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LWL-Klinikum Gütersloh
Intensivbetreuung in der stationären
psychiatrischen Versorgung – unvermeidbares
Übel oder hilfreiche Intervention? 41. BFLK Jahrestagung
11. bis 13. April 2016
Göttingen
André Nienaber
LWL-Klinikum Gütersloh
Psychiatrie · Psychotherapie · Psychosomatische Medizin
Neurologie · Innere Medizin
im LWL - Psychiatrie Verbund Westfalen
LWL-Klinikum Gütersloh
Agenda
• Intensivbetreuung – eine Definition
• Ziele und Anwendung von
Intensivbetreuungen
• Empfehlungen des NICE
• Praxisempfehlung Intensivbetreuung
LWL-Klinikum Gütersloh
Quelle: http://www.focus.de/kultur/mode/maennermode/maenner-garderobe-stresstest-fuer-anzuege_aid_618548.html
LWL-Klinikum Gütersloh
„Warum beobachten Pflegende Patienten nach wie
vor, um Sicherheit zu gewährleisten?“
Ray, R. E., & Allen, D. E. (2015). Why Do Nurses Continue to Watch Patients to Maintain Safety? J Am
Psychiatr Nurses Assoc, 21(6), 381-383.
LWL-Klinikum Gütersloh
Intensivbetreuung ist...
• ...eine direkte und unmittelbare Begleitung
• von Patientinnen und Patienten in der
psychiatrischen Versorgung,
• in extremen psychischen
Ausnahmesituationen bzw. akuten Krisen
• durch entsprechend ausgebildete
Mitarbeiter
LWL-Klinikum Gütersloh
Extreme psychische Ausnahmesituationen
• Angespanntheit, Aggressivität
• Gefahr der Gewalttätigkeit gegen sich selbst /
gegen Andere
• Akute Suizidalität
• Akute Verwirrtheit
• Fluchtgefahr / Gefahr der Abgängigkeit
• Bestehen freiheitsentziehender
Zwangsmaßnahmen (FEM) wie Fixierung oder
Isolierung
LWL-Klinikum Gütersloh
Intensivbetreuungen als
Interventionsrahmen
Psychiatrische
Interventionen
Soziale
Interventionen
Somatische
Interventionen
Interventionsrahmen
Intensivbetreuungen
Individuelle Interventionen
Intensivbetreuungen haben hohes therapeutisches
Potential, wenn sie als therapeutische Maßnahme
verstanden werden, nicht als Überwachung.
LWL-Klinikum Gütersloh
• Frühzeitiges Erkennen von Risiken und
Gefährdungen
• Vermeidung von Selbstverletzungen oder
Gewalttätigkeit gegenüber Dritten
• Vermittlung von Sicherheit
• Unterstützung bei der Herstellung von
Sicherheit für den Patienten / die Patientin
• Aufbau einer tragfähigen und vertrauensvollen
Beziehung
Ziele von Intensivbetreuung
LWL-Klinikum Gütersloh
Ziele intensiver Betreuungsmaßnahmen
„The primary aim of observation is
seen here as being to provide an
opportunity to engage positively with
the patient, so it is recommended that
its operation should be meaningful,
grounded in trust, and therapeutic for
the patient.“
Whittington, R., Baskind, E., & Paterson, B. (2006). Coercive Measures in the Management of
Imminent Violence: Restraint, Seclusion and Enhanced Observation. In D. Richter & R. Whittington
(Eds.), Violence in Mental Health Settings (pp. 145-172). New York: Springer.
LWL-Klinikum Gütersloh
unthera-peutisch / schädlich
Fehlende Empathie
Fehlende Informationen
Fehlende Privatsphäre
Kein Interesse am
Wohlbefinden
Verlust von persönlichem
Raum und Freiheit
Gefühl, eingesperrt zu
sein
• Cardell, R., & Pitula, C. R. (1999). Suicidal inpatients' perceptions of therapeutic and
nontherapeutic aspects of constant observation. Psychiatr Serv, 50(8), 1066-1070;
• Pitula, C. R., & Cardell, R. (1996). Suicidal inpatients' experience of constant observation. Psychiatr
Serv, 47(6), 649-651.
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thera-peutisch
Als Individuum respektiert
werden
Begrüßung, Respekt
Empathie
Interesse am Wohlbefinden
Einbeziehung
Zuversicht / Hoffnung Anerkennung /
Wertschätzung
Ablenkung
Emotionale Unterstützung
Schutz
Verständnis
• Cardell, R., & Pitula, C. R. (1999). Suicidal inpatients' perceptions of therapeutic and
nontherapeutic aspects of constant observation. Psychiatr Serv, 50(8), 1066-1070;
• Pitula, C. R., & Cardell, R. (1996). Suicidal inpatients' experience of constant observation. Psychiatr
Serv, 47(6), 649-651.
LWL-Klinikum Gütersloh
„Es handelt sich um
eine besonders
intensive Form der
Zuwendung, die aber
auch einen Aspekt von
Zwang und Eingriff in
die Intimsphäre hat und
seitens des Betreuten
auch so erlebt werden
kann.“ (DGPPN, 2010, S.30)
LWL-Klinikum Gütersloh
Muralidharan, S., & Fenton, M. (2006). Containment strategies for people with serious mental illness.
Cochrane Database Syst Rev(3), CD002084.
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„If an electric plug was
thought to be faulty and ‘at
risk’ of exploding, what
sensible person would ‘put
it on observation’?
Similarly, in the nursing
context, if we thought that
someone might
haemorrhage, or choke, we
would not simply ‘observe’
the ‘patient’.“
Buchanan-Barker, P., & Barker, P. (2005). Observation:
the original sin of mental health nursing? J Psychiatr
Ment Health Nurs, 12(5), 541-549.
LWL-Klinikum Gütersloh
Zehnder, U., Rabenschlag, F., & Panfil, E. M. (2015). Zwischen Kontrolle und Therapie: Eine evolutionäre
Konzeptanalyse von Intensivbetreuung in der stationären Akutpsychiatrie. Psychiatr Prax, 42(2), 68-75.
LWL-Klinikum Gütersloh
LWL-Klinikum Gütersloh
• Entwicklung einer Richtlinie zu Intensivbetreuung
– Definition der Stufen der Intensivbetreuung
– Festlegung, wer Intensivbetreuungen auslösen, intensivieren,
reduzieren und überprüfen kann
– Festlegung, wie oft überprüft wird
– Beschreibung, wie Erfahrungen der Patienten einbezogen
werden
– Beschreibung, wie Intensivbetreuungen therapeutisch gestaltet
werden können
– Festlegung der Notwendigkeit einer multidisziplinären
Überprüfung, wenn die Intensivbetreuung 1 Woche oder länger
dauert
LWL-Klinikum Gütersloh
• Durchführung einer Intensivbetreuung
– Informationen für den Patienten / die Patientin, weshalb die
Intensivbetreuung notwendig ist
– Einnehmen einer aktiven Rolle
– Über Kenntnisse der Geschichte des Patienten / der Patientin
verfügen (Hintergrund, Risikofaktoren, Bedürfnisse etc.)
– Über Kenntnisse der Station verfügen, Richtlinien für Notfälle,
Risiken in der Umgebung
– Ansprechbar / erreichbar sein, dem Patienten zuhören,
wertschätzend sein
LWL-Klinikum Gütersloh
Präventive
Intensivbetreuungen
…verhindern Zwangsmaßnahmen
LWL-Klinikum Gütersloh
Konstante Einzelbetreuung Kontinuierlicher
persönlicher Kontakt im
gleichen Raum
Die betreuende Pflegekraft
darf zeitgleich keine
anderen Tätigkeiten
übernehmen.
Periodische (z.B. 15-
minütige) Kontaktaufnahme
Aktive und direkte
periodische
Kontaktaufnahme zum
Patienten
Die Pflegekraft überzeugt
sich persönlich vom
Zustand des Patienten.
Indirekte Betreuung (als
Ausnahme, wenn der
direkte Kontakt vom
Patienten abgelehnt wird
oder therapeutisch
kontraindiziert ist). Sie muss
ausdrücklich begründet und
dokumentiert sein!
Konstante Betreuung
Periodische Betreuung, z.B.
durch ein Sichtfenster
Die Pflegekraft darf
zeitgleich keine anderen
Tätigkeiten übernehmen.
Die Pflegekraft überzeugt
sich persönlich vom
Zustand des Patienten.
LWL-Klinikum Gütersloh
Struktur Prozess Ergebnis
S1
Die Einrichtung sorgt für
eine systematische
Erhebung von
Gefährdungsaspekten,
die Intensivbetreuungen
auslösen können.
P1
Gefährdungsaspekte
werden identifiziert und
adäquaten
Betreuungsmaßnahmen
zugeordnet.
E1
Die Einrichtung verfügt
über eine
Verfahrensregelung zum
Umgang mit
Überwachungs- und
Betreuungssituationen
aufgrund von
Gefährdungsaspekten.
Erhebung von Gefährdungsaspekten
LWL-Klinikum Gütersloh 22
Ziele:
1. Erarbeitung einer therapeutischen Beziehung
2. Einschätzung des akuten Suizidrisikos
3. Grundlage für Maßnahmen (Notfallplan, Krisenplan, Skills etc.)
LWL-Klinikum Gütersloh
S2
Die Einrichtung muss die
Verantwortlichkeiten für
das Ansetzen,
Durchführen und
Absetzen der
Intensivbetreuungen im
Sinne des kooperativen
Prozessmanagements
definieren.
P2
Die Verantwortung muss
von der Einrichtung an
die Oberärzte und
fachlich verantwortlichen
Pflegepersonen delegiert
werden.
E2
Die Einrichtung verfügt
über ein kooperatives
Prozessmanagement
und definiert
interdisziplinäre
Entscheidungs-
verantwortung.
Kooperatives Prozessmanagement
LWL-Klinikum Gütersloh
S3
Die verantwortliche
Pflegefachperson verfügt
über die fachliche
Kompetenz,
gemeinsame
Entscheidungsprozesse
mit zu verantworten.
P3
Die Pflege muss die
Verantwortlichkeiten
innerhalb der
Berufsgruppe klären und
definieren.
E3
Entscheidungen zu
Intensivbetreuungen
werden vom zuständigen
Oberarzt gemeinsam mit
der zuständigen
Pflegefachperson
getroffen und
verantwortet.
„Ich bin mir bei vielen MA sicher, dass es richtig ist, wenn sie
anrufen: eine Intensivbetreuung könne aufgehoben werden. Nur
wenn ich nach Argumenten für die Doku frage, wird es schwierig.“
Klärung von Verantwortlichkeiten
LWL-Klinikum Gütersloh
S4
… verfügt über die
fachliche Qualifikation,
im multiprofessionellen
Prozess intensive
Betreuungsmaßnahmen
individuell und diagnose-
spezifisch abzustimmen.
P4
… identifiziert unmittelbar
zu Beginn des
pflegerischen Auftrages
systematisch die
Betreuungsintensität und
die möglichen
Interventions-methoden.
E4
Eine aktuelle,
systematische und
fachübergreifende
Einschätzung der
Notwendigkeit zur
intensiven Betreuung
liegt vor.
Dann reicht eine Anordnung zur Intensiven Betreuung, die konkreten
Inhalte und Art der Durchführung liegen in pflegerischer
Verantwortung.
Prozessbeschreibung
LWL-Klinikum Gütersloh
S5
Die Einrichtung sorgt für
Patienteninformationen
zur Art und zum Zweck
der Maßnahme.
P5
Informationsmaterial wird
erarbeitet.
E5
Informationsmaterialien
seitens der Klinikleitung
über Art und Zweck der
Intervention sind
(mehrsprachig)
vorhanden und werden
in jedem Fall
ausgehändigt.
Patienteninformation
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Nienaber, A. (2013). Sitzen und Wachen? Psychosoziale Umschau, 28(02), 16-17.
LWL-Klinikum Gütersloh
S6
… verfügt über aktuelles
Wissen über
Interventionsmethoden
zur Hoffnungsförderung
und zum Einbezug des
Patienten in den
Behandlungsprozess
(Empowerment),
Recoverykonzepte und
Krisen-kommunikation.
P6
Dem Patienten werden
Informationen und
Beratungen über die
festgestellten
Interventionen
angeboten und er wird so
weit wie möglich an der
Ausgestaltung der
Maßnahme beteiligt.
E6
Der Patient kennt die
individuelle Maßnahme
und ist aktiv in den
Behandlungsprozess
einbezogen.
Einbeziehung der Patienten
LWL-Klinikum Gütersloh
S7
Die Pflegefachperson ist
zur Koordination der
Interventionen autorisiert.
P7
Die Pflegefachperson
gewährleistet in
Absprache mit den
beteiligten
Berufsgruppen und dem
Patienten gezielte
Interventionen auf der
Grundlage des
Maßnahmenplans.
E7
Die Umsetzung der
geplanten Interventionen
erfolgt.
Gestaltung der Intervention
LWL-Klinikum Gütersloh
S8
Die Einrichtung sorgt für
geeignete personelle und
räumliche Voraussetzungen
für eine individuelle und
situationsangepasste
Umsetzung.
P8
Die Pflegefachperson leitet
unmittelbar nach der
Entscheidung zur
Intensivbetreuung in
Absprache mit dem
Patienten und den
beteiligten Berufsgruppen
Maßnahmen zur
Umgebungs-anpassung ein,
die zur Vermeidung von
Traumatisierung und
unnötigen Eingriffen in die
Persönlichkeits-rechte
beitragen.
E8
Die Umgebung
(therapeutisches Milieu) ist
den individuellen
Gegebenheiten des
Patienten angepasst.
Voraussetzungen schaffen
LWL-Klinikum Gütersloh
S9
Die Pflegefachperson
erkennt im intensiven
Kontakt Veränderungen
im Zustand des
Patienten frühzeitig und
ist autorisiert, die
Maßnahme anzupassen.
P9
Die Pflegefachperson
passt die Intervention an
den aktuellen
Gesundheitszustand des
Patienten an.
E9
Die Maßnahme wird
nach Bedarf verändert,
intensiviert, gelockert
oder aufgehoben.
Anpassung der Intervention
LWL-Klinikum Gütersloh 32
Kettles, A. M., & Paterson, K. (2007). Flexible observation: guidelines versus reality. J
Psychiatr Ment Health Nurs, 14(4), 373-381.
LWL-Klinikum Gütersloh
S10
Die Pflegefachperson ist
zur systematischen
Erfassung und Analyse
der Wirksamkeit der
Maßnahme befähigt.
P10
Die Pflegefachperson
dokumentiert und
analysiert systematisch
und zeitnah den Erfolg
der Intervention.
E10
Jede Intensivbetreuung
eines Patienten ist
dokumentiert und
analysiert. In der
Einrichtung liegen
Zahlen zu Häufigkeit,
Umständen und
Wirksamkeit vor.
Dokumentation
LWL-Klinikum Gütersloh
Björkdahl, A., Nyberg, U., Runeson, B., & Omerov, P. (2011). The development of the
Suicidal Patient Observation Chart (SPOC): Delphi study. J Psychiatr Ment Health Nurs,
18(6), 558-561.
LWL-Klinikum Gütersloh
Löhr, M., Schulz, M., Hemkendreis, B., Björkdahl, A., & Nienaber, A. (2013). Deutsche Übersetzung des
Suicidal Patient Observation Charts (SPOC) - ein Instrument für die Praxis. Pflege, 26(6), 401-410.
LWL-Klinikum Gütersloh
S11
Die Einrichtung sorgt für
eine systematische
Auswertung aller
Intensivbetreuungen.
P11
Die angewandten
Maßnahmen werden
zentral gesammelt und
Ausgewertet.
E11
Allen Mitarbeitenden sind
die Best Practice-
Empfehlungen der
Einrichtung bekannt, sie
bilden die Grundlage der
fachlichen Umsetzung.
Evaluation
LWL-Klinikum Gütersloh
S12
Die Einrichtung sorgt für
Informationen und
Schulungen.
P12
Schulungsinhalte werden
auf der Grundlage
gesammelter Analysen
und wissenschaftlicher
Erkenntnisse erarbeitet.
E12
Es finden regelmäßig
multiprofessionelle
Schulungen zum Thema
statt.
Fort- und Weiterbildung
LWL-Klinikum Gütersloh
S13
Die Einrichtung sorgt
dafür, dass die Sicht der
Patienten regelmäßig in
die Schulungen
einfließen kann.
P13
Einmal pro Jahr findet
ein trialogischer
Austausch über die
Qualitätsparameter der
Maßnahmen statt.
E13
Die Wahrnehmungen,
Wünsche und
Anregungen der
Patienten werden im
Entscheidungsprozess
berücksichtigt.
Einbeziehung von Erfahrungswissen
LWL-Klinikum Gütersloh
„It‘s clearly not enough to
simply observe people.
The process must be
both safe and
therapeutic.“ (CRAG, 2002)