Timerding (Der Vater); Mila Kopp (Die Mutter); Günther Lüders(Kapitän Asmos Dunbar); Heinz Schimmelpfennig (Staunton, sein Offizier);Herbert Drubow (Ein Maat); Marisa Gaffron (Dispatcherin); Lotte Betke (FrauNeumann)
Regie: Raoul Wolfgang Schnell
Dauer: 49'05
Ursendung: SDR, 19.7. 1967
»Aus Rede und Gegenrede entstehen Motive, in Rede und Gegenrede werdenMotive aufgenommen und weitergeführ t bis zu dem letztmögl ichen denkbarenEnde. Das Drama des Lebens endet nie, es erscheinen immer neue Personen, diedie Handlung aufnehmen und weiterführen. Das Drama des Wortes endet mit demletzten logischen Wort, das in einem Dialog oder in einer Kombination vonDialogen gesprochen werden kann. Der Dialog ist nicht Begleittext einerDarstellung, gleichsam der Ton zum Film. Der Dialog ist die Handlung selbst.«(Christa Reinig in ihrer Ansprache bei der Preisverleihung am 8. Mai 1968)
chh
1969. Fünf Mann Menschen.
Ernst Jandl/Friederike Mayröcker
* 1. 8. 1925 Wien
† 9. 6.2000 Wien/
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* 20.12. 1924 Wien
Der Meilenstein
»Man kann wieder Radio hören«, titelte begeistert die »Süddeutsche Zeitung« im
April 1969. Es war mehr als eine freundliche Grußadresse an die beiden
Hörspielautoren Ernst Jandl und Friederike Mayröcker. Ihr gerade einmal
viertelstündiges Hörspiel hatte die Jury beeindruckt. 17 von 18 Stimmen, das
Ergebnis spricht für sich. Die Gründe für die Entscheidung lagen in einer
doppelten Richtung: Einmal bewies das Autorenpaar unter der maßgeblichen
Regie von Peter Michel Ladiges, dass die neue Technik der Stereophonie im
Hörspiel tatsächlich so etwas wie einen ästhetisch- akustischen Quantensprung
bedeutete und ganz spezifische Hörräume eröffnen konnte. Hinzukam die neue
Hörspielsprache im semantischen Bereich: die Reduktion der Worte und der Bilder
auf archetypische Grundmuster und Lebensläufe, die bei aller Lakonie auch auf
die eigene Biographie des Hörenden verwies.
Das experimentelle oder auch so genannte »Neue Hörspiel« war geboren. »Noch
verweist diese Sprache auf eine Wirklichkeit«, gab der Hörspielhistoriker Stefan
Bodo Würffel zu bedenken, »doch wird zugleich deutlich, daß diese Wirklichkeit
mit Hilfe der collagierten Sprachtrümmer nur noch unvollkommen erfaßt werden
kann und die Sprache daher im Begriff ist, sich selbst absolut zu setzen und die
Sprachtrümmer des Alltagsgeredes als einzige Wirklichkeit zu stiften.«
Das preisgekrönte Hörspiel der beiden Wiener Dadaisten und Avantgardisten
Mayröcker und Jandl ist der akustische Meilenstein; ein Glücksfall der
Hörspielgeschichte, ganz gewiss, denn nach der Ablehnung des Bayerischen
Rundfunks, das Hörspiel zu produzieren, verlangte es den Baden- Badener
Hörspielmachern Mut ab, sich auf das Experiment einzulassen.
»Fünf Mann Menschen« ist bescheiden in seinen zeitlichen Ausmaßen, aber um so
wirkungsvoller für jene Ohren, die gewillt waren und sind, zu hören und sich
einzulassen auf eine akustische Provokation in vierzehn Szenen.
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Fünf Mann Menschen
Produktion: SWF 1968
Mitwirkende: Günther Neutze (Ansager); Helmut Wöstemann, Jürgen Schmidt,Friedrich von Bülow, Gian Fadri Töndury, Gerhard Remus (Stimmen 1- 5); HansTimerding (Vater); Ellen Xenakis (Mutter); Heiner Schmidt (Berufsberater,Unteroffizier, Offizier, Richter); Dinah Hinz (Kellnerin, Krankenschwester,Schwester 1); Christine Davis, Ute Remus, Isabel Stumpf, Renate E. Bauer(Schwester II bis V)
Regie: Peter Michel Ladiges
Dauer: 15'00
Ursendung: SWF, 14.11. 1968
»Das einzelne Wort wird – vom Klang und von der Bedeutung her – isoliert, dieSprache streng und doch mit poetischer Phantasie auf ein Minimum reduziert.Wiederholende Sätze, die nur Markierungen eines unter Zwang mechanis ier tenLebenslaufs sind, führen nun vom Babygeschrei bis zur Füsilierung. Mit neuemBabygeschrei endet das Stück. In der Begründung der Entscheidung heißt es, beibeiden Autoren seien zum erstenmal in einem Hörspiel die Möglichkei tenkonkreter Poesie beispielhaft eingesetzt. Sie zeigten exemplarische Sprach- undHandlungsvorgänge, in denen der zur Norm programmierte menschlicheLebenslauf nicht abgebildet, sondern evoziert werde.« (Frankfurter AllgemeineZeitung, 2.4.1969)
chh
1970. Paul oder die Zerstörung eines
Hörbeispiels.
Wolf Wondratschek
* 14. 8. 1943 Rudolstadt
Opposition
Die außerparlamentarische Opposition, der Protest gegen alles Etablierte und
Eingeschliffene, erreichte 1970 auch die Feierstunde anlässlich der
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Preisverleihung. Wolf Wondratschek, gerade einmal 27 Jahre alt, verbat sich ganz
entschieden eine Zeremonie im Plenarsaal des Bonner Bundesrates. In einem
offenen Brief an die Jury stellte er dezidiert fest: »Auf mich trifft nicht zu, was
doch offensichtlich beglaubigt werden soll: Das gute Verhältnis des Schriftstellers
zum Staat.« Erschreckt suchte man ein Ausweichquartier, das man am 20. April
1970 im WDR-Funkhaus in Köln fand. Statt Festredner einzuladen, wurde eine
Diskussionsrunde einberufen; eine Veranstaltung, die freilich nicht ohne
Verunsicherung und Polemik ablaufen sollte.
Wolf Wondratschek markierte mit seinem Hörspiel »Paul oder die Zerstörung
eines Hörbeispiels« die radikale Inanspruchnahme neuer Erzählperspektiven, die
entschiedene Verabschiedung von Introspektion und Innerlichkeit im akustischen
Raum. Provokant und doch folgerichtig lautet es in seinem Hörspiel: »Ein Hörspiel
muß nicht unbedingt ein Hörspiel sein, d. h. es muß nicht den Vorstellungen
entsprechen, die ein Hörspielhörer von einem Hörspiel hat. Ein Hörspiel kann ein
Beispiel dafür sein, daß ein Hörspiel nicht mehr das ist, was lange ein Hörspiel
genannt wurde.«
Es war ein Jahrgang voller Vielfalt und Qualität, wie in der Kritik positiv vermerkt
wurde. Wolf Wondratschek hatte sich u. a. gegenüber den nominierten Stücken
von Jürgen Becker (»Häuser»), Ferdinand Kriwet (»One two two»), G. F. Jonke (»Der
Dorfplatz»), Ilse Aichinger (»Die Schwestern») und Heinrich Böll
(»Hausfriedensbruch») durchgesetzt.
Wolf Wondratschek, der als freier Schriftsteller in München lebt, veröffentlichte
Gedichte und Prosa. Bislang schrieb er sieben Hörspiele und mehrere
Drehbücher. Zuletzt publizierte er »Kelly Briefe« (1999), eine Mischform aus Lyrik
und Kurztexten. Der Literaturwissenschaftler Gert Mattenklott notierte dazu: »Der
Typ Wondratschek als Lebensform ist historisch geworden (...). Gegenwärtig
bleibt der sanfte Wahnsinn in den starken Worten einer beachtlichen Zahl schöner
Gedichte.
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Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels
Produktion: WDR/BR/HR/SR 1969
Mitwirkende: Brigitte Dryander, Peter Fitz, Werner Hanfgarn, Erich Herr, GerdPeiser, Olaf Quaiser, Arnold Richter, Lothar Rollauer, Werner Rundshagen, RobertSeibert und Jodoc Seidel
Regie: Heinz Hostnig
Dauer: 25'40
Ursendung: WDR, 6.11. 1969
»Wolf Wondratschek macht es den Hörern leicht, die geläufigen Hörgewohnheitenzu verlassen und eine neue Hörfähigkei t zu entwickeln. Er negiert mit seinemStück überkommene Formen, die eine Geschlossenheit vorgeben, wo Realität sichheute nicht mehr als eine Totale begreifen läßt. Konsequent setzt er an Stelleeines Bewußtseinsf lusses exakt gefügte Bewußtseinsspl i t ter und läßt ausMentali tät, Umwelt, Biographie und Psyche eines Lastwagenfahrers, aber auch desAutors, der über ihn reflekt iert, ein Mosaik entstehen, das neue Denkschemataerkennbar macht und dessen akustische Musterung das Ohr auf eigentüml iche,ganz dem Rundfunk zugeordnete Weise reizt.« (Aus der Begründung der Jury desHörspielpreises der Kriegsblinden)
chh
1971. Zwei oder drei Porträts.
Helmut Heißenbüttel
* 21. 6. 1921 Rüstringen
† 19.9. 1996 Glückstadt
Alles ist möglich, alles ist erlaubt
1968, auf der internationalen Hörspieltagung der Deutschen Akademie der
Darstellenden Künste in Frankfurt am Main, formulierte Helmut Heißenbüttel
seine Vorstellungen von moderner Literatur: »Literatur ist nur da aktuell, wo sie
sich in Kontakt weiß mit dem zeitgenössischen historischen Anspruch. (...) Erst
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was von der Literatur sagbar gemacht wird, bestimmt das Sagbare; ja, bestimmt
das, was es überhaupt gibt, denn es gibt nur das, was ausgesprochen werden
kann. Darüber gibt es keine Vorbestimmung. Alles ist möglich. Alles ist erlaubt.«
Der Lyriker, Erzähler, Essayist und Kritiker Helmut Heißenbüttel war ein homme
de lettres , ein experimenteller Spracherneuerer und er war – was häufig
vernachlässigt wird – ein professioneller Rundfunkmacher. Von 1959 bis 1981
baute er die Redaktion »Radio- Essay« am SDR zu einem wichtigen literarischen
und musikalischen Brennpunkt in der deutschen Radiolandschaft aus.
In diesen Jahren entstanden seine avantgardistischen Hörspiele mit Titeln wie
»Was sollen wir überhaupt senden?« (SDR 1970), »Projekt Nr. 2« (WDR 1970) oder
»Warzen und alles« (WDR 1973). Diese experimentellen Arbeiten sind allesamt
von einem anarchischen Spielwitz getragen, der auslotet, »was sprachlich
artikulierbar ist«. Trotz seines Credos »Alles ist möglich. Alles ist erlaubt«, das
zum Schlagwort des Neuen Hörspiels avancierte, sah Heißenbüttel die Einbindung
des Hörspiels in ein öffentlich- rechtliches Korsett verschiedenster
Verantwortlichkeiten recht nüchtern: »Kein Hörspielleiter oder Dramaturg kann
sich darüber hinwegsetzen, daß er das Hörspiel plazieren muß. Alle ästhetischen
und werkimmanenten Kriterien müssen auf den Plazierungszwang bezogen
werden. Denn ungesendet ist das Hörspiel nichts als ein Manuskript unter
anderen. Hier sind zunächst die Differenzen zu sehen, die das Hörspiel als
Literatur von der übrigen literarischen Szene scheidet.« (Helmut Heißenbüttel:
Hörspielpraxis und Hörspielhypothese, 1969)
Zwei oder drei Porträts
Produktion: BR/NDR/SWF 1970
Mitwirkende: Hans Wieder (1 M); Christoph Quest (2 M); Rüdiger Bahr (4 M); PaulHoffmann (7 M); Heinz Baumann (9 M); Heinz Musäus (10 M); Michael Lenz (3 M);Hannelore Cremer (5 F); Imo Heite (6 M); Ilse Neubauer (8 F); Gert Heidenreich (11M); Wolfgang Hess (12 M); Rosemarie Seehofer (13 M)
Regie: Heinz Hostnig
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Dauer: 37'45
Ursendung: BR, 8. 5. 1970
»Heißenbüttels ›Zwei oder drei Portraits‹ erinnert an seinen ersten Roman:›D'Alemberts Ende‹ (1970). In einem Kapitel dieses Buches wird eine Person aussich variierenden, sich widersprechenden, wiederholenden, einander ergänzendenSätzen rekonstru iert. Das Stereo- Hörspiel Heißenbüttels könnte einNebenproduk t dieses Romankapitels sein. Auch hier die Collage aus einerDécollage, das Herstellen der Figur eines Kunstkr i t i kers – wobei sich erweist, daßTeile dieses Porträts mit denen eines zweiten identisch sind (und wie imVexierbild erkennt sich der Autor im drit ten Porträt). Das Faszinierende,Erschreckende, Belustigende ist das Auswechselbare der versammelten Zitate,Bilder, Vorstel lungen, die auf zahlreiche Meinungen, Standorte, Assoziat ionen –auch Trugschlüsse und Ideologien – beruhen.« (Helmut M. Braem in derStuttgarter Zeitung, 18. 2. 1971)
chh
1972. Preislied.
Paul Wühr
* 10. 7.1927 München
Das Falsche
Er ist ein bajuwarischer Filou, ein Münchner Sprachpoet, der von einer
eingeschworenen Leser- Gemeinde verehrt wird, ein kryptischer, im eigenen
Verwirrspiel sich versteckender Autor: Paul Wühr, der bis zu seiner vorzeitigen
Pensionierung 1984 als Hauptschullehrer in Gräfelfing und Lochham arbeitete
und seit den 50er Jahren Gedichte, Kinderbücher und Hörspiele sowie als
besonderes Kennzeichen dickleibige experimentelle Romane veröffentlicht. Sein
literarischer Ansatz: Die Lehre vom Falschen, folgt man beispielsweise seinem
1987 erschienenen, 715 Seiten starken Diarium »Der faule Strick«. Das Falsche ist
demnach ein poetisches Spielsystem, das – so Wühr – sich gegen »das Richtige«
wendet, wie es die Gesellschaft mit planmäßiger, zielgerichteter Entwicklung
verkörpert, in der das Erreichenwollen sich mit Gewalt Recht verschafft. Poesie
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dagegen das Falsche – ist richtungslos, wahllos, mäandrierend, geriert sich als
Sprung, als Spiel und manchmal auch als »freischaffender Blödsinn«.
Mit diesem nach und nach immer ausgefeilteren poetischen Ansatz wandte sich
Paul Wühr Anfang der 60er Jahre auch dem Hörspiel zu. Ansprechpartner wurde
zunächst die Kölner Hörspieldramaturgie, nachdem der Bayerische Rundfunk
»Das Experiment« und »Wer kann mir sagen, wer Sheila ist?«, erste
sprachexperimentelle Versuche, abgelehnt hatte. Eine Annäherung an den
Heimatsender fand erst Anfang der 70er Jahre statt, als Wühr sein großes
Städtebuchprojekt »Gegenmünchen« im Carl- Hanser- Verlag hatte veröffentlichen
können. Statt des ursprünglichen Plans, aus dem »Gegenmünchen«- Material ein
Hörspiel zu produzieren, entwickelte sich im Kontakt mit dem Münchner
Dramaturgen Christoph Buggert im Herbst 1970 die Idee, mit einem
Aufnahmegerät auf die Straße zu gehen und die Münchner Bürger zu befragen,
wie sie sich in diesem Staate fühlen und wie sie ihre derzeitigen
Lebensbedingungen beurteilen.
Paul Wühr berichtete in einem Vorspruch zum »Preislied« über den Ansatz seiner
O- Ton- Arbeit: »Befragt wurden Personen aus allen sozialen Schichten und allen
Altersgruppen (...): insgesamt 22 Personen (...). Das ist klar: Individuelle
Aussagen und Meinungen wurden durch Kombination verändert. Blieb ihr Sinn
zwar unangetastet, so bekamen sie doch in einem anderen Zusammenhang einen
anderen Stellenwert. Hatten die Äußerungen der einzelnen Personen vorher ihre
persönlichen Meinungen wiedergegeben, so drückten sie nun die Meinungen
eines Gesamtbewußtseins aus. Mit der freimütigen Übergabe ihrer Stimmen
ermöglichten die Beteiligten also dieses Spiel.«
In den folgenden Jahren überraschte Paul Wühr immer wieder mit spektakulären
Hörspielarbeiten, darunter die aufwendige Sound- Collage »Soundseeing
Metropolis München« (WDR 1987). Mit seinen O- Ton- Produktionen dagegen stieß
er des öfteren auf Ablehnung. »Trip Null«, Aufnahmen mit jugendlichen
Drogenabhängigen, wurde 1971 vom BR abgesetzt; »So eine Freiheit« wurde 1972
vom WDR wegen »peinlichen Voyeur- (ecouter- )ismus« abgelehnt.
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Preislied
Produktion: BR/NDR 1971
Mitwirkende: Vom Autor gesammelte Originalstimmen
Musik: Enno Dugend
Realisation: Paul Wühr
Dauer: 55'20
Ursendung: BR 2, 4. 6. 1971
»Durch geschickte Montage ergibt sich so (..) eine mit Allgemeinplätzen,Privatphi losophien, Lebensleitsätzen und Geschwätz gepflaster te ›Gesellschaft alsKunstwerk‹. Das Un- Sinnige von Klischees, das Systemimmanente vonSprichwörtern und sogenannten Lebensweisheiten deckt sich auf.« (BarbaraBronnen in der Münchner Abendzeitung, 4. 6. 1971)
huw
1973. Der Tod meines Vaters.
Hans Noever
* 10. 5. 1928 Krefeld
Dekonstruktion
Als Hans Noever im Mai 1973 für sein Hörspieldebüt »Der Tod meines Vaters« der
Hörspielpreis der Kriegsblinden überreicht wurde, war der streitbare und
unangepasste Dramatiker, Romancier und Journalist in der literarischen
Öffentlichkeit der Bundesrepublik noch so gut wie unbekannt. In Krefeld
aufgewachsen, mit 17 Jahren zum Militär eingezogen, war er erst 1955 nach
Deutschland zurückgekehrt, nach 3 600 Kilometer Fußmarsch über Afrika,
Spanien und Italien. Ein Theaterstück war entstanden, das 1961 in Paris
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aufgeführt worden war; ein Erzählband lag seit 1966 vor – »Venedig liegt bei
Cleve« - , in dem er seine Nachkriegsodyssee verarbeitet hatte; daneben hatte
Noever seit Ende der 60er Jahre erste Kontakte zur Münchner Filmszene
geknüpft.
Im Februar 1971 hatten Christoph Buggert, den Hörspieldramaturgen des
Bayerischen Rundfunks, »einige Gedanken zu einem Original- Hörspiel« erreicht.
Mit einem Kurzdialog hob das Exposé an:
A: Herr W. hat sich erschossen.
B: Und warum hat Herr W. sich erschossen?
A: Er hatte bemerkt, dass er zweimal dieselbe Geschichte erzählte.
Das »Originalton- Projekt« wurde realisiert. Zweimal erzählt Hans Noever darin die
Geschichte vom Tod seines Vaters. Zunächst offen assoziativ in einem Kreis
zufällig anwesender Freunde, dann als Beifahrer während einer Autofahrt in der
Umgebung Münchens. Ein Manuskript wurde nicht erstellt; lediglich Mikrophon
und Bandgerät waren bereit. Damit nicht genug: In einem zweiten Arbeitsschritt
unterzog Noever dieses Basismaterial einer Bearbeitung. Beide Erzählabläufe
wurden parallelisiert und ineinandermontiert, wobei sich ergab, dass die
unterschiedlichen Erzählanlässe sich erheblich beeinflusst hatten. Die beiden
Berichte über ein- und dasselbe Erlebnis wiesen überraschende Unterschiede auf.
Die Geschichte alten Stils war aufgebrochen; die Grenzen zwischen der reinen
Fiktion und der konkreten Wirklichkeit waren gesprengt. Noever und mit ihm eine
ganze Autorengeneration hatten sich auf die Suche nach einer radikalen,
durchaus subjektiv gefärbten Aufrichtigkeit begeben. Wie hatte Noever in seinem
Exposé formuliert: »Je weniger Gegenwart, Bereitschaft zur Erfahrung im
Augenblick, desto dicker bläst sich die Erinnerung als Mittel zum
Gegenwartsersatz auf.«
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Der Tod meines Vaters. Originalton- Projekt
Produktion: BR/WDR 1972
Sprecher: Erzähler (Hans Noever)
Realisation: Hans Noever
Dauer: 39'50
Ursendung: BR 2, 4.2.1972
Parallel zu seinem von einigen umjubelten, von anderen als verstörend
empfundenen Hörspieldebüt startete der Autodidakt Hans Noever Anfang der
70er Jahre eine steile Karriere als Filmemacher und Fernsehregisseur. Zahlreiche
Spielfilme folgten dem deutsch- französischem Erstling »Zahltag« seit 1973,
darunter »Die Frau gegenüber« (1978), »Die Nacht mit Chandler« (1980) und
»Lockwood Desert Nevada« (1987), ausgezeichnet mit einem Bayerischen
Filmpreis.
huw
1974. Das große Identifikationsspiel.
Alfred Behrens
* 30. 6. 1944 Hamburg
Atmende Leichen im Mediendschungel
Der in Berlin lebende Alfred Behrens ist ein Medienprofi par excellence. Er hat als
Werbetexter, Journalist und Übersetzer sowie als »Programme Assistant« bei der
BBC gearbeitet und gehört heute zu den produktivsten Hörspielautoren in der
Bundesrepublik. Nur einige Titel aus seinem radiophonen Œuvre seien angeführt:
»Frischwärts in die große Welt des totalen Urlaubs« (SDR 1974), »Tagebuch einer
Liebe oder Jetzt erzählen wir uns eine Geschichte, in der jetzt immerzu jetzt
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bleibt« (SDR 1978), »Die Reise an den Anfang der Erinnerung« (SDR 1980),
»Autoreverse« (SWF/SFB 1987) sowie »Die Fabrik, das Zimmer, die Fabrik«,
HR/BR/SWF 1990). Darüber hinaus hat sich Behrens inzwischen auch einen
ausgezeichneten Namen als Drehbuchautor für dokumentarische Szenarien
gemacht.
Seine Hörspiele waren und sind stets auf der Höhe der radiophonen Entwicklung.
Sie erproben jeweils das dramaturgisch und technisch Machbare, ohne dabei
modischen Trends zu unterliegen. Das galt für die faszinierende O- Ton- Reise
durch Europa in »Locomotion« (HR/BR/SFB 1987) ebenso wie für das
preisgekrönte Science- Fiction- Stück »Das große Identifikationsspiel«, ein Hörspiel
aus dem anbrechenden Zeitalter des Starkults und der Massenmanipulation bei
gleichzeitiger Kommunikationslosigkeit in einer überlauten Mediengesellschaft.
Mit kritischer Ironie und bissigem Zungenschlag werden willfährige
Medienkonsumenten als manipulierbares »Identifikationsmaterial« im Glamour
der elektronischen Scheinwelt missbraucht. Die Süchtigen werden
»zwangsgetrippt«, sodass die Privatdetektive Dai Brysin und Lemmy Fergusson
alle Mühe haben, die »atmenden Leichen« kontroll iert aus ihren Träumen
abstürzen zu lassen.
In der Regieanweisung zu dem preisgekrönten Hörspiel notierte der Autor: »Für
die Realisation dieses Hörspiels stellen meine Ohren sich eine durchgehende
elektronische Musik- Geräusch- Montage vor, die die Funktion erfüllt, die drei
textl ichen Hauptelemente – Thriller, Kino und ScienceFiction – radiophonisch
wirksam werden zu lassen.« Der Berliner Popmusiker Klaus Schulze setzte dies
um, ein Künstler, der zuvor bei »Tangerine Dream« und »Ash Ra Temple« gespielt
hatte.
Die Fachkritik feierte Behrens mit dieser Mischung aus Krimi, Science- Fiction und
handfester Medienkrit ik als einen weiteren Vertreter des so genannten Neuen
Hörspiels. Harry Neumann sprach anerkennend vom »reinsten Andy- Warhol-
Hörspiel« und ergänzte: »Eines der (noch) seltenen Hörwerke, in denen die
Stereophonie nicht bloß zusätzliches Reizmittel, sondern integrierender
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Bestandteil des Stoffes ist« (Funk- Korrespondenz, 28.2. 1974). Winfried Geldner
hob hervor: »Die Wahl der Synchronsprecherstimmen, der unterlegte futuristische
Geräuschteppich, Zwitschern, Dröhnen, vielfach moduliert, Collagen aus
Twentieth Century Fox- und MGM- Thema, Eurovisionsthema und Filmmusiken,
Wembley- Hits, Stadionatmosphäre mit exakt aufgelegter Reportage zeigten, zu
welchem Faszinationsgrad sich das Hörspiel noch immer aufschwingen kann.«
(epd/Kirche und Rundfunk, 22. 8. 1973)
Das große Identifikationsspiel
Produktion: BR/RIAS 1973
Mitwirkende: Christian Brückner (Erzähler); Wolfgang Hess (Jack The Tripper); LeoBardischewski (Jackie The Tripper); Hellmut Lange (Dai Brysin); Fred Maire (JimBurns); Margot Leonhard (Betty Bums); Niels Clausnitzer (Sam Change); KlausKindler (Lemmy Ferguson); Rudolf Neumann (Dev Neidlinger); Christian Marschall(Jenkins); Michael Lenz (Myers); Manfred Seipold (Snatcher); in weiteren Rollensprechen: Marlis Compere, Heinz Detlev Bock, Josef Manoth, Leon Rainer, KlausSeidel, Martin Urtel
Musik: Klaus Schulze
Regie: Alfred Behrens
Dauer: 68'40
Ursendung: BR, 17. 8. 1973
»Behrens kennt sich in den von den Medien geschaffenen Traumräumen so gutaus, weil er von der Pike auf gelernt hat, wie man Bewußtsein verändern kann. Erist ein ebenso erfahrener wie gewitzter Psychologe der Werbestrategie, die daraufaus ist, dem Konsumenten vorzugaukeln, die Scheinreali tät sei die eigentl icheRealität. Der Autor macht sich diese Strategie zu eigen, dreht jedoch den Spießum, indem er zeigt, daß – zum Beispiel – die angeschwärmten Idole (Filmstars,populäre Fußballspieler) gar nicht mehr als Personen, sondern nur noch alssynthetische Medien existieren.« (Helmut M. Braem in der Stuttgarter Zeitung, 28.3. 1974)
chh
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1975. Goldberg- Variationen.
Dieter Kühn
*1. 2. 1935 Köln
Hörspiel- Variationen
Dieter Kühn ist seit den 80er Jahren vor allem als Romancier bekannt, als intimer
Kenner mittelalterlicher Literatur, als meisterhafter Übersetzer aus dem
Mittelhochdeutschen und als Biograph. »Ich Wolkenstein« (1977), »Herr Neidhart«
(1981), »Der Parzival des Wolfram von Eschenbach« (1986), »Neidhart aus dem
Reuenthal« (1988) sowie »Tristan und Isolde des Gottfried von Straßburg« (1991)
– lauten die Stationen eines beispiellosen Erfolgs. Die Kenntnis dieser Literatur
und das Interesse an diesen Texten schafften im Zuge einer allgemeinen
Mittelalter - Begeisterung den Sprung über das Mediävistik- Seminar in die breite
Öffentlichkeit. Doch Dieter Kühn – der Hörspielautor?
Sieht man von einigen Hörspielen über Bettine von Arnim und Clara Schumann in
den 80er und 90er Jahren ab, ist der Schwerpunkt der radiophonen Arbeit Dieter
Kühns zwei Jahrzehnte zuvor anzusiedeln. Diese literarischen Anfänge in einem
mittlerweile immensen Gesamtoeuvre sind heute nahezu vergessen. Dazu hat
auch der Autor selbst beigetragen, da seine mehr als siebzig Hörspieltitel
schwierig zu überblicken sind. Er ließ sich nicht an eine Hörspielabteilung
binden, die seine Produktionen pflegte, sondern produzierte seit 1960 für fast
alle Rundfunkanstalten. Er nutzte das Radio als Experimentierfeld, ergriff die
Chance, Revisionsfassungen zu erstellen und verschiedene Inszenierungen
anzuregen (auch die preisgekrönten »Goldberg- Variationen« haben neben der
Inszenierung durch Regisseur Heinz von Cramer eine weitere, 1975 in Graz durch
den Autor selbst eingespielte Fassung, in der die ursprünglich von Dieter Kühn
vorgesehene Musikimprovisation des Jazzkomponisten Wolfgang Breuer
verwendet wurde). Einen letzten Grund schließlich für diese Unüberschaubarkeit
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des Kühnschen Radiowerks nennt Eva-Maria Lenz: »Kühns unermüdliche
akustische Expeditionen schließen auch das Risiko beträchtlicher
Niveauschwankungen der Ergebnisse, ja des gelegentlichen Mißlingens ein. So
hat der Autor Ende der siebziger Jahre (...) einen großen Teil früherer Hörspiele
gesperrt, darunter eine Handvoll Debütstücke.« Lenz, die sich intensiv mit den
Kühnschen Rundfunkarbeiten beschäftigt hat, spricht von »Hörlustspielen« (u. a.
»Die Fünf- Uhr- Marquise«, WDR 1969), »Sprachregelungsspiele« (u.a. »Große Oper
für Stanislaw den Schweiger«, BR/NDR/WDR 1973) sowie von »Kontroversen von
Text und Musik zu Kunst und Leben«. Zu dieser letztgenannten Kategorie
gehören »Schlachtsinfonie« (WDR 1970), in der sich Kühn mit dem ersten Teil von
Beethovens einst überaus populärer Battaglia »Wellingtons Sieg«
auseinandersetzt, sowie mehrere Arbeiten um den Komplex Richard Wagner und
Ludwig Il. Im Zentrum dieser Text- Musik- bzw. Kunst- und- Leben- Hörspiele aber
stehen die »Goldberg- Variationen«.
Goldberg- Variationen
Produktion: BR/HR 1974
Mitwirkende: Ernst Jacobi (Graf Keyserlingk)
Regie: Heinz von Cramer
Dauer: 52'25
Ursendung: BR 2, 28. 6. 1974
»Dieses Hörspiel geht aus von einer histor ischen Vorlage: ein Musiker, Goldberg,steht im Dienst eines Fürsten, Keyserlingk. Freil ich wird die Beziehung dieserbeiden histor ischen Figuren nicht rekonstru ier t, hörbar wird vielmehr ein Modell,das vorspiel t und durchspielt, wie (auch) Musik dienstbar gemacht werden kann.Oder: welche Funktionen (auch) Musik auferlegt werden können und was solcheFunktionen aus Musik machen können (...). Es findet statt ein Dialog zwischeneinem Sprecher und einem Musiker, der freil ich nur in Musik präsent ist, nichtselbst zu Wort kommt. Das Hörspiel ist eine Variationsreihe, wie schon der(übernommene) Titel andeutet: in immer neuen Konstellat ionen wird dasVerhältnis von Sprechen und Musikmachen durchspielt. « (Dieter Kühn an dieHörspielabtei lung des Bayerischen Rundfunks, 28. 6. 1973)
huw
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1976. Centropolis.
Walter Adler
* 14. 9. 1947 Dümpelfeld bei Adenau/Eifel
Vom Kunstkopf – zum Kunsthörspiel
Er gehört heute zu den führenden und wichtigsten Hörspielregisseuren in der
Radiolandschaft der Bundesrepublik Deutschland. Kein Hörspielprospekt von
einer der öffentlich- rechtlichen Rundfunkanstalten ohne seinen Namen: Walter
Adler. Er bürgt für modernes (aber keineswegs modisches) Arrangement der
Stimmen und Figuren. Gerühmt werden seine handwerkliche Perfektion in der
Stimmenführung seiner Schauspieler, so dass seine Regiehandschrift zum
Gütesiegel für zahlreiche Hörspielbearbeitungen geworden ist, die der Autor-
Regisseur nicht selten selbst in die Hand genommen hat. Ob er beispielsweise
den Kriminalroman »Fahrstuhl zum Schafott« von Noël Calef für eine herrliche
Krimistunde einrichtet (SWR 1999) oder in Max Frischs »Triptychon«
(DLF/SDR/SFB/WDR 1979) die Regie führt – immer kann der Hörer sicher sein, ein
exzellentes radiophones Stück zu Gehör zu bekommen, in ästhetischer und in
technischer Hinsicht.
Diese Karriere im Dienste des Hörspiels war keineswegs voraussehbar: Nach einer
Lehre als Industriekaufmann betätigte sich Adler als Bühnenarbeiter, Schauspieler
und Regieassistent, bevor er schließlich von 1969 bis 1971 als Regiedebütant in
die Hörspielabteilung des Südwestfunks gelangte. Danach war Walter Adler vor
allem freiberuflich tätig.
In »Centropolis«, dem 1976 preisgekrönten Hörspiel, stach vor allem die
Erprobung der neuen »Kunstkopf - Tontechnik« hervor. Ein neuer, nahezu
dreidimensionaler Tonraum war durch die technische Errungenschaft möglich
geworden, der deutlich präziser als bei den stereophonen Produktionen zwischen
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»vorne« und »hinten« unterscheiden konnte. Diese »Kunstkopf«- Technik, die
beim Hörer freilich immer einen Kopfhörer zur Voraussetzung hatte, setzte sich
später nicht durch; sie sollte eine Episode in der Hörspielentwicklung bleiben. Die
Jury des Hörspielpreises der Kriegsblinden konstatierte über »Centropolis« und
über die »Kunstkopf«- Möglichkeiten: »Frappierend und für das Hörspiel
konstitutiv ist die Genauigkeit, mit der Adler falsche Sprache, Klischees, die
Leerformeln der Medien zu entlarven weiß. ›Centropolis‹ demonstriert, daß
Spannung und Unterhaltsamkeit noch und wieder ohne Preisgabe von Qualität
möglich sind.«
Centropolis
Produktion: WDR/BR/SWF 1975
Mitwirkende: Ernst Jacobi (Balt); Cordula Trantow (Pat); Eva-Katharina Schulz(Mary); Hans Korte (Kain); Gustl Halenke (Aufnahmeleiterin); Hans Caninberg(Chefarzt); Michael Degen (Lautsprecher); Rosel Schäfer (Terroristin); sowie inweiteren Rollen: Gertraud Heise, Marianne Lochert, Gerd Andresen, Heinz Meier,Michael Thomas, Heiner Schmidt u. a.
Realisation: Walter Adler
Dauer: 48'35
Ursendung: WDR, 2.12.1975
»Wo befinden wir uns? Im New York von heute oder von morgen? Mit Hilfe einerverfeinerten Stereophonie, der sogenannten Kunstkopf technik, werden wir mitdem Science- fiction - Hörspiel ›Centropol is‹ von Walter Adler (...) in eineunheiml iche Welt staatl ich sanktionier ter Verbrechen hineingeführ t,hineingesogen. Im Grunde herrscht Anarchie. Aber diese Anarchie stell t sich darim Gewande einer alles überwachenden, jede Freiheitsregung drosselnden totalenHerrschaft.« (Kurt Lothar Tank im Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt,28.3.1976)
chh
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1977. Fernsehabend.
Urs Widmer
* 21. 5. 1938 Basel/Schweiz
Deutschland vor der Glotze
Vierzig oder mehr Hörspiele dürfte der Schweizer Nachbar Urs Widmer im Laufe
der Jahre gewiss geschrieben und produziert haben. Er ist dabei vor allem dem
ehemaligen Südwestfunk und seinem Chefdramaturgen Heinz Naber treu
geblieben, produzierte aber auch für andere ARD- Rundfunkanstalten.
Den begehrten Karl- Sczuka- Preis des Südwestfunks errang der Autor- Regisseur
bereits 1974 mit seinem Hörspiel »Die schreckliche Verwirrung des Guiseppe
Verdi« (SWF 1974). In der Laudatio zu dieser Auszeichnung formulierte der Juror
Tibor Kneif treffsicher: »Aber zweifelsohne ist in der ästhetischen Botschaft des
Werkes eine andere, gesellschaftskrit ische verschlüsselt, die uns alle brennender
denn je angeht. Es kommt darauf an, welche Schlüssel man zu ihrer Enträtselung
verwendet. Ideologisch Verbogene werden, so scheint es, zu Urs Widmers
Hörstück keinen Zugang finden.« Kurz: Widmers Hörspiele eignen sich in der Tat
nicht für irgendeine Vereinnahmung. Sein Witz ist hintergründig und macht einen
großen Bogen ums einfache Verlachen und alle Stammtischgrimassen, auch die
akustischen.
»Fernsehabend« nahm bereits 25 Jahre vor »Big Brother« die Debilisierung und
mentale Analphabetisierung des Fernsehkonsumenten im Angesicht des medialen
Entertainments kritisch unter die Lupe. Das Lachen hält dem Lacher immer
zugleich den eigenen Spiegel vor Ohren und das macht die Botschaften des
Schweizers immer auch etwas unbequem für die (deutschen) »Lauscher«. Der
Autor: »Ich bin nicht gekränkt, wenn jemand ein Hörspiel von mir kurzweilig
findet, im Gegenteil. Wenn sich aber die Forderungen nach der unaufhörlichen
Unterhaltung im Rundfunk durchsetzen, werde ich nicht mehr vergnügt sein
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können, weil meine Heiterkeit als Tarnung für sehr unheitere Vorgänge wirken
wird.«
Fernsehabend
Produktion: SWF 1976
Mitwirkende: Dieter Eppler (Mann); Elisabeth Schwarz (Frau); Johannes E. Naher(Kind)
Regie: Urs Widmer
Dauer: 36' 10
Ursendung: SWF, 6. 5. 1976
»Ein Hauch von Melancholie und surrealem Widersinn gibt Widmers kleinemStück, das im übrigen klug, freundlich und mit Witz einen Verschnit tbundesbürgerl icher Normali tät aufbereitet, so etwas wie Tiefgang. VormFernsehschirm, der von Fußball über Parlamentsdebatte bis Tierfi lm das Üblichepräsentiert, reden Mann und Frau über Gott und die Welt. Sie reden überBeckenbauer und Invasionen von einem anderen Stern, über Kampfbienen amAmazonas und Störche, über das Glück und übers Sterben – viel gehobenesMassenmedienhalbwissen und ein kleiner Rest Selbsterfahrenes.« (HeinrichVormweg im Kölner Stadt - Anzeiger, 14. 4. 1977)
chh
1978. Vor dem Ersticken ein Schrei.
Christoph Buggert
* 17. 6.1937 Swinemünde
Zwei Gesichter eines Hörspielers
Nur einmal in der Geschichte des Hörspielpreises der Kriegsblinden wurde die
Auszeichnung an einen amtierenden Hörspielchef verliehen. 1978 erhielt sie
Christoph Buggert als Verfasser einer bitterbösen, aggressiven Satire; zu einem
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Zeitpunkt, als der 40Jährige bereits seit zwei Jahren sehr erfolgreich die
Hörspielabteilung des Frankfurter Senders leitete.
Der Hörspielautor und der Hörspieldramaturg, der Romancier und der Redakteur
– diese produktive Spannung war und ist konstitutiv für den 1937 auf der Insel
Usedom in einem Pfarrhaus geborenen, in Pommern und in Bremen
aufgewachsenen Christoph Buggert. Seit Schülertagen schreibt er; in der
Freiburger Studentenzeit entstand ein unveröffentlichter Roman; seit 1972 –
zunächst als Hörspieldramaturg beim BR, dann als Abteilungsleiter beim HR – ist
sein Name untrennbar mit der Geschichte des deutschen Hörspiels verknüpft.
Bisherige Bilanz: Mehr als ein gutes Dutzend Hörspiele in 30 Arbeitsjahren, dazu
ein autobiographisch verdichteter Roman mit dem Titel »Das Pfarrhaus. Buch der
Entzückungen« (1988); daneben das nicht zu quantifizierende Wirken etwa als
Förderer des Kurzhörspiels in den 70er Jahren und des O- Ton- Hörspiels seit den
70er und 80er Jahren sowie als Mentor der groß angelegten »Radiotage« des
Hessischen Rundfunks in den späten 90er Jahren. Zwei Gesichter, zwei Seiten
eines »Hörspielers«.
»Unter allen Deutungen der Situation, in der wir leben, ist die für mich die
einleuchtendste, daß wir uns in einen Zustand der totalen Desorientierung
hineinbewegen«, äußerte der Autor Christoph Buggert 1977 über seinen
literarischen Beweggrund und führte über »Vor dem Ersticken ein Schrei« aus:
»Mein Hörspiel ist eine Beschreibung der zunehmenden Müdigkeit in uns, der
Erschöpfung, der Unfähigkeit, weiterhin auseinanderzuhalten, was eigentlich sein
sollte und was so nicht sein darf.« In einer Collage grotesker, absurd zugespitzter
Kleinszenen brachte Buggert diese seine Entfremdungsobsession zum Ausdruck,
bannte die »wahnsinnigen« Phänomene der Gesellschaft.
»Vor dem Ersticken ein Schrei« bildete den ersten Teil einer »Trilogie des
bürgerlichen Wahnsinns«, deren zweiter – »Nullmord« – 1987 und deren dritter
Teil unter dem Titel »Blauer Adler, Roter Hahn« 1989 beim WDR produziert
worden sind.
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Vor dem Ersticken ein Schrei
Produktion: WDR/BR 1977
Mitwirkende: Eva Garg, Ingeborg Schlegel, Sigrun Höhler, Gisela Claudius(Weibliche Stimmen); Charles Wirths, Christian Brückner, Rudolf Jürgen Bartsch,Josef Meinertzhagen (Männliche Stimmen); Elsbeth Heurich (Alte Frau); Will Court(Alter Mann); Jan Mehrländer (Kind)
Regie: Raoul Wolfgang Schnell
Dauer: 67'48
Ursendung: WDR, 20.9. 1977
»Eine Frau soll ihren wahrscheinl ich verunglückten Mann beschreiben, ihr fälltnichts ein. Auf einer Urlaubsfahrt durch Südfrankreich kommt einem Ehepaar dereigene Name, die eigene Adresse abhanden. Ein Mann zieht den Schluß, daßPartnerschaft auf Angestell tenbasis zeitgemäßer ist als jedes überl iefertePartnerschaftspr inzip. Und so weiter ... (Aus dem Pressetext zum Hörspiel »Vordem Ersticken ein Schrei«)
huw
1979. Frühstücksgespräche in Miami.
Reinhard Lettau
* 10.9.1929 Erfurt
† 17. 6. 1996 Karlsruhe
Literatur und Politik
In der bundesrepublikanischen Nachkriegsliteratur nimmt Reinhard Lettau eine
besondere Stellung ein: Ein deutscher Literaturwissenschaftler, der in Harvard
promovierte und viele Jahre in den USA lehrte, ein Prosaautor, dessen schmales
Werk zwischen 1962 und 1994 erschien und von Perioden literarischer Abstinenz
gezeichnet war. Ein Poet und Essayist, der zeitgenössisch immer wieder für
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Aufsehen sorgte und trotzdem bei seinem frühen überraschenden Tod 1996 den
Lesern von den Feuilletonisten erst wieder ins Bewusstsein gebracht werden
musste.
Lettau debütierte 1962 mit »Schwierigkeiten beim Häuserbauen«, parabolischen
Erzählungen voller hintergründig- groteskem Humor. Dem Prosaband folgten
»Auftritt Manigs« (1963), »Gedichte« (1968), »Feinde« (1968) und »Immer kürzer
werdende Geschichten & Gedichte & Porträts« (1973) – Veröffentlichungen, über
die Karl- Heinz Bohrer urteilte, dass darin »die Widerlegung autoritären Denkens
durch seine absurden Konsequenzen« erfolge. Lettau war ein hochpolitischer
Autor, ein Schriftsteller jedoch, der Schreiben und Handeln kategorisch trennte.
»Wenn ich Politik machen will, gibt es Tribünen, von denen ich meine Ideen
ausdrücken kann«, erklärte er 1963, zu einem Zeitpunkt, als junge Intellektuelle
in Deutschland den Tod der Literatur auf ihre Fahnen schrieben. Auf eine Rede
hin, in der Lettau 1967 in Berlin die Springer- Presse attackierte, wurde er als
amerikanischer Staatsbürger aufgefordert, die Bundesrepublik zu verlassen. Er
ging zurück in die USA, wo er eine Literatur- Professur an der Universität von
Kalifornien in La Jolla übernahm.
»Die Frühstücksgespräche in Miami« waren 1977 – nach »Täglicher Faschismus.
Amerikanische Evidenz aus 6 Monaten«, einer dokumentarischen Analyse über
die Frage »Welche Verbrechen teilen uns die Mächtigen in ihren Medien mit?« –
ein literarisches Comeback, ein Text, in dem sich Lettau das erste und einzige
Mal an der dramatischen Form versuchte. Die Gesprächsszenen um
lateinamerikanische Diktatoren in einer Hotelhalle in Florida waren vom
Süddeutschen Rundfunk im April 1978 als Hörspiel eingespielt worden, das
Stadttheater Gießen führte das Stück im September des selben Jahres auf.
Reinhard Lettau kehrte nach der Vereinigung 1991 aus den USA nach
Deutschland zurück. 1993 erhielt er den Berliner, 1995 den Bremer Literaturpreis
verliehen. Sein literarisches Gesamtwerk, das nach seinem Tod neu
herausgegeben wird, findet große Aufmerksamkeit.
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Frühstücksgespräche in Miami
Produktion: SDR/HR/WDR 1978
Mitwirkende: Karl- Maria Schley (Vorsitzender); Hannes Messemer (PräsidentAmulio Manuel Rosa); Wolfgang Engels (General Wessin y Wessin); Traugott Buhre(General Miguel Mimosa); Ulrich Matschoss (General Luis Torrijos); Ernst Jacobi(Der Professor) sowie Brigitte Buhre, Monika Debusmann u. a.
Musik: Peter Zwetkoff
Regie: Walter Adler
Dauer: 65'20
Ursendung: Südfunk 2, 27.4. 1978
»Ein Hotel in Miami (USA) beherbergt abgehalf terte lateinamerikanischeDiktatoren, Generäle, Gefolgsleute, Geheimdienste. Unabgerissen sind dieBeziehungen zum Vaterland und zum Gastland; zwischen Gegenwart undVergangenheit, Persönlichem und Polit ischem fetzen die Szenen und Gesprächeauseinander.« (Presseankündigung des Süddeutschen Rundfunks)
huw
1980. Der Tribun.
Mauricio Kagel
* 24. 12. 1931 Buenos Aires/Argentinien
Wider Diktatoren und Verführer
Mauricio Kagel, obwohl im südamerikanischen Buenos Aires geboren, ist
maßgeblicher Erneuerer des deutschen Hörspiels, ein Sprech- und Klangvirtuose,
der Ton und Wort souverän zu verschränken weiß. In seinem internationalen
Schaffen verbindet sich das, was im besten Sinne als multikulturelle Leitkultur zu
verstehen wäre. Nach ersten musikalischen Engagements in Argentinien kam
Kagel 1957 als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in die
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Bundesrepublik. Von 1969 an leitete er das Institut für Neue Musik an der
Rheinischen Musikschule und wurde 1974 zum Professor für Neues Musiktheater
an der Musikhochschule in Köln ernannt. Vor allem sein Kurs »Musik als
Hörspiel« fand breite Beachtung. Für sein Hörwerk »Die Umkehrung Amerikas«
wurde Kagel 1977 mit dem Prix Italia ausgezeichnet; zweimal – 1970 und 1995 –
erhielt er den Karl- Sczuka- Preis für seine beim WDR produzierten Stücke »Ein
Aufnahmezustand« sowie »Nah und Fern. Radiostück für Glocken und Trompeten
im Hintergrund«.
Als ihm 1980 für »Der Tribun« der Hörspielpreis der Kriegsblinden zuerkannt
wurde, gab es Stimmen in der Jury, die fast wehmütig attestierten, Mauricio Kagel
hätte den Hörspielpreis eigentlich schon viel früher verdient: zum einen für
»Soundtrack« (WDR 1975), zum anderen für »Die Umkehrung Amerikas« (WDR
1977). Kagel zeigte im »Tribun« – übrigens in einer interessanten Fortschreibung
der Lettauschen Diktatoren- Satire des Vorjahrs – die Kritik an mächtigen
politischen Marionetten. Kagel, Skriptschreiber, Regisseur und Sprecher in einem,
zeigt im »Tribun« das vollständige Spektrum dessen, was Hörspiel als ars sui
generis auszeichnen kann: kunstvolle Sprache und Musik, einmalig und
unverwechselbar konzipiert für die medialen Möglichkeiten des Rundfunks und
seine Hörer.
Der Tribun
Produktion: WDR 1979
Mitwirkende: Mauricio Kagel (Der Tribun)
Musik: Mauricio Kagel
Regie: Mauricio Kagel
Dauer: 55'55
Ursendung: WDR, 19.11. 1979
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»Während einer Reihe von Jahren versuchte ich, gewisse Elemente zuabstrahieren, die zu poli t ischen Reden gehören. Ich schrieb etwa 500 Karteikartenmit stichwortar t igen Themen. Die Entstehung meines Hörspiels ›Der Tribun‹bestand daraus, in ein Studio eingeschlossen zu werden, um mit Hilfe derKarteikarten stundenlang zu improvis ieren und somit in den Zustand einesPolitikers zu kommen, der überzeugen muB. Ich habe nicht (einen bestimmtenText) gelesen, sondern meine Rede frei gehalten, mit Hilfe einer breiten Palettevon Wut bis Pseudoliebe, von verwerf l icher Rhetorik bis Betonung vonEdelgedanken, um einen Zustand unaufhörl ichen Sprechens zu rekonstru ieren.«(Mauricio Kagel in dem Vortrag »Realität und Fiktion im Radio und Hörspiel« aufder Hörspiel tagung der European Broadcasting Union (EBU) in Berlin, 27. 11. 1981)
chh
1981. Moin Vaddr läbt.
Walter Kempowski
* 29.4.1929 Rostock
Deutsche Familiengeschichte
Sein Name verband sich lange Zeit ausschließlich mit seinen Romanerfolgen (und
deren Verfilmungen): »Tadellöser & Wolff« (1971) und »Uns geht's ja noch gold«
(1972) – Chroniken der deutschen Geschichte und immer auch die Saga der
eigenen Familie. Es war eine bemerkenswerte literarische Karriere, die den Sohn
eines Rostocker Reeders zu einem der meist gelesenen deutschen
Gegenwartsautoren werden ließ.
In Walter Kempowskis Biographie spiegelte sich bis dahin vieles der deutsch-
deutschen Kriegs- und Nachkriegswirklichkeit wider: Aus dem Flakhelfer der
letzten Kriegstage wurde nach 1945 ein Druckerlehrling, der zwischen West und
Ost, zwischen Wiesbaden und Rostock pendelte. 1948, bei einem Besuch der
Elternstadt, wurde er unter Spionageverdacht verhaftet und von einem
sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Mehrere Jahre
saß er in Bautzen ein, bevor er 1954 amnestiert wurde. Im Westen dann holte er
das Abitur nach, studierte Pädagogik und wurde Landschullehrer in
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Niedersachsen. 1980 ließ er sich beurlauben und lebt seither als freier
Schriftsteller in Haus Kreienhoop bei Nahrtum.
In diesem Jahr 1980 gründete Kempowski ein eigenes zeithistorisches Archiv, in
dem er begann, Lebenszeugnisse zu sammeln – Fotos und Briefe, Tagebücher
und Berichte, Biographien und Erinnerungsnotate –, geschichtliche Dokumente
von Privatpersonen, Augen- und Ohrenzeugen, so genannten kleinen Leuten; mit
überwältigender Resonanz, wie bislang 3000 Familiennachlässe und rund 200
000 Fotos bei ihm demonstrieren. Erwies sich der Autor Kempowski bereits in
seinen früheren Veröffentlichungen als scharfsinniger Protokollant und
aufmerksamer Chronist des deutschen Bürgertums, so steigerte der Sammler und
Arrangeur Kempowski das Collage- Prinzip in seinem »Echolot«- Projekt zu bislang
ungeahnten Dimensionen. 1993 erschienen die ersten vier – von der Kritik und
dem Publikum euphorisch aufgenommenen – Bände des »kollektiven Tagebuchs
1943 - 1949« unter dem Titel »Echolot«, gefolgt 1999 von weiteren 3 200 Seiten
»kollektiven Tagebuchs« zwischen dem 12. Januar und dem 14. Februar 1945«.
Speziell dieses »Echolot ll«- Material lag einem der spektakulärsten
Rundfunkarbeiten in den 90er Jahren zugrunde, der 14stündigen Ton- Collage
»Der Krieg geht zu Ende. Chronik für Stimmen. Januar bis Mai 1945«, gesendet
zum 50. Jahrestag des Kriegsendes am 7. Mai 1995 als »Radiotag« des
Hessischen Rundfunks. Doch die Beziehung Walter Kempowskis zum Rundfunk
reichte bis in die 70er Jahre zurück. Als kulturkrit ischer Originalton- Autor hatte
er für »Beethovens Fünfte«, einem Originalton- Hörspiel (NDR/SDR 1975/76),
bereits den Karl- Sczuka- Preis erhalten; für »Moin Vaddr läbt« (HR 1980), eine
sensible Hörballade, war dem stark vom Elternhaus und von seinem im Weltkrieg
gefallenen Vater geprägten Autor der Hörspielpreis der Kriegsblinden verliehen
worden.
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Moin Vaddr läbt. A Ballahd inne Munnohrd kinstlich med Mosseg unde
Jesann von Wullar Kinnpusku
Produktion: HR 1980
Mitwirkende: Ernst Jacobi (Erzähler); Friedrich Maurer (Mahn 1); Dieter Borsche(Mahn 2); Käthe Haack (Fruè); Bruni Löbel (Fruè 2); Anette Conrad (Kind); BettinaDöser (Kind); Matthias Ebert (Kind); Elisabeth Miserre (Kind); Lars Rösner (Kind);Daniel Sailer (Kind)
Musik: Peter Zwetkoff
Regie: Horst H. Vollmer
Dauer: 33' 15
Ursendung: HR 2, 25.2. 1980
»Kempowski verwendet eine erfundene, aus Elementen des Jiddischen,Schlesischen und Niedersächsischen zusammengesetzte Sprache. Kempowski, dersich hier ›Wullar Kinnpusku‹ nennt, erscheint nicht, wie in seinem Roman, in derDistanz des Erzählers. Er bringt sich als Betroffener ins Spiel. Die sprachlicheVerwebung von Opfern und Tätern und die Versöhnung in der guten Welt derKinder gibt diesem Hörspiel über das ganz Persönliche hinaus den Wert desDokumentar ischen.« (Thomas Thieringer in der Frankfur ter Rundschau,26.3.1981)
huw
1982. Hell genug - und trotzdem stockfinster.
Peter Steinbach
* 10. 12.1938 Leipzig
Hörspiel- Kino
Er sei in »eine Wirklichkeit voller Gewalt« hineingeboren worden, so markierte
Peter Steinbach 1982 den Ausgangspunkt seiner schriftstellerischen
Medienarbeit; in die »Wirklichkeit einer Zivilisation des Grauens«, wie er betonte,
der nur durch den »Mut zur totalen gewaltlosen Verweigerung« zu begegnen sei:
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»Wer Schwerter zu Pflugscharen umschmieden will, der muß die verfluchten
Schwerter erst einmal von sich werfen.« Die Debatte um den so genannten NATO-
Nachrüstungsbeschluss in der Bundesrepublik war auf einem Höhepunkt
angekommen, und die deutsch- deutsche Auseinandersetzung trieb einer neuen
Eiszeit entgegen. In diese Situation hinein hielt Peter Steinbach eine der politisch
markantesten Reden in der Geschichte des Hörspielpreises der Kriegsblinden.
Dieses Engagement, diese Auseinandersetzung mit der deutschen NS-Geschichte,
mit dem Kriegsgeschehen und den Erfahrungen der Nachkriegszeit beherrschten
den in Leipzig geborenen, seit 1954 zunächst in Kiel, dann auf einer dänischen
Insel lebenden Fernseh- und Hörspielmacher. In den 60er Jahre entstanden erste
literarische Arbeiten, Theater- und Hörfunkarbeiten, Kinderbücher; Geschichten
von einfachen Leuten, die um das Thema Heimat- und Wurzellosigkeit kreisen.
1974 wurde sein erstes Hörspiel gesendet, »Immer geradeaus und geblasen«,
dessen Recherche- Material auch in das Drehbuch für den Film »Die Stunde Null«
einging, den Edgar Reitz 1976 realisierte. Speziell die Ereignisse dieser
vermeintlichen Wendezeit in Europa und die Entwicklungen ab dieser »Stunde
Null« kehrten von nun an immer wieder: in den Drehbüchern zum dreiteiligen
Fernsehprojekt »Das Dorf« in den 80er Jahren ebenso wie in dem preisgekrönten
Hörspiel »Hell genug – und trotzdem stockfinster«.
In der Begründung der Jury wurde hervorgehoben: »Steinbach schildert
bedrückende Vorgänge bei Kriegsende in einem Dorf, das von den Amerikanern
besetzt wird. Er verbindet die zeitgeschichtliche Dokumentation mit aktueller
Zeit- und Medienkritik, indem er ein Fernseh- Reportageteam, für das die
Menschen nur verwertbares Material sind, jene Vorgänge konstruieren läßt.«
Hörspiel und Fernsehen – in beiden Medien ist Peter Steinbach einer der
produktivsten Autoren. So entstammen seiner Feder nicht nur die Drehbücher zu
Edgar Reitz' »Heimat«- Epos, zur Fernsehverfilmung von Viktor Klemperers
Tagebüchern sowie zusammen mit Christoph Busch zur Verfilmung von Uwe
Johnsons »Jahrestage«, sondern mittlerweile auch mehr als 30 Hörspiele, darunter
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– ebenfalls zusammen mit Christoph Busch »Mein wunderbares Schattenspiel«,
eine westfälische Alltagsgeschichte, in deren Mitte ein kleines Kino steht, eine
Kino- Geschichte im Hörspiel.
Hell genug – und trotzdem stockfinster
Produktion: WDR 1981
Mitwirkende: Klaus Herm (Reporter); Franziska Grasshoff (Assistentin); MichaelGspandl (Kameramann); Wolfgang Wagner (Johannes Gass heute); Marcus Riedel-Weber (Johannes Gass – damals); Günther Mack (Erzähler) sowie Erwin Dittberner;August Dahl; August Schmittinger u. v. a.
Regie: Bernd Lau
Dauer: 59'33
Ursendung: WDR, 8.10.1981
huw
1983. Die Brautschau des Dichters Robert
Walser im Hof der Anstaltswäscherei von
Bellelay.
Gert Hofmann
* 29.1. 1932 Limbach
† 1. 7. 1993 Erding
Schauplatz Menschenkopf
Als ihm 1983 der Hörspielpreis der Kriegsblinden überreicht wurde, war der
50jährige Schriftsteller, Publizist und promovierte Literaturwissenschaftler Gert
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Hofmann zwar kein literarischer Newcomer mehr, doch er stand erst am Beginn
seines fulminanten Schaffensdranges. In den fast eineinhalb Jahrzehnten
zwischen 1980 und seinem Tod 1993 sicherte er sich mit knapp 20 Romanen,
Novellen und Prosaarbeiten einen einzigartigen Ruf als Erzähler in der deutschen
Gegenwartsliteratur. »Die letzte große Hoffnung auf eine zeitgenössische
Prosakunst, die an die Traditionen der Moderne anknüpft«, rühmte Jens Jessen im
Nachruf der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, und der »Tagesspiegel« sicherte
ihm neben den literarischen Paten Thomas Bernhard und Elias Canetti einen
festen Platz zu. Ein faszinierender Ruhm, den sich der eigenwillig melancholische
und gleichzeitig engagiert aufklärerische Prosaist, angefangen bei der Novelle
»Die Denunziation« (1979) über seinen bekanntesten Roman »Der Kinoerzähler«
(1990) bis zum Lichtenberg- Roman »Die kleine Stechardin« (posthum 1994
erschienen) erschrieben hatte.
Gegenüber dem Erzähler Gert Hofmann trat der Dramatiker und Rundfunkautor
im Bewusstsein der Öffentlichkeit zurück. In den 60er und 70er Jahren, als der
Germanistikdozent zunächst noch an verschiedenen europäischen Universitäten
arbeitete, waren mehrere Bühnenwerke entstanden, und von 1972 an schrieb
Gert Hofmann stetig an einem Hörspielœuvre von annähernd 50 Sendungen, auch
sie jedoch ein integraler Bestandteil des auffallend geschlossenen literarischen
Werkes Hofmanns, eines Kosmos, in dem immer wieder die gleichen Figuren,
Motive und Konstellationen auftauchen und obsessiv umkreist werden. »Mein
Interesse gilt weniger den Möglichkeiten des Mediums«, führte Hofmann bei der
Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden aus, »als denen des Menschen,
mit ihm ist mein Los enger verknüpft. Der Schauplatz meiner Werke, ob man sie
nun liest oder hört, ist und bleibt der Menschenkopf, der, da es ein moderner
Kopf ist, ein unübersichtlicher, heikler, von allen Seiten bedrängter, von Druck,
Lärm und Gestank unablässig überfluteter, mit sich selbst und den anderen
tödlich entzweiter Kopf ist. Davon handle ich.«
Dass gerade ein literarischer »Kopf« wie der des Schweizer Robert Walser
besondere Anziehungskraft besaß, wird vor dem Hintergrund dieser Aussagen
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verständlich. Mehrfach taucht dieser daher im Werk Hofmanns auf, etwa im
Schauspiel »Der Austritt des Dichters Robert Walser aus dem Literarischen
Verein«, 1983 uraufgeführt, sowie im preisgekrönten Hörspiel um dessen
tragikomisches Liebeswerben um eine schlichte, lebenskluge Frau.
Die Brautschau des Dichters Robert Walser im Hof der
Anstaltswäscherei von Bellelay, Kanton Bern
Produktion: NDR/HR 1982
Mitwirkende: Alfred Eich (Robert Walser); Miriam Spoerri (Frieda Mermet); HorstKeitel (Konsul Hausschild); Rüdiger Schulzki (ein Sprecher); Peter Müller- Buchow(ein Ansager); Pete Sage (eine Geige)
Realisation: Hans Rosenhauer
Dauer: 64' 15
Ursendung: NDR 3, 22.5. 1982
»Die einzigart ige Leistung Hofmanns besteht darin, daß er den Hörer zwarfeinfühl ig in die Sprachwelt Walsers versetzt, diese aber zugleich mit seinemdurchaus eigenen Sprachstil verschmilzt. Kein Experiment also, aber vielleicht istdas der Zukunf tsweg des Hörspiels: anrührende, bewegende Geschichten zuerzählen.« (Friedrich Wilhelm Hymmen im Deutschen Allgemeinen Sonntagsblat t,27.3. 1983)
huw
1984. Wald. Ein deutsches Requiem.
Gerhard Rühm
* 12. 2. 1930 Wien
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Poetische Konstruktionen
Gerhard Rühm ist ein multimedialer Künstler par excellence: Poet, Komponist und
Maler – oder präziser: klangmalender Schriftsteller, literarischer Komponist,
Verfertiger von Klebegedichten und Schriftbildern, Komponist und Arrangeur von
Klängen, Lauten und Tönen.
Der Sohn eines Wiener Philharmonikers studierte in Wien an der Staatsakademie
für Musik und darstellende Kunst. Seine Künstlerlaufbahn begann er in Wien mit
avantgardistischen Kompositionen, etwa dem gemeinsam mit dem Pianisten Hans
Kann produzierten Tonband »geräuschsymphonie in a« (1951). Bald wurde Rühm
aber auch literarisch tätig und veröffentlichte erste »lautgedichte«. Er gehörte zu
den Mitbegründern der so genannten »Wiener Gruppe«, einer
Autorenvereinigung, zu der neben Gerhard Rühm die Schriftsteller Hans Carl
Artmann, Friedrich Achleitner, Konrad Beyer und Oswald Wiener gehörten, und
die sich in der Nachfolge des Dadaismus und des Surrealismus neuen
experimentellen Ausdrucksformen widmeten. In jenen Jahren entstanden Rühms
»montagen« (1956), zahlreiche Dialektgedichte sowie der Band »konstellationen«
(1961).
Als die »Wiener Gruppe« 1964 auseinanderging, zog Rühm nach Berlin, wo er
seine künstlerische Arbeit fortsetzte. 1972 übernahm er eine Dozentur, später
bis 1995 eine Professur für freie Graphik und künstlerische Teilbereiche an der
staatlichen Kunsthochschule in Hamburg. Der Literaturwissenschaftler Jörg
Drews, ein intimer Kenner des Rühmschen Schaffens, kommentierte 1976: »Seine
Herkunft vom Komponieren hat sicher etwas zu tun mit seiner dann auch auf
dem Gebiet der Literatur und des Hörspiels angewendeten Auffassung vom
Material- Charakter aller Teilbereiche von Sprache: Der Laut, der Buchstabe, das
Wort, der Satz sind ihm Ausgangselemente der poetischen Konstruktion, nicht
vorgegebene Gattungen und auch nicht der Stoff, der Inhalt als etwas, das sich
dann schon eine in der Art eines Gefäßes zu denkende, nur lax auf den Inhalt
bezogene Form suchen werde. Kein Parameter künstlerischen Arbeitens und
künstlerischer Gebilde sollte mehr unbefragt, unanalysiert bleiben; Form und
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Struktur sollten tendenziell in jedem Fall erst analytisch und konstruktiv zugleich
gefunden werden.«
Diese Transformation von Texten in Musik, diese interdisziplinäre, multimediale
künstlerische Arbeit setzte Gerhard Rühm seit Ende der 60er Jahre in einer Reihe
von Hörwerken um, die vor allem in enger Zusammenarbeit mit dem WDR 3
Hörspiel- Studio bzw. dem nachfolgenden Studio Akustische Kunst unter seinem
Leiter Klaus Schöning entstanden. Gerhard Rühm erhielt 1977 für sein
»Radiomelodram« »Wintermärchen« den Karl- Sczuka- Preis für Hörspiel als
Radiokunst und 1983 den Hörspielpreis der Kriegsblinden für »Wald. Ein
deutsches Requiem«.
Wald. Ein deutsches Requiem
Produktion: WDR 1983
Mitwirkende: Elisabeth Hartmann und Matthias Ponnier (Sprecher); OthelloLiesmann (Violoncello); Gerhard Rühm (Stimme und Klavier); Collegium VocaleKöln, Leitung: Wolfgang Fromme (Chor)
Realisation: Gerhard Rühm
Dauer: 32'25
Ursendung: WDR 3, 6.12. 1983
»Das Hörspiel faßt, wie von selbst, auf konzentr ierte Weise verschiedeneakustische und im engeren Sinn radiophone Ausdrucksformen wie Feature,Hörbild, O- Ton (Meinungsumfrage), Magazin, Nachrichten, Melodram zu einermontagehaften Einheit zusammen. Dieses Hörspiel sollte vor allem eine durchkünstler ische Mittel besonders eindringl ich gewordene Mitteilung sein, die – ohneKommentar, ohne Polemik und durch kein persönliches Credo belastet – denHörer zu eigener Stellungnahme provozieren will.« (Gerhard Rühm in derPresseankündigung zu »Wald. Ein deutsches Requiem«)
huw
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1985. Nachtschatten.
Friederike Roth
* 6.4.1948 Sindelfingen
Poetische Imaginationen
»Ein bißchen Gott spielen am Schreibtisch« – das ist in Friederike Roths Worten
der Akt des Schreibens. Seit 1979 arbeitet sie als Hörspieldramaturgin beim SDR
bzw. beim SWR. Sie studierte Philosophie und Linguistik und promovierte bei Max
Bense.
Ihre frühen Hörspiele – »Klavierspiele« (WDR 1980), »Der Kopf, das Seil, die
Wirklichkeit« (SDR 1981) – spiegeln vor allem die Lust und die Leidenschaft, die
Welt mit der Architektur der Sprache neu zu schöpfen. Die Schauspiele »Ritt auf
die Wartburg« (1982), »Krötenbrunnen« (1984), »Das Ganze ein Stück« (1986),
»Erben und Sterben« (1992) brachten ihr wohlwollende Aufmerksamkeit der Kritik
ein. Sie erhielt den Stuttgarter Literaturpreis (1982), den Ingeborg- Bachmann-
Preis (1983) und wurde ein Jahr später Stadtschreiberin von Bergen- Enkheim.
In den 90er Jahren zog sie sich, selbstgewollt, aus dem aktiven literarischen
Betrieb zurück. Radiohörer von SDR und SWR werden freilich durch die eine oder
andere Hörspielbearbeitung aus ihrer Feder nach Texten von Javier Tomeo, Philip
Roth oder Ivan Goncarov entschädigt.
Elf Tage haben 1984 die Hörspielaufnahmen zu »Nachtschatten« unter der Regie
von Heinz von Cramer gedauert, eine lange Produktionszeit für ein Zwei-
Personen- Hörspiel. Nicht zuletzt die musikalischen Einschübe, die Zwiesprache
der Geschlechter, machen den Zuhörer vergessen, dass »Nachtschatten« kein
analytisches Hörgeschehen verfolgt. Der Hörer soll eintauchen in entwickelte
Weltgefühle, ohne den Verstand zu entmündigen. Auffallend ist in diesem
Hörspiel die Vorliebe der Autorin für archaisierende Wendungen und Bilder, ihre
Neigung zur Auflösung der grammatikalischen Ordnung mit Hilfe von Inversionen
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und anderen syntaktischen Effekten. »Nachtschatten«, das ist akustisch
geronnene Schöpfungssehnsucht, verschränkt mit einem wild auflauernden
Vernichtungstrieb.
»Ganz wunderbar und überzeugend ist Heinz von Cramers Inszenierung diesesverwegen schwierigen und vieltönigen, langen Gedanken - und Wortspiels.« (RolfVollmann in der Stuttgar ter Zeitung vom 17.11. 1984)
Nachtschatten
Produktion: SDR/NDR/RIAS Berlin 1984
Mitwirkende: Walter Renneisen (Der Mann); Hille Darjes (Die Frau)
Musik: Salvatore Sciarrino; Giacinto Scelsi; Ludwig van Beethoven; Bob Dylan
Regie: Heinz von Cramer
Dauer: 67'05
Ursendung: SDR, 15.11. 1984
»Die Welten, deren Erschaffung mir vorschwebt, sind vornehmlich Welten ausStimmen und Tönen, was an meiner individuellen Wahrnehmungs - , Erinnerungs - ,und Assoziat ionsstruk tu r liegen mag. Was dabei idealerweise entstehen soll: einGewebe aus Stimmen – Geraune, Geflüster, Geschrei, und Geseufze, Geplapper,Geschwätz – aber auch Beschwörung und Vergewisserung der Existenz aus ihrenWörtern; ein Stimmengewebe also als Versuch der Rekonstrukt ion, nicht jedochbloßer Abbildung des menschlichen Diskurses. Das Hörspiel bietet sich hier, wiekeine andere Gattung sonst, als Medium an. (Aus der Preisrede von FriederikeRoth, gehalten am 25. April 1985 in Bonn)
chh
1986. Die Befreiung des Prometheus. Hörstück
in neun Bildern.
Heiner Müller / Heiner Goebbels
* 9. 1. 1929 Eppendorf /Sachsen
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† 30. 12. 1995 Berlin/
* 17. 8. 1952 Neustadt /Weinstraße
Text als Landschaft
Seine Hörspiele, seine Kompositionen und Performances veränderten in den 80er
Jahren die Hörspiellandschaft grundlegend. In der Diskussion um eine
Musikalisierung der Hörspielform war eine neue Stimme zu hören, die sich mit
überwältigendem Erfolg Gehör verschaffte. Vor allem die Reihe mit Produktionen,
die der seit 1972 in Frankfurt am Main lebende Musiker und Komponist Heiner
Goebbels nach Texten des in der DDR lebenden Dramatikers Heiner Müller
vorstellte, war imposant, darunter: »Verkommenes Ufer« (HR 1984), »Die
Befreiung des Prometheus« (HR/SWF 1985), »Der Mann im Fahrstuhl« (ECM 1988)
und »Wolokolamsker Chaussee I – V« (SWF/BR/HR 1989). Die Auszeichnungen
ließen nicht auf sich warten, allein drei Mal der Karl- Sczuka- Preis – 1984, 1990
und 1992 –, dazu der Prix Futura 1990 und der Hörspielpreis des Jahres 1997;
nicht zu vergessen der Hörspielpreis der Kriegsblinden am Beginn dieser
Erfolgskurve 1986.
Fasziniert waren die Jurys sowie ein zahlreiches Konzert - und Rundfunkpublikum
von Heiner Goebbels Umgang mit Texten. Er selbst beschrieb sein
kompositorisches Verfahren mehrfach, indem er den »Materialcharakter der
Texte« betonte und den Anspruch hervorhob, diesen »mit musikalischen Mitteln
transparent zu machen«. Es sei eine »Expedition«, auf die er sich einlasse, ein
Vordringen in eine »Textlandschaft«. In seinem Essay »Text als Landschaft«
führte Goebbels aus: »Wenn ein Text auch in seinen Bauprinzipien, seiner
Schreibweise auf den Inhalt, oder sagen wir besser die Inhalte verweist, Hinweise
aufstellt – was bei Texten Müllers immer der Fall ist –, erweist sich dieses
Verfahren eben doch nicht als formal; sondern es reflektiert rhythmische,
strukturelle, architektonische Referenzen. Kompositorische Arbeit damit,
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ermöglicht – jenseits interpretatorischer Illustration – ein Hörbarmachen dieser
Schichten, Transparenz der schriftstellerischen Strategie und Erfahrung an Text.«
Ausgangspunkt für das Hörstück »Die Befreiung des Prometheus« ist ein kurzer
Prosatext, der in Müllers Theaterstück »Zement« integriert war. Mit Songs und
Collagen, in einer raffinierten, am Film orientierten Technik des Schnitts und der
Rückblende näherte sich Goebbels diesem Text, um zweierlei hörbar zu machen,
wie er in der Presseankündigung schrieb: »Die große Faszination, die die
unvorstellbaren Dimensionen von Arbeit und Zeit, Kot und Gestank auf mich
ausüben; und die (nach André Gide und Franz Kafka) neuen politischen
Perspektiven der Arbeit am Mythos, mit denen Müller den Doppelcharakter des
Prometheus humorvoll ausstattete. Einmal ist er als Feuerräuber Helfer der
Menschen, zum anderen ist er Gast am Tisch der Götter.«
Heiner Goebbels: Die Befreiung des Prometheus. Hörstück in neun
Bildern. Nach einem Text von Heiner Müller
Produktion: HR/SWF 1985
Mitwirkende: Otto Sander; Heiner Müller; Angela Schanelec; Jacob Goebbels-Rendtorff; Walter Raffeiner (Gesang)
Komposition: Heiner Goebbels
Realisation: Heiner Goebbels
Dauer: 44'39
Ursendung: HR 2, 3.10. 1985
Gleich am Beginn der dramatischen Arbeiten Heiner Müllers stand ein Hörspiel:
»Die Korrektur«, 1957 im Rundfunk der DDR urgesendet. Es folgten mehrere
Rundfunkarbeiten, z. T. zusammen mit Inge Müller verfasst, sowie Müllers
Lieblingshörspiel »Der Tod ist kein Geschäft« 1961, ein Kriminalhörspiel, das er
während der Zeit seines Aufführungsverbotes unter dem Pseudonym Max Messer
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geschrieben hatte. 1990 wurden im Rahmen der »Experimenta 6« in Frankfurt am
Main, die Heiner Müller gewidmet war, in einer Werkschau mehr als 25
Hörspielproduktionen öffentlich und im Programm des HR präsentiert.
»Müllers Texte sind selbst musikal isch, im strengen Sinn; eher verwandt derMusik Bachs oder Schönbergs als der Chopins oder Strawinskys (...). Der Lesereines Textes von Heiner Müller geht Wege zurück, genauer: oft vor und zurück,Wege zwischen den Worten, weil präzise Auslassungen, Verkürzungen immerwieder zu diesen Wegen einladen.« (Reiner Goebbels in einer Rede auf derExperimenta 6, 1990)
huw
1987. Drei Männer im Feld.
Ludwig Harig
* 18. 7.1927 Sulzbach/Saar
Sprachsteller
Ausgangspunkt seiner gesamten literarischen Arbeit sei, so Ludwig Harig in
einem Interview 1989, die »innere Notwendigkeit, daß etwas gesprochen und
nicht gelesen, daß etwas gehört und nicht gelesen« werde. Als ihn prägendes
Beispiel führt er Raymond Queneaus »Exercises de style« an, jene 99 Variationen
des Sprechens, die er zusammen mit Eugen Helmle aus dem Französischen
übersetzt hatte. Ludwig Harig also weniger ein Schriftsteller als vielmehr ein
Sprachsteller, ein Hörsteller?
Der 1927 in Sulzbach im Saarland geborene Autor kann zwar mittlerweile auf ein
umfangreiches Œuvre blicken: Romane und Novellen, Gedichte aller Art, darunter
Sonette und Haikus, Texte zu Foto- und Graphikbänden, Essays und
Übersetzungen. Doch zu diesen Veröffentlichungen im Druck gesellt sich noch
einmal eine Vielzahl an Rundfunksendungen. Radioarbeiten, wie Features,
Reiseberichte, Radio- Essays und Kindersendungen, deren Honorare es ihm
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möglich machten, seinen von 1950 bis 1970 ausgeübten Beruf als
Volksschullehrer zu quittieren und seither als freier Schriftsteller zu leben; sowie
schließlich mehr als ein Dutzend großer Hörspielarbeiten, von denen nahezu jede
Produktion – darunter »Starallüren« (SR/SDR 1967), »Ein Blumenstück«
(SR/SDR/HR/SWF 1968), »haiku hiroshima« (SR/WDR 1969) und »Staatsbegräbnis«
(SR/WDR 1969) – in der Geschichte der Weiterentwicklung des Sprachspiels, des
O- Ton- Verfahrens und der stereophonen Möglichkeiten im so genannten »Neuen
Hörspiel« einen besonderen Platz einnimmt. Zu Recht wird dieses
medienspezifische Merkmal der literarischen Arbeit Harigs mittlerweile in
Lexikoneinträgen und Porträts gewürdigt.
1987, dem Jahr, in dem Harig der Hörspielpreis der Kriegsblinden überreicht
wurde, war eine Auswahl seiner bisherigen Hörspielarbeiten unter dem Titel
»Akustische Kunst im Radio« in der Audiothek der Kasseler Documenta zu hören.
Der Preis galt der beim WDR realisierten Produktion »Drei Männer im Feld«, einem
Hörspiel, das Erfahrungen verarbeitet, die der Autor bei den Recherchen auf den
französischen Schlachtfeldern für seinen Roman »Ordnung ist das ganze Leben«
gesammelt hatte. Dieser 1986 erschienene Vater- Roman, der vor dem
Hintergrund der deutsch- französischen Auseinandersetzung im Ersten Weltkrieg
spielt, war damals vielfach beachtet worden und wurde vom Rundfunk mit einer
Reihe von Lesungen, Gesprächen und Geschichten flankiert.
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Drei Männer im Feld
Produktion: WDR 1986
Mitwirkende: Ludwig Harig (Ich); Alois Garg (Vater); Paul Hoffmann (Thiele); EvaGarg (Sprecher)
Musik: Alfons Nowacki
Realisation: Hans Gerd Krogmann
Dauer: 59'40
Ursendung: WDR 1, 20.2. 1986
»Ich erzähle dieses Leben meines Vaters, ich erkläre es nicht (...). Ich bin nicht inder Lage zu entscheiden, was gut und böse, was richtig und falsch war und ist. Esgeht mir vielmehr um das Erzählen von Lebenssi tuationen, wie sie mir bekanntwurden und ich sie selbst miterlebt habe: wie mein Vater die prägenden Normenaus Anlage und Erziehung erfahren und vermit tel t hat (...), wie er sein Lebengeordnet und die Ordnung zum Maß der Dinge gesetzt hat.« (Ludwig Harig in derPresseankündigung des Hörspiels »Drei Männer im Feld«)
huw
1988. Leben und Tod des Kornettisten Bix
Beiderbecke aus Nord- Amerika. Eine Radio-
Ballade.
Ror Wolf
* 29.6.1932 Saalfeld/Thüringen
Fußballphänomenologe und Radiokünstler
Mit dem Sammelband »Das nächste Spiel ist immer das schwerste«
verabschiedete sich Ror Wolf 1990 nach 25jähriger offensiver literarischer
Begleitung des Fußballgeschehens aus einer Arena, die er in Wort und Ton
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meisterlich festgehalten und persifliert hatte. »Der Fall ist beendet. Das ist mein
Abschied vom Fußball« – eine Entscheidung, die überraschte. Die Fachkritik
musste erst einmal durchatmen, denn immerhin hatte der nonkonformistische
Prosaist und Dokumentarist etliche Fußball- Hörspiele – jeweils schwebend
zwischen knallharter Reportage und surrealer Adaption – hinterlassen, darunter:
»Die heiße Luft der Spiele« (SDR/SR/ SWF 1973), »Cordoba Juni 13 Uhr 45« (HR
1979), »Der Ball ist rund« (HR 1979).
Aber das ist nicht alles. Seine Prosatexte »Nachrichten aus der bewohnten Welt«,
»Aussichten auf neue Erlebnisse« belegen die fulminanten Sprachspiele zwischen
Burleske, Collage und Traktat. Der Österreicher Gert F. Jonke urteilte über den in
Mainz lebenden Autor: »Ror Wolf ist an einigen Techniken, die er perfekt
beherrscht und immer wieder anwendet, sofort zu erkennen, da wäre
beispielsweise seine Angewohnheit, an bestimmten Stellen zunächst alles
möglichst rhythmisch aufzuzählen, vor allem Namen, Personen, Gegenstände (...).
«
»Bix Beiderbecke« ist sicherlich sein poetischstes Hörspiel, mit musikalischen
Einschüben und Ritardandi, die immer wieder die Ohren betören und den Hörer
von einem Atlantis der Jazzgeschichte träumen lassen. Nicht nur eine Jazzlegende
und ihr tragischer Fall kommen zum Ausdruck, sondern eben auch Jazzlyrismen,
die den Musikexperten Ror Wolf verraten, der die alten Schellackplatten, die im
Hörspiel zu hören sind, in mühevoller Kleinarbeit in Europa und Übersee
höchstpersönlich ausgegraben hat.
Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nord- Amerika.
Eine Radio- Ballade
Produktion: SWF/HR/NDR/WDR 1986
Mitwirkende: Walter Gontermann (Erzähler); Wolfgang Hess (Jackson/Armstrong);Olaf
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Queiser (Jones/Mares); Michael Thomas (Carmichael); Helmut Wöstmann(Trumbauer); Douglas Welbat (Mezzrow); Christian Bruckner (Beiderbecke);Siemen Rühaak (McPartland); Christian Mey (Russell); Hans Wyprächtiger(Whitman); Heinz Hostnig (Böser Mann); Andreas Szerda, Karl- Rudolf Menke,Jürgen Franz, Peter Weis, Gerhard Hinze (Stimmen)
Regie: Heinz Hostnig
Dauer: 71'30
Ursendung: SWF, 12.2. 1987
»Ror Wolf beschreibt am Beispiel des legendären Musikers Bix Beiderbecke einStück Jazz- Geschichte der zwanziger Jahre. Das persönliche Schicksal desKornett isten zeigt das Scheitern des Künstlers, wenngleich nicht seiner Kunst, anden harten Bedingungen des Musikmarktes. Der weitschwingende Erzählbogenverbindet sich mit den originalen Tondokumenten zu einer mitreißendenpolyphonen Ballade. Der epische Gestus des Hörspiels und seine Musikal i tätmachen das Werkfür viele Hörer zugänglich. Ror Wolfs eigenständige undeigenwi l l ige fast zwanzigjähr ige Beschäftigung mit der Radiokunst hat damiteinen neuen Höhepunkt erreicht.« (Aus der Begründung der Jury desHörspielpreises der Kriegsblinden)
chh
1989. Wer Sie sind.
Peter Jacobi
* 30. 5. 1951 Meiningen/Thüringen
Lauschangriffe
Über ein Dutzend Hörspiele hat Peter Jacobi – ehemaliger Buchhändler, Student
der Theaterwissenschaften, der Anglistik und Philosophie – bislang geschrieben,
darunter »Tümpners Neunte« (SFB 1980), »Mordende Worte« (WDR 1983) und »Ein
Fallenlassen« (SR 1987). Theaterstücke wie »Fußballplatz« oder »Der Sohn der
Eltern des Chefarztes« kommen hinzu und – nicht zu vergessen – die kleine
epische Capriole »Mein Leben als Buch« (2000), ein schmales »sprechendes«
Bändchen über das personifizierte Leben als veritables Buch im Regal und
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zwischen neugierigen Händen seiner Leserinnen und Leser. Was Peter Jacobi auch
zu Papier bringt, der Welt und ihren unausweichlichen Zwischenfällen werden bei
ihm die komischen und skurrilen Seiten abgelauscht. Die Comédie Humaine ist
sein literarischer Tummelplatz.
Die Hörspieljury darf sich zugute halten, Peter Jacobis verspielte Späße richtig
bewertet und für nicht zu leicht befunden zu haben. Nicht der spektakuläre
radiophone Kunstgriff wurde 1989 von der Jury belohnt, sondern das listig-
vertrackte Spiel zweier Berufsspione und - abhörer, die möglichwerweise im
Dienste irgendeiner fremden Macht stehen. (Die Normannenstraße, ihre
Tonbandarchive und die MfS- Mannschaft lassen da ganz munter grüßen.) Doch
wer wen abhört und belauscht, bleibt im Hörspiel listig offen. Das kollegiale
Vertrauen wird schließlich erschüttert, als die Geheimdienstler erkennen müssen,
dass sie sich nichtsahnend gegenseitig abhören und dabei ihr unschickliches Tun
noch via Radio gesendet wird. Wer hier eigentlich für wen Programm macht, ist
eine weitere sarkastische und medienspezifische Frage des Hörspiels an seine
Hörer.
In der Jurysitzung des Jahres 1989 anlässlich der Vergabe des Hörspielpreises der
Kriegsblinden gab es einige Stimmen, die intern von einer »Verlegenheitslösung«
sprachen, obwohl die respektable Zeitsatire die meisterliche Könnerschaft Jacobis
nachdrücklich unter Beweis stellte. Hinter solchen Minderheitsvoten verbarg sich
die bekannte (aber unbegründete) Furcht vor der Leichtigkeit des Hörspiels. Doch
die Fraktion der Sparte »U« konnte sich in der Schlussabstimmung dann deutlich
gegen die Abteilung »E« durchsetzen.
Wer Sie sind
Produktion: WDR 1988
Mitwirkende: Ulrich Friedrichsen (Schnödl); Gerd Baltus (Baader); Eva Garg(Frauenstimme); Wolfgang Grönebaum (Jacobi)
Regie: Dieter Carls
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Dauer: 36' 15
Ursendung: WDR, 11. 12. 1988
»›Wer Sie sind‹, heißt dieses Hörspiel des 38jährigen Autors Peter Jacobi, der sichschon mit so manchem Text lakonisch und bissig auf die Medienwirk l ichkei teingelassen hat. Diesmal wagt er sich weit vor, indem er die zeitgenössischenAbhörängste kombinier t mit Räsonnieren über die scheinbar so elitäreHörspielkunst, die Untertanen - Mentali tät der schnüffelnden Beamten und ihrekaum kaschierten Zweikämpfe kontrast iert mit der Schauspielerarbeit im Studio(...). Jede Pause, jeder akustische Akzent, jedes Wort sitzt in diesem komisch -grotesken Dialog der beiden Abhör - Darsteller.« (Mechthi ld Zschau in derFrankfur ter Rundschau, 30. 3. 1989)
chh
1990. Ein Nebulo bist du.
Jens Sparschuh
* 14. 5. 1955 Karl- Marx- Stadt/heute: Chemnitz
Anspielungsreich
In den Feuilletons ist man sich einig: Jens Sparschuh, 1955 in der DDR geboren,
seit den 80er Jahren literarisch tätig, gehört zu den wichtigsten Vertretern einer
so genannten neuen ostdeutschen Literatur: Ein politisch integrer Schriftsteller,
denn der seit 1983 in Berlin arbeitende Romancier, Dramatiker und
Kinderbuchautor engagierte sich Ende der 80er Jahre im Neuen Forum und einige
Zeit später im Bündnis 90; ein intelligent - anspielungsreicher Literat, der den
Goethe- Adlatus zu Wort kommen lässt in seinem Roman »Der große Coup. Aus
den geheimen Tage- und Nachtbüchern des Johann Peter Eckermann« (1987)
oder in dem preisgekrönten Hörspiel »Ein Nebulo bist du« mit Immanuel Kant und
seinem Diener ein Kapitel Philosophiegeschichte von unten schreibt; sowie
schließlich ein unterhaltsamer, witziger Romancier, dessen satirischer
»Heimatroman« »Der Zimmerspringbrunnen« (1995) etwa als höchst vergnügliche
Satire auf die »Ostalgie« gefeiert wird.
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»Hörspiel ist die hohe Schule des Seelenvermögens. Jemand spricht. Und während
des Sprechens verwandelt sich Jemand in eine Gestalt, bekommt Hand und Fuß,
steht auf eigenen Füßen, geht, geht nicht, geht dann doch, kommt wieder –
spricht. Und wenn er das alles mit genug Eigenart getan hat, dann geht er
plötzlich ... uns nicht mehr aus dem Kopf. Wir werden zu Ohrenzeugen eines
reinen Schöpfungsaktes.« Mit diesen Worten formulierte Jens Sparschuh sein
Credo an die radiophone Form. Eine Liebeserklärung, deren praktische
Umsetzung bis in das Jahr 1980 zurückreicht, als »Adieu mein König Salomo«
beim Rundfunk der DDR produziert wurde. Diesem Auftakt folgten mehrere
Hörspiele und Features, für den Rundfunk der DDR ebenso wie bereits vor 1989
für den Norddeutschen Rundfunk und Radio Bremen.
Obwohl Jens Sparschuh, wie er sagt, mit der offiziellen Kulturpolit ik der DDR
kaum in Berührung gekommen ist, war dem »groß angelegten Projekt der
zwangsweisen Besserung des Menschen durch Aufklärung«, wie »Ein Nebulo bist
du« in eigentümlicher Beziehung zur DDR schildert, vor der Wende kein Erfolg
beschieden. Der monologische Text des Martin Lampe, des Dieners von
Immanuel Kant, war bereits in den Leningrader Studententagen von Sparschuh
Mitte der 70er Jahre entstanden, doch die Veröffentlichung 1980 blieb
unbeachtet. Den Titel entlieh er einem lateinischen Studentenspruch, der zu
Kants Jugendzeit in Königsberg kursierte: »vacca, eine Zange, forceps, eine Kuh,
rusticus, ein Knebelbart, ein nebulo bist du«. Als ein solcher Nebulo, ein
Flatterwesen, sei der große Philosoph in den Augen seines Dieners Lampe
erschienen, bewundernswert in der Theorie, ein Ignorant jedoch gegenüber den
alltäglichen Dingen des Lebens.
Ein Nebulo bist du
Produktion: SR/SWF/SDR 1989
Mitwirkende: Manfred Steffen (Martin Lampe)
Realisation: Norbert Schaeffer
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Dauer: 62'52
Ursendung: SR, 14.9. 1989
»In argumentat iven Slapsticks stolpert der Diener virtuos am Rande der Kluftzwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen dahin. Ähnlich komisch wieNestroy nimmt Sparschuh Metaphern beim Wort (...). Und wenn der Diener über›Kompromit t ierende Kompromisse‹ an der Seite des Genies klagt, tri t t ersozusagen in die Fußstapfen von Karl Kraus. « (Frankfurter Allgemeine Zeitung)
huw
1991. Stille Helden siegen selten.
Karl- Heinz Schmidt- Lauzemis/Ralph Oehme
* 3. 5. 1946 Berlin
* 28. 8.1954 Geithain/Sachsen
Wir sind das Volk
1989, Montagsdemonstrationen: In Leipzig und anderen Städten der DDR
versammelten sich Bürgerinnen und Bürger, um friedlich gegen die DDR-
Regierung zu demonstrieren. Im Herbst des Jahres fiel die Mauer: Die Wende, die
Geschichte der DDR ging ihrem Ende entgegen. Ein großes zeithistorisches
Ereignis, das nachdrückliche Spuren beim Einzelnen hinterließ, das Fragen
aufwarf, Wünsche und Hoffnungen freisetzte, aber auch Enttäuschungen und
Zorn hervorrief.
Karl- Heinz Schmidt- Lauzemis, freier Film- , Fernseh- und Hörfunkautor, griff im
Herbst 1989 die Initiative von Christoph Buggert, dem Hörspielleiter des HR, auf,
nach Leipzig zu gehen, um das turbulente Geschehen akustisch zu
dokumentieren. Unterstützung bot ihm die von Peter Leonhard Braun geleitete
Feature- Abteilung des SFB. In der sächsischen Handelsmetropole erhielt er
Produktionshilfe durch Ralph Oehme, der als freier Autor in Leipzig lebte.
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Gemeinsam nahm man ein halbes Jahr lang, bis zu den ersten freien
Volkskammerwahlen im Frühjahr 1990 rund 120 Stunden Originalton auf,
Mitschnitte von Versammlungen, öffentliche Gespräche, aber auch persönliche
Aussagen von Leipzigern über das, was um sie herum vorgeht, und über das, was
sie in diesen Tagen bewegt. Aus dem reichhaltigen akustischen Material entstand
im Frankfurter Hörspielstudio eine packende einstündige O- Ton- Collage.
Die Jury des Hörspielpreises der Kriegsblinden würdigte das groß angelegte
radiophone Oral - History - Unternehmen »Stille Helden siegen selten«, indem sie
betonte, dass die Zeugenaussagen von den beiden Autoren »zu einer kunstvoll
aufgebauten Erzählung zusammengefügt« worden seien, »in der nicht die
vielgenannten Anführer das Wort haben, sondern unbekannte Menschen,
leidende, aufständische und beglückte, aber auch Stasi- und Parteifunktionäre,
Spekulanten und Nutznießer.« Und sie führte aus: »Die Sendung geht durch ihre
Gliederung, Dramaturgie und durch die deutende Montage weit über
konventionelle Dokumentation hinaus.«
Karl- Heinz Schmidt- Lauzemis ist dem Publikum nicht nur mit zahlreichen
Hörspiel- und Featureproduktionen bekannt, sondern auch durch seine
Autorschaft bei Film- und Fernsehdrehbüchern, darunter populäre Serien wie
»Verbotene Liebe«, »Dr. Sommerfeld, Neues vom Bülowbogen« und das ZDF-
Kinderprogramm »Löwenzahn«.
Ralph Oehme arbeitet als freier Autor in Leipzig, wo er besonders als Dramatiker
Erfolge feiert, etwa 1998 mit der Komödie »Die spanische Lunte« am Leipziger
Schauspiel.
Stille Helden siegen selten
Produktion: HR/Sachsen Radio/SFB 1990
Mitwirkende: Zeitzeugen der so genannten sanften deutschen Revolution
Realisation: Karl- Heinz Schmidt- Lauzemis und Ralph Oehme
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Dauer: 57'40
Ursendung: HR 2, 8.10. 1990
»Auf ihre Weise nimmt diese Collage die Parole ›Wir sind das Volk‹ beim Wort,indem sie den Bann des Kollekt ivs bricht und Einzelstimmen heraushebt, indemsie nicht Prominenz, sondern den unbekannten Demonstranten Stellung beziehenläßt.« (Eva- Maria Lenz in der Frankfur terAl lgemeinen Zeitung, 4.4.1991)
huw
1992. Die sehr merkwürdigen Jazzabenteuer
des Herrn Lehmann.
Horst Giese
* 1926 Neuruppin
Der Preis
Die Jury war begeistert. 17 von 19 Stimmen entfielen auf die subversive Jazz-
Wort- Collage von Horst Giese. Das radiophon entwickelte Spiel mit alten Jazz-
Schallplatten und der aberwitzigen Handlung um den lautstark in die
Konzertaufnahmen hinein servierenden Kellner Lehmann, der für einen Spion und
für einen Insassen einer Psychiatrie gehalten werden kann, begeisterte die
Juroren. Der Spaß an und mit den hörbaren Jazzabenteuern war groß.
Um so ernüchternder die Folgen dieser Preisentscheidung. Eine auf die
Pressemitteilung hin erfolgte Anzeige entlarvte im Mai 1992 Horst Giese – der in
der DDR als Schauspieler, Stimmenimitator, Regieassistent und als Mitarbeiter bei
der DEFA gearbeitet hatte – als »IM«, als inoffiziellen Mitarbeiter; darüber hinaus
stellte sich heraus, dass Giese zwischen 1961 und 1977 mehrfach für die
»Staatssicherheit« tätig geworden war. Der Juryvorsitzende Friedrich Wilhelm
Hymmen und der BKD als Träger des Hörspielpreises der Kriegsblinden hielten
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zwar an ihrer Entscheidung fest, verschoben jedoch die Feier auf das Frühjahr
1993.
Der »Fall« Horst Giese beschäftigte die Medien im gerade wiedervereinigten
Deutschland. Ein besonderes Gewicht kam dabei einer Sendung der RIAS-
Redakteurin Gylfe Schollak zu; ihr Titel: Der Preis; Untertitel: Zwischen Stasi und
Jazzabenteuer. Versuch einer Klärung (RIAS, 20. 1. 1993). In den Aussagen von
Horst Giese, seiner Ehefrau Gisela sowie den Stellungnahmen einiger von ihm
bespitzelter und verratener Personen wird die heillose Verstrickung Gieses in ein
skrupelloses System deutlich, seine Unentschiedenheit, sein wirres Leben, das
anderen Tribut abverlangte und für das er selbst einen lebenslangen Preis zahlt.
Die sehr merkwürdigen Jazzabenteuer des Herrn Lehmann. Ein Jazz-
Hörspiel
Produktion: RIAS 1990/Eigenproduktion des Autors 1979
Darsteller: Horst Giese in 26 Rollen sowie Originalstimmen bekannterFilmschauspieler
Realisation: Horst Giese
Dauer: 75'21
Ursendung: RIAS, 4. 1. 1991
»Sie hörten: ›Die sehr merkwürdigen Jazzabenteuer des Herrn Lehmann‹. Idee,Manuskr ipt, Musikzusammenstel lung, Trickaufnahmen, Schnit t und Sprechersämtlicher Rollen war Horst Giese (...). Die Produkt ion dieses Hörspiels erfolgtevon Januar bis April 1979 auf zwei Heimtonbandgeräten in Potsdam und durf tebis zur Wende nicht veröffent l icht werden.« (Aus dem Abspann des Hörspiels)
huw
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1993. Sense.
Werner Fritsch
* 4. 5. 1960 Waldsassen
Verstörend: Der Bodensatz der Gesellschaft
Meist riefen seine bisherigen Erzählungen, Stücke und Filmprojekte ein
unterschiedliches Echo hervor.
Für die einen ist der in der Oberpfalz, im deutsch- böhmischen Grenzgebiet
aufgewachsene Autor Werner Fritsch ein eigenständiges hoffnungsvolles Talent in
der Tradition von Marieluise Fleißer, Franz Xaver Kroetz und Herbert
Achternbusch. »Er erfindet für die zur Sprachlosigkeit verrohten Menschen eine
kräftige, ordinäre, verstörende Kunstsprache«, urteilten Kritiker und konstatierten
in Bezug auf den 1992 erschienenen Monolog »Sense«: »Dieser furiose und rauhe
Text ist nicht unmittelbare Weltabbildung, sondern ein ziemlich hinterhältiges
Kunstprodukt«. Luck, der Landwirt aus der Oberpfalz, sei »eine Kunstfigur, dem
über dem Versuch, sich ein Weltbild zu machen, bizarr poetische Bilder
aufsteigen und sich in seine Sprache drängen.«
Für andere ist Werner Fritsch ein Enfant terrible im literarischen Betrieb, ein
Mundart - Kraftmeier, dessen »knorziges Idiom bei Nordlichtern manches skurrile
Mißverständnis provoziere« (Der Spiegel), ein gefährlicher Autor schlechterdings,
der den Protagonisten Bewußtseinsmonologe in den Mund lege, die im
»faschistoiden Sprachbodensatz der Gesellschaft gründeln« (Frankfurter
Allgemeine Zeitung).
Dabei ist das literarische Opus des jungen nordostbayerischen Autors noch
relativ schmal: 1987 das Debüt mit »Cherubim«, das in 203 Einstellungen die
Lebensgeschichte des Bauernknechtes Wenzel erzählt; 1989 »Steinbruch«, ein
Text, in dem der Autor das Bewusstsein eines im Manöver Geschundenen
wiedergibt; 1992 »Fleischwolf«, ein spektakuläres Theaterstück, ein Kriegsdrama
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in Friedenszeiten mit Nutten, Zuhältern, sadistischen Offizieren, in dem sich
»Blut, Schweiß und Sperma« zu einem grässlichen Szenario zusammenfügen.
Darüber hinaus weitere Bühnenstücke und Prosatexte wie »Jenseits« und »Aller
Seelen. Golgotha« (beide 2000 erschienen).
Dazwischen: »Sense«, ein in der Buchfassung 60 Seiten schmaler Monolog,
dessen beim SWF entstandener Radiofassung 1993 der Hörspielpreis der
Kriegsblinden zuerkannt wurde. Mit einem denkbar knappen Vorsprung von nur
einer Stimme setzten sich der beeindruckende Text und die kraftvolle Gestaltung
durch Hans Brenner gegenüber hörspielspezifischen Werken von Simone
Schneider (Roter Stern, BR 1992) und Heiner Goebbels (Schliemanns Radio,
HR/BR/SFB 1992) durch.
Sense
Produktion: SWF 1992
Mitwirkende: Hans Brenner
Musik: Peter Zwetkoff
Realisation: Norbert Schaeffer
Dauer: 75'57
Ursendung: SWF, 22.10. 1992
»Werner Fritsch läßt in einem mehrschicht igen, oft dramatischen Monolog einenalten Bauern zu Wort kommen, dessen enge Erlebniswelt sich überwiegend inKriegserinnerungen und in Klagen über das Ende seines Schäferhundes erschöpft.Als ein Opfer seiner Zeit, macht sich der Bauer Lukas hilf los und verbohrt einenReim auf eine, auch durch gegenwärt ige Katastrophen aus den Fugen gerateneWelt (...). Die rauhe, belebte Sprache wird unter der Regie von Norbert Schaefferdurch die kraftvol le Stimme Hans Brenners in den unterschiedl ichsten Tönungenvom Brutalen bis zum Zärtl ichen, vom Angeberischen bis zur Verunsicherungbedrängend präsent.« (Aus der Begründung der Jury des Hörspielpreises derKriegsblinden)
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1994. Unser Boot nach Bir Ould Brini.
Christian Geissler
* 25.12. 1928 Hamburg
Utopia in der Wüste
Sein Lebenslauf verlief eher in Sprüngen und verrät den Unangepassten, der sich
nicht vereinnahmen und kaum feiern lässt – schon gar nicht im offiziellen Bonn
bei einer Preisverleihung für eines seiner Hörspiele. »Lehrmeinungen und
Institutionen haben sich in den Augen Geisslers immer wieder unfähig erwiesen,
wirksamen Widerstand gegen herrschendes Unrecht zu leisten«, schrieb der
Literaturwissenschaftler Hans Joachim Schröder und fuhr fort: »Im Kampf gegen
Lüge, Brutalität, Ungerechtigkeit und Unterdrückung war er offenkundig nicht
bereit, sich taktisch zu verhalten und zugunsten irgendeiner Glaubens- und
Parteitreue Kompromisse einzugehen.«
Sein erstes Hörspiel schrieb Geissler 1957: »Es geschah in ... Holland« (WDR
1957); gefolgt von »Jahrestag eines Mordes« (SWF 1968) und
»Verständigungsschwierigkeiten« (SWF 1970). Daneben arbeitete Geissler als
Dokumentarfi lmer für den NDR und war Dozent an der Film- und
Fernsehakademie in West- Berlin. Zusammen mit Egon Monk realisierte er die
Fernsehfilme »Anfrage« (NDR 1962), »Schlachtvieh« (NDR 1963) und
»Wilhelmsburger Freitag« (NDR 1964). Darüber hinaus stehen im Mittelpunkt
seines literarischen Schaffens Romane und Gedichte: »Anfrage« (1960), »Ende der
Anfrage« (1967), »Das Brot mit der Feile« (1973), »Kamalatta« 1988),
»Wildwechsel mit Gleisanschluß« (1996).
Als ehemals aktiver Parteigänger der DKP, als Kämpfer gegen Neonazismus und
Mitglied des Kuratoriums »Kampagne für Abrüstung und Ostermarsch« war
Geissler stets ein entschiedener Pazifist. In der Auseinandersetzung mit seinem
politischen Engagement, mit Terrorismus und Pazifismus sowie mit dem
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Zusammenbruch des Kommunismus kommt dem preisgekrönten Hörspiel »Unser
Boot nach Bir Ould Brini« – parallel zu seiner »Schreibarbeit Februar 89 bis
Februar 92«, veröffentlicht unter dem Titel »Prozeß im Bruch« (1992) – eine
zentrale Stellung zu. Im Hörspiel bedient Geissler sich geheimnisvoller
Sprachchiffren und mythischer Bilder; die Sehnsucht nach sozialistischer oder
urchristl icher Solidarität treibt die facettenreiche Monologe durch eine
mehrdeutige Wüstenlandschaft. Hannelore Hoger hat dem politischen Traumspiel
in der Wüste ihre fein nuancierende Stimme geliehen, und der Autor selbst
spricht und zelebriert unter der überzeugenden Regie von Hermann Naher ein
expressives Epitaph auf zersprengte und verloren gegangene sozialistische
Identitäten.
Unser Boot nach Bir Ould Brini
Produktion: SWF 1993
Mitwirkende: Hannelore Hoger (Sprecherin); Hans Peter Bögel, Helmut Wöstmann,Markus Hoffmann, Sabine Postel, Anette Ziellenbach (Stimmen); Christian Geissler(Stimme des Autors)
Komposition: Cornelius Schwehr
Regie: Hermann Naber
Dauer: 64'20
Ursendung: SWF, 8.4.1993
»FREMD IN BONNgedanken zum verrücktwerdenoder wie ich mich doch auf das bitten verlegte
lieber herr dr. sonntag, lieber herr hymmen, meine damen und herren.
liebe kolleginnen und kollegen aus dem mediengeschäft. liebe freundinnen undfreunde, liebhaber der sprache, genossen im unsinn der tage.
guten tag, herr minister
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drei Leute haben zur entstehung von bir ould brini, ohne davon zu wissenbeigetragen. sie können heute nicht hier sein. darum nenne ich sie mit namen. diegefangene eva haule hat mir einmal ein märchen gezeigt, von ihr erfunden undaufgeschrieben für ein kind draußen in stut tgart. in diesem märchen ist dasbefreite gebiet eine wüste. und die lehrerin brigi t te henke- sechtig will ich grüßenund ihren mann, den lehrer birger henke- sechtig. die beiden machensaharafahrten, haben ihre erfahrungen in einem buch veröffent l icht, haben mirviel erzählt, wicht ige bilder gezeigt – die Schönheit einer Sorgfal t eines muteseiner freude. ich grüße und danke.« (Christ ian Geissler bei der Verleihung desHörspielpreises der Kriegsblinden in Bonn am 24. Juni 1994)
chh
1995. Apocalypse live.
Andreas Ammer/FM Einheit, d. i. Frank Martin Strauß
* 23. 3. 1960 München
* 18. 12. 1958 Dortmund
Große Form
Zu Beginn des Jahres 1990 überraschte ein junger Autor die Hörspielszene:
Andreas Ammer, 1960 in München geboren, abgeschlossenes Studium, freier
Schriftsteller und Journalist. Seine »akustische Enzyklopädie der Geräuschkunst«,
der »Orbis auditus« (BR 1990), machte hellhörig, denn hier spielte einer souverän
mit der Klangkunst, machte die soundpoetry zum akustischen Erlebnis. Ein
selbstvergewissernder Auftakt mit lexikalischem Ansatz, dem folgerichtig
innerhalb des nächsten Jahrzehnts immer neue Ausformungen und
Weiterentwicklungen der Radioform(en) folgten. Mittlerweile mehr als ein gutes
Dutzend großer und kleiner Hörspielwerke – von der großen Hörspiel- Oper bis
zur etüdenhaften Montage und dem Remix – verbinden sich seither mit einer
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stattlichen Anzahl an nationalen und internationalen Auszeichnungen.
Schnappschuss unmittelbar nach der Übergabe der Hörspielpreisplastiken an FM
Einheit und Andreas Ammer (1995); rechts der BKD- Vorsitzende Franz Sonntag.
Vor allem eine Komposition beeindruckte das Hörspielpublikum 1993
nachdrücklich. Gemeinsam mit FM Einheit, dem Musiker und Komponisten, dem
Soundtüftler und langjährigen Schlagzeuger der Gruppe »Einstürzende
Neubauten«, begab sich Ammer auf den akustischen Wellentrip. Weltliteratur als
Ausgangspunkt für Audio Art : »Die Hölle, das ist ein Text von Dante«, und
»Radio Inferno« – so der Titel dieser konzertanten Aufführung im Münchner
Marstall – ist eine groß angelegte Rock- Pop- Oper, eine anspielungsreiche Klang-
und Zitaten- Collage.
Während »Radio Inferno« 1994 in der Juryabstimmung beim Hörspielpreis der
Kriegsblinden nur knapp unterlag, war die Entscheidung ein Jahr später
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eindeutig. Wieder hatte das Duo Ammer/FM Einheit sich einem Text der
Weltliteratur genähert, diesmal einem biblischen Text, der Apokalypse des
Johannes. Im Bayerischen Staatsschauspiel, dem Münchner Marstall, wurde mit
allen erdenklichen musikalischen und stimmkünstlerischen Mitteln das Welt- ende
eingespielt. Für alle, die beim Showdown nicht live dabei sein konnten, gab es
die Aufzeichnung. Denn im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit ist die
Apokalypse wiederholbar geworden und war am Jahresende 1994 im
Radioprogramm zu verfolgen.
Apocalypse live. Ein Hörspiel in 22 Gesängen
Produktion: BR/Bayerisches Staatsschauspiel (Marstall) /Bayerische Staatsoper
Mitwirkende: Sprache und Gesang: Phil Minton (Hl. Johannes und The Angel); AlexHacke (Die Bibel); David Greiner (Der Kastrat); Hanns- Joachim Friedrichs (Das TV);Pater Karl Kleiner (Der alte Grieche). – Das Orchster: Alex Hacke (ElektrischeGitarre); Ulrike Haage (Flügel und Keyboards); FM Einheit (Schlagzeug und Feuer);Sebastian Hess (Cello)
Komposition: FM Einheit und Ulrike Haage
Realisation: Andreas Ammer und FM Einheit
Dauer: 69'00
Ursendung: BR 2, 9.12. 1994
»Der Weltuntergang wird zum Medienereignis: vielfach gespiegelt undperspektivisch gebrochen, akustisch in allen Versionen und Facetten interpret iert,als grandioses Spektakel in einer Nachrichten - Show zelebriert. In 22 songart igaufgebauten Abschnit ten treibt das Arrangement, das Zitate aus Jazz, Pop,Country, Barock mit Neukomposit ionen und Improvisationen mischt und mitText - Bruchstücken verbindet, die vielfach instrument ier te und raff iniertgeschichtete Oratoriums - Revue vorwärts (...). Ein Bibel - Höhepunkt wandelt sichso zum Sonderprogramm, Untergangsvisionen werden zu Tonträgern vonWerbespots.« (Aus der Begründung der Jury des Hörspielpreises derKriegsblinden)
»Die Intell igenz des Stückes von Ammer und FM Einheit liegt wohl auch darin,dass er kein kul turh is tor isches Lamento anstimmt, nicht ostentat iv überVerfallsprozesse klagt, nicht überdeutl ich etwas anprangert, sondern nur etwasreflekt ier t, krit isch und zugleich nicht aufs Bessere zeigend oder vor dem nochSchlimmeren warnend. Ammers Kunststück ist, nicht einfach glatt
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mitzuschwimmen, nicht einfach bloß ein schickes Medien- Produkt abzuliefern,das besinnungslos ›von heute‹ ist, sondern die Ironie, die Distanz von dem, wasim Augenbl ick so läuft und angesagt wird, ohne großes Pathos dennocheinzukomponieren. Der denkerische oder geschichts - und gesellschaftskr i t ischePunkt, von dem her der Gang der Dinge heute zu kri t isieren wäre, ist einfachnicht zu konstru ieren – es sei denn um den Preis einer besserwisserischenMetaphysizi tät, die einem keiner abnähme. « (Jörg Drews)
huw
1996. Frauentags Ende oder Die Rückkehr nach
Ubliaduh.
Fritz Rudolf Fries
* 19. 5. 1935 Bilbao/Spanien
Geschichte und Geschichten
Es war die 45. Sitzung in der Geschichte des Hörspielpreises und es war
gleichzeitig die erste Sitzung ohne den Gründungsvater Friedrich Wilhelm
Hymmen, der im Jahr zuvor im Alter von 82 Jahren verstorben war. Aus einem
Kanon diskussionswürdiger und preisverdächtiger Stücke, deren Schwerpunkt auf
der Geschichte ruhte und um das Erzählen von Geschichten kreiste, ging Fritz
Rudolf Fries' Hörspiel »Frauentags Ende oder Die Rückkehr nach Ubliaduh«
hervor.
Wesentliche Hörspielmotive hatte der 1935 in Spanien geborene, in Leipzig
aufgewachsene und seit 1966 in Berlin lebende Autor seinem Prosaerstling »Der
Weg nach Oobliadooh« (1966) entnommen, den er als DDR- Schriftsteller damals
nur im Westen veröffentlichen konnte. Erst 1989, kurz vor der Wende, hatte der
Roman auch eine DDR- Ausgabe erlebt. Weitere Motive kamen aus seiner 1982
entstandenen Erzählung »Frauentags Ende oder Das Ende von Arlecq und Paasch«
hinzu.
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Ausgangspunkt des vom Mitteldeutschen Rundfunk produzierten Hörspiels ist
der Jahreswechsel 1989/90, wenn sich die beiden Jugendfreunde Arlecq und
Paasch an ihre wilde Zeit in den 50er Jahren erinnern. Alkohol und Mädchen,
Zigaretten und Jazz bestimmen das studentische Leben, Politik ist allenfalls ein
Gegenstand für Parodie.
Schon wenige Jahre nach der Wende stach das kunstvoll erzählte Hörspiel von den
vielen Betroffenheitsgesten der ostdeutschen Mentalität ab; der starke literarische
Text des renommierten Prosaautors Fritz Rudolf Fries gewann dem bei ihm so
genannten »dialektischen Umwandlungsprozess« viel Witz und sprachliche
Eleganz ab; die sublime Erzählkunst voller Anspielungen und Verschlüsselungen
bot ein Hörspiel, das viel über den DDR- Alltag und die DDR- Geschichte
berichtete, um gleichzeitig eine ebenso mustergültige Geschichte von zwei
jungen Leuten zu erzählen, die von »Ubliaduh«, dem Märchenland in Dizzie
Gillespies Jazz- Ballade, träumen, aber schließlich von der Realität ihres Staates
und der bürgerlichen Ehe eingeholt werden.
Das Hörvergnügen der Jury im März 1995 wurde nur kurze Zeit später in Frage
gestellt. Im April wurden die weit reichenden Verstrickungen des ostdeutschen
Schriftstellers mit der »Stasi« aufgedeckt. Die feierliche Übergabe des Preises im
Plenarsaal war geplatzt. In den Feuilletons entspannte sich eine lebhafte
Diskussion um den »IM Pedro Hagen« alias Fritz Rudolf Fries, und der
Hörspielpreis der Kriegsblinden geriet in die Schlagzeilen. Während Fries –
gleichermaßen geängstigt wie pikiert schwieg, suchte die Jury eine neue Form für
die Übergabe ihres Preises, der zunächst einmal einem Stück und nicht der
moralischen Qualität einer Person gilt. Die »kritische Öffentlichkeit« statt der
ausgewählten Polit - Prominenz fand sich am 30. Oktober 1995 im Berliner
Künstlerklub »Die Möwe« ein. Fritz Rudolf Fries' Rede bei der Verleihung des
Preises mit dem Titel »Die Gräte im Hals« sowie ein Rundfunkkommentar des
damaligen Münchner Hörspielverantwortl ichen Christoph Lindenmeyer zum »Fall
Fries« werden in diesem Band abgedruckt.
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Frauentags Ende oder Die Rückkehr nach Ubliaduh
Produktion: MDR Leipzig 1995
Mitwirkende: Winfried Glatzeder (Peter Arlecq); Manfred Krug (Klaus Paasch);Andrea Solter (Anne); Frauke Poolmann (Brigitte Lohmann); Horst Hiemer (HerrLohmann); Marylu Poolman (Frau Lohmann); Franziska Troegner (Tante Flora);Eberhard Esche (Gott); Edgar Harter (Stanislaw); Heide Kipp (Frau Schwennicke);Dieter Bellmann (Chefarzt); Siegfried Worch (Hauswirt); Matthias Hummitzsch(Stasi 1); Wolfgang Jakob (Stasi 2); Peter Groeger (Berger) u. a.
Regie: Wolfgang Rindfleisch
Dauer: 59'55
Ursendung: MDR Kultur, 3.10. 1995
huw
1997. Compagnons und Concurrenten oder Die
wahren Künste.
Ingomar von Kieseritzky
* 21. 2. 1944 Dresden
Humor und Komik
Die Schlussabstimmung der Jury wurde spannend. Denkbar knapp fiel 1997 das
Ergebnis zugunsten von Ingomar von Kieseritzky aus, John Berger und Klaus
Buhlert unterlagen mit ihrem medialen Spiel »Will it Be a Likeness«. Ingomar von
Kieseritzky, seit 1971 in Berlin als freier Autor arbeitend, erhielt mit seinem
grotesk- satirischen Dialoghörspiel »Compagnons und Concurrenten oder Die
wahren Künste« jetzt diejenige Auszeichnung zugesprochen, der in den
zurückliegenden Jahren schon so manche seiner Hörspielarbeiten sehr nahe
gekommen war. Allein 1972 und 1980 hatte sich Kieseritzky mit »Zwei Systeme«
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und »Plutonium II« nur mit Platz 2 begnügen müssen, in nahezu allen Jahrgängen
der letzten zwei Jahrzehnte war immer auch ein Hörspiel des Meisters des
radiophonen Dialogs zur Debatte gestanden. 1997 hatte es gereicht.
Es mag Kieseritzkys sage und schreibe 100. (!) Hörspiel gewesen sein oder dieser
runden Bilanz zumindest sehr nahe kommen, wie der Überblick über das große
Hörspielœuvre seit 1969 zeigt. Manfred Mixners polemische Bemerkung im
Nachwort zu einer Auswahledition, mit der Kieseritzkys Verlag Klett- Cotta seinen
Autor vor einigen Jahren bedachte, wurde widerlegt. Der ehemalige Berliner
Hörspielleiter hatte geschrieben: »Wie viele Hörspiel - Manuskripte er in den
vergangenen zwanzig Jahren geschrieben hat, weiß er selbst nicht mehr. Für
keines hat er bislang eine Auszeichnung oder einen Preis bekommen. Das spricht
nicht für den deutschen Hörspielbetrieb.«
Denn seine Hörspiele fanden und finden sich in den Programmen aller
Rundfunkanstalten. In den letzten Jahren betreute besonders die Stuttgarter bzw.
Baden- Badener Hörspieldramaturgie seine Arbeiten. Dazu gehören »Auch Mäuse
haben Parasiten oder Ein Haus wird besetzt« (1995), »Die Fragen des Yeti oder
Die Lichtung« (1994) sowie »Wunschprogramme für Riesenschildkröten« und
»Katzenfutter« (beide 1992).
»Compagnons und Concurrenten oder Die wahren Künste« ist eine Satire auf die
Dichter- Clubs in Weimar nach Goethes Tod 1832, gezeichnet mit dem für
Kieseritzky so typischen intellektuellen Humor. Die Epigonen feiern. Zwischen
dem Zirkel um Huhn und dem um Maushack entwickelt sich eine veritable
Konkurrenz, Kunstwerke produzieren zu müssen. In diversen Musenkränzchen,
Teegesellschaften und Trinkgemeinschaften wird heftigst diskutiert, konversiert,
räsoniert. Man würde den Kanon der Literatur gern durchbrechen, um zu
Dichterruhm zu gelangen, wenn man nur wüßte, wie dieser Kanon beschaffen ist.
Wie in vielen der Kieseritzkyschen Funkarbeiten sind es auch in dem
»Compagnons und Concurrenten«- Stück die skurrilen Helden und die komischen
Vertreter ihres Fachs, mit denen ihr Autor kybernetische Systeme – hier den
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epigonalen Literaturbetrieb – durchspielt. Voller parodistischem Wortwitz, der in
diesem Hörspiel gepaart ist mit dialektaler Vielfalt, voller satirischer
Anspielungen auf Moderne und Postmoderne, entwickelt sich das für alle seine
Hörspiele so charakteristische Hörvergnügen am brillanten Dialog.
Compagnons und Coneurrenten oder Die wahren Künste
Produktion: SDR/DLR Berlin
Mitwirkende: Wolfgang Jakob (Barthels); Dieter Mann (Huhn); Jürgen Holtz(Lüdge); Eberhard Esche (Storch); Klaus Bieligk (Maushack); Axel Wandtke(Ganser); Dirk Audehm (Vetting); Katrin Klein (Ottilie); Gudrun Ritter (WitweWeniger)
Regie: Joachim Staritz
Dauer: 66'32
Ursendung: SDR 2, 11.4.1996
»Eine für Kieseritzky typische Konstel lation: Mit austarierten Kopfgeburten Sinnund Praxis des Lebens auszuloten. Und dabei regelmäßig ins Spannungsfeld vonWitz und Aberwitz zu geraten. So entfaltet sich eine absurde Unterhal tung,angetrieben von federnden Sprachspielen, von grotesken Einfällen, voneigentümlichen Vorstel lungen.« (Aus der Begründung der Jury desHörspielpreises der Kriegsblinden)
huw
1998. Die graue staubige Straße.
Ilona Jeismann/Peter Avar
* 31. 1. 1945 Großsteinberg (Sachsen)
* 4. 6. 1962 Essen
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Sound- Engineering
Zwei Radiomacher oder besser: Insider des ganz praktischen Radiobetriebs am
SFB hatten sich 1997 zusammengeschlossen und erzählten von den
Innenansichten eines russischen Komponisten (Schostakowitsch) und den
ideologischen Exzessen unter Stalin. Der eine Praktiker heißt Peter Avar und ist
seit 1987 Toningenieur und Tonmeister beim SFB; seine Kollegin, Ilona Jeisman,
arbeitet seit vielen Jahren für den Hörfunk in den Abteilungen E-Musik, Hörspiel
und Feature.
»Wirrwar statt Musik«, so war am 28. Januar 1936 ein Artikel in der »Prawda«
überschrieben. Der Gescholtene und Erniedrigte war kein Geringerer als Dimitri
Schostakowitsch, dessen neuer Musikstil als »volksfremd«, »westlich« und
»unnatürlich« gebrandmarkt wurde. Hier setzten Jeismann und Avar mit ihrem
Hörspiel ein, in dem sie in kunstvollen musikalischen Brechungen und fiktiven
Monologen den Kampf des Komponisten gegen Stalinismus, Terror und
Einengung des Individuums spiegeln.
Beeindruckende Sprech- und Rapszenen werden dabei neben die Originalzitate
aus der 10. Symphonie (sie wird nach und nach in voller Länge eingespielt)
gestellt. Der Medienkritiker Jens Balzer kommentierte das neue Hörspielverfahren
folgendermaßen: »Der Tonmeister Peter Avar hat Jeismanns Text in die Musik
eingewirkt, mit allen Tricks des digitalen Sound- Engineering. Sehr kunstvoll nutzt
er Lautstärke, Hall und Verzerrungseffekte, um die wechselnde Distanz des
Sprechenden zum erinnerten Geschehen zu symbolisieren.«
Die zunächst riskante Gratwanderung zwischen Musikgeschichte, Tagespolitik
und Künstlerbiographie verliert durch das musikalische Gewicht der Symphonie
manche bizarre Verkrustung und lässt dann auch das plakative Gedankengut
über das Thema Kunst und Partei zu einem aufregenden Hörerlebnis werden. Die
Verbindung von Sprache und Symphonie sei – so die »Hörzu« – »absolutes
Neuland im Hörspiel - Genre. Und das war es, was die Jury vor allem
beeindruckte.«
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Die graue staubige Straße
Produktion: SFB 1997
Mitwirkende: Dieter Mann (Schostakowitsch); Winfried Wagner (Tuchatschevsky);Klaus Manchen (Stalin); Jürgen Hentsch (Tschechow); Lissy Tempelhof(Achmatova)
Realisation: Ilona Jeismann und Peter Avar
Dauer: 59'57
Ursendung: SFB, 4.11. 1997
»Hier ist die Musik der Ur- Text. Vorlage ist die Zehnte Symphonie vonSchostakowitsch, entstanden nach Stalins Tod im Jahr 1953. In demprogrammatischen Werk spiegeln sich die tragischen Erfahrungen desKomponisten, der die russische Revolut ion künst lerisch feierte, dann aber immerstärker in die Zwänge des Stalinismus verstr ick t wurde. In dieses musikal ischeZeitgemälde, das in voller Länge gespielt wird, ›komponieren‹ Ilona Jeismann undPeter Avar einen übersetzenden Text. Die Themen und Motive, die Zäsuren undRhythmen werden bis in die kleinsten Verästelungen analysiert, gedeutet und indicht geschriebene Aussagen umgesetzt. So entsteht als interpret ierendeSpiegelung ein vielschicht iges Bild der inneren Zustände Schostakowi tschs.« (Ausder Begründung der Jury des Hörspielpreises der Kriegsblinden)
chh
1999. Rafael Sanchez erzählt: Spiel mir das
Lied vom Tod.
Eberhard Petschinka/Rafael Sanchez
* 19. 10. 1953 Crroßmugl /Niederösterreich
* 22. 3. 1975 Basel/Schweiz
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Hörspielkino
Eberhard Petschinka arbeitet seit 1978 als Regisseur, Bühnen- , Film- und
Hörspielautor in Wien. Mit einem »Dramatikerstipendium« entstand 1983 sein
erstes Theaterstück, »Auf zum Tirolerland«, gemeinsam verfasst mit Helmuth
Mößmer. Dem Debüt folgten mehrere Dramen, die von der Kritik und dem
Publikum sehr positiv aufgenommen und mit Preisen bedacht worden sind, so
beispielsweise »Cicciolina und der Papst« (Kleines Theater Bruneck, 1993;
Dramatikerpreis der Stadt Bruneck) und »Goebbels & Guzzi – ein Tattoo« (1997;
Dramatikerpreis des Österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft,
Forschung und Kunst).
Seit 1986 schrieb Petschinka in steter Folge bislang mehr als zwanzig Hörspiele,
für österreichische und schweizerische Hörspieldramaturgien sowie für
bundesrepublikanische Rundfunkanstalten, vor allem für den WDR. Häufig
werden aktuelle Themen aufgegriffen und satirisch verarbeitet, wie
beispielsweise in dem gemeinsam mit Helmuth Mößmer verfassten »Krok«, einem
grotesken Spiel um gentechnologische Experimente und Gewalt in den Medien
(DRS/ORF 1994; ausgezeichnet mit dem Prix Futura), oder in »Ladykiller« (DLR
1998), in dem die Erinny einen Paparazzo nach dem Tode von Lady Diana zur
Strecke bringen. Häufig erarbeitet Petschinka als Autor die Texte zusammen mit
Kollegen und Freunden, darunter vor allem der Wiener Schriftsteller Helmuth
Mößmer sowie die Autoren Raphael Sanchez, Roland Neuwirth und Friedrich
Berstenreiner. Mit dem amerikanisch jüdischen Schriftsteller David Zane
Mairowitz entstand 1999 die bissig- böse Satire über die Debatte um Nazi- Gold
auf Schweizer Banken (»Goldrausch oder Something for everybody«, DRS).
»Wenn Petschinka, wie er sagt, ›gesellschaft l iche Themen‹ aufgrei f t, sieht er sichin bester Wiener Tradit ion: der des Volkstheaters des neunzehnten Jahrhunderts.Gerne beruft er sich auf Nestroy, der in seinen Komödien, besonders in denCouplets, jeweils aktuelle Anspielungen machte. Vom Wiener Volkstheater hatPetschinka auch gelernt, daß Erkenntnis und Vergnügen, Raffinement undNaivität sich nicht ausschließen.« (Eva- Maria Lenz)
Rafael Sanchez Garcia, Schauspieler und Regieassistent, lebt als spanischer
Staatsangehöriger in der Schweiz. Am »Jungen Theater Basel« war er an den
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Inszenierungen »Morgen bin ich fort« von Paul Steinmann (1994), »Beispiele
geglückten Lebens« von Eberhard Petschinka (1995) und »Die Memphis Brothers«
von Paul Steinmann (1996) beteiligt. Rafael Sanchez schrieb 1993 und 1994 zwei
Hörspiele – »Vom Himmel gefallen« und »Stück 2« –, die nicht zur Aufführung
gelangten.
»Rafael Sanchez erzählt: Spiel mir das Lied vom Tod« wurde 1996 von dem
Autorenduo Petschinka/Sanchez entworfen und ausgearbeitet. Das ebenso
kunstvoll aufgebaute wie vergnüglich unterhaltende Stück über den Kultfilm
»Spiel mir das Lied vom Tod« wurde im Frühjahr 1998 unter der Dramaturgie von
Angela Diciriaco- Sussdorff beim WDR-Köln als Koproduktion mit dem MDR und
dem ORF realisiert. Neben dem »Hörspielpreis der Kriegsblinden« erhielt es 1998
eine »Special Commendation« beim »Prix Italia« und 1999 den »Premios Ondas«.
»Rafael Sanchez erzählt: Spiel mir das Lied vom Tod« wurde am »Theater Basel«
in einer Bühnenfassung realisiert.
Rafael Sanchez erzählt: Spiel mir das Lied vom Tod
Produktion: WDR/MDR/ORF 1998
Mitwirkende: Rafael Sanchez (Rafael Sanchez); Nobert Schwientek (Großvater);Jennifer Minetti (Großmutter); Nelly Riggenbach (Pepita); Rodolfo Seas Arayo(Pepitas Ehemann); Carmen Garcia (Nachbarin); Urli Jaeggi (Onkel As); José LuisGarcía (Juan); Erwin Wölkenstein (Ramon); Maurici Farré (Jesús el Baboso); JosefinPlatt (Theresa); Wolfgang Pampel (Konsul); Jose Luis Garcia (Alter Mann);Ferdinando Chefalo (Häftling)
Musik: Wolfgang Mitterer
Realisation: Eberhard Petschinka
Dauer: 58'38
Ursendung: WDR, 11. 3. 1998
»Petschinka und Sanchez machen aus dem auch stark durch die Musik geprägtenKino- mythos ein ganz eigenständiges Hörabenteuer. Der Kunstgri f f: Der durchOriginal - Zitate und durch subjekt ive Schilderungen vergegenwärt igte Film wirdzur biographischen Heimat des heranwachsenden Rafael, der an den Mustern des
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Films seine Phantasien ausbildet und seine eigenen Erfahrungen mit denen derbewunderten Leinwandhelden verschränkt. So entsteht eine vielschicht igverwobene Geschichte, in der dörfl iche und familiäre Lebensreali tät, kindl icheEinbildungskraf t sowie Phantasie - und Lebensmuster der Erwachsenen zu einemlustvol l erzählten Gesamtkunstwerk werden (...).« (Aus der Begründung der Jurydes Hörspielpreises der Kriegsblinden)
huw
2000. Unter dem Gras darüber.
Inge Kurtz/Jürgen Geers
* 9. 3. 1949 Grieskirchen/Österreich
* 30. 7. 1947 München
Radiotag
Die Leute zum Reden zu bringen – so könnte man pointiert Jürgen Geers
radiophonen Ansatz umreissen. Sein Name und der seiner Kollegin und Partnerin
Inge Kurtz sind untrennbar mit den Spielformen des so genannten O- Ton-
Hörspiels verbunden. Als 23jähriger Germanistikstudent in München fing er an.
Paul Wühr hatte 1970 den Plan, ein O- Ton- Stück über die bayerische Metropole
zu machen und erbat sich bei Jürgen Geers Hilfe im Umgang mit Mikrophon und
Aufnahmegerät. Aus dem Plan wurde später die Produktion »Preislied«, die 1972
den Hörspielpreis der Kriegsblinden erhielt. Für Geers begann eine typische
Karriere beim Rundfunk: freier Mitarbeiter, Regieassistent, Hilfstätigkeiten in
allen Bereichen. Er sah sich bald als der »Kreative vom Dienst« abgestempelt, der
die »Krüppelkinder großziehen« muß, das heißt: Produktionen auf die Beine
stellen sollte, die Autoren mit ihren künstlerischen Plänen technisch und
organisatorisch nicht mehr allein umsetzen konnten.
In den 70er Jahren entstanden aber auch schon erste eigene Hörspielarbeiten,
von Anfang an von der Idee getragen, Zeitzeugen und Zeitgenossen zu befragen,
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Alltagspersonen Stimme zu geben. 1978 wechselte Jürgen Geers nach Frankfurt,
wo er für den Hessischen Rundfunk zu arbeiten begann. Sein Durchbruch kam
ein paar Jahre später mit der vielbeachteten Produktion »Der Meinungscontainer«
(HR 1984). 30 Tage lang stand anlässlich der Kasseler »documenta« ein
barackenähnlicher Kasten in der Fußgängerzone der nordhessischen Stadt. Die
Bürger waren eingeladen, »akustische Graffiti« abzugeben, sie konnten ihre
Stimme abgeben, erhielten Redezeit. 24 000 kamen in den Container, zirka 1 000
Besucher machten davon Gebrauch, ihre Meinung auf Band zu sprechen. Der
25minütige Zusammenschnitt – mit einem Spezialpreis des Prix Italia
ausgezeichnet – galt als der Inbegriff dafür, mit Hilfe des O- Ton- Verfahrens
Brechts theoretische Forderung nach einem Rundfunk, der nicht nur sendet,
sondern auch Kommunikation aufnimmt, einzulösen.
Immer wieder sollte in den folgenden Jahren dieser Ansatz von Jürgen Geers bzw.
dann auch zusammen mit Inge Kurtz ausprobiert und durchexerziert werden. Das
Projekt »Liebes Volk« beispielsweise, bei dem sich 350 »Normalbürger« aus ganz
Deutschland meldeten und sich zutrauten, eine Rede zu halten, maximal 20
Minuten lang. Eine mit Rita Süssmuth, Walter Jens und Dieter Hildebrandt
besetzte Jury wählte aus. Drei prämierte Beiträge wurden ausgestrahlt sowie ein
von den Autoren veranstalteter Zusammenschnitt (HR 1985). Ein Hörfunkbeitrag,
der freilich auch Anstoß erregte, wegen einzelner Sätze, etwa dem, dass »alle
Soldaten Mörder seien«. Die Rundfunkgremien beharrten auf dem verletzenden
Charakter solcher freier Meinungsäußerung und verlangten, die beanstandeten
Passagen herauszuschneiden. Die Initiatoren Geers und Kurtz waren enttäuscht,
dass ihr Konzept, dem »Volk aufs Maul zu schauen« und das Frei- von- der Leber-
weg- Gesagte zu dokumentieren, solchermaßen »beschnitten« wurde.
15 Jahre später waren solche Probleme nicht mehr zu erwarten. Das Konzept von
Jürgen Geers und Inge Kurtz, die Menschen zum Sprechen zu bringen, wurde für
das bevorstehende Millenniumsjahr noch einmal, diesmal in die ganz große Form
umgesetzt. Nicht ein Problem, eine Schicht oder ein spezielles Ereignis wurde
zum Gegenstand genommen, sondern die Geschichte des zu Ende gehenden
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Jahrhunderts selbst. Gespräche mit mehreren Dutzend Zeitzeugen gingen in den
»Radiotag« ein, der am 28. November 1999 eine knapp 16 Stunden lange Collage
aus Originaltönen brachte, Alltagserinnerungen aus 100 Jahren deutscher
Geschichte.
Unter dem Gras darüber. Erinnerungen an 100 Jahre Deutschland
Produktion: HR 1999
Mitwirkende: Unbekannte Zeitzeugen erzählen aus ihrem Leben
Realisation: Inge Kurtz und Jürgen Geers
Dauer: 14 Stunden 45 Minuten 14 Sekunden
Ursendung: HR 2, 28.11. 1999
»Ich erzähle gern. Radio ist ein Erzählmedium. Ich unterhal te mich gern, es ist einDialogmedium.« (Jürgen Geers in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung,5. 12. 1984)
huw
2001. Pitcher.
Walter Filz
* 18. 8. 1959 Köln
Auf Stimmenfang
Seit den 90er Jahren durchpflügt er in allen nur erdenklichen Formen und
Formaten das unerschöpfliche Feld massenkultureller Phänomene: Walter Filz, der
in Köln lebende Radiomacher. Egal, ob High oder Low, ob E oder U – alles, was
sich als Ton, als Geräusch und Klang, als Sound und stereotype Sprechblase in
den Medien äußert, wird ihm zum Material. Mehr als 30 Features seit 1989/90,
ein halbes Dutzend Hörspiele seit 1996 belegen den produktiven Elan, den der
Schriftsteller, Kulturjournalist und Rundfunkautor an den Tag legt.
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Immer ist es ein originär radiophoner Ansatz, den Walter Filz seinen Produktionen
zugrundelegt. In »Apokalypse H0. Der etwas kleinere Weltuntergang« (WDR 1996)
beispielsweise – einer raffinierten Collage aus Originaltönen – brechen sich die
medial vermittelten Katastrophenmeldungen mit der im Interview zu Tage
tretenden beschaulichen Welt des Modelleisenbahners im Hobbykeller. Der
bastelnde Demiurg antwortet mit seiner auf die Spurbreite HO reduzierten
Schöpfung auf die Hysterie der Weltuntergangsszenarien.
Oder »Resonanz Rosa. Eine Frau hört mehr« (WDR 1999), ausgezeichnet mit dem
Publikumspreis der Berliner Akademie der Künste: Rosa, die bei einer Talkshow-
Produktionsfirma arbeitet, hört Rest- Resonanzen, Schallwellen, die nicht verebbt
sind, Stimmen, Gesprächsfetzen, Geräusche. Rosas Hör- Anfälle korrespondieren
mit ihrem alltäglichen Stress des auf Quote und Profit ausgerichteten Small-
Talks, dem leeren Mitteilungs- und Bekenntnisdrang der gecasteten Teilnehmer.
Walter Filz, der seit 1997 ein eigenes Studio aufgebaut hat, arbeitet als freier
Produzent vor allem für den Westdeutschen Rundfunk. Viele seiner
Hörspielsendungen stehen in enger Verbindung mit dem Sendeplatz
»Lauschangriff« im WDR-Programm »Radio Eins Live«, dessen auf ein jüngeres
Zielpublikum ausgerichtete Maxime lautet: »Hören aus lauter Lust«.
Eine Prämisse, die für »Pitcher«, dem 2001 ausgezeichneten Hörspiel, in
besonderem Maße gilt. In dem fiktivem Hörspiel, das vorrangig aus O-
TonMaterial besteht, geht Walter Filz auf Stimmenfang – auf eine
unverwechselbare, komisch- satirische, grotesk- absurde Weise, die dem Thema
Sound- Design gleich noch eine Krimihandlung, eine Kleinbürgersatire und eine
Medienschelte abgewinnt. Ihre Hauptfigur: ein Profi- Synchronsprecher, in
unzähligen Werbespots verschlissen, dessen Auftragslage zurückgeht. Seine
Stimme müsste einmal aufpoliert werden. Für ihn hat Vox, der Boss des
Stimmenkartells, einen Auftrag. Im Erzgebirge, in Schneeberg, soll er den Mann,
der Töne »pitcht«, also Stimmen manipulieren kann, ausfindig machen. Doch der
Sonderauftrag erweist sich als ein eingefädeltes Spiel. Vox, auf der Suche nach
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einer neuen Baby- Stimme, opfert seinen abgehalfterten Sprecher für diese
synthetische Stimme.
Pitcher
Produktion: WDR 2000
Mitwirkende: Walter Filz; Joachim Kerzel
Realisation: Walter Filz
Dauer: 57'35
Ursendung: WDR 1, 10. 10. 2000
»Aus dieser kuriosen Konstellation entwickelt sich ein nicht nur doppel - , sonderngleich mehrfachbödiges skurr i les Spiel. Walter Filz verwertet dabei Radio -Versatzstücke – O- Töne aus Reportagen, Reiseberichten und Interviews – undkombinier t dieses authent ische Material mit fikt iven Passagen. Er inszeniert alsoVorgefundenes, indem er es durch Erfundenes verbindet und konstru ier t so neueSinnbögen und Zusammenhänge (...). Eine raff in ier te Satire mit einer Mischungaus Krimi - Elementen und Anklängen an eine komische Nummern - Opera (Aus derBegründung der Jury des Hörspielpreises der Kriegsbl inden)
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Statut des Hörspielpreises der Kriegsblinden(Stand: 22. Oktober 1997)
1. Der Hörspielpreis der Kriegsblinden wird jährlich für ein von einemdeutschsprachigen Sender konzipiertes und produziertes Original- Hörspielverliehen, das in herausragender Weise die Möglichkeiten der Kunstformrealisiert und erweitert. Dieses Original- Hörspiel muss im vorausgegangenenJahr erstmals ausgestrahlt worden sein.
2. Träger des Preises sind der Bund der Kriegsblinden Deutschlands e. V. (BKD)und – seit 1994 – die Filmstiftung Nordrhein- Westfalen GmbH.
3. Der Hörspielpreis der Kriegsblinden ist ein Ehrenpreis, der dem Autor oderden Autoren zuerkannt wird.
4. Über den Preis befindet eine Jury, die jährlich zusammentritt.Die Jury besteht aus dem Vorsitzenden, neun Kritikern und neun
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Kriegsblinden. Der Vorsitzende und der Stellvertretende Vorsitzende werdenvon den Trägern für die Dauer von drei Jahren berufen. Der StellvertretendeVorsitzende kommt aus dem Kreis der Kriegsblinden. Eine Wiederberufung istmöglich. Der Redaktionsvertreter der Zeitschrift »Der Kriegsblinde« istständiges Mitglied der Jury.Die übrigen Mitglieder der Jury werden von den Trägern berufen. Bei denKriegsblinden geschieht dies durch den Bundesvorsitzenden der KriegsblindenDeutschlands. Bei den durch die Träger zu berufenden Kritikern hat derJuryvorsitzende ein Vorschlagsrecht. Er benachrichtigt die einzuberufendenJurymitglieder.Bei der Berufung beachten die Träger den Grundsatz eines ausreichendenWechsels in der Zusammensetzung der Jury.
5. Die Jury entscheidet über den Preis mit der Mehrheit der abgegebenenStimmen. Bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Vorsitzenden denAusschlag.
6. Für den Hörspielpreis der Kriegsblinden darf jede der öffentlich- rechtlichenRundfunkanstalten ein Hörspiel einreichen. Außerdem können alle deutschenSender der Jury eine Produktion vorschlagen. Eine höchstens gleich großeAnzahl von Produktionen wie die der eingereichten Titel kann auf Vorschlagvon Jurymitgliedern und auf der Grundlage der Sendervorschläge vomVorsitzenden für die Jurysitzung nominiert werden.
7. Der Vorsitzende des Bundes der Kriegsblinden Deutschlands teilt demPreisträger oder den Preisträgern die Entscheidung der Jury mit.
Bonn
Heinrich Johanning
Bundesvorsitzender des BKD
Düsseldorf
Dieter Kosslick
Geschäftsführer der Filmsti f tungNordrhein - Westfalen
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