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ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

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zusammengestellt vom ISW München

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CONRAD SCHUHLER

Die Eurokrise - das System hat versagt, nicht die Südländer

l. Schuldenkrise ist überall - den Kapitalismus gibt es nur noch als Pumpkapitalismus ........... 3

ll. Wie kam es zur Krise der Staatsfinanzen? ............... 5

lll. Das spezielle Problem der Eurozone: Überschüsse und Schuldenin einer Währungsunion, die aber keine Fiskalunion ist ............... .................... 7

lV. Die Rettungsprogramme reten vielleicht die Banken,aber nicht die Problemländer und den Euro ............. 8

V. Planen die Euro-Gewaltigen die Zerstörung des Euro? .............. 10

Vl. Nur ein solidarisches, soziales Europa ist als Union lebensfähig .................... 11

FRED SCHMID

Bilanz 2011 -Ausblick 20'12Daten und Fakten zur wirtschaftlichen und sozialen Lagein Deutschland und der Euro-Zone

Sozialprodu kt, Wachstu m

Produktivität, Arbeitszeit, Arbeitskosten .................

Preise ,.........

Außenhandel ..................

Einkommensverteilung

Löhne .........

Vorstandsbezüge, Boni

Gewinne/Profite .............

lnvestitionen

Steuern

Öffentliche Haushalte/Staatsverschuldu ng ..........Reichtumlr'ermögen

ArmuVSchulden ............ ..... 50

ArbeitslosigkeiVBeschäftigung............ .......................53

Fusionen/P1eiten............ .....58Renten ............ 61

GesundheiVKrankenversicherung ........... 64

14

17

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21

24

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32

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42

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Die Eurokrise - das System hat versagt,nicht die Südländer

Conrad Schuhler

l. §chuldenkdse ist überall- den l(apitalismusgibt es nur noch als Pumpkapitalismus

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Die Debatte um das Euro-Debakel bekommt zuneh-mend rassistische Züge. Gerne wird die Krise derEuro-Zone auf die besondere wirtschaftliche Unfähig-keit und Skrupellosigkeit der "Südländer" zurückge-führt. Manche im "Norden" fühlen sich diesen gegen-über grundsätzlich überlegen, spekulieren über einenAbspaltung der "starken" von den Defizitländern.Nichts ist abwegiger als dieser rassistische Hochmut.Wir haben es nicht mit einem Versagen irgendwel-cher nationaler Mentalitäten zu tun, sondern mitdem des kapitalistischen Systems.

Dies wird schlagend bewiesen durch die Tatsache,dass die lndustrieländer durchgängig hoch verschuldetsind und zwar in allen Bereichen - sowohl die Staa-ten wie auch die Unternehmen der Realwiftschaft,die Finanzinstitutionen und die Privathaushalte.

Japan weist eine Staatsverschuldung (in % der Wirt-schaftsleistung) auf, die doppelt so hoch ist wie dieitalienische. Die Verschuldung der britischen Finanz-

institutionen ist dreimal höher als die der spanischen.Die Unternehmen der Realwirtschaft Süd-Koreas sindweit höher verschuldet als die ltaliens. Die Schuldender Privathaushalte der USA und Australiens liegenerheblich über denen von Spanien oder ltalien.Nimmt man die Durchschnitte der Top 10, so sinddiese denen der Eurozone relativ ähnlich.

Nun gehören Kredit und entsprechende Schuldenvon jeher zum Funktionsmechanismus des Kapitalis-mus. Ein Teil des Überschusses geht in die Auswei-tung der Kapitalakkumulation, dafür geben die Geld-kapitalisten den Kredit und bekommen dafür einenZins, d.h, einen Anspruch auf einen Teil des zukünfti-gen Mehrwerts, der Profite aus der realwirtschaftli-chen Produktion. Es ist auch nicht neu, dass es beidieser Produktion regelmäßig zu Stockungen kommt.ln seiner "Kritik der Politischen Ökonomie" analysiertKarl Marx die dafür verantwortlichen Widersprücheim Kapitalismus. Deren entscheidender besteht imDoppelcharakter des Lohnes, der für den Kapitalistenzugleich Kosten- und Nachfragefaktor ist. Mit demdurch die Konkurrenz gegebenen Zwang, die Arbeits-kräfte und Löhne möglichst zu minimieren, wirdgleichzeitig die effektive Nachfrage und damit derMarkt eingeschränkt. Es kommt zu einer Überakku-mulation, die in periodischen, "kleinen" Krisen dannrelativ schnell und wirksam abgebaut werden kann,wenn sich die Überakkumulation nicht allzu weit vomMarktvolumen entfernt hat. Dies funktionierte im so-genannten "Fordismus", als die Löhne sich in relativerProportion zur Arbeitsproduktivität entwickelten unddas gesamte Finanzsystem der Logik der Realwirt-schaft untergeordnet war.

Dieses Grundprinzip des damaligen Akkumulationsre-gimes ist mit dem Neoliberalismus über Bord gewor-fen worden. Nun erleben wir ein gewaltiges, ständigwachsendes Übergewicht des Finanzkapitals über dieRealwirtschaft und das entsprechende Anwachsender Ansprüche des Geldkapitals an die reale Wirt-schaftsleistu ng.

Während 1980 Sozialprodukt und Finanzvermögennoch gleich waren, ist das Finanzvermögen 201 1 umdas 3,7fache größer als das Sozialprodukt. Unterstelltman eined Zinssatz von 5 7o, den die 231 BillionenUS-Dollar schweren Geldvermögen einfordern, dannmüssten jährlich fast 20 % des Weltsozialprodukts andie Geldvermögenden abgeführt werden, bevor dererste Cent für Löhne und Gewinne der Realwirt-schaft, für Erziehung und Gesundheit, für Bekämp-fung von Armut und Unterentwicklung (und Krisen-

10 größte lndustrieländer:Staat, Unternehmen und Privathaushaltesind hoch verschuldetZusammensetzung der Gesamt-Schulden2. Quartal 2011 -in % des BIP

Schuldender Top10lndustrie-länderim Durch-schnitt"

339

Nicht-finanzielle Unternehmen

Privathaushaite

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Sozialprodukt und Finanzvermögenweltweit 1980 - 2011in Billionen uS-Dollar

1980 90 95 2000 02 03

Quelle: McKinsey Globol ln$itule

fi§ 31'7

4

bewältigung) ausgegeben werden könnte. Tatsäch-lich erzielen die großen Vermögen sogar jährlich10 % und mehr an Rendite. Das auf Wirtschaft undGesellschaft lastende Gewicht der großen Vermögenwird immer drückender.

Woher rührt dieses sich rasend schnell entwickelndeMissverhältnis zwischen Finanzvermögen und Sozial-produkt? Der Hauptgrund liegt in der dramatischenVerringerung des Anteils der Löhne am Volkseinkom-men und dem ebenso dramatischen Zurückbleibender Löhne hinter der Arbeitsproduktivität.Am Beispiel der USA zeigt sich, dass bis 1970 sichLöhne und Arbeitsproduktivität ähnlich stark ent-wickelten. Von 1975 bis 2005 stieg der durchschnitt-

Die Schere öffnet sich

Bis Ende der 70er Jahre stiegen die Löhne und Einkommen in AmeikasPrivatwitTschaft in ähnlichem Maße wie die Produktivität. Seitdem habensich die Vergütung von Arbeitnehmern und der Wert ihrer Leistung deutlichvo n e i n a n d e r entko p pe lt.

+80Yo

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1947 1950 I 1960 I 1970 I 1980 | 1990 I 2000

liche Stundenlohn aber nur noch um7 o/o (die Arbeit-nehmereinkommen um 8 o/o), während die Arbeits-produktivität um 80 % in die Höhe schoss.

Die Masseneinkommen schrumpften logischerweiseauch erheblich im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung.

Anteil Arbeitnehmerentgelt am Volkseinkommen in %

*fs4 J-

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2000

lnnerhalb von nicht ganz einemJahzehnt sank die Lohnquote in denUSA um acht Prozentpunte

Absturz der Lohnquote in den USA

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2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009

Seit 2000 ist die Lohnquote in Deutschland um 6 Pro-zentpunkte, in den USA ist sie um 8 Prozentpunktegefallen. Das sind in Deutschland rund 150 MilliardenEuro im Jahr, die nun - statt zu den Arbeitnehmern -in die Taschen und Kassen von Unternehmen undGeldvermögensbesitzern fließen. Die Märkte für dieRealwirtschaft verengten sich, während sich die Geld-vermögen gewaltig anstauten und sich immer mehrauf Finanzprodukte konzentrierten. Auch die Unter-nehmen der Realwirtschaft reinvestierten nur nocheinen ständig kleiner werdenden Teil ihrer Profiteund investierten mehr und mehr in Finanzpapiere.

1960 floss von den Profiten der Realunternehmennoch so gut wie nichts in Finanzpapiere, im neuenJahrtausend hingegen wird dort fast die Hälfte derProfite platziert.

Die Dirigenten dieser gewaltigen Geldströme domi-nieren über die Wirtschaft. Die Finanzwirtschaft un-tersteht nicht mehr der Logik der Realwirtschaft, son-dern umgekehrt: Die gesamte Wirtschaft - und die

Lohnquote in Deutschland

74,0

73,072,0

71,O

70,0

69,068,0

67,0

66,0

65,064,0

63.0r N o < 6 @ N'6 O O -'N O't'O @ F'@ O6666006000000000000oooooooooQooooooooo FNNNNNNNNNN

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Quelle: ILO (201 0) isw-sro{ik mz

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Unternehmer investieren mehr inWertpapiere als in Maschinen

Vermögen an Prozent der Nettowertschöpfung

Bei Kapitalgesellschaften (ohne Banken undVersicherungen) entwickelte sich das...

1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990

Quelle: Federol Reserue Bonk, Dl. Brndesbonk, Stol. Bundesomt 2007

150

100

1995 2000 2005

isw-srofik mz

5

Politik - unterliegt im wesentlichen dem Kommandodes neuen Finanzkapitals und seinem Verlangen nachHöchstverzinsung und Absicherung seiner Krediteund seines Vermögens. Die Verschuldung von Staa-ten, Unternehmen und Privathaushalten ist die Kehr-seite der großen Vermögen. Eins ist ohne das anderenicht zu haben. Auch eine Entschuldung wird nurüber den Abbau der großen Vermögen möglich sein.

Die l(önigsidee des ileoliberalismus- die Globalisierung - uerschärft dasSchuldenproblem

Das neoliberale Konzept der Globalisierung litt, wiedie Euro-Zone, unter einem Geburtsfehler. Das Kapi-tal wollte aus der damaligen Profitstagnation heraus,indem es radikal die Kosten senkte: Löhne runter,Arbeitsbedingungen verschärft, Steuern für Unter-nehmen und Großverdiener senken. Mit diesen Maß-nahmen wurden, wie oben gezeigt, die Nachfrageund damit die Märkte eingeschränkt. Die Nachfragewürde immer weiter hinter den Produktionspotenzenzurück bleiben. Diese Einengung der nationalenMärkte galt als nicht so wichtig, weil man ja für denWeltmarkt produzierte, nicht länger mehr für natio-nal beschränkte Märkte. lm globalen Wettbewerbsollten sich die Besten durchsetzen und möglichsthohe Marktanteile gewinnen.

Das Problem bestand darin, dass, wenn alle Staatensolche Strategien der Kostenminimierung umsetzen,dann auch der Weltmarkt eingeschränkt wird, denndieser kann nichts anderes sein als die Addition dernationalen Märkte. Wo also hin mit den Überschüs-sen der "Besten"? Wer soll dann die Defizite der Un-terlegenen finanzieren?

Die "Lösung" der neoliberalen Strategen: der Aufbaueines "market of last resort", der die Überschüsse auf-nehmen würde, und dem die Überschussländer mit

Krediten unter die Arme greifen würden. Dieser"Markt der letzten lnstanz" sollten die USA sein, zuderen Hauptkreditgebern die Exportsieger China, Ja-pan und Deutschland gehören. Das Schuldenproblemist also festes Element der Logik der neoliberalenGlobalisierung. Der Weltmarkt wird getrimmt aufmöglichst radikalen Wettbewerb. Die Siegernationenerzielen Handelsbilanzüberschüsse, die Verlierer müs-sen sich verschulden. Dieses globale Muster wurde inder Euro-Zone im Verhältnis Überschuss-/Defizitlän-der in noch krasserem Maßstab wiederholt.

ll. Wie kam es zur Krise der Staatsfinanzen?

Die neoliberale Doktrin beinhaltet u.a., dass die Un-ternehmen und die Reichen steuerlich entlastet wer-den müssten, um finanzielles Engagement lukrativerzu machen und möglichst viel vom globalen Finanz-markt ins eigene Land zu holen. Dementsprechendsinken überall die Unternehmenssteuern.

Rückgang der Unternehmenssteuern

1995 96 97 98 99 2000 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 201',1

Ouelle: M. Foniini, Edition o{ ihe Toxoilon Trends Repod, EC DG TAXUD, 201 I isw.grofik mz

Die durchschnittlichen Unternehmenssteuern sind inder EU von fast 36 o/o in 1995 auf unter 24 % gefal-len. ln Deutschland gab es eine besonders intensivePflege der Unternehmen und der Reichen:

r Der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuerwurde mehrfach gesenkt, um insgesamt 1 1 Prozent-punkte. Jährlicher Steuerausfall: rund 12 MilliardenEuro.

I Der Körperschaftssteuersatz (GmbH, AG) wurdeauf zuletzt 15 o/o gesenkt. lhr Anteil am gesamtenSteueraufkommen ist auf das Niveau einer Bagatell-steuer geschrumpft. (2010: 1,9 Yo).

r Zins- und Kapitalerträge werden seit 2009 mit ei-ner Abgeltungssteuer von 25 % belastet, nicht mehrmit dem persönlichen Steuersatz der Geldvermö-gensbesitzer. Dadurch gehen dem Staat jährlich 4,8Milliarden Euro verloren.

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r Die Erbschaftssteuerreform hat dafür gesorgt, dassdie Erbschaftssteuer trotz gestiegener Erbschaftsmas-sen um jährlich eine halbe Milliarde Euro gesunken ist.

r Das sog. Wachstumsbeschleunigungsgesetz hatfür Steuervergünstigungen von jährlich 8 MilliardenEuro bei Unternehmen und Erben gesorgt.

r Rechnet man alle Steuervergünstigungen für Spit-zenverdiener, Reiche und Unternehmen zusammen,kommt man auf 50 Milliarden Euro, die dem Fiskusjährlich entgehen.

Die Staaten haben versucht, dies zum Teil wettzuma-chen durch eine Erhöhung der Massensteuern.

Besonders in der Krise wurden die Mehrwertsteuernerhöht, von 19,5 % in 2008 auf knapp 21 o/o. Den-noch konnten die Staaten die Übernahme der Bank-schulden 2008/2009 nicht anders bewältigen alsdurch höhere Verschuldung. Die Finanzkrise wurdezur Krise der Staatsfinanzen.

Seit '1991 entwickeln sich die Staatsschulden weit ra-santer als die Wirtschaftsleistung der Staaten: bis 2005steigen die Staatsschulden um 81 o/o, die Wirtschafts-leistung wächst um 40 o/o. Mit dem Jahr 2008 klaffendie beiden Linien immer weiter auseinander. 2010 wa-ren die Staatsschulden erstmals der Wirtschaftsleistunggleich, 2011 waren sie auf 104Yo des BIP gestiegen.

Für Deutschland und die Euro-Problemländer gilt dasDatum "Bankenkrise" ebenso eindeutig. Seit 2007stieg die Staatsverschuldung in Deutschland von 65auf über 80 o/o, in Griechenland von 105 auf fast200 Yo, in ltalien von 100 auf 120 %. Die Sozialisie-rung der Verluste der Finanzmärkte war und ist einHauptfaktor der extrem hohen Staatsverschuldung.

Starker Mehruvertsteueranstieg in der Krise

21,0 vo

2000 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 2011

Quelle: M- Fonflni, Edition of the Torotion Trends Repod, EC DG TAXUD, 201 I isw-groiik mz

19.0 yo

lndustrienationen in der Schuldenfalle

2011: OECD-Staaten mit 104 % des BIP verschuldet

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Staatsverschuldung der lndustrienationen

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Staatsverschuldung in Mrd. Dollar

Veränderung in o/o zu 1991

BIP in Mrd. Dollar

Veränderung in o/o zu 1991

alleAngaben inflationsbereinigt in Preisen von 2010

Wirtschaftsleistung der lndustrienationen

1994 1395 1S96 1997 1998 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010

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lll. Das spezielle Problem der Eurozone:Uberschüsse und §chulden in einer Wähtungs-union, die aber keine Fiskalunion ist

1) Deutschland war Proliteur derWährungsunion vom ersten Tag an

Das Euro-Europa der Maastrichter Verträge war alseine sich gemeinsam entwickelnde Gemeinschaft nielebensfähig. Von Anfang an ging es nur um einengemeinsamen Binnenmarkt und um eine Monetär-union, eine gemeinsame Währung. Alle Diskussionenin den 90er Jahren, dass man auch Kriterien für dieUnion festzulegen hätte wie Vollbeschäftigung, wieaußenwirtschaftliches Gleichgewicht, wie gemeinsa-me Bildungspolitik u.ä. wurden abgewürgt. Es bliebnur: gemeinsame Währung und eine einheitlicheGeldpolitik.

Dies war keineswegs ein Geburtsfehler in dem Sinne,dass die Eltern selbst nicht wussten, was da auf sie

zukam. Dies war vielmehr das klare Kalkül der dama-ligen Macher, insbesondere der tonangebendenDeutschen und Franzosen. ln einem durch die ge-meinsame Währung definierten gemeinsamen Marktwürden die Volkswirtschaften mit der größten Wett-bewerbskraft obsiegen. Andere, schwächere Länderwürden sich nicht mehr durch Abwertung ihrer Wäh-rungen wehren können, sie würden in ständig größe-re Leistungsbilanzdefizite und damit in steigendeVerschuldung getrieben.

Der Beginn der Eurozone markiert dementsprechendden Aufstieg des Exportweltmeisters Deutschland.201 1 betrug der Anteil der deutschen Exporte amBlP, also an der gesamten Wirtschaftsleistung, über50 %. Über 60 o/o dieser Exporte gehen in die EU, derüberwiegende Teil davon - zwei Drittel - in die Eu-

roländer. lm Austausch mit diesen erzielt Deutsch-land 50 7o seiner Exportüberschüsse - also 40 % Ex-

porte, aber 60 % der Exportüberschüsse. Deutsch-land hat den größten Exportüberschuss aller Länderder Welt, im letzten Jahr 180 Milliarden Euro. China,das die größten Exporte aufweist, hat demgegenüber2011 nur einen Exportüberschuss von 155 MilliardenEuro. Zu Beginn von 2012 weist China sogar einennegativen Handelsbilanzsaldo auf.

Deutschland exportiert also nicht nur sehr viel, son-dern importiert relativ wenig. ln der Frage der vielbe-klagten globalen Ungleichgewichte - die einen erzie-len Überschüsse, die bei anderen als Schulden zu Bu-

che schlagen - ist Deutschland der Hauptschuldige.

2) Deutschland hat mit der Agenda 2010seine Dominanz noch ausgebaut

Es blieb nicht bei dem Startvorteil des von Deutsch-land aus operierenden Kapitals. Deutschland wurdeständig noch überlegener, weil mit der Agenda 2010und ähnlichen Maßnahmen die Arbeit immer billigergemacht wurde und die sog. Lohnstückkosten verrin-gert wurden, so dass die Kostenvorteile zu anderenLändern immer größer wurden.

Die Arbeitskosten, also die Löhne und Gehälter, sindseit der Einführung des Euro in Deutschland nur etwazwei Drittel so stark gestiegen wie im Euroraum ins-gesamt. Bezieht man aber die wachsende Arbeitspro-duktivität mit ein, wie sie sich in den Lohnstückkos-ten messen lässt, so stellt man fest, dass diese nurum ein rundes Viertel so stark gestiegen sind wie imDurchschnitt der Eurozone. Besonders stark sind dieLohnstückkosten in Portugal, Griechenland, lrland,Spanien gestiegen (aber auch in Frankreich und ltali-en), also dort, wo die Krise und die Staatsverschul-dung besonders heftig durchschlugen. lm gesamtenEuroraum sind die Lohnstückkosten um 19,9 Prozent-punkte mehr gestiegen als in Deutschland. ln Grie-chenland waren es 26 Prozentpunkte mehr. Es liegt

Deutschland

Leistungsbilanzsalden bestimmen den Kapitalbedarf der Länder

in Prozent des BIP

Griechenland Portugal Spanien

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Entwicklungstendenzenseit Einführung des Euro 1999

Veränderung in Prozent

* Griechenland erst ab 2000, 1. Quartal .. Abstand zur deutschen Entwicklung

Quelle: Eurosiot; Soziolismus kr-groftk mz

Verbraucher-preise1999-2011

Arbeits-kosten1999 Q1 -2011 03 -

Lohnstück-kosten1999 01 -2011 Q3.

Lohnstück-kostenDifferenz **

Deutschland 24,6 26,2 7,7 0,0

Frankreich 28,0 41.9 28.6 20,9

Italien 36.0 57.1 27.8 20,1

Soanien 44.3 73.2 32.0 24.3

Griechenland 53.0 50.5 33.7 26.0

lrland 36,4 52.4 33.0 25,3

Portuqal 38,6 68,8 34.2 26.5

EurGRaum 31,9 43,6 27.6 19.9

I

auf der Hand, dass die eminent kostengünstigerendeutschen Waren die ausländischen Märkte immermehr dominieren und zu ständig steigenden Han-delsüberschüssen und bei den "Partnern" zu höherenDefiziten und höherer Staatsverschuldung führen.Das sozialpolitische Desaster in Deutschland - jederVierte erhält heute einen Niedriglohn - befeuert diedeutsche Exportwalze, die das europäische Gefügeschon weitgehend zusammengefahren hat.

3) Deutschland profitiert auch in der Krise

Das von Deutschland aus operierende Kapital undder deutsche Staat profitieren außerordentlich vonder Krise.

Die deutschen Staatsschulden betragen, alle Körper-schaften eingerechnet, über 2 Billionen Euro. Müssteder Staat diese mit zehnjährigen Staatsanleihen refi-

nanzieren, wäre bei 2 o/o Zinsen eine jährliche Zinslastvon 40 Milliarden Euro fällig. Müssten sie, wie dieGriechen im Sommer 2011, 14 % Zinsen zahlen,dann hätten sie 280 Milliarden Euro jährlich allein anZinsen zu zahlen.

Die unterschiedliche Zinssetzung betrifft aber nichtnur die Staaten mit ihren Anleihen, sondern auch dieBanken und die Unternehmen in diesen Staaten. lnden Problemländern der Eurozone müssen die Ban-ken und Unternehmen ebenfalls für Kredite Risi-

koaufschläge zahlen. lhre Finanzierungskosten wer-den also noch teurer, ihre Wettbewerbsstellung nochschlechter.

lU. Die Rettungsprogramme rettenvielleicht die Banken, aber nicht dieProblemländer und den Euro

Es gibt drei Hauptstränge der intensiven Rettungsbe-mühungen, die seit zwei Jahren auf Hochtouren lau-fen: 1) Rettungspakete der Euro-Gruppe für die un-mittelbaren Zahlungsbedürfnisse der Problemländer.2) Diese Gelder werden ausgezahlt gegen Verpflich-tungen der Nehmerländer, durch eine forcierte Spar-politik die sog. Schuldentragfähigkeit zurück zu ge-winnen. 3) Eine Politik des "billigen Geldes", das dieEuropäische Zentralbank in bisher unbekannten Di-mensionen in die Banken flutet.

1) Die Rettungspakete helfen den Banken, dieWirtschaftskraft der Länder stätken sie nicht

lm neuesten Rettungspaket für Griechenland sind130 Milliarden Euro vorgesehen - plus 28 Milliardendurch den IMF - deren Auszahlung den Verzicht derprivaten Gläubiger auf mindestens 50 % ihrer An-sprüche voraussetzte. Dieser Verzicht ist von 85 %der Gläubiger ausgesprochen worden, die restlichenwerden zwangsweise von Griechenland dazu ver-pflichtet. Dadurch wird ein so genanntes Kreditereig-nis ausgelöst, d.h. die Kreditausfallversicherungenwerden fällig, insgesamt wohl rund 3 MilliardenEuro. Die Gläubiger waren in ihrer Mehrheit mit demSchuldenschnitt einverstanden, weil ihnen die restli-chen Kredite durch die Eurozone garantiert werden.So bleibt ihnen ein Gutteil ihrer Ansprüche erhalten,die sie im übrigen in ihren Bilanzen schon zur Gänzeabgeschrieben haben. Die 130 Milliarden Euro kom-men indes nirgendwo einer wirtschaftlichen Entwick-lung in Griechenland zugute, sondern gehen fast völ-lig in die Bedienung der Banken und der sonstigenGläubiger. Bei der Debatte im Bundestag hat diesenSachverhalt außer Gregor Gysi von der Linksparteinicht ein einziger Redner angesprochen. Das Ret-tungspaket rettet nicht Griechenland, sondern einweiteres Mal die Banken und Hedgefonds und sonsti-ge Spekulanten.

Stand:4. August 2011

Stand: 1. Januar2010

Niederlande: 2,7 %Frankreich: 2,9 %(4.8.2011 )

sw-qrolik mz

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I

Dieses Rettungspaket wird nicht genügen. Für Grie-chenland bleibt nach dem Schuldenschnitt noch einStaatsdefizit von 250 Milliarden Euro übrig, was proJahr einen Zinsaufwand von rund 5 % des BIP aus-macht. Selbst der deutsche Finanzminister sprichtschon von einem dritten Rettungspaket für Griechen-land. Die anderen Problemländer, zu denen nebenlrland, Portugal und Spanien auch ltalien und Frank-reich zählen, müssen im Zweifel ebenfalls bedachtwerden. Deshalb haben sich die Euroretter ausge-dacht, die bei der Europäischen Finanzstabilisierungs-fazilität noch lagernden 250 Milliarden Euro den 500Milliarden Euro des ab Mitte 2012 fungierenden per-manenten Europäischen Stabilisierungsmechanismuszuzuordnen. Die rund 750 Milliarden Euro an Barmit-teln und Garantien sollen dann die "Brandmauer"sein, die angeblich die Katastrophe eines Euro-Zu-sammenbruchs abhalten kann.

2) Die aufgezwungene Austeri$-Politikfühfl geradewegs in die l(atasttophe

Die Rettungspakete und auch die "Brandmauer" wer-den ihre Ziele nicht erreichen, weil das Verfahren"Kredit nur gegen verschärfte Austerity-Politik" zu ei-ner ständigen Verschlechterung der Wirtschaftslagein den betroffenen Ländern führt. Das Beispiel Grie-chenland spricht Bände, Die Staatsausgaben dortwurden von 2009 bis 2011 um 17 % gekürzt, dasHaushaltsdefizit sank um fünf Prozentpunkte auf10,5 %o des BlP. Die lnvestitionen sind auf die Hälftezurück gegangen, die Steuereinnahmen sind gesun-ken, die Arbeitslosigkeit ist in die Höhe geschossen.ln der jüngsten Vereinbarung zwischen der EU undGriechenland, dem "Memorandum 2", wurden sozial-und wirtschaftspolitische Horrorbedingungen fest-ge-legt, die Vorbedingung waren für die Gewährung des130-Milliarden-Kredits. Dazu gehörten u.a. folgendeFestlegungen:

r Alle Basislöhne werden um 22 % gesenkt, für Neu-eingestellte um 32 o/o.

r Die Auszubildenden-Vergütung wird um über 20 o/o

gekürzt.

r Alle sonstigen Löhne und Gehälter werden bis 2015eingefroren.

r Alle bisher geltenden Tarifverträge werden mit dem12.2.2013 ungültig.r Alle Vollzeit-Arbeitsplätze in öffentlichen Unter-nehmen werden in befristete Arbeitsverträge umge-wandelt.

r Die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Sektorwird bis 2015 um 150.000 verringert.

r Die Renten des Öffentlichen Dienstes, in der Tele-com und der Bankbeschäftigten werden um 1 5 %gekürzt. (UZ, 24.2.2012)

Mit diesen Maßnahmen werden zunächst die Schwa-chen besonders empfindlich getroffen. Die Massen-entlassungen im öffentlichen Sektor würden, aufdeutsche Dimensionen übertragen, bedeuten, dass

über eine Million Beschäftigte entlassen werden,ohne dass die geringste Chance besteht, in der priva-ten Wirtschaft einen Arbeitsplatz zu finden. Die allge-meine Arbeitslosigkeit in Griechenland liegt bei über20 o/o, die Jugendarbeitslosigkeit bei über 50 %. DerHorror-Katalog sorgt darüber hinaus dafür, dass es

mit der Wirtschaftsleistung weiter bergab geht. Seitvier Jahren sinkt das BIP und mit diesem Programmwird das Land noch weiter nach unten gestoßen.Schon heute gehen Troika-Schätzungen (die Expertenvon EU-Kommission, IWF und EZB) von einem weite-ren Rückgang 2012 von über 5 % des BIP aus. Das

vorgegebene Ziel, den Schuldenstand Griechenlandsbis 2020 auf 120 o/o des BIP zu senken, wird so nie-mals erreicht. Solange Griechenland nach dem Diktatder Troika-Gewaltigen marschieren muss, gibt es kei-ne Lösung für das Land,

Das gilt im Großen und Ganzen für die Gesamtheitder Problemländer. Spanien versucht, sich dem Euro-Diktat zu widersetzen und hat eigenmächtig das De-

fizitziel für 2012 hinaufgesetzt - von den verlangten4,4 o/o auf 5,8 % des BlP. Auch um dieses zu errei-chen, muss Spanien die öffentlichen lnvestitionen um40 o/o kürzen - ein sicheres Rezept für den weiterenAbsturz.

3) Die überflutung des Bankensystemsmit billigem Geld durch die EZB führt zu neuelBlasenbildung und weiterel lnflation

Die EZB hat sich in der Eurokrise umfänglich um dieBesserstellung der Banken gekümmert. Die Mindest-reserve, die die Banken auf Einlagen ihrer Kundenhalten müssen, wurde von zwei auf ein Prozent hal-biert. Die Anforderungen für Sicherheiten, die dieBanken bei Kreditaufnahme bei der EZB hinterlegenmüssen, wurden aufgeweicht. Und vor allem wurdedas Bankensystem mit billigem Geld der EZB geflutet.ln den letzten vier Monaten hat die EZB 1,1 BillionenEuro - also 1 100 Milliarden - zu einem Zins von 1 %und einer Laufzeit von 3 Jahren an die Banken verge-ben. Wenn die Banken diese Billigstkredite zu 5 o/o inStaatsanleihen anlegten, verdienten sie fast 50 Milli-arden Euro im Jahr - für nichts, mit den besten Wün-schen der EZB. Das gestiegene Engagement der Ban-ken hat die Zinsen der Staatsanleihen in der Tat ge-drückt. lnsofern hat die EZB-Politik hier einen Erfolgverbucht.

Tatsächlich aber gehen die Banken natürlich nichtnur in Staatsanleihen, sondern in alle Märkte, dieProfit versprechen - v.a. in Rohstoffe, Aktien, lmmo-bilien. Dort steigen dementsprechend die Preise. DerDeutsche Aktienindex (DAX) ist seit Herbst 201'l um40 o/o gestiegen. Die lmmobilienpreise galoppierenauf breiter Front. Es droht die Gefahr anschwellenderBlasen, die schließlich platzen. Dies geschah im Ge-

folge einer analogen Politik schon einmal, nämlichder des damaligen Chefs der Us-Notenbank Green-span und der Dotcom- und der lmmobilienblase.

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10 :::,:,t:.5:::::::.

Keine Drohung, sondern Aktualität ist bereits dieschneller werdende Geldentwertung. Für die Eurozo-ne lautet die offizielle Prognose nun 2,7 7o, was be-reits erheblich über der "Stabilitätsmarke" von 2 Pro-zent liegt.

U. Planen die Euro-Gewaltigend!e Zerctörung des Euro?::.,::::::::.:.:..::::,,,.,:,::,,:

, .,,iirririiriiiiiiiiiiiiir::,i,ii:i:::::,:r::ii:,ii:

Für das von Deutschland aus operierende Kapital war(und ist) die Euro-Union ein Erfolg. Es wurde ein ge-waltiger Absatzmarkt hergestellt, auf dem der Wett-bewerbsstärkste sich durchsetzt, ohne dass die Un-terlegenen sich durch Abwertung ihrer Währungen zurWehr setzen können. Wieso drücken die Euro-Gewal-tigen dann eine "Rettungspolitik" durch, die auf eineweitere Zerrüttung des Euro-Systems hinausläuft?

Der Grund liegt darin, dass die "Austerity"-politik, dasAndauern der Euro-Krise, eine Fülle von strategischenVorteilen für das deutsche und insgesamt das neoli-berale Kapital und die politische Klasse der tonange-benden Länder bietet, die genutzt werden sollen,auch wenn dadurch die Gefahr für den Fortbestandder Union insgesamt wächst. Diese strategischenVorteile sind:

1) Der Abbau der Staatsschulden ist dasneue Mantra des ileoliberalismus: Iuntel mitdem Staat, runter mit den Ansprüchen,mehr Opterbereitschaft

"Austerity" war von jeher das Ziel des Neoliberalismus

- Löhne, Renten und Sozialleistungen sollten mini-miert werden. Mit der Wirtschafts- und Finanzkrisestand der neoliberale Kapitalismus blamiert da. SeineAvantgarde, die Finanzmanager, standen am Pran-ger. Die bürgerlichen Feuilletons fragten besorgt, obdie Linke nicht schon immer recht gehabt habe. lnder Occupy-Bewegung fanden sich neue gesellschaft-liche Gruppen, die radikal auf Ablösung der altenEliten und Maximen drängten.

ln dieser Lage müssen die neoliberalen Eliten die Mi-sere der Staatsfinanzen als Gottesgeschenk betrach-ten. Jetzt fordert die "Gesundung" der staatlichenHaushalte die Deckelung des Sozialstaats und über-haupt der Ansprüche aller, die vom Verkauf ihrer Ar-beitskraft abhängen. Statt höherer Ansprüche istmehr Opferbereitschaft a n gesagt.

Dies gilt keineswegs nur für die Problemländer, son-dern gerade auch für Deutschland. Die Bundesregie-rung plädiert offen dafür, öffentliche Leistungen zukürzen und die Schulden in Deutschland schnellerund tiefer abzubauen. Die Schuldenbremse, für 2016vorgesehen, soll laut Finanzminister Schäuble auf2014 vorgezogen werden. Wie seine Kanzlerin Mer-kel erklärt er, Deutschland müsse auch beim SparenVorbild sein. Führung durch Vorbild, heißt dieseSparphilosophie der deutschen Regierung.

2) Mit der "Beüungspolitik" wirddie Demokratie außer Kraft gesetzt

Als der damalige griechische Regierungschef Papan-dreou ankündigte, eine Volksabstimmung über dasverlangte Austerity-Programm du rchzuführen, wurdeer von den Euro-Partnern heftig angegriffen. "Werdas Volk fragt, wird zur Bedrohung Europas. Das istdie Botschaft der Märkte und seit vierundzwanzigStunden auch der Politik. Wir erleben den Kurssturzdes Republikanischen", schrieb dazu Frank Schirrma-cher, Herausgeber der FAZ. (FM, 1.1.2011) Und;"Sieht man denn nicht, dass wir jetzt Rating-Agentu-ren, Analysten oder irgendwelchen Bankenverbändendie Bewertung demokratischer Prozesse überlassen?"

Diese Aushöhlung der Demokratie geschieht auf brei-ter Front. ln Zukunft dürfen nationale Parlamenteihre Haushalte erst nach Genehmigung durch die EU-

Kommission beschließen. Diese überwacht auch dieEntwicklung der Löhne und die "Finanzierbarkeit derRenten, Gesundheitsfürsorge und Sozialleistungen".Das "Volk, der große Lümmel" (Heine), ist im Namender Euro-Sparpolitik an die Kette gelegt.

Dafür übernehmen Vertreter des Finanzkapitals direktpolitische Positionen in den Euro-Ländern. An der Spit-ze der italienischen Regierung steht ein ehemaliger EU-

Kommissar, in Griechenland ein ehemaliger Vizepräsi-dent der EZB. Beide wurden nicht etwa gewählt, son-dern auf Druck aus dem Ausland in die Amter beru-fen. Der spanische Wirtschaftsminister ist ein ehema-liger Manager von Lehman Brothers, der Chef derEZB ein führender Funktionär von Goldman Sachs.

3) Euro-Europa solllit gemacht werdenfür die l(onkurrenz mit Asien

Kenneth Rogoff, Harvard-Professor und seit seinerkorrekten Vorhersage der Finanzkrise einer der Haupt-Gurus der Ökonomenzunft, konnte im 'spiegel' breitausführen, dass die Südeuropäer begreifen müssten,dass ihr Lebensstil unter den Bedingungen der Globa-lisierung nicht zu halten sei. Mit Blick auf die Konkur-renz in Asien führt er aus, Griechen und anderemüssten sich ihre Löhne um die Hälfte senken lassen.(Spiegel 8/2012).

Um die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der euro-päischen Firmen in der globalen Konkurrenz geht es

auch dem Generaldirektor der Welthandelsorgani-sation, Pascal Remy. (www.wto-org/english/news_e/sppl_e/sppl1219_e.htm) Auch er sieht als die großenzukünftigen Konkurrenten v.a. China und lndien, diein den nächsten zwanzig Jahren ihren Anteil am Welt-handel mehr als verdoppeln würden.Das Fitmachen für den Wettbewerb mit der asiati-schen Konkurrenz gilt für den ganzen Euroraum. Dasgeht weit über die Sanierung maroder Staatshaushal-te hinaus. Es geht um eine grundlegende sozialpoliti-sche Degradierung der gesamten Eurozone. Gemäßdem Motto "Vorbild durch Beispiel" werden die Men-schen in Deutschland diese strategische Orientierungbesonders heftig zu spüren bekommen.

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11

4) Eine Zweiteilung der Eurozonein l(ernländer und Peripherie wird erwogen

Die wirtschaftliche Lage der einzelnen Euroländer istaußerordentlich verschieden. (siehe Grafik 1 3)

Die so genannten Kernländer weisen höheres Wachs-tum und niedrigere Arbeitslosenzahlen auf. Denktman an die notwendige europäische Wachstums-und Strukturpolitik, dann kann man zu dem Schlusskommen, dass einzelne Staaten eine enorme Belas-

tung für einen gemeinsamen Haushalt wären, dassmöglicherweise die Kosten ihrer Sanierung die Vor-teile eines gemeinsamen Marktes überwögen. ln die-sem Sinne sind die Diskussionen über ein "ELrro Nord"und ein "Euro light" zu verstehen. lnsbesondere Grie-chenland kann sich zu einem Fall entwickeln, dessenlnsolvenz man hinnimmt und den man aus der Unionherausdrängt bzw. ihm "eine Art Sabbatical vomEuro" (eine Euro-Pause) (Rogoff) verordnet. Die zuerwartende wirtschaftliche und soziale Katastrophein Griechenland könnte man den anderen als mah-nendes Beispiel vor Augen halten, die Austerity-Zu-mutungen als "alternativlos" hinzunehmen.

Ul. ilur ein solidarisches, soziales Europaist als Union lebensfähig

Die bisherige Politik des Neoliberalismus, der in allenHauptstädten der Eurozone die Richtschnur ist, löstnicht nur nicht die Probleme der Euro-Union, sie istvielmehr die Ursache der Probleme. Will man wirklicheine Politik der Rettung von Euro und Euro-Union be-treiben, dann muss man die Defekte des Neoliberalis-mus beheben und eine völlig neue Struktur der Euro-zone durchsetzen. Aus wirtschaftspolitischer Sicht müs-sen folgende Korrekturen vorgenommen werden:

1) Die Union muss zu einer solidarischenGemeinschaft werden

Aus der bisherigen bloßen Währungs- und Austerity-Union des Euro muss eine wirtschaftspolitische Ge-

meinschaft werden, in der es nicht um die Schulden-tragfähigkeit und Sparwilligkeit der Mitglieder geht,sondern um die solidarische Übernahme als berech-tigt eingestufter Schulden durch die Gemeinschaft(dies ist skrupulös zu prüfen und spekulativ produ-zierte Schulden sind zu streichen) und um die Ent-wicklung einer Struktur- und Entwicklungspolitik al-ler. Dazu gehören die Ziele der Vollbeschäftigung,guter und gut bezahlter Arbeit und hochqualifizierterAusbildung.

Ebenso gehört dazu, dass die volkswirtschaftlichenUngleichgewichte verschwinden müssen. Die bisheri-gen Überschussländer, vor allem Deutschland, müs-sen ihre Exporte zurückfahren und ihren Binnenmarktausbauen. Ein wesentlicher Punkt hierbei ist die spür-bare Erhöhung der Masseneinkommen. Die bisher indie Exportmärkte strömenden Waren müssen einenweit größeren Markt im lnnern vorfinden.

ln den bisherigen Defizitländern muss die nationaleWirtschaft gefördert werden, um die bisherigen lm-portüberhänge abzulösen. Da von nun an Defiziteund Schulden verschwinden sollen, muss auch hierdie einheimische Nachfrage gestärkt werden. Sowohlin den Kern- wie in den Peripherieländern steht dieErhöhung der Masseneinkommen im Zentrum derSanierungspolitik. Es wird entweder ein soziales Eu-

ropa geben oder Europa wird an sein Ende kommen.

2) Unternehmen und Reiche müssenhöher hesteuert werden

Die Verschuldung der Staaten ist nicht zuletzt aufeine Drosselung der Staatseinnahmen im Gefolgeständiger Steuersenkungen für Reiche und Unterneh-mer zurück zu führen. Die Steuervergünstigungen für

lndikatoren für EU-Output, Arbeitslosigkeit und Einkommensentwicklung

Euroraum Peripherie'.r''

in ProzentEU27

EA17

Belgien Deutsch-land

Frank-reich

Luxem- Niedetrlande

Öster-reich

Finnland lrland Griechen-land

Spanien Italien Portugal

BIP-Wachstum2010 -2011

- 1.7 1.4 1,7 1,9 3,6 0,7 -3,2 0,7 to

BIP-WachstumSpiue 2011 - -0,8 1,0 1,7 0,8 0.5 0.0 o,7 1A -oA -10,0 -3,1 -3,4 -3,4

Arbeitslosen-quote 201'l . oÄ 10,0 7,O o, l 9,8 4,6 4.1 3.9 7,8 14,4 16,7 21,0 8,0 12,5

Wachstumder Reallöhne2010 -2011

* -na -0,3 -n2 0,5 -0,1 1.0 0,9 .0.3 -0.5 -3,5 -1,7 1,0 -J,b

Wachstumder ReallöhneSpitze 2011 ..

-iÄ -0,4 o,2 -0,1 1.2 0,3 .0.3 -0,5 11 1 1,0

Quelle: * Eurostot (Oktober 201 1); ** Ameco (Moi 201 1. Die Spihe im Johr 201 I stellt den hochsten Wert seit 2007 dor isw-grofik mz

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12 t,,:;,:lr:' ' '. ,l,,illiiii]t,ttltiiittt:l,ttttttt,.tttt,i:t:it:.:::,;r,uuti

Spitzenverdiener, für Reiche und Unternehmer habenzu einem jährlichen Steuerausfall von 50 MilliardenEuro geführt. Seit 1997 ruht in Deutschland die Ver-mögenssteuer. Würde man allein den deutschen Mil-lionären - von denen es eine knappe Million gibt -50 o/o ihres Reichtums wegsteuern, würde der Fiskus

1,1 Billionen Euro einnehmen, mehr als die Hälftealler Staatsschulden.

31 1 % Reiche - 99 % der subalterne Rest:diese absurde Zweiteilung muss beendet werden

Das private Geldvermögen hat sich in Deutschlandseit 1990 verdreifacht, auf fast 5 Billionen Euro. Welt-weit ist das Finanzvermögen fast viermal höher alsdas Sozialprodukt. Die Zinsansprüche an die jährlicheWirtschaftsleistung sind nicht mehr zu leisten, ohnedass die Realwirtschaft in die Krise stürzt. Deshalbmuss die Unterteilung in ständig reichere Reiche undden ständig schwächeren Rest der Gesellschaft been-det werden. Dazu gehört die im vorigen Punkt aufge-führte Einführung einer hohen Vermögensteuer.Dazu gehört ebenfalls die höhere Besteuerung derSpitzenverdiener. Schließlich brauchen wir eine neueBewertung der menschlichen Tätigkeiten: jede pro-duktive, gesellschaftlich nützliche Arbeit muss an-ständig entlohnt werden, die Masseneinkommenmüssen gegenüber den Spitzen zunehmen. Mehr so-ziale Gleichheit ist ein wichtiges Merkmal einer funk-tionierenden Wirtschaft.

4) Der Finanzsektor muss entmachtetund demokratisiefi werden

Das Volumen und die Macht der Finanzinstitutionenbelasten die Volkswirtschaften bis hin zur Gefahrneuer Krisenexplosionen. Das Volumen der Vermö-gen muss beschränkt werden (siehe Punkt 3), der ver-bleibende Finanzmarkt muss strikt reguliert werden.Spekulationsgeschäfte sind zu verbieten. Banken ha-ben sich auf diesen Geschäftskern zu konzentrieren:den Geldverkehr zu regeln, die Einlagen der Kundenzu sichern, vernünftige, gesellschaftlich sinnvolle Kre-dite zu vergeben. Daraus folgt, dass Geschäfte undEinrichtungen der Finanzmärkte demokratisch zu or-ganisieren sind. Wer soll festlegen, was ein gesell-schaftlich sinnvoller Kredit ist? Dies kann nur die Ge-sellschaft selbst, nicht ein lnvestmentausschuss derDeutschen Bank oder der Commerzbank oder einersonstigen privatprofitlichen Einrichtung. Die Demo-kratisierung des Finanzsektors steht am Anfang derDemokratisierung der Wirtschaft, der Unterstellungder Wirtschaft unter die Ziele der Gesellschaft. Da

sind noch viele konkrete Fragen zu beantworten: wiesoll die demokratische Kontrolle effektiv organisiertwerden? Aber dass es ohne diese Umstülpung desFinanzsektors immer wieder zu Krisen, zu wachsen-den Ungleichgewichten zwischen Vermögensansprü-chen und realwirtschaftlicher Leistungsfähigkeitkommt. steht fest.

Die hier angeführten notwendigen Anderungen set-zen eine grundlegende Veränderung der politischenMachtverhältnisse voraus. ln Griechenland und Frank-reich stehen im Apri/Mai Neuwahlen an, und mandarf davon ausgehen, dass die eurokritischen KräfteStimmenzuwächse erzielen. Allerdings fragt es sich,ob unter dem Strich die demokratischen Euro-Auste-rity-Gegner obsiegen oder eher die nationalistischeOpposition. Auch ist trotz der Occupy-Bewegung undtrotz der Kritik des herrschenden Kapitalismus selbstin den Feuilletons der bürgerlichen Medien festzuhal-ten, dass der neoliberale Kapitalismus - ob er nun"führt", also innerlich bejaht wird, oder nur "herrscht",also hingenommen wird - in den Hauptländern desKapitalismus fest im Sattel sitzt. ln Deutschland wirddie Haltung der Gewerkschaften zu einer entschei-denden Frage. Treten sie weiter auf als ein "Sozial-partner" mit eigenen lnteressen, aber einer Orientie-rung am gemeinsamen Modell, oder gehen sie mitden neuen Bewegungen der lndignierten, der Empör-ten, zusammen und orientieren auf den "großen Wi-derstand"?

isw-Texte zum Thema Euro-Krise,Finanz- und Wirtschaftskrise:

Report 82:Die Mär von der Zähmung der Finanzmärkte(November 2010)

Report 85:Scheitern EURO und EU? (Juni 2011)

Report 87:ABC der Schulden- und Finanzkrise(Dezember 201 1)

Report 88:Welt-Ei nkom mensverteilu n9 (März 201 2)

Spezial Nr. 24:Wie die Linke in Europa gegen die Sparprogrammemobil macht (Sept. 2010)

Spezial Nr. 26:Die Herren des Geldes - Reichtum u. Macht des 1 %(März 2012)

Wirtschaftsinfo Nr.44:Bilanz 2010 - Ausblick 2011 für Deutschlandund die Euro-Zone (April 2011)

Wirtschaftsinfo Nr. 45:Globaler Kapitalismus: Jetzt der große Knall - undwas dann? (September 201 1)

Dazu regelmäßig aktuelle Texte auf der isw-lnternet-seite: www.isw-muenchen.de

Page 15: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Fred Schmid

Bilonz 2OIl - Ausblick 2Ol2

Doten und Fokfen zvrwirtschoftlichen und soziolenLoge in Deutschlond undin der EU/Euro-Zone

Achtung! Das Sfaflsfrsche Bundesamt hat mit seiner im September 2011 vorgelegten Volks-wirtschaftlichen Gesamtrechnung 2010 (VGR) - Fachserie 18 / Reihe 1.3 - zugleich einevöllige Neuberechnung fast aller VGR-Aggregate brs rns Jahr 1991 zurück präsentiert. Grundist eine sogenannte "große Revision", die in den letzten Jahren neu zugängliche Datenquel-len ebenso berücksichtigt wie eine EU-weit vereinbafte Neuklassifizierung und -zuordnungvon Wirtschaftszweigen und Güteklassen. Die neuen Daten eiordeften deshalb zum Teileine Koneldur bisheriger Ergebnrsse.

I lranrtio wiederrchrendes

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Konjunkturforscher bei der Arbeit

Page 16: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Bruttoinlandsprod ukt (Bl P), Bruttosozialprodu kt (BS P)

DelinitionDas Sozialprodukt spiegelt die wirtschaftliche Leistung eines Lande wider. In ihm wird der Wert allerim Kalenderjahr neu geschaffenen Güter und Dienstleistungen zusammengefasst; es ist die Summealler Wertschöpfungen.Bruttoinlandsprodukt (BIP) misst die inländische Wirtschaftsleistung durch die Bewertung aller imInland produzierten Güter und Dienstleistungen, unabhängig davon, ob sie von In- oder Ausländernproduziert sind.Bruttosozialprodukt (BSP) misst die Wirtschaftsleistung aller Inländer, unabhängig davon, ob dieseim In- oder Ausland entsteht.Human-Development-Index (HDI): Index der menschlichen Entwicklung der UNO. Er misst das

Wohlergehen der Menschen in einem Land anhand von Bruttoinlandsprodukt, Lebenserwartung undBildungsgrad.

20ll:r Reoles B|P-Wochstum? +3,O %

Am Rande der Rezession

Um beachtliche 3,0 % ist die deutsche Wirtschaft im vergangenen Jahr gewachsen. Derdurchschnittliche jährliche BlP-Zuwachs 1999 bis 2010 betrug nur 1,2 Yo, womit Deutsch-land in der Euro-Zone an vorletzter Stelle lag (siehe Grafik Seite 16, rechts unten).

Der zweijährige "Aufschwung" nach der tiefsten Rezession seit Gründung der BRD aber istzu Ende. Brüderles "XXl-Aufschwung" zu Beginn des Jahres 2011 schrumpfte Miue des

Jahres zum Mini-Wachstum, das im vierten Quartal dann ins Minus drehte: -0,2 oÄ gegen-

Ul/ i r ts üafts wa chstu m Deutsrh I on dreahs Bl P ivr %zunVorjahr

2001

.f);ro=l EtlrF)

ffirI.]]r 2004 2005 2006 2007 2008 201 0

§

Queller Statis+isches Bund6ml isP-grdfik bb

geht galärtat'am

BtP 2011Nach Verwendung/Nachfrage

Anteil in Prozent

PrivateKonsum-Ausgaben

57,4

Staatskonsum

lnvestitionen

Außenbeitrag(Exporte abzgl. lmporte)

Bruttoinlandsprodukt (BlP)

Jahr in jeweiligen:,Preisen'

1991 1,535 Mrd. Euro

1992 1,648 Mrd. Euro

1993 1.697 Mrd. Euro

1994 1.782 Mrd. Euro

1995 1.848 Mrd. Euro

't996 1.875 Mrd. Euro

1 997 1.913 Mrd. Euro

1 998 1,960 Mrd. Euro

1 999 2.000 Mrd. Euro

2000 2.048 Mrd. Euro

2001 2.102 Mrd. Euro

2002 2.132 Mrd. Euro

2003 2.148 Mrd. Euro

2004 2.196 Mrd. Euro

2005 2,224 Mrd.Euro

2006 2.314 Mrd. Euro

2007 2.429 Mrd. Euro

2008 2.474 Mrd.Euro

2009 2.375 Mrd. Euro

2010 2.477 Mrd. Euro

2011 2.570 Mrd. EuroOuell€, Desorh / Fo.hseri€ l8/ &lhe l.l

14 isw-wirtschaftsinfo 46

Page 17: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Anteil des deutschen nominalenBIP am europäischen BIP 2011*

Euro-Zone

Deutschland2.570,0 Mrd. €

27%

EU-27Deutschland

2.570,0 Mrd. €20%

' P osnose der Eu-Komriss o|deilorß isr.srorl -z

über dem Vorquartal. Positive Impulse kamen lediglich von den Bau-Investitionen, dieprivaten Konsumausgaben waren leicht rückläufig. Der Außenhandel wirkte sich negativ aufdie Wirtschallsentwicklung aus.

BIP: Veränderung gegenüber Vorquartal

ETrrI

Wachstum und Wohlstand

Auf die Frage der FAS (28.811) "Sie arbeiten auch an einem neuen Maß für Wohlstand, außerdem Bruttoinlandsprodukt. Warum reicht das nicht?" antwortete Nobelpreisträger Joseph Stiglitz:"Das BIP reicht nicht. Wir brauchen mindestens noch ein Maß für die Nachhaltigkeit. Und manmuss messen, wie es einem typischen Menschen geht. Wenn das BIP steigt, aber der ganzeZuwachs geht an Bill Gates, dann steigt der Wohlstand im Land nicht. So war es zum Beispiel inden Vereinigten Staaten. Deshalb muss man das Einkommen der typischen Menschen messen".

Ahnlich ist es auch in Deutschland. Hier nahm das Geldvermögen in den vergangenen Jahrenregelmäßig um einen höheren Betrag zu als das BIP (siehe isw-spezial 26 "Die Herren desGeldes"). Wenn man bedenkt, dass das Geldvermögen hoch konzentriert ist, dann hat sich indieser Zeit fast ausschließlich der Reichtum des Geldadels gemehrt. Bei der Masse der Bevölke-rung dagegen ist nichts angekommen. Nur so ist es auch zu erklären, dass in dieser Zeit die'typischen" Arbeitnehmer, die Rentner und Hartz-lV-Empfänger zu den Wohlstands-Verlierernzählen. Umgekehrt hätte es gar keines Wachstums bedurft, um den Wohlstand eines Landes undseiner Bevölkerung zu mehren. "Die Wohlfahrt kann laut NWI (Nationalen Wohlfahrtsindex) auchdann wachsen, wenn die konventionell gemessene Wirtschaftsleistung schrumpft. Etwa indemman Einkommen zugunsten der Armeren umverteilt, Kohle, Öl und Gas einspart, Flächen entsie-gelt oder ehrenamtliche Netzwerke ausbaut", schreibt der Historiker und Sachbuchautor Jens-Jür-gen Korff (SZ, 5.9.201 1).

Diesen NWI soll eine Enquete-Kommission des Bundestags bis zum Ende der Legislaturperiodeentwickeln. Die Europäische Union kündigte bereits vor Jahren an, das BIP um zusätzliche Fakto-ren wie ein gutes Sozialsystem, Gesundheit, Bildung und saubere Umwelt zu ergänzen. KonkreteErgebnisse liegen jedoch bislang nicht vor. Dagegen wird von den meisten Wirtschaftspolitikernund Ökonomen jetä mehr Wachstum gefordert, nur so sei die Schuldenkrise zu lösen. DasWachstum soll mit zusätzlichen Schulden - deficit-spending für Konjunkturprogramme - angekur-belt werden. Auch hier kann eine wirkliche und nachhaltige Lösung nur in der Umverteilung liegen:Die Millionärs-Geldvermögen müssen beschnitten werden, damit der Staat seine Schulden abtra-gen kann.

Ausblick 2012

"Die deutschen Wachstumskräfte sind intakt" und die deutsche Wirtschaft ist in "sehr robus-ter Verfassung" schwafelte Brüderle-Nachfolger Rösler noch Anfang Januar 2012 bei Yor-stellung des Jahreswirtschaftsberichts 2012. Dabei war längst absehbar, dass die Wirtschaftan den Rand einer Rezession gerutscht war (siehe isw-Konjunkturbericht Januar 2012;www.isw-muenchen.de). Vor allem der bisherige Wachstumstreiber Außenhandel wurdejetzt zum Bremsfaktor. Der Außenbeitrag - die Differenz aus Expoden und Importen - hatin diesem Jahr einen negativen Effekt auf die Entwicklung des BIP. Stark bremsend wirkensich vor allem die Spardiktate quer durch Europa aus. Die gesamte südliche Euro-Peripheriebefindet sich in der Rezession. ZehnProzent der Exporte gehen in die derzeitigen Hauptkri-senländer Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und Irland. Das 0,7 0Ä Wachstumsziel derBundesregierung (Jahreswirtschaftsbericht) di.irfte jedenfalls nicht erreicht werden. Eherdroht Stagnation im gesamten Jahresverlauf.

15

Page 18: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Weltbank und IWF erwarten fi.ir das gesamte Jahr 2012 ftir den Euroraum eine "mildeRezession" von -0,3 bmv. -0,5 %. Allerdings unter dem Vorbehalt, dass sich die Euro-Schul-denkrise nicht weiter verschärft, etwa durch eine Kreditklemme in Europa. Andernfallsdrohe die Gefahr nicht nur eines europäischen, sondern eines globalen Absturzes der Okono-mien. Justin Lin, der Cheftikonom der Weltbank wamt: "Das Risiko ist real, dass die Märkteweltweit einfrieren und eine globale Krise wie im September 2008 ausbricht". Nach einerUmfrage der Consulting Firm Pricewaterhouse Coopers unter 1258 Konzernchefs weltweit,rechnen fast die Hälfte (48 Yo) damit, dass sich die Weltwirtschaft2}l2 weiter abschwächenwird, nur 15 0% rechnen mit einer Verbesserung.

Rezessionsvirus greift um sichIn der EU und der Euro-Zone ist die Wachstumsrate 2011 von Quartal zu Quartal niedrigerausgefallen. Für das gesamte Jahr betrug das Wachstum der EU-Wirtschaft 1,5 oÄund 1,4 oÄ

fi.ir den Euro-Raum.

Im letzten Quartal verzeichneten beide Wirtschaftsgebiete eine Schrumpfung des BIP umjeweils 0,3 oÄ. Dieser Trend dürfte im ersten Quartal angehalten haben, so dass sich sowohlEU als auch der Euro-Raum seit Ende 2011 in der Rezession befinden: Nach zrvei Minus-quartalen hintereinander sprechen Ökonomen in der Regel von einer Rezession. Bei sechs

Euro-Ländem, also einem Drittel der Gemeinschaftswährung, ist das bereits seit dem zwei-ten Halbjahr 2011 der Fall; sie hatten im dritten und vierten Quartal - also in zwei Quartalenhintereinander - negative Wachstumsraten zu verzeichnen. Es sind dies Belgien, Irland,Griechenland, Italien, Niederlande, Portugal. Besonders stark ist der Einbruch, neben Grie-chenland und Portugal, zum Jahresende bei Italien mit -0,7 Yo zlm Vorquartal. Eine Erho-lung zeichnet sich frir die siebtgrößte Volkswirtschaft der Welt nicht ab. "Die Kiirzungenvon Sozialleistungen und die Sparprogramme verschärfen das Problem in den kommendenMonaten", erklärt Jana Meier, Volkswirtin der britischen Großbank HSBC. Der IWF geht

bei Italien für das gesamte Jabr 2012 von einem Minus von 2,2 Yo a,us.

Die Aussichten 2012 für EU und Euro-Zone sind düster. Die EU-Kommission rechnet fürdie Euro-Zone mit einer Rezession (Schrumpfung-0,3 %) und Nullwachstum für die gesam-

teEll-2T.Insbesondere in den Peripherieländem schrumpft die Wirtschaft dramatisch: Grie-chenland -4,4 yo, Portugal -3,3 oÄ,Italien -1,3 0%, Spanien -1,0 Yo. Mit der Peitsche des Spar-

diktats wurde ganz Südeuropa in die Rezession getrieben. In acht von 17 Euro-Staatenschrumpft die Wirtschaft. Die Bankvolkswirte der Citigroup sind mit ihren Prognosen nochdeutlich pessimistischer als die EU-Kommission. Sie sagen für Griechenland einen Einbruchvon acht Prozent voraus, für Spanien und Italien zwei und drei Prozent. Auch sie begründenihre negative Sicht mit den enormen Sparprogrammen in diesen Ländem.

Anteile am BIPEurozone (2010)

Deutschland 27.2%

Frankreich 21,2%

Italien 16.9 %

Spanien 11,6 Yo

Niederlande 6,4 0/o

Belqien 3,8 o/o

Griechenland 2,5 0/o

Österreich 3,1 Yo

Portuqal 1,9 Yo

Finnland 2,0 0/o

lrland 1,7 Yo

Slowakei 0,7 %

Slowenien o,4%

Luxemburq 0,4 Yo

Zypern o,2 0/o

Estland 0.2 o/o

Malta o,1 Yo

Wachstumsratedes realen BIP-Volumensin der EU (Auswahl)gegenüber dem Vorjahrin Prozenl

2010 201'l 2012 (p

EU (27 Länder) 2,0 1,5 0,0

Euroraum (17 1,9 1,4 -0,3

Deutschland 3,7 3,0 0,6

lrland -o,4 (o) 0.9 0,5

Griechenland (v) -3,5 (v) -6.9 -4,4

SDanien -0,1 0,7 1,0

Frankreich '1,5 (o) 1.7 0,4

Italien 1,8 0,4 t,c

Ungarn 4a 1.7 -0,1

Niederlande 1.7 1) -0,9

Östeneich 2.3 3.'1 0.7

Polen 3.9 4,3 2.5

Portuqal (v) 1,4 (v) -1.6 -3.3

Finnland 3.7 2.9 0.8

Schweden 6,1 3,9 0.7

Großbritannien 2,1 0,8 0,6

USA 3,0 1,7 1,5

Japan 4,4 -0,7 1,8

eu€re,euodor p=Prognose v=vorläufig a*,s,otl-.

BIP pro Kopf 2010in Kaufkraftstandards

Griechenland 90

Portuqal 80

Tschech. Rep 80

Slowakei 74

Ungarn 65

Polen bJ

Rumänien 46

Buloarien 44

Norwegen 181

Schweiz 147

Türkei 49

Serbien 35

EU27 100

Euroraum 108

Niederlande 133

Irland 128

Österreich 126

Schweden 123

Belqien 119

Deutschland 118

Finnland 115

Großbritannien 112

Frankreich 108

Italien 101

SDanien 100 Oueh EZB sw-q,otur mz

Wachstum des realen BIPvon europäischen Ländern

Jahresdurchschnitt von 1 999 bis 201 0in Prozent

Euroraum('17 Staaten)

Slowakei.

lrland

Griechenland

Spanien

Finnland

Niederlande

Österreich

Belgien

Frankreich

Portugal

Deutschland

Italien

Schweden

Großbritann.

Dänemark

Schweiz

* Euro seit 2009

Ll turo-Lander w Eu-Lanoer

0,8

4,1

o,c

1,7

3,0

z,c

4,3

1,7

3,4

1,4

1,4

2,1

2A

1,1

(1990 bis 1998)

16

Page 19: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

DefinitionenDie Arbeitsproduktivität ist das Maß für die Ergiebigkeit des Einsatzes von Arbeitskräften: Verhält-nis von Gütererzeugung (output) ztmEinsatz von Arbeit (input), pro Erwerbstätigenstunde (Arbeits-stunden-Produlrtivität) oder pro Erwerbstätigen.

Lohnstückkosten: Sie sind definiert als Relation der Lohnkosten zur Arbeitsproduktivität. Berech-nung: Arbeitnehmerentgelt in Relation zum preisbereinigten BIP je Erwerbstätigen (: Personenkon-zept); oder: Arbeitnehmerentgelt je Arbeitsstunde in Relation zum preisbereinigten BIP je Erwerbstäti-genstunde (: Stundenkonzept).

20n:I Produktivitöt ie Erwerbstötigenz +1,6 %

(ie Arbeitsstund e +1,2 %lr Lohnstückkosten ie Arbeitsstunde +1,4 %

(pro Kopf +1,5 %l

Die gesamtwirtschaftliche Produktivität je Arbeitnehmer stieg im vergangenen Jahr umbeachtliche 1,6 Prozent. Hätten die Arbeitnehmer ihren Anteil am Produktivitätszuwachserhalten, dann hätten die Reallöhne um 1,6 Prozent im Durchschnitt steigen müssen. Dasheißt also Ausgleich der Preissteigerungsrate von2,3 Prozent plus 1,6 Prozent :3,9 Prozent

- ergibt den so genannten verteilungsneutralen Lohnzuwachs. An der Verteilung Arbeit zuKapital bzw. Löhne zu Gewinnen ändert sich dadurch nichts. Dieser verteilungsneutraleLohnzuwachs war frtiher die tarifpolitische Mindestzielstellung der Gewerkschaften. Sie

wurde im vergangenen Jahr nicht annähemd erreicht. Die Tarifabschlüsse lagen zwischenl,l oÄund3 oÄ.

Die gesamtwirtschaftliche Produktivitätsentwicklung ftillt nach Branchen sehr unterschied-lich aus. Und das ist entscheidend für die Wettbewerbsfühigkeit und den deutschen Waren-export. Die Produktivität je Arbeitnehmer im verarbeitenden Gewerbe - Industrie und Hand-werk - stieg im vergangenen Jahr um 6,3 % (l) (e Arbeitsstunde w 4,2 %) nachdem sie imJahr davor um 13,5 % (t) (7,6 %) gestiegen war. Dies und die niedrigen Tarifabschlüsseerklären den Exportboom der deutschen Industrie nach der Krise 2008/09.

pnArffistunde

rheitsoroduktivitätYeränderuigen in % am Voriilhr

2000

nol2002

200s

200420CI5

200620DV

?9ü200g2M02A1l

-0t

Queller Stolist. Bundesffit

isw-wirtschafrsinfo 46 't7

Page 20: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Das schlägt sich auch in der Entwicklung der Lohnstückkosten nieder: Während sie gesamt-wirtschaftlich um 1,5 % je Kopf (1,4 %o je Arbeitsstunde) stiegen, sanken sie im verarbeiten-den Gewerbe um 1,8 oÄ pro Person (2,0 yo je Arbeitsstunde). Die Lohnsttickkosten imverarbeitenden Gewerbe lagen damit 2011 exakt auf dem Niveau von 2000. Aber auch diegesamtwirtschaftlichen Lohnstiickkosten waren in Deutschland im Vergleich zu den anderenEU- bzw. Euroländern in der vergangenen Dekade am langsamsten gestiegen.

Steigende Wettbewerbsfähigkeit der BRD

Wie aus einer Studie des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunktur-forschung (IMK) hervorgeht, steigen die Arbeitskosten seit dem Start des Euro in Deutsch-land wesentlich langsamer als in jedem anderen Land der Währungsunion (auch nur halb soschnell, wie im Durchschnitt der EU; siehe Grafrk). "Wir gewinnen Jahr ftir Jahr an Wettbe-werbsftihigkeit hinzu, weil wir billiger anbieten können", sagt der Direktor des IMK, Gus-tav Hom. (SZ, 13.12.11).

Der IMK-Cheftikonom sieht das ebenfalls durchaus kritisch: Die niedrigen Arbeitskostendämpften den privaten Konsum im Inland und auch die Importe und stimulierten zugleichden Export. Dies flihre innerhalb Europas zu Ungleichgewichten in den Leistungsbilanzenanderer Länder; Deutschland sei damit eine "Quelle der Instabilität im Euroraum". DerWohlstand, den sich Deutschland durch seine Überschüsse erarbeitet habe, "basiert auf denSchulden der anderen". Wobei sich der "Wohlstand" ohnehin nur in den Bilanzen derExport- und Zulieferfirmen niederschlägt.

Entwicklung der ArbeitskostenDurchschnittliche jährliche Wachstumsratender Arbeitskosten je geleistete Arbeitsstundevon 2000 bis 2010 in der Privatwirtschaft

Ungarn

Polen

lrland

Spanien

Großbritann.

Dänemark

Frankreich

Griechenland

Niederlande

EU.27

Schweden

Italien

Portugal

Euro-Raum

Österreich

Deutschland

7,8

4,4

4,1

4,1

3,4

3,4

3,4

3,3

3,3

3,3

3,2

E

e

]

o

p

v_

=

c

p9

_ii6a

2,9

2,8

2,6

1,7

Lohnstückkosten(nominal)

201 1 gegenüber 2001 in Prozent

EU-27

Euro-Zone

Griechenland

Großbritann.

Italien

Spanien

Frankreich

Belgien

Portugal

Niederlande

lrland

Deutschland

* Prognose

Quel e: Eurosioi

32,4*

27,6

27,2

22,1

21,4

20,7

20,5*

18,8*

18,'t *

hw-sro{ik mz

Alle in der Währungsunion müsstensich 'gleich anstrengen" sagte Angel,Merkel, um so das BILD-Bild vom 'Tau- -len Griechen" weiter auszumalen. Sieverbreitete bewussf die Unwahrheit, umso die Vorurteile zu schüren. Die Grie-chen gehen später in Rente, haben we-niger Urlaub und arbeiten mehr. lhrNachteil rst dass das Land nicht sohoch industrialisiert ist, die Betiebe mitvergleichsweise weniger modemer Tech-nik ausgestaftet sind und die lnfrastruk-tur weniger entwickeft ist. Dadurch ist dieProduktivität in Griechenland wesent-Iich niediger als in Deutschland. NachBerechnungen der OECD entsteht inDeutschland ein Weft von 53 Dollar jeArbeitsstunde, in Giechenland slnd esnur 34 Dollar (vgl. Zeit, 1 6.6.1 1)

Arbeitszeiten in der EU

Effektiv geleistete Wochen-Arbeitsstu ndenvon Vollzeitbeschäftigten im Jahr 2010(Durchschnitt)

"Faule Griechen" arbeiten mehr,als Tleißige Deutsche".

Finnland

lrland

Frankreich

Schweden

Italien

Ungarn

Spanien

Großbritann.

Niederlande

Polen

Deutschland

Griechenland

40,5

40,7

41,1

41,2

4'1,3

41,7

39,0

39,6

39,8

39,9

40,1

18

Page 21: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

"Verbraucherpreisindex fü r Deutschland"

DelinitionDer Verbraucherpreisindex widerspiegelt die Entwicklung der Kosten flir die durchschnittliche Lebens-haltung eines Haushalts (häufig auch als Inflations- oder Teuerungsrate bezeichnet).

MethodikZur Ermittlung wählen die Statistiker einen Warenkorb aus, der angeblich typisch flir die Lebenshal-tung aller privaten Haushalte ist. Der Warenkorb ist mit 750 Produkten und Dienstleistungen geflillt,die unterschiedlich gewichtet werden. Zusammensetzung des Warenkorbs und Gewichtung der Be-standteile werden alle fünfJahre überprüft undje nach Kauf- und Lebensgewohnheiten verändert. Seit1.3.08 bezieht sich das Statistische Bundesamt aufden Warenkorb des Jahres 2005 (neues Basisjahr).

Seit neuestem berechnet auch das Statistische Bundesamt einen "Index der wahrgenommenen Inflati-on"(IWI), auch "gefühlte Inflation". Er wird aus der Preisentwicklung der 50 kaufhäufigsten Gütergewonnen.

Für Vergleiche im Rahmen der EU wurde der Harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI) ent-wickelt.

20rr:r Verbroucherpreisindex +2,3 %

Die Lebenshaltungskosten verteuerten sich im vergangenen Jahr mehr als doppelt so starkwie im Jahr davor: + 2,3 Yo.

Als besondere Preistreiber erwiesen sich wieder die Energiestoffe. Insgesamt verteuerte sichEnergie um l0 oÄ - davon Haushaltsenergie + 9,5 % (Heizöl + 24,5 oÄ, Femwärme + 8,0 oÄ,

Strom + 7 ,3 oÄ, Gas + 4,6 oÄ); Kraftstoffe + ll,0 yo.

Überdurchschnittlich erhöhten sich auch die Preise flir Nahrungsmittel und alkoholfreieGetränke: + 2,8Yo.

Die Erhöhung der Lebensmittelpreise schlägt bei ärmeren Haushalten weit stärker zu Bucheals bei wohlhabenden Familien. Beim deutschen Verbraucherpreisindex gehen sie mit einerGewichtung von 10,4 oÄ ein, doch bei ärmeren Haushalten ist ihr Alteil am Warenkorb weithöher (ähnliches gilt für Schwellen- und Entwicklungsl2inder).

Am weltweiten Anstieg derNahrungsmittelpreise sind vor allem drei Faktoren beteiligt:

I der Mehrverbrauch in Schwellenländern wie China und Indien als Folge eines sich erhö-henden Lebensstandards in diesen Ländern;

r die zunehmende Vemutzung von Getreide als Biosprit. So erhöhte sich der Getreidepreisvon Mitte 2010 bis Anfang 20ll um 57 oÄ;

I an der Preistreiberei flir Nahrungsmittel und Agrarrohstoffe war vor allem die zunehmen-de intemationale Spekulation beteiligt.

Ieuerun Verb raucfrer- Pra:s i ndex

06 2010 11a2 a920Il1 03

isw-wirtschaftsinfo 46 19

Page 22: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Ausblick 2012

Die Projektion des Jahreswirtschaftsberichts der Bundesregierung geht fix 2012 von einerSteigerung des Verbraucherpreisindex von 1,8 Yo aus; der Sachverständigenrat von 1,9 oÄ.

Im ersten Quartal 20l2war der Index um 2,2oÄhöher als im entsprechenden Vorjalresquartal.

Weginflationierung der Staatsschulden?Ein Unsicherheitsfaktor fi.ir die inflationäre Entwicklung ist vor allem der weitere Verlaufder Schuldenkrise. "Die milliardenschweren Liquiditätsspritzen der Notenbanken haben denNährboden ftir höhere Inflationsraten bereitet", warnt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Com-merzbank. Dieser preistreibende Boden dürfte in diesem Jahr mit zu erwartender Stagnationoder gar Rezession die Inflation noch nicht sonderlich ins Kraut schießen lassen, abermöglicherweise bei einem dann folgenden Aufschwung.

Kommt hinzu, dass eine Reihe von Ökonomen einer Weginflationierung der Staatsschuldendas Wort reden. Dazu gehört der neoliberale Chefükonom der Deutschen Bank, ThomasMayer, vor allem aber Ökonomen aus den USA und Großbritannien, wie der Harvard- undfrühere IWF-Chefttkonom Kenneth Rogoff. "Um den Schuldenabbau zu unterstützen,bräuchte es über mehrere Jahre hinweg eine Inflation von vier bis sechs Prozent", sagte erder französischen Tageszeitung Liberation. Es solle ja "nicht gleich eine Hyperinflationherbeigeftihrt werden", aber nur in Kombination von "moderater Inflation" und wirtschaftli-chem Wachstum könnten die Schulden abgetragen werden. Und der Chefrolkswirt derDeutschen Bank in einem Interview mit der FAZ (7.8.11): "Ich sage schon länger, dass manletztlich die Schuldenlast durch einen mäßigen Anstieg der Inflation - sagen wir mal so fünfProzent global abtragen wird".Die sozialen Folgen wären verheerend. Im Klartext bedeutet diese Aussage, dass eine syste-matische und schleichende Enteignung der kleinen Sparer und Ansparer auf Kapital-Lebens-versicherungen und kapitalgedeckte Altersvorsorge nicht nur billigend in Kauf genommen,sondern systematisch angestrebt wird. Die Sparbuch-Sparer müssen sich derzeit mit Zinsenvon etwa 0,5 Yo zufrieden geben, was bei einer Inflationsrate von 5 Yo eine j'dhrliche Entwer-tung ihrer Sparguthaben von über vier Prozent bedeuten würde; aber auch andere Anlagefor-men gerieten deutlich ins Minus. Die Reichen und Superreichen aber hätten keinen Sub-stanzverlust bei ihren Vermögen zu befürchten. Das professionelle "asset management" derBanken und Vermögensverwalter garantiert Millionären jährliche Schatz-Zuwächse vonsieben und mehr Prozent. Verheerend wären die Folgen zudem für Lohn- und Hartz-IV-Empftinger sowie Rentner, die nicht mit Erhöhungen ihrer Verdienste oder Bezüge von fiinfProzent rechnen können.

Jährliche Inflationsratein EU/Euroraum

HVPI*-lnflationsratejährliche Veränderungin Prozent

. Der HVPI (Harmonisierter Verbraucherpreis-index) wurde von der EU zur internationalen Ver-gleichbarkeit konzipiert. Er kann von den natienalen Verbraucherpreisindices abweichen (sieheDeutschland)** wechselnde Zusammensetzung

2010 2011

Eurooäische Union** 2.1 3.1

Euroraum** 1.6 2.7

Deutschland 1.2

ldand -1.6 1.2

Griechenland 4.7 3.1

SDenien 2.O 3.1

Frankreich 1,7 2,3

Italien 1,6 2,9

Unqarn 4,7 3,9

Niederlande 0,9 2,5

Österreich t.t 3,6

Polen 3,9

Portuqal 14 3,6

Finnland 1.7 3.3

Schweden 1.9 1.4

Großbritannien 3,3 4.5

20 isw-wirtschaftsinfo 46

Page 23: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Exporte/l mporte, Handels- u nd Dienstleistu n gsbi lanz, Au ßen beitrag

DefinitionUnter Außenhandel fasst das Statistische Bundesamt Export/lmport von Waren : Handelsbilanz undvon Dienstleistungen (2.8. Reiseverkehr, Transportleistungen, Kapitalerträge, Versicherungen, Provi-sionen, Lizenz- und Patentgebühren) = Dienstleistungsbilanz zusammen. Der Saldo der aggregiertenBilanzen ergibt den sog. Außenbeitrag (Export- oder Importüberschuss).

Handels- und Dienstleistungsbilanz sind Teil der Leistungsbilanz, in die zusätzlich die Übertragun-gen (2.B. Überweisungen ausländischer Aüeitskräfte, Gewinntransfers, Zahlungen an EU und intema-tionale Organisationen, Entwicklungshilfe) eingehen.

20ll:r Exporte (Güter und Dienstleistungenlz +8,2 %

(preisbereinigtl; lmporte +7,2 %

Au ßenhandels-UberschussExporte und lmportevon Waren und Dienstleistungenin Mrd. Euro zu jeweiligen Preisen

'1100 I Mrd. €l

EXPORT

761 767 /

4r,,, ii 96 84

683Qleller Shiisiisches Bundesoml / Fochserie I 8 / Reihe l.l

2005 2006 2007 2008 2009 20'10

Im vergangenen Jahr durchbrach die deutsche Exportwalze die Schallmauer: Erstmals wur-den Waren von mehr als einer Billion Euro exportiert: 1.104 Milliarden Euro. Zusammenmit den Dienstleistungen waren es 1.288 Milliarden Euro.

Preisbereinigt, also real, nahmen die Exporte schneller zu als die Importe. In nominalenEuro-Preisen stiegen die Importe stärker (+ 12,8 %) als die Exporte (+ 11,1 0%), sodass sichder Exportüberschuss gegenüber dem Vorjahr leicht verringerte: 133,5 Mrd. Euro zu 135,5

Mrd. Euro 2010.

Rekord ist auch der BIP-Anteil des Außenhandels: 50,1oÄ; d.h. die Hälfte der produziertenWaren und erbrachten Dienstleistungen wird exportiert. "Die Abhängigkeit Deutschlandsvon der Weltwirtschaft ist so hoch wie nie", sagte der Chefvolkswirt der Versicherungsgrup-pe Allianz, Michael Heise. Und das kann in der nächstenZeit, bei stagnierender Weltkon-junktur, zum Verhängnis für die deutsche Wirtschaft werden.

Von den Warenexporten gingen fast 40 % (39,7 %) in die Euro-Zone und fast 60 % (59,2 %)in die EU-27. Die Bedeutung Europas für die deutschen Ausfuhren verringerte sich in den

vergangenen Jahren leicht: 2006 machten die Exporte in die Euro-Zone noch 44oÄ aus,indieEU gingen im Jahr 2007 noch 64,6yo der deutschen Exporte. Am stärksten stieg der Exportin Drittländer: + 13 ,6 % und damit stärker als die Importe aus diesen Ländern: + 12,0 oÄ.

isw-wirtschafrsinfo 46 21

Page 24: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

China ist 20ll zttn zweitgrößten Handelspartner (Exporte + Importe) aufgerückt, nachFrankreich und vor den Niederlanden und USA. Bei den deutschen Exporten nimmt es Platzvier ein: Frankreich, USA, Niederlande, China, Großbritannien, Italien. Nach Prognose desDeutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) wird es in diesem Jahr zum mveit-wichtigsten Absatzmarkt für Produkte "Made in Germany" - nach Frankreich, aber noch vorden USA. Bei den deutschen Importen steht China an erster Stelle, vor Niederlande, Frank-reich, USA.

Ausblick 2012

Zum Ende des Jahres 2011 musste die deutsche Exportmaschine einen Dämpfer hinnehmen.Im Dezember sanken die Exporte gegenüber dem Vormonat so stark wie seit der RezessionAnfang 2009 nicht mehr, um 4,3 %o.Die Ursache liegt in der konjunkturellen Abkühlung inder EU: Im vierten Quartal 2011 ist das BIP im Euroraum und der Ell27 vn 0,3 Yo imVergleich zum Vorquartal gefallen.

Ein Einbruch droht auch im Handel mit China. Dort schwächt sich das BlP-Wachstum vonQuartal zu Quartal ab. Im Januar drosselte die Volksrepublik ihre Importe um 15,3 0Ä imVergleich zum Vorjahresmonat, so stark wie seit zweieinhalb Jahren nicht mehr.

Deutschland: Störenfried auf dem Weltmarkt

Die Exportmacht Deutschland ist der Unruhestifter Nummer 1 auf dem Weltmarkt. Ihrepermanenten und wachsenden Exportüberschüsse tragen erheblich zu den Ungleichgewich-ten in der Weltwirtschaft bei. Deutschland weist den größten Exporttiberschuss aller Länderauf: In Dollar gerechnet etwa 180 Milliarden Euro. Beim Exporlweltmeister China betrugder Außenhandelsüberschuss im vergangenen Jahr "nur" 155 Milliarden Dollar. Seit derFinanz- und Wirtschaftskrise hat die chinesische Führung ihre Strategie der einseitigenExportorientierung der Wirtschaft geändert und setzt seither verstärkt auf die Entwicklungdes Binnenmarktes. In diesem Zusammenhang ging China daran, seine Exporttiberschüsseabzubauen und damit die Ungleichgewichte im Welthandel zu verringem. Die Exportüber-schüsse verringerten sich von 295,5 Milliarden Dollar in 2008, auf 196,1 Mrd. Dollar 2009,183,1 Milliarden Dollar 2010 und 155,1 Milliarden Dollar 2011. Sie haben sich damit in vierJahren fast halbiert. Auch gegenüber Europa nimmt die Einfuhr schneller zu als die Ausfuhr.Der EU-Botschafter in Peking, Markus Ederer, sagte voraus, dass China 2012 erstmals vorden USA Europas größter Exportmarkt werden könnte.

Auch in Japan, viertgrößtes Exportland und traditionell Export-Überschussland, verringertesich in den vergangenen Jahren der Außenhandelsüberschuss. Für 2011 musste die Regie-rung in Tokio zum ersten Mal seit 31 Jahren ein Handelsbilarvdeftzit verktinden; das Minusbeträgt 24,5 Milliarden Euro (etwa 33 Milliarden Dollar).

Die Exportstärke der deutschen Wirtschaft hat im wesentlichen folgende Ursachen:

1. Die starke industrielle Basis: Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes (Handwerk undIndustrie) an der Bruttowertschöpfung beträgt mehr als ein Ftinftel (22%). Bei den anderengroßen europäischen Volkswirtschaften ist dieser Anteil wesentlich niedriger (siehe Grafik).Dadurch profitierte die deutsche Industrie weit stärker vom Boom der Schwellenländer alsj.edes andere Land. Denn diese fragten vor allem Investitionsgüter flir den Aufbau ihrerOkonomien und den Ausbau ihrer Infrastruktur nach. Aber auch aus den kapitalistischenIndustrieländern gab es nach der Krise 2008109 einen Nachholbedarf an Investitionsgütem.

Zudem ließen sich im verarbeitenden Gewerbe in den vergangenen Jahren durch Rationali-sierung besonders hohe Produktivitätszuwächse erzielen (-+ Produktivität).

2. Sinkende Lohnstückkosten: Die großen Produktivitätsfortschritte und die Lohnzurück-haltung auch der Industriegewerkschaften hatten sinkende Lohnstückkosten zur Folge (-+Produktivität) und steigerten die Konkurrenzf?ihigkeit der deutschen Exportwirtschaft.

3. Vorteile aus der Gemeinschaftswährung: Deutschland profitiert wie kein anderes Landvom Euro. Die Leistungsbilanzdefizite der meisten Euro-Länder fi.ihren zu einer relativniedrigen Bewertung des Euros. Anders ausgedrückt: Bei einer Wiedereinflihrung der D-

Export-Weltordnung

Anteile an den weltweiten Ausfuhren2010 in Prozent

{ China

2 USA

3 Deutschland

4 Japan

5 Niederlande

6 Frankreich

7 Südkorea

8 ltalien

9 Belgien

10 Großbritan.

l'l Hongkong

'12 Russland

13 Kanada

14 Singapur

15 Mexiko

3,8

3,4

3,1

2,9

2,7

2,7

2,6

2,6

2,5

E

]

2,3

2,0

22

Page 25: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Mark würde diese aufgrund der Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands sofort stark auf-werten, wodurch sich deutsche Waren im Export stark verteuern wtirden. Schätzungengehen von einer Verteuerung von etwa 40 oÄ als, womit das "deutsche Exportwunder"schnell verblassen dürfte. Umgekehrt würden die anderen Euro-Länder bei Wiedereinfiih-rung ihrer früheren Landeswährung in den meisten Fällen stark abwerten und könntendadurch auf dem Weltmarkt billiger anbieten.

Exportquoten

Exporte von Warenund Dienstleistungen

in % des BIP - 2011

* Prognose

isw-grcfik mz Quelle: Eurostol

EU27 43.4%

Euroraum 43.7 %

Beloien 84.7 o/o

66.5 o/o

Tschechien * 73.7 0Ä

Dänemark 53.8 %

Deutschland 50.1 0Ä

lrland . 105.5 %

Griechenland 24.0 %

SDanien 30.1 o/o

Frankreich * 26.9%

Italien 28.8%

Ungarn 92.3%

Niederlande 82.6%

Österreich 56,6 0/o

Polen * 43,4 0/o

Portuoal 35,5 o/o

Rumänien 38,3 0/o

Slowakei 89,1 o/o

Finnland 39,1 %

Schweden 50,0 %

Großbritannien 32.3%

Schweiz 52.9%

USA 13.8%

Anteil desVerarbeitendenGewerbesan der Brutto.wertschöptungin"/" -2011

e

_o5a

E

p

3

EU27 15,4%

Euroraum 16,0%

Deutschland 22,0 Yo

Griechenland 9,9 %

Spanien 13,4 Vo

Frankreich (2oro) 10,o vo

Italien 15,9%

Niederlande 12,7 %

Österreich 18.9%

Polen 18,O%

Portuqal 13,1 %

Finnland 18,2%

Schweden 16,1 %

Großbritannien 10,1 %

Die deutsche Exportwucht ist die entscheidende Ursache, dass von den27 EU-Ländem 19

ein Handelsbilanzdefrzit aufweisen. Lediglich Belgien, Tschechien, Dänemark, Irland, Nie-derlande, Ungam, Spanien und natürlich Deutschland haben einen aktiven Handelsbilanz-Saldo zu verzeichnen.

Der gesamte Euroraum wies 2011 ein Defizit von7,7 Milliarden Euro aus, die EU27 einDefizitvon 152,8 Milliarden Euro.

23

Page 26: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Volksei nkommen, Lohnquote, Verfügbares Einkommen

DefinitionVolkseinkommen : Bruttosozialprodukt minus Abschreibungen minus indirekte Steuem.

Primärverteilung gibt die Lohnquote und die Gewinnquote an. Lohnquote = der prozentuale Anteilder Einkommen aus unselbständiger Tätigkeit, das sind die sog. Arbeitnehmerentgelte (: Brutto-Lohn-u. Gehaltsumme + Sozialbeiträge d. Arbeitgeber) am Volkseinkommen = Bruttolohnquote. (Brutto-)Gewinnquote: Anteil der "Unternehmens- und Vermögenseinkommen" am Volkseinkommen.

Netto-Lohn- bzw. -Gewinnquote: Sie geben Auskunft über den Anteil von Arbeit und Kapital an denverfügbaren Einkommen der privaten Haushalte.

Verfügbares Einkommen der privaten Haushalte: Setzt sich zusammen aus der Nettolohn- und-gehaltsumme + "Empfangene monetäre Sozialleistungen" t Gewinn- und Vermögenseinkommen.

20il:r Unternehmens- und Vermögenseinkommen:

+1,5 %r Arbeitnehmerentgel* +4,5 oÄ.

Seit 2000: 920 Milliarden EuroVertei lungsverl uste für Arbeitnehmer

Auf den ersten Blick sieht es so aus als würde sich die Verteilung wieder zugunsten derLöhne drehen: die Lohnquote ist um 0,7-Prozentpunkte gegenüber dem Vorjahr gestiegen.Am langfristigen Verteilungstrend ändert das aber nur wenig. Die Lohnquote liegt nochimmer um fünf Prozentpunkte unter dem Stand von 2000, die Gewinnquote ist entsprechendhöher.

Der Anstieg der Lohnquote ist zudem nicht auf höhere Lohnzahlungen für die einzelnenBeschäftigten zurückzuführen (+ Löhne), sondem beruht aufder Zunahne der Beschäftig-tenzahl. Das Wi(schafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung berechnet seit Jahren die strukturbereinigte Lohnquote. Diese ist bereinigt vomEinfluss, der sich aus der Anderung der Erwerbstätigenstruktur ergibt. Das WSI kommt zudem Ergebnis, dass auch 2011, zumindest in der ersten JahreshäIfte, die Lohnquote nichtgestiegen, sondern um ein einen zehntel Prozentpunkt gefallen ist. Gegenüber dem Jahr2000 liegt die strukturbereinigte Brutto-Lohnquote sogar um 6,9 Prozentpunkte niedriger;die tatsächliche Brutto-Lohnquote um 4,9 Prozentpunkte.

Die Zurückdrängung der Lohnquote - mit dem niedrigsten Stand in 2007, wo der Unter-schied zu 2000 fast acht Prozentpunkte betrug - hatte für die Arbeitnehmer über all die Jahregravierende Verteilungsverluste zur Folge. Wären 2010 die Verteilungsrelationen noch diegleichen wie im Jahr 2000, dann wären die Arbeitnehmerentgelte allein in diesem Jahr umgut 100 Milliarden Euro höher ausgefallen. Der daraus resultierende Kaufkraft- und Nach-frageschub wäre weit wirkungsvoller gewesen als der Stimulus, der von den beiden Kon-junkturprogrammen der Bundesregierung ausging, deren Umfang gerade mal 80 MilliardenEuro, bezogen aufzwei Jahre, ausmachte.

Addiert man die Verteilungsverluste der einzelnen Jahre (IJmverteilung über die sinkendeLohnquote) und jeweils im Vergleich zu den Verteilungsrelationen von 2000 zusammen,dann ergibt sich bis 2011 eine Summe von 920 Milliarden Euro. Fast eine Billion Euroweniger wurde in diesem Zeitraum an Arbeitnehmerentgelt ausbezahlt, weil sich das Kräfte-verhältnis zugunsten des Kapitals verschoben hatte. In der selben Höhe sind die Gewinn-und Vermögenseinkommen zusätzlich gestiegen.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt der Steuerexperte Professor Lorenz Jarass: Preisberei-nigt ist nach seinen Berechnungen das Volkseinkommen von 2000 bis 2010 um rund 8 0/o

gewachsen. "Die Arbeitnehmer profitierten vom Wachstum nicht, ihre Nettolöhne sind -preisbereinigt - genauso hoch wie in 2000"... "Von 2000 bis 2010 bekamen den gesamtenZuwachs Untemehmens- & Vermögenseinkommen, die - trotz des vorübergehenden Rück-gangs in 2008 und 2009 - um über 40 Yo gestiegen sind." (Jarass, Steuem, Löhne undVermögen, in: DGB-Gegenblende, 13.3.12).

Absturz der Lohnquote in der BRD

AnteilArbeitnehmerentgeltam Volkseinkommen

72'1 tt,a in Prozenl

2000 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 2011

ln geichem Maße, wie die Lohnquote sank, ist dieGewinnquote (Gewinn- und Vemögenseinkommen)gestlagen. Bei gleicher Verteilung wie im Jahr 2000häften die Arbeitnehmer 2010 105 Mrd. Euro mehran Lohneinkommen gehabt. lm Jatu 2000 war dieLohnquote in Deutschland die höchste innerhaftder EU, 2010 eine der niedigsten.

24

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Aber nicht nur die Lohnempftinger sind die Verlierer dieser Umverteilung von unten nachoben, sondem auch die Sozialkassen und damit Rentner, Kranke, Arbeitslose, Pflegebedürf-tige. Denn der Posten "Arbeitnehmerentgelt" setzt sich zusammen aus Bruttolöhnen und-gehältern und Sozialbeiträgen der Arbeitgeber. Nimmt man hier die Relationen des Jahres2000 und überträgt sie auf die folgenden Jahre, dann hätten die Untemehmer für denZeitratm 2000 bis 20ll 626 Milliarden Euro mehr Löhne und Gehälter zahlen und 293,8Milliarden Euro mehr an die Sozialkassen abflihren müssen (zusammen wiederum knapp920 Milliarden Euro). Bei letzterem Posten profitierten die Unternehmer nicht nur von denniedrigeren Bruttolöhnen, sondern auch von der Entlastung der Lohnnebenkosten durch dieBundesregierung. Von den 293,8 Milliarden hätten sich ordentliche Rentenerhöhungen undVerbesserungen im Gesundheitssystem finanzieren lassen.

Verteilungsverluste bei Arbeitnehmerentgelt

Jahr V(ilkli-riit. :i:,,i,,r,ii

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I in Mrd. Euro I LQ von 2000 |

i I in Mrd. Euro I

[[.t"r,GrlI verlust i

I in mra. e*o

I

2000 540,9 72,1 1.111 ,2 .111,2

2001 577.1 71,8 1.131,9 137.1 5,2

2002 591,4 71,6 1.138,8 147,4 8,6

2003 .608,5 71,0 1.141 ,6 159,7 18,'1

2004 686,1 67,9 1.145,4 .215,7 70,3

2005 713,7 66,4 1.137,6 235,6 98,0

2006 .808,7 63,9 1 .1 56,1 304.1 145,O

2007 .877,3 63,2 1.187,1 353,5 166,4

2008 .894,2 64,9 1.229,8 .365,7 135,9

2009 .806,1 68,2 1.231,5 302,2 70,6

2010 897,8 66,5 1.262,9 .368,3 105,4

2011 1.964,3 67,2 't.319,9 .416,2 96,3

VertellungsväAu§ie {ZOOO.; ZOtt) gesimt,, 919,8 Mrd. €

Das Arbeitnehmerentgelt setzt sich zusammen aus Bruttolöhnen und gehältem und Sozialbeiträgen der Arbeitgeber(2.8. 2011: 1.076 Mrd. Btuttolöhne + 244 Mrd. Sozialbeiträge = 1.320 Mrd. Arbeitnehmer-Entgelt. Spaltet man die Ver-teilungsverluste über die Jahre entsprechend auf, dann ereben sich 2000 bis 2011 insgesamt 726 Mrd. Euro wenigerBruttolöhnedie die Untemehmer gezahlt haben, als im Jahr 2000 und 293,8 Mrd. Euro weniger Sozialbeiträge.

Quelle: destoil§ (Fochserie 18), isw-Berechnungen isw-sro{ik mz

isw-wirtschaftsinfo 46 25

Page 28: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Brutto- / Nettolohn; Reallohn (Kaufkraft)

DelinitionBruttolohn = (tariflich oder betrieblich) vereinbarter Lohn banr. Gehalt.

Nettolohn : das an den Arbeitnehmer nach Abzug der Steuern (Lohnsteuer, ggfs. Kirchensteuer) undSozialversicherungsbeiträge ausbezahlte Arbeitsentgelt.

Reallohn, auch realer Nettolohn = Nettolohn minus Preisindex für die Lebenshaltung. Der Reallohnist Indikator fi.ir die reale Kaufkraft des Lohnes.

Arbeitnehmerentgelte: Bruttolohn + Arbeitgeberanteil an den Sozialbeiträgen

Niedriglohn: Der Niedriglohnsektor umfasst Einkommen, die unter zwei Drittel des Medianeinkom-mens liegen (OECD-Standard).

20il:r Bruttolöhne/-gehölterz +3,5 oÄ

r Nettolöhne/-gehälterz +2,2 %r Reollöhne (Koufkroftl: -QI %Jeweils ie Arbeitnehmer

Die relativ großen Änderungen zur gleichen Grafik in wiftschaftsinfo 44, S. 29 beruhen auf der völligenNeuberechnung der aller VGR-Aggregate durch das Sfafisfrsche Bundesamt im vergangenen Jahr.Nach der neuen Berechnung sind die Nettolöhne seit 2000 nicht so stark gestiegen wie ursprünglichangenommen, wodurch die Reallöhne im vergangenen Jahzehnt noch stärker gefallen sind: Seit 2000um 4,1 o/o; seit 2001 sogar um 5,5 o/o - für die Arbeitnehmer ein verlorenes Jahrzehnt.

Verlorenes Jahrzehnt: Reallöhne acht Mal gefallen

Die Zeitungen warteten am 7. Februar 2012 mit den Schlagzeilen aut "Reallöhne im Jahr2011 um I Prozent gestiegen". Hintergrund war eine Meldung des Statistischen Bundes-amts, wonach die "preisbereinigten Brutto-Monatsverdienste" im vergangenen Jahr sich umdiesen Prozentsatz erhöht haben. Brutto ist aber nicht gleich netto, sondern in der Regelhöher. Wegen der Lohnsteuerprogression stiegen die Nettolöhne nur um 2,2 oÄ. Zieht mandavon die Preissteigerungsrate von 2,3 oÄ ab, dann erhält man die realen Nettolöhne; indiesem Fall mit einem Minus von 0,1 0%.

Das Jahr 2011 war damit das achte Jahr im vergangenen Jahrzehnt (2001-2011), in dem dieReallöhne gefallen sind. Lediglich im Jahr 2004und im Jahr 2010 sind sie gestiegen. Der"Aufschwung" nach der Krise 2008 und 2009 ist an den Arbeitnehmem völlig vorbeigegan-gen. Sie haben 2011 weniger Kaufkraft in der Tasche als vor der Krise. Für die anstehendenTarifrunden, insbesondere in der Metallindustrie und im Öffentlichen Dienst, ist da einigesaufzuholen.

Lohnentwi&lung ?ao1-?o11 O ieArteitnehmerin%zrm\brfahr.

feal--oz;0ett0 -Ehrutt0

Quelle: destctis lg t't --l.t isw-grofikbb

2ool 2@2 2oo3 2oo1 Zoos 2Jo01 2@t 2@9 2otD 20't1

i(r Ex Real lohnverluste:tninrs \,tv, +

26

Page 29: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Nettoeinkommen pro Monatin Euro

Quelle: Dlw isw'g@fik mz

Ein-kom-mens-gruppe 2000 2010

Diffe-tenzin€

Diffe-tenzin oÄ

270 211 -59 -21,85

I 520 435 -85 -16,35

ilt 835 705 -130 -15,57

IV .073 963 110 -10,25

258 1.193 -65 -5,17

VI .421 1.412 -9 -0,63

vI .601 1.609 8 0.50

vilt .84',1 1.836 -5 -0.27

tx 2.219 2.215 4 -0.18

x 3.419 3.446 27 0.79

N iedriglöhner verlieren am meisten

Die Berechnungen nrr Reallohnentwicklung jeweils über die vergangene Dekade, die dasisw seit Jahren, durchftihrt, wurden jetzt durch eine Studie des Deutschen Instituts ffirWirtschaftsforschung (DIW) bestätigt. Die Studie weist nach, dass der Reallohn für OttoNormalverdiener zwischen 2000 und 2010 um 2,5 % sank (unsere Berechnung auf derdestatis-Datenbasis vor der Neuberechnung des Statist. Bundesamts, kam zu dem Ergebnis,dass die Reallöhne um2,9 % sanken).

Neu ist bei der DlW-Untersuchung, die sich auf Erhebungen des sozio-ökonomischen Pa-nels (SOEP) stützt - einer regelmäßigen Befragung von 23.000 Personen in 12.000 Pri-vathaushalten - die Ermittlung unterschiedlicher Auswirkungen auf verschiedene Einkom-mensgruppen.Dazu hat Markus Grabka, der Verfasser der Studie, die Beschäftigten in zehnEinkommensgruppen aufgeteilt und die Lohnentwicklung untersucht. Das Ergebnis ist frap-pierend: W?ihrend im Durchschnitt alle Beschäftigten um 2,5 oÄ weniger in der Tasche

hatten, verloren die unteren Einkommensgruppen besonders stark, und zwar bis zu 22 oÄ irrder untersten Gruppe. Aber auch die weiteren Geringverdiener büßten mit zweistelligenProzentsätzen an Kaufkraft ein. Wer z.B. im Jahr 2000 noch ein reales Nettoeinkommen von835 Euro hatte, kam zehn Jahre später nur noch auf705 Euro - hat also 130 Euro oder fast16 % weniger. Insgesamt ist die untere Mittelschicht am stärksten von der negativen Ent-wicklung betroffen. Laut Grabka liegt das "vor allem an der wachsenden Zahl atypischerBeschäftigungsverhältnisse". Will besagen, dass die zunehmenden Leiharbeitsstellen, Teil-zeitjobs und andere prekäre Beschäftigungen die Löhne nach unten drücken. Bei den unter-sten vier Einkommensgruppen sind die preisbereinigten Nettolöhne zwischen 10 und 22 oÄ

gesunken. Die oberen fünf Verdienstgruppen haben ihre Kaufkraft im wesentlichen haltenkönnen: -0,63 Yobis -0,79 %o.

Von großem Interesse wäre, wie sich die Spitzenverdienste und Verdienste von Einkom-mensmillionären entwickelt haben. Dazu macht die DIW-Studie leider keine Aussagen.

Der negative Einkommenstrend setzt sich laut Grabka bei den Berufseinsteigern fort: "JungeMenschen beginnen ihr Berufsleben mit deutlich geringeren Einkommen als noch vor zehnJahren". Selbst ausgezeichnete Qualifikationen und stringente Lebensläufe seien mittlerwei-le keine Versicherung mehr gegen schmale Einstiegsgehälter.

DlW-Verteilungsforscher Grabka bilanziert: "Die Wirtschaft ist seit der Jahrtausendwendeordentlich gewachsen. Die Gewinne und Vermögenseinkommen sind insgesamt sogar kräf-tig gestiegen. Doch bei den meisten Erwerbstätigen ist von dem Wirtschaftswachstum nichtsangekommen".

Festzuhalten aber bleibt: Der gewachsene Niedriglohnsektor ist nicht einfach zufüllig ent-standen, er wurde geschaffen, war von der Politik so gewollt. Insbesondere die Arbeitsmarkt-reformen von Rot-Grün unter Kanzler Schröder mit den Hara-Gesetzen, bei gleichzeitigerVerweigerung gesetzlicher Mindestlöhne, zielten auf eine Ausdehnung des Niedriglohnsek-tors. Inzwischen arbeiten fast ein Viertel (22,2 %) aller Beschäftigten im Niedriglohnbe-reich. Die deutsche Wirtschaft sollte noch wettbewerbsfiihiger gemacht werden, damit Kon-zeme aus Deutschland den Weltmarkt aufrollen können. Die Folge war dem auch, dass dieExportwalze aus Deutschland in schwächeren und Peripherie-Ländern heimische Produktionplatt machte, hier zu Lande Arbeitnehmer aber zunehmend mit Kaufkraftverlusten undsinkenden Lebensstandard zu kämpfen haben und ihre Arbeitsplätze prek?irer werden.

Tarifrunde 2012: Ein Nachholjahr?

In diesen Monaten wird sich entscheiden, ob für die Arbeitnehmer endlich Schluss ist mitden mageren Jahren. In diesem Jahr stehen Tarifuerhandlungen für 9,1 Millionen Beschäf-tigte an, darunter so große Tarifbereiche wie Metall- und Elektroindustrie (3,3 MillionenBeschäftigte) und Öffentlicher Dienst (1,9 Millionen Beschäftigte; insbesondere Bund undKommunen).

Normalerweise begründen die Gewerkschaften ihre Lohnforderungen auf drei Elemente:Absehbarer Anstieg des Verbraucherpreisindex + Steigerung der Arbeitsproduktivität +Umverteilungskomponente. Nach der Jahresprojektion der Bundesregierung ist die Preisstei-gerung 2012mit 1,8 Prozent prognostiziert (Sachverständigenrat: 1,9 oÄ), der Produktivitäts-anstieg je Arbeitnehmer mit 1,5 %. Diese 3,3 yo (1,8 + 1,5) müssten in den Tarifuerhandlun-gen voll durch- und in den Betrieben voll umgesetzt werden, sollen die Reallöhne nichterneut sinken und sich die Verteilungsrelationen nicht weiter zu Lasten der Arbeitnehmerverschlechtem. (Die Problematik brutto - netto ist dabei noch nicht berücksichtigt).

Ein weiteres Problem liegt darin, dass die Prognosen ftir die Preissteigerungen in der Regelzu niedrig angesetzt sind: z.B. 2011: Prognose 1,7 Yo - tatsächlich 2,3 oÄ. F's darf ftir dieses

Jahr getrost davon ausgegangen werden, dass der "verteilungsneutrale Spielraum" - Produk-tivität + Inflationsausgleich - eher bei vier Prozent als bei 3,3 oÄliegt.

Ouelle: DIW sw-sro{ik mr

isw-wirtschafrsinfo 46 27

Page 30: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Entscheidend wird nun, wie stark eine Korrektur der Verteilungsverhältnisse angestrebtwird. Ver.di schreibt dazu in Wirtschaftspolitik aktuell Q\r.212012): "Erst wenn die Löhneso stark steigen wie die Inflation plus Produktivitätszuwachs, bleibt der Anteil der abhängigBeschäftigten am gewachsenen Kuchen gleich. In den letzten Jahren war deren Anteil aberimmer kleiner geworden, dafür haben die Gewinn- und Vermögenseinkommen ein immergrößeres Stlick vom Kuchen abbekommen. Deswegen gibt es einen großen Nachholbedarf'.

Tarif-Kalender 2012Kündigungstermine (Auswahl) Branche/Betrieb Zahl Arbeltnehmerlnnen

31.12.11 Deutsche Post 128.000

31 .O1.12 Deutsche Telekom 51 .200

29.02.12 Öffentlicher Dienst (Bund/Gemeinden) 1.920.600

29.02.12 Bankgewerbe 245.000

31.03.12 Metall- und Elektroindustrie 3.317.200

30.04.12 Kfz-Gewerbe 275.700

31 .05.12 + 30.06.12 Chemische lndustrie 487.700

31.05.12 Volkswagenwerk 95.000

31 .10.12 Landwirtschaft 153.000

31 .12.12 Öffentlicher Dienst (Länder) 624.600

Quelle: WSI-Tarifarchiv

Zum Procedere: Metall- und Elektroindustie: Am 6. Februar fasste die lG Metall erste Beschlüsse zurForderungshöhe. Die Großen Taifkommissionen aller Bezirke der lG Metall besch/ossen am 23. Febru-ar ihre Forderungen. Am 24. Februar setzte der lG Metall-Vorstand die endgültige Forderung für dieMetall- und Elektroindustie fesf; 45 %. Weiterwird gefordert, dass die Auszubildenden am Ende ihrerLehrzeit unbefistet übemommen werden. Und über den Einsatz von Zeitarbeitem im Untemehmen sollkünftig der Betiebsrat mitentscheiden können. Ende Mäz laufen die Entgeft-Tarife aus. Am 28. Aprilendet die Fiedenspflicht.

Eine Frage aller sozialen Kräfte

Wie weit der Nachholbedarf zur Nachhol-Realität wird, zeigt sich im Ausgang der Tarifrun-de. Die zwei mächtigsten Gewerkschaften stehen in ihren jeweils zentralen Tarifbereichenmit den fast gleichen Forderungen gleichzeitig im Arbeitskampf. Das gab es noch nie. IGMetall und Ver.di haben eine Tarifforderung von jeweils 6,5 oÄ erhoben. Ver.di mit demZusatz, dass alle Gehälter um mindestens 200 Euro steigen sollen. Die IG Metall fordertzusätzlich, dass die Auszubildenden am Ende ihrer Lehrzeit übernommen werden. Und überden Einsatz vor, Zeitarbeitern im Unternehmen soll künftig der Betriebsrat mitentscheidenkönnen.

Es hätte einer erheblichen Mobilisierung bedurft, sollten die Abschlüsse möglichst nah anden Forderungen liegen. Das könnte nur gelingen, wenn die Tarifrunde nicht die isolierteAngelegenheit der Gewerkschaften bliebe, sondem zur sozialen Frage auch anderer progres-siver gesellschaftlicher Kräfte würde. Gerade mit den Zusatzforderungen böte dieser Tarif-kampf die Chance zt einer gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Vertei-lungsfrage, Jugendarbeitslosigkeit, wachsende Prekarisierung, sich ausweitender Niedrig-lohnsektor sowie soziale Gerechtigkeit. Jeder Prozentpunkt mehr Lohn bedeutet nicht nurmehr Kaufkraft und damit mehr volkswirtschaftliche Nachfrage, sondern über ein höheresArbeitnehmerentgelt mehr Geld für die Sozialkassen, d.h. flir Rentner, Arbeitslose, Kranke.

Zu Recht wies ver.di-Vorsitzender Frank Bsirske darauf hin, dass die "nachhaltige Verbes-senrng der Reallöhne ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit ist". (zit. nachSZ,23.l2.ll).Erstrich aber auch auf die konjunkturpolitische Bedeutung ftir die Stärkung der Binnennach-frage heraus: "In einer Situation, in der wir angesichts der weltweiten Politik staatlicherAusgabenkürzungen einen Rückgang des Exports erwarten müssen, hat die Lohnentwick-hnrg 2012 eine große Bedeutung, um nötige Impulse für das Wirtschaftswachstum zu set-zen." (ebenda).

Die Finanzierung einer wirklichen Nachhol-Runde wäre in der Metall- und Elektroindustrieangesichts der prallen Profitkassen kein Problem. Allein die beiden Konzeme BMW undDaimler könnten mit ihren Nettoprofiten von 5,1 bzw,5,7 Milliarden Euro fast die gesamteTarifrunde finanzieren. Laut Gesamtmetall-Präsident Kannegiesser kostet ein Prozent Lohn-erhöhung die Metall- und Elektrobetriebe insgesamt 1,9 Milliarden Euro mehr.

Im Öffentlichen Dienst verweisen die Arbeitgeber in Bund und Kommunen auf die leerenKassen. Dem Bund würde die 6,5%oige Erhöhung 3,7 Milliarden Euro kosten, die Kommu-nen 2,1 Milliarden. Bsirske fordert in diesem Zusammenhang wieder eine stärkere Besteue-rung der Kapital- und Unternehmensgewinne, um höhere Löhne zt frnanzieren: "WürdeDeutschland den durchschnittlichen EU-Steuersatz verlangen, hätten wir jedes Jahr 70 bis

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Page 31: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

85 Milliarden Euro an Mehreinnahmen". In der Tat: Das vergangene Jahrzehnt war eineDekade der Steuergeschenke an Konzerne und Reiche, einer steuerpolitischen Umverteilungvon unten nach oben. Auch dieser Aspekt muss Bestandteil der Auseinandersetzung geradeim Öffentlichen Dienst werden.

Zig-Milliarden Subventionen ftir die Banken, zig-Milliarden Steuergeschenke für Konzerneund Geld-Millionäre - und da sollten keine 5,8 Milliarden Euro für höhere Löhne und dieSicherung des Lebensstandards der öffentlich Bediensteten mehr drin sein!? Frank Bsirskesagte, nach der Rettung der Banken sei nun die Botschaft: "Die nächsten Milliarden flir uns".

Die Botschaft ist leider nicht angekommen. Exakt zum Redaktionsschluss dieses Hefteswurde der Abschluss verkündet, der von der Ver.diTarifkommission nur mit knapper Mehr-heit gebilligt wurde. Er sieht 6,3 Yo Lohnerhöhung, verteilt auf eine Laufzeit von zweiJahren vor. 2012 soll es rückwirkend zum l. }l{äxz 3,5 Yo mehr geben. Damit ist bestenfallsder verteilungsneutrale Spielraum ausgeschöpft (siehe oben). Die "soziale Komponente",mindestens 200 Euro, wurde ersatzlos fallengelassen - zum Nachteil der Niedriglöhner.

Gesetzliche Mindestlöhne - pro Stunde 2O{2

Deutschland

10'41

ortFrankrelch 8,23

8.88N'eoer,anoe g,46

8,6stflano

6,71

7,01urorsonlElnn. 7,49

m4,41

r4,34

-

.^^-i^- t -- -a"t- --S : 3,89

-

3,57

.. t-_---------l 1,96tscnecnren

l,noarn l-;E]: --.;Nl 1,92 WZ Angaben in Euro

-

3'07 L.*"it".r, 1.1.2o12:l)mr,zum 1.1 .2012; Umrechnung i§aaa:Z.Zit 7"- 4 ae Jeweils zum 1'1'2012: Umrechnung in

srowakei ffitlli ,.u., Euro zum Jahresdurchschnitt 2011

e"trrno llll%Lli80r,.o B Ansaben in Kaufkraftstandards

E=.:-r-71 1 aa Jeweils zum 1 .1 .2012; Umrechnung int-ettland ffiI"r,r, [1gl[qfstSl^dlrds aufgrund der.vo-n derOECD für 2008 ausgewiesenen Kaufkraft-

r i+ö,,^h t * --l 'l ,40 paritäten für den privaten Konsum

-e'tg"'i"n 5-§3 1,a, euere:ws-Mindesohndoienbonk20r2

isw-wirtschaftsinfo 46 29

Page 32: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Vorstandsgehälter, -Boni u.a. variable Bezüge, Aktienoptionen;Aufsichtsratstantiemen

DefinitionDer Vorstand einer Aktiengesellschaft (AG) wird vom Aufsichtsrat bestellt; dieser regelt auch dieGehälter des Vorstandes bav. segnet sie ab. Die Vorstandsbezüge setzen sich i.d.R. aus dem Gehalt(fxer Bestandteil an den Bezügen) und variablen, meist gewinnbezogenen, Bestandteilen (Prämien,Boni, Tantiemen) zusammen. Seit einigen Jahren gehen fast alle AG dazu über, dem Vorstand zusätz-lich sog. Aktienoptionen zu gewähren. Die Realisierung ist dabei i.d.R. an eine bestimmte Kurshöhegebunden. Bei idealem Kursverlauf können die Top-Manager daraus zwei- bis dreistellige Millionen-beträge realisieren.

MethodikSeit dem 3. August 2005 ist das "Vorstandsvergütungsoffenlegungesetz" (VorstOG) in Kraft. Danachmuss ein individualisierter Ausweis der Vorstandsvergütungen erfolgen. Wirksam werden die Rege-lungen erst für die Geschäftsberichte des Geschäftsjahres 2006. Wenn 75 oÄ der auf der Hauptver-sammlung vertretenen Aktien zustimmen, kann die Transparenz umgangen werden ("Opting-out-Klausel"). Dann gilt die bisherige Regelung: Ausweis nur des Gesamtaufivandes für den Vorstand.

20n:r Dox-Bosse3 Boruergütungen in zehn Johren

mehr ols verdoppelt

Während die Arbeitnehmer im vergangenen Jahrzehnt einen Reallohnverlust von 4,1 Pro-zent im Durchschnitt hinnehmen mussten (-+ Lohn), haben die Bosse mächtig abgesalmt.Nach der Vorstandvergütungsstudie 201I der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapier-besitz (DSW) haben sich die Bezüge der Dax-Vorstände in den vergangenen zehn Jahrenmehr als verdoppelt: + ll9 %. Da lässt sich eine Inflationsrate von 17 % für diese Zeitspan-ne locker wegstecken. Es bleibt immer noch eine Verdoppelung.Auch die Finanz- und Wirtschaftskrise, die sie in ihrem Geld- und Profitrausch mit verur-sacht haben, konnte ihnen nichts anhaben. Sie haben danach sofort kräftig zugelangt. Miteiner Steigerung der Bezüge im Jahr 2010 um 22 Yo erreichten sie bereits wieder Vorkrisen-niveau: 2,92Millionen Euro bei normalen Vorständen urd4,54 Millionen bei den Vorstands-chefs. Während sich die Beschäftigten im ersten Nachkrisen-Jahr mit einem Lohnzuwachs

Vorstandssil-r

Bezüge des Voßtandworsiuenden 201'1 in N4llionen Euro

§,s)

f7 u/^4i s,EMel{e

. g7*,,,.,p *-*

30

Page 33: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Pensionsrückstellu ngenfür alle ehemaligen Vorstands-mitglieder u. Hinterbliebenen

Rückstellungen für alleaktive n Vorstandsmitg I ieder

Alle Angaben bis zumceschäftsiahr 201 0

in Mio. Euroj

!

I

3a

- Geschäflsjahr 2010/1 1

yor, 2,2 % brutto begrrügen mussten, steigerten die Bosse ihre Bezüge um den zehnfachenProzentsatz. Auch die Vorstände der M-Dax-Unternehmen sahen Verdiensterhöhungen imzweistelligen Prozentbereich für angemessen an: + 18 % auf 1,55 Millionen Euro im Durch-schnitt. Man stelle sich das Gezeter der unheiligen Alliar,z aus Kapital, Kabinett und Kon-zemschreibem vor, die Gewerkschaften würden eine solche Lohnerhöhung auch nur for-dern, geschweige denn durchsetzen.

Auch die Aufsichtsräte, welche die Vorstandsbezüge absegnen müssen, langten ihrerseitskräftig zu. 2010 + 45 o .Im Durchschnitt 250.000 Euro verdient im Durchschnitt jetzt einDax-Außichtsratsvorsitzender - für vier Sitzungen im Jahr.

"Obszöne Gehälter" in "spätrömischer Dekadenz"

Außteiger des Jahres unter den Dax-Bossen ist zrveifelsohne VW-Chef Martin Winterkorn.Er erhöhte sich seine Vorstandsbezüge um 63 Prozent auf 16,6 Millionen Euro; inklusiveSonderzahlungen sogar 17,4 Millionen Euro. Das ist absolute Spitze, soviel strich noch keinVorstandsvorsitzender vor ihm ein. Der bisherige Rekordhalter, Josef Ackermann, brachtees 2007 nur auf 13,8 Millionen. Weltweit gab es nur zwei Manager mit höherem Gehalt:Robert Iger (Walt Disney) mit 21,9 Millionen Euro und Leo Aptheker (Hewlett-Packard)18,1 Millionen. Soviel Raffke-Mentalität regte sogar Investoren, Aktionäirsvertreter undFamilienunternehmer auf. Kein Top-Manager sei das 300- oder 400-fache eines einfachenAngestellten wert. Der in Hamburg lehrende Wirtschaftsjurist Michael Adams spricht von"obszönen Gehältern" und "spätrömischer Dekadenz". "Nur die römischen Senatoren hattensich ähnlich weit entfernt vom gewöhnlichen Volk. Muss ein Vorstand mehr als das 50facheder Bundeskanzlerin verdienen? Das l8Ofache eines Professors oder l5 Mal soviel wie einNobelpreisträger bekommt"?

Die restlichen Dax-30-Manager geben sich auch nicht eben mit Minilöhnen zufrieden. Anzweiter Stelle folgte 201 1 Josef Ackermann mit 9,4 Millionen Euro, Siemens-Chef Löscher8,7, Daimler-Boss Zetsche 8,7, Linde-Top-Manager Reitzle 6,7, Großmann ßUfE) 6,4, dieSAP-Chefs je 6,2, BMW-Reithofer 6,1 und der Vorstandsvorsitzende von Adidas 5,9 Mil-lionen Euro. Im Schnitt kassierten die Vorstandsvorsitzenden der Dax-Konzeme 5,9 Millio-nen Euro. Rekord-Profite, Rekord-Dividenden, Rekord-Boni. Ihre Bezüge erhöhten sie imBoom-Jahr 2011 um 11 Prozent. Keine schlechte Vorgabe fi.ir die Gewerkschaften.

Der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung trauen die Bosse offenbar nicht so ganz. Immermehr Vorstände erhöhen ihr Fixgehalt, nach dem Motto: Sicher ist sicher. Denn Boni undandere erfolgsabhängige Bestandteile ihrer Bezüge schrumpfen naturgemäß in Zeiten wirt-schaftlicher Flaute.

Höhere Festgehälter haben zudem höhere Altersrückstellungen zur Folge, da die Pensi-onsansprüche an das Fixum gekoppelt sind. "Pensionen der Dax-Chefs steigen aufRekord-hoch", titelte das 'Handelsblatt' (12.1.2012). Eine Reihe von Dax-Chefs bringt es bereits aufzweistellige Pensionsansprüche: Zetsche (Daimler) 26 Millionen Euro, Winterkom (VW) 18

Millionen, Ackermann (Deutsche Bank) 13 Millionen, Hambrecht (BASF) 15 Millionen,Löscher (Siemens) 13 Millionen usw usf. Aber auch die anderen Vorstandschefs müssenkeine Altersarmut befiirchten: Im Schnitt bringt es jeder Dax-Vorstandschef auf acht Millio-nen Euro Pensionsanspruch. Mindestens 500.000 Euro jährliche Pensionszahlung kommenhinzu. Das addiert sich inzwischen zu gigantischen Summen für die aktiven Vorstandsmit-glieder.

31isw-wirtschaftsinfo 46

Page 34: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

"Unternehmens- und Vermögenseinkommen",Gewinne der Kapitalgesellschaften

Delinition + MethodikUnternehmens- und Vermögenseinkommen: In der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR)wird als "Gewinneinkommen" das "Unternehmens- und Vermögenseinkommen" verstanden. Dieser"Gewinn" ergibt sich in der VGR als Restposten. Eine eigene Gewinnstatistik, z.B. als Summe allerBilanzgewinne, gibt es in Deutschland - anders als in anderen Ländem - nicht.

Weiterhin weist die VGR die Gewinne der Kapitalgesellschaften aus. Unter der Kategorie "Kapital-gesellschaften" werden in der VGR des Statistischen Bundesamtes jedoch nicht nur echte Kapitalge-sellschaften wie AG und GmbH verstanden, sondem auch Quasi-Kapitalgesellschaften wie Komman-ditgesellschaften (KG) und Offene Handelsgesellschaften (OHG) einbezogen. Im Hinblick auf dieGewinnentwicklung der Konzeme - in der Regel Aktiengesellschaften - ist diese Statistik wenigeraussageftihig als die frühere AG/GmbH-Statistik. Allerdings lassen sich jetzt zumindest grobe Anga-ben zur Gewinnentwicklung der Großbetriebe machen.

Problematisch ist die Nettogewinnermittlung bei Kapitalgesellschaften: Das Statistische Bundesamtweist in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR 3.4.3.20) "Einkommen- und Vermögens-steuem von Kapitalgesellschaften" aus. Doch dieser Betrag bezieht sich nur aufdie Kapitalgesellschaf-ten im engeren Sinne - AG und GmbH. Die Quasi-Kapitalgesellschaften - KG,OHG - unterliegen alsPersonengesellschaften nicht der Gewinnsteuer. Steuerpflichtig sind hier die einzelnen Gesellschaftermit den auf sie entfallenden Gewinnanteilen.

20il:r Gewinn- und Vermögenseinkommen:

+ 1,5 % (bruttolr Gewinne Kopitolgesellschoften: +2,O %r Netto-Profite Dox-3O-Konzerne +1,8 %

Operotiver Gewinn. +7,5 %r Dox-Dividendenz +6,2 %

Unternehmens, und Gewinne de,r

ra p i tai g eid lsrhaft eri-Vermiigenseinkommen

* Kop.Ge s. i.w. 3 (AO, OmbH): Q@i Kop.6es. (OHO KA)

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32 isw-wirtschaftsinfo 46

Page 35: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

"Gewinnmaschine Deutschland" (Handelsblatt)Von Quartal zu Quartal revidierten die Analysten im vergangenen Jahr ihre Gewinnprogno-sen nach oben. Mitte des Jahres stand fest: 2011 wird für die Kapitalgesellschaften (i.w.S. -siehe oben) ein sehr gutes Jahr, vermutlich das zweitbeste in der Geschichte der Bundesre-publik. Die Gewinne der Kapitalgesellschaften stiegen auf über eine halbe Billion Euro - imJahr 2000 waren es erst 307 Milliarden Euro (mit 513 Milliarden Euro liegt der Gewinnzwar um 7 Milliarden Euro niedriger als 2006, doch werden die Zahlen im Nachgangmeistens nach oben korrigiert).Die Dax-3O-Konzerne hatten bereits im Vorjahr um 108 oÄ nryelegl und besserten 2011 umknapp zwei Prozent nach: 60,9 Milliarden Euro Nachsteuer-Gewinn. Noch besser fiel dasVorsteuer-Ergebnis aus: 104 Milliarden Euro operativer Gewinn (EBIT : Eaming BeforeInterest and Taxes = Gewinn vor Zinsen und Steuern) der 30 Konzeme, das ist Rekord in derGeschichte des Dax. Auch der aggregierte Umsatz ist mit knapp 1,2 Billionen Euro (1,19)ein Rekordwert. "Gewinnmaschine Deutschland" war ein Aufmacher des 'Handelsblatts' voreinigen Monaten. Das Blatt zeigte a:uf, dass eine Reihe von Dax-Konzernen profitabler istals ihre weltweiten Wettbewerber. Die Umsatzrendite bei den 50 größten deutschen Konzer-nen betrug im abgelaufenen Geschäftsjahr 4,8 %o - das ist Weltspitze. Bei den Dax-3O-Kon-zemen blieben bei jedem Euro Umsatz sogar 5,4 % Reingewinn übrig. Das Erfolgsgeheim-nis: "aggressives Kostenmanagement und boomende Exportmärkte". Als dritter Punkt wärendie niedrigen Lohnabschlüsse der vergangenen Jahre hinzsntfügen. Marc Tüngler, der Ge-schäftsflihrer der Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz: "Die deutschen Untemehmenhaben ihre Kostenstrukturen stark optimiert, was nun bei anziehender Nachfrage überpro-portional im Ergebnis und bei den Margen durchschlägl." (zit. nach IIB, 26.7.11). 2010summierten sich die Einspar-Programme allein der Dax-3O-Konzeme auf 30 MilliardenEuro - fast die Hälfte ihrer Netto-Gewinne.

VW: Größter Profitrenner aller Zeiten

Und profitiert und profitiert und profitiert... lm vergangenen Geschäftsjahr schaltete der VW-Kon-zern den Rendite-Turbo ein und raste zum größten ProfitallerZeiten: 15,8 Milliarden Euro Netto-profit (nach Steuern), mehr als doppelt soviel wie im Jahr davor mit 7,2 Milliarden Euro (+ 119 o/o).

Soviel hat bisher noch nie ein Dax-Konzern in dem viertel Jahrhundert seit Bestehen des Aktienin-dex erzielt. Weit abgeschlagen im Dax-Profit-Ranking der letäen Jahrzehnte folgen Siemens alszweiter mit 8,9 Milliarden Euro (im Jahr 2000), Allianz 8,7 (2007), Eon 8,6 (2009). Das VW-Ergeb-nis enthält einige Sondereffekte, aber selbst im operativen Geschäft kam der Konzern auf einenNettogewinn von 11,3 Milliarden Euro. Außerdem: Profit ist Profit, egal wie er zustande kam.

'Angesichts der heute veröffentlichten Zahlen, liegen wir mit unserer Tarifforderung genau richtig",erklärte VW-Betriebsratschef Bernd Osterloh; "eigentlich zu niedrig", hätte er hinzufügen müssen.Denn, rechnet man die 15,8 Milliarden Gewinn auf die VW-Belegschaft von weltweit 502.000 Be-schäftigten (einschließlich MAN) um, dann hat jeder von ihnen dem Konzern einen Nettoprofit von32.000 Euro erarbeitet - vor Steuern sind es noch mehr. Die volle Durchsetzung der 6,5%-Forde-rung aber bringt jedem der 95.000 lnlandsbeschäftigten nur einen Bruttolohnzuwachs von etwa3000 Euro im Durchschnitt. Zwar werden ein paar Tausender in den nächsten Wochen als Prä-mien pro Beschäftigten ausgeschüttet, doch werden diese Sonderzahlungen nicht tarifwirksam,hängen vom Gutdünken der Konzernleitung ab. Diese erhofft sich dabei zudem, dass mit denPrämienzahlungen die Kampfbereitschaft für die eigentlichen Tarifuerhandlungen gedämpft wird.

Der VW-Konzern mit seinen 95.000 Beschäftigten in Deutschland ist ein eigenes Tarifgebiet derlG Metall. Die Tarifrunde findet jedoch dieses Jahr fast gleichlaufend mit der übrigen Tarifrunde inder Metall- und Elektroindustrie statt. Auch die Forderung ist mit 6,5 % die gleiche. Währendjedoch um die Durchsetzung der Tarifforderung für die Beschäftigten noch hart gerungen werdenmuss, ist den VW-Aktionären, die keinen Handstreich zur Erarbeitung des Gewinns beigetragenhaben, eine saftige Erhöhung ihrer Dividende bereits signalisiert: Plus 36 %, bis zur Hauptver-sammlung könnte es sogar noch mehr werden. Und VW-Boss Martin Winterkorn, der mit 9,33Millionen Euro bereits 2010 um 41 ,4 o/o mehr einschob und bestbezahlter Vorstandschef einesDax-Konzerns war, legte 2011 bei seiner persönlichen Gehaltsrunde nochmal 78 % drauf undgönnte sich Bezüge von 16,6 Millionen Euro.

Die 6,5 % Lohnzuwachs bei den VW-Beschäftigten, könnte der Konzernvorstand locker aus derWestentasche finanzieren: Sie machen ganze 300 Millionen Euro aus; der Konzerngewinn istmehr als fünfzig mal so hoch. Rein theoretisch könnte VW mit seinem 15,8 Milliarden Nettogewinndie gesamte Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie voll finanzieren, auf Euro und Cent bis zurletäen Stelle hinter dem Komma. Laut Gesamtmetallmetall-Präsident Kannegeiesser kostet einProzentpunkt Lohnerhöhung die Metall- und Elektrobetriebe insgesamt 1,9 Milliarden mehr. Bei

6,S-Prozentpunkten wären das 12,35 Milliarden Euro. Plus 0,3 Milliarden für die VW-Beschäftigtenmacht dann insgesamt 12,66 Milliarden Euro aus. Blieben immer noch mehr als drei MilliardenNettogewinn übrig, gar nicht zu reden von den 17 Milliarden liquiden Mitteln, mit denen VW nichtweiß wohin damit und sie deshalb zur Geldvermehrung auf den Finanzmärkten einsetzt.

Gar nicht zu reden von den ebenfalls üppigen Profiten der übrigen Autokonzerne: BMW 5,'t

Milliarden Euro netto, Daimler 5,66 Milliarden Euro.

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Page 36: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Unter den Rekordgewinnem flrnden sich vorrangig die Globalisierungsgewinner. Durch-schnittlich erwirtschaften die 30 Dax-Konzerne zwei Drittel ihres Umsatzes im Ausland. BeiSiemens sind es fast 80 %.yW beispielsweise verkaufte im abgelaufenen Jahr mehr als einViertel seiner Autos in China.

Elf Konzerne erzielten das höchste Profitergebnis ihrer Firmengeschichte, allen voran derVW-Konzerne mit dem höchsten Ergebnis, das je ein Konzem in der Geschichte der Bun-desrepublik erzielte:15,8 Milliarden Profit, nach Steuem (siehe Kasten, Seite 33).

Die Dax-Konzerne haben nicht nur satte Gewinne erzielt, sondern strotzen weiterhin vorLiquidität: 76,7 }l4llliarden flüssige Mittel berechnete Ernst&Young.

Satte Gewinne - kaum Jobs: Auf diese einfache Formel lässt sich der Rückblick auf dasGeschäftsjahr 20ll bringen. Die ZahI der Mitarbeiter der Dax-Konzerne stieg weltweitgerade mal um 1,3 %. (Emst&Young, "Entwicklung der Dax-30-Untemehmen Geschäfts-jahr 201l"). 13 der Dax-Konzerne verkleinerten die Belegschaften. Insgesamt waren in den30 Konzernen 3,69 Millionen Mitarbeiter beschäftigt.

Prufit:ßunami und DividendenhergqAussdrütfungsiahrtjareils tirs Vnrjahr)

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Quelle: Foctset / Ernst & YoungQuelle: Bloomberg / ob 2007 Ernst & Young

Dividenden-Füllhorn:Telekom schüttet am meisten aus

Zur gleichen Zeit, in der die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst, bei der DeutschenTelekom und in der Metall- und Elektroindustrie um bescheidene 6,5 oÄ mehr Lohn undGehalt kämpfen müssen, werden die Aktionäre mit saftigen saftige Dividenden überschüttet.Und wofi.ir? Fürs "Aktienhalten", was der englische Begriff frir Aktionär, "Shareholder",wörtlich übersetzt bedeutet. Fürs Coupon abschneiden hieß es früher. Zu der üppigen Profi-ten der Konzerne haben sie jedenfalls keinen Handstrich beigetragen, diese wurden allesamtvon den Kolleglnnen erarbeitet.

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Nach ersten Berechnungen wollen die Dax-30-Konzeme im Frtihjahr 2012 insgesamt gut27Milliarden Euro frir das Geschäftsjahr 20ll ausschütten. Etwa zehnProzent mehr als imVorjahr. Der zweitüppigste Dividenden-Geldregen in der Geschichte des Dax.

Mit gut 3 Milliarden Euro schüttet die Deutsche Telekom wieder am meisten von allenDax-Unternehmen aus, fast sechsmal so viel wie der Gewinn nach Steuern beträgt: 557Millionen Euro. 2,5 Milliarden fi.ir die Aktionäre werden also aus der Substanz des Unter-nehmens bezahlt. Für nachhaltige Investitionen und Zukunftssicherung der Arbeitsplätzebleibt da kaum noch Geld über. Für die 6,5 Yomehr Lohn für die 85.000 tariflich Beschäftig-ten der Telekom aber ist angeblich kein Geld da. Satte Dividenden an die Aktionäre, diediesen am 24. Mai überwiesen werden und Nullangebot an die Beschäftigten, das ist "eineProvokation", sagte Lothar Schröder vom Ver.di-Bundesvorstand und stellvertretender Auf-sichtsratsvorsitzender. Die Verwirklichung der 6,5 oÄ-Forderung würde schlappe 240 Millio-nen Euro kosten - 8 %o der Dividenden-Ausschüthrng der Telekom. "Mit dem Geld an dieAktionäre könnte die Telekom die Lohnerhöhung der nächsten 15 Jahre bestreiten", rechnetVer.di-Tarifexperte Michael Halberstadt vor.

Weitere fünf Dax-Untemehmen - MunichRe, MAN, Eon, Thyssen-Krupp und Lufthansa -schütten ebenfalls mehr aus, als sie verdient haben.

Auch die Dividendenrendite der Dax-Werte kann sich sehen lassen, also die Dividende insVerhältnis gesetzt zum Aktienkurs. Sie beläuft sich im Durchschnitt der Dax-Werte auf3,7 oÄ. Zum Vergleich: Zelnjäbrige Bundesanleihen rentieren nur mit 1,85 Yo. Spitzenreiterwiederum die Deutsche Telekom mit einer Dividendenrendite von 8,1 %. Mit großem Ab-stand folgen die anderen Werte: Deutsche Börse 6,9 oÄ,Eon 5,9 oÄ,Munich Re 5,8 %, RWE5,7 %o,Dettsche Post, Metro, Allianz je 5,lYo,Daimler 4,8oÄ, Siemens 4,0 oZ.

Während die Arbeitnehmer in den vergangenen zehn Jahren pro Person einen Reallohnver-lust von 4,9 Yo hinnehmen mussten, erhöhten sich die Dividenden der Dax-30-Konzerne inden letzten zehn Jahren um 87 Prozent! (Handelsblatt,l5.2.20l2). Selbst wenn man denPersonalaufuand (Lohn/Gehalt, Altersvorsorge, soziale Abgaben) der Dax-Konzeme zurnVergleich hernimmt, so erhöhte sich dieser in den letzten zehn Jahren nur um zwölf Prozent.Die Inflation stieg in diesem Zeitraum um knapp 16Prozent. Also auch bei den Dax-Beleg-schaften Reallohnverlust.

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Unternehmens- und Staatsinvestitionen

DefinitionInvestition = Einsatz von Geldkapital zur Erhaltung (Ersatz-I), Vergrößerung (Erweiterungs-I) oderUmgestaltung (Rationalisierungs-I) der Produktionsanlagen. In der VGR wird nach Ausrüstungs-(Maschinen, Geräte, Fahrzeuge) und Bauinvestitionen unterschieden.

Direktinvestitionen sind Kapitalanlagen von Inländern im Ausland (engl. FDI outflows) bzrv. vonAusländem im Inland (FDI inflows).

MethodikDas Statistische Bundesamt weist Ausrüstungs- und Bauinvestitionen gesondert aus und weist sie dannzusammengefasst unter Bruttoanlageinvestitionen (der Unternehmen) und Bruttoanlageinvestitionen(des Staates) aus. In der VGR-Größe "Staatskonsum" sind die staatlichen Investitionen mit enthalten.

20ll:r Unternehmensinvestitionen: +6,5 %r Stootsinvestitionen: -O,4 %

lnvestitionszyklus läuft aus

Die Untemehmensinvestitionen nahmen im vergangenen Jahr real um 6,5 Yo nt, die Investi-tionen in Maschinen und andere Ausrüstungen (Fahrzeuge, Geräte) sogar um 8,3 oÄ. DieInvestitionen trugen damit einen Prozentpunkl zum BlP-Wachstum bei. Doch von Quartalzu Quartal schwächte sich der Investitionsboom ab, im vierten Quartal stagnierten dieAusrüstungsinvestitionen auf dem Niveau des Vorquartals. Lediglich die Bauinvestitionennahmen gegenüber dem Vorquartal um 1,9 Yoleichtzu. Insgesamt liegen die Bruttoanlagein-vestitionen noch um einen Prozentpunkt unter dem Niveau von 2008, dem bisherigenHöchststand.

Ausblick 2012

Der Nachholbedarf nach dem Kriseneinbruch 2009 dürfte sich bei den Investitionen fürserste erschöpft haben. Mit der Rezession in den Euroländem, den rückläufigen Exporten istvorerst kein weiterer Investitionsbedarf gegeben. Die Bruttoanlageinvestitionen werden imlaufenden Jahr keinen nennenswerten Wachstumsbeitrag leisten. Die Bundesregierung ta-xiert in ihrem Jahreswirtschaftsbericht die Bruttoanlageinvestitionen mit einem Zuwachsvon 1,5 0Ä,was u.E. zu hoch gegriffen ist.

Die Staatsinvestitionen gingen abermals zurück, real um minus 0,4 0Z gegenüber demVorjahr. Preisbereinigt sind sie um fast sechs Prozentpunkte niedriger als zu Beginn desJahrhunderts in den Jahren 2000 bis 2002.

"Das Ausmaß öffentlicher Investitionen in Deutschland ist im letzten Jahrzehnt auf einRekordtief gefallen", schreibt Gert G. Wagner, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). "In den siebziger Jahren gab die öffentliche Hand -gemessen an der Wirtschaftsleistung - fast dreimal so viel fi.ir Investitionen aus wie heute"(s2,5.12.2011).

Kommunen: Kein Geld für Energiewende

Vor allem den Kommunen, deren Investitionen im Rahmen des Konjunkturprogramms derBundesregierung in den Jahren 2010 und 2011 angestiegen waren, fallen wieder auf dieniedrigen Investitionsstände der Vorjahre. Nach der Prognose von Städtetag und Landkreis-tag gehen die kommunalen Sachinvestitionen 2012 um 12,4 o/o - von 23,25 auf 20,35Milliarden Euro - zurück. Und das bei wachsenden Bedarf fitu: kommunale Infrastruktur.Zum Vergleich: Allein die beiden Autokonzerne VW und BMW verfügen über einen Netto-gewinn (15,8 + 5,1 Milliarden Euro) der höher ist, als die Investitionsmittel, die über 11.000Gemeinden (darunter über 2000 Städte) für Stadtsanierung, Kanal- und Straßenbau, Schul-bau, Schwimmbäder und andere kommunale Einrichtungen zur Verfrigung haben.

Dabei müssten und könnten die Städte und Gemeinden mit den Stadtwerken im Rahmen derEnergiewende eine zentrale Rolle spielen. Der Münchner OB und Städtetag-Präsident Chris-tian Ude: "Wenn die Energiewende gelingen soll, müssen die Kommunen und ihre Unter-

Kapazitälsauslastungim Verarbeitenden Gewerbe

in Prozent derbetrieblichen Vollauslastung

2002 82,1 %

2003 82,0%

2004 83.3 %

2005 83,1 %

2006 86,1 0/o

2007 87,3 0/o

2008 86,2yo

2009 73.3 Yo

2010 80,3 %

2011 85,4 Yo

2010 Januar

April

Juli

Oktober

2011 Januar

April

Juli

Oktober

t rolrlt Jil; l

Vierteljahreswerte

2006 Januar 84,8 o/o

April 85,8 %

Juli 86,8 %

Oktober 87,0 to

2007 Januar 87,4 0/o

April 88,2Yo

Juli 87,0%

Oktober 86,7 0/o

2008 Januar 87,20/o

April 87,3%

Juli 86,0 %

Oktober 84,1 0/o

2009 Januar 76,7 0/o

April 71,3 %

Juli 71,9 %

Oktober

36 isw-wirtschaftsinfo 46

Page 39: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

nehmen dabei eine zentrale Rolle spielen: als Planungsträger fi.ir die Ansiedlung von Anla-gen der erneuerbaren Energien, als Eigentümer von rund 176.000 Gebäuden, als Versorgerflir Strom und Wärme, als größter öffentlicher Auftraggeber und als Vorbild ftir die Bürge-rinnen und Bürger sowie die Wirtschaft. Ohne wirksame Maßnahmen zur Energieeinspa-rung können die Klimaschutzziele der Bundesregierung nicht erreicht werden". Allein dieGebäudesanierung könnte einen wichtigen Beitrag zur Energieeinsparung leisten und zu-gleich einen Impuls gegen die drohende Rezession bedeuten. Hinzu kommt die Umstellungder Stromerzeugung mit einer Bedeutungszunahme der Stadtwerke: Durch sie ist am besteneine dezentrale Kraft-Wärme-Koppelung bei weitgehender Vermeidung von W?irmemüllmöglich, in Kombination mit dem Ausbau regenerativer Energiequellen. Ein solches Pro-gramm zum energetisch-ökologischen Umbau würde sehr viele Arbeitsplätze sichem undneu schaffen. Aber es ist aus den chronisch knappen Finanzquellen der Kommunen nicht zurealisieren. Es bedarf einer großzügigen staatlichen Förderung.

Direktinvestitionen auf dem Vormarsch

Der Exportwalze aus Deutschland folgt jetä eine Offensive der Direktinvestitionen. Im Jahr2010 nahmen die deutschen Direktinvestitionen im Ausland um über ein Drittel (34,6 %) zu.

Firmen aus Deutschland realisierten damit nach den USA die zweithöchsten Direktinvesti-tionen. Die UNCTAD geht davon aus, dass dieser Trend im Jahr 2011 anhielt. Die Firmenverwendeten damit einen Großteil ihrer Exporterlöse, um jetzt direkt im Ausland Fabrikenzu errichten bzw. zu übernehmen. Zunehmend sind dabei die Direktinvestitionen in denSchwellenländern, allen voran China. Darinzeig! sich auch das neue Muster der Globalisie-rung. Während Schwellenländer früher als billige Produktionsstandorte für den eigenen oderWeltmarkt dienten, werden dort mittlerweile Produktionsstätten für die Erschließung des

dortigen Absatzmarktes errichtet. Damit gerät längerfristig auch die deutsche Exportindus-trie in Gefahr.

Direkt-lnvestitionen (DI)2010 in Mrd. Dollar; % gegenüber dem Vorjahr

Deutschland

Frankreich

Italien

Niederlande

Spanien

Schweden

Großbritannien

USA

Japan

China

Russland

(Dl im Ausland) Abf!üsse

105+35%

84 -18%

5§r,{l-25%

+ 19 o/o

+ lBYo

-55% 9

(- 16,1 Mrd.)

+ 177 o/o 25

21 -0o/o

32 + 18 o/o

22 + 11Oo

39 + 4y.

isw-wirtschaftsinfo 46 37

Page 40: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Lohnsteuer, Gewinn- und Kapitalsteuern, Steuerbelastung

DefinitionWir konzentrieren uns hier im wesentlichen auf die Steuem vom Einkommen, Ertrag und Vermögen(Kapital). Dazt zählen Die Lohnsteuer vom Einkommen der Arbeitnehmer. Auf der Kapitalseite:Veranlagte Einkommensteuer (: Steuer vom Gewinn der Selbständigen), Körperschaftsteuer (Steuervom Gewinn der Kapitalgesellschaften), Gewerbesteuer (Gewerbesteuer ist eine Objektsteuer, dieheute nur noch als Gewerbeertragsteuer : Steuer auf den Ertrag eines Gewerbebetriebes, erhobenwird), Kapitalertragsteuer = Steuer auf Einkünfte aus Kapitalvermögen: Nicht veranlagte Steuern vomErtrag und Zinsabschlagsteuer (ab 1 .1.2009: Abgeltungsteuer).

20ll:r Steueroufkommen gesomt +7,7 %r Verbroucher und Lohnsteuerzohler

Goldesel des Fiskus

Die Steuereinnahmen erreichten 2011 mit 571 Milliarden Euro wieder das Vorkrisenniveauund übertrafen es sogar leicht: 2008: 561 Milliarden Euro.

Die Gewinnsteuem lagen trotz Gewinnexplosionen um 5 Prozent oder 6 Milliarden Euronoch unter dem Vorkrisenjahr 2008. Vor allem die Körperschaftsteuer, also die Steuer, dieKapitalgesellschaften (Aktiengesellschaften und GmbHs) bezahlen müssen gerät immermehr zu einer Bagatellsteuer. Sie trägt gerade toch2,7 %o zum Gesamtsteueraufkommen beiund ist mit 15,6 Milliarden kaum höher als die Tabaksteuer: 14,4 Milliarden Euro. Ginge es

mit rechten Dingen zu, hätten allein die Dax-30-Konzerne mit iken Superprofiten von 104Milliarden brutto, diese 15 Milliarden aufzubringen. Doch diese Transnationalen Konzernelassen ihre Gewinne buchhalterisch in erster Linie dort entstehen, wo sie die niedrigstenSteuern bezahlen müssen. Zugleich wird deutlich, wie sich die permanenten Steuersenkun-gen zugunsten der Konzeme in zig-Milliarden an Zusatzproffien niederschlagen.

Bei 100 Milliarden Euro Profit werden heute I 5 %o, also 1 5 Milliarden an Körperschaftsteuerfüllig. Vor 12 Jahren wären es noch 40 Milliarden gewesen und weitere 12 Jahre fi:üher nochetwa 53 Milliarden (1989 galt noch ein Körperschaftsteuersatz von 56 % für einbehalteneund 50 0/o für ausgeschüttete Gewinne).

Der Anteil der Gewinnsteuern am gesamten Steueraufkommen lag 2011 bei laapp 20 %(19,7 %).Ihr Anteil lag 1980 noch bei 25 %.Die "Massensteuem" Lohnsteuer, Umsatz- undVerbrauchsteuem, Energiesteuer (Mineralö1-Steuer) tragen 71 oÄ zum Steueraufkommenbei. 1980 waren das 62 oÄ.

Nach Berechnungen von Professor Jarass war die tatsächlich bezahlte Steuer- und Abgaben-belastung von Arbeitsentgelten im Jahr 1970 mit 35 % geringfügig höher als die tatsächlichbezahlte Belastung von Unternehmens- und Vermögenseinkommen mit rund 30 %. Bis2010 öffnete sich die Schere deutlich: Die Belastung von Arbeitsentgelten erhöhte sich auf45 %; die Belastung der Unternehmens- und Vermögenseinkommen wurde auf nur noch gut

Entwicklung der Gewinnsteuernin Mrd. Euro

Körperschaftsteuer

Veranlagte Einkommensteuer

Nicht veranlagte Steuer vom Ertrag

Abgeltungssteuer (Zins- u. Vermögenserträge)

Gewerbesteuer

2008 200s 2010 2011

15,9 7,2 10,2 15,6

32,7 26,4 31,2 32,0

16,5 12,5 13,0 18,0

13,5 12,4 8,7 8,2

41 ,0 32,4 35,7 39,9*

Gesamt _in,cÄ des Gdeäintsteuer€ufkommeäs

1'19;6 90;9 97.8: 113,7,,:.

21,3 17,3 18,4 19,9

isw-grofik mz Qleller Bundesfinonzministerium * Prognose AK Steue6chäuung

38 isw-wirtschaftsinfo 46

Page 41: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

20 Yo abgesenkl. "Sie liegt deutlich unter dem EU-Durchschnitt und ist weit niedriger als inanderen größeren EU-Staaten (2.B. Italien und Großbritannien 39 oÄ,Frankreich 36 %, Spa-nien und Österreich 27 yo).' (DGB-Gegenblende, Mdrz/ Apil 20 l2).

Steuersenkungen ohne Ende für Konzerne und Reiche

Wie wir bereits in wirtschaftsinfo 44 "Bilanz 2010 - Ausblick 2011" aufgezeigt haben,übertrafen sich die Regierungen Rot-Grün, Große Koalition und Schwarz-Gelb in der erstenDekade des neuen Jahrhunderts mit Steuergeschenken fiir Konzerne und Reiche. Es wareine zweite - nach der Primärverteilung - Verteilungsrunde von unten nach oben: diefiskalpolitische oder öffentliche Umverteilung. Im Ablauf dieser Verteilungsrunde spiegeltsich die zunehmend neoliberale Angebotsorientierung wider. Im Steuerwettlauf mit anderenStaaten und unter der Losung "intemationale Konkurrenzfühigkeit" wurden Gewinn- undVermögensteuem gekappt; der Anteil der Massensteuern, vor allem der Umsatz- und Ver-brauchsteuem dagegen stieg:

Mehrfache Senkung des Spitzensteuersatzes, mehrfache Senkung der Körperschaftsteuer,Wegfall der Gewerbekapitalsteuer, steuerliche Begünstigung der Kapital- und Zinserträgedurch die Abgeltungsteuer, Vergünstigungen bei der Erbschaftsteuer, Wegfall der Vermö-gensteuer (bereits 1998 unter der Kohl-Regierung). Addiert man alle Steuervergünstigungenfrir Spitzenverdiener, Reiche und Kapital zusammen, dann kommt man auf gut 50 Milliar-den Euro pro Jahr, die dem Fiskus bei den Kapital- und Gewinnsteuem verloren gehen.(vgl.Wirtschaftsinfo 44, "Bilarlz 2010", S. 39).

Die Einftihrung der Abgeltungsteuer im Jahr 2009 ließ die Steuereinkünfte aus Zinserträ-gen um über vier Milliarden Euro pro Jahr sinken.

Mit den Vergünstigungen bei der Erbschaftsteuer ging das Aufkommen kontinuierlich Jahrfi.ir Jahr zurück. Es liegt 2011 um mehr als eine halbe Milliarde (ll %) unter dem desRekordjahres 2008 - trotz gestiegenem Erbschaftsvolumen. "Es gibt ganz viele Gestaltungs-möglichkeiten, um der Erbschaft- und Schenkungsteuer zu entfliehen", räumt Emst&Young-Partner Carl-Josef Husken ein (zit. nach 'Handelsblatt',30.1.12). Etwas mehr als vier Milli-arden Euro erbringt die Erbschaftsteuer, bei geschätzten Erbschaften von über 200 Milliar-den Euro bedeutet das einen Steuersatz von zwei Prozent.

Nicht berücksichtigt ist bei den Steuerausfüllen das gigantische Ausmaß der Steuerhinterzie-hung, des Steuerbetrugs und der Steuerflucht. Jens Beckert, Direktor am Max-Planck-Insti-tut für Gesellschaftsforschung und Christoph Deutschmann, Professor fi.ir Soziologie an derUni Tübingen weisen in ihrem Artikel "Es gibt zu viel Vermögen" (Handelsblatt,15.l2.ll)darauf hin, dass der Trend zur Staatsverschuldung auch darauf zurückgeht, "dass die staatli-che Steuerbasis systematisch untergraben wurde. Durch die Senkungen der Kapital- undVermögensteuem sowie der Spitzensteuersätze bei der Einkommensteuer und die jahrzehnte-lang tolerierte Steuerhinterziehung der Reichen wurden die Staaten in die Schuldenfallegetrieben. Schon im Jabr 2003 schätzte Dieter Ondracek, der damalige Vorsitzende der Deut-schen Steuergewerkschaft, den Umfang der Steuerhinterziehung in Deutschland auf 60 - 70Milliarden Euro; erst recht waren Länder wie Griechenland und Italien nie in der Lage, ihreEliten angemessen zu besteuern".

Ausblick 2012

Zum Teil öffnet der Fiskus den Reichen und Konzemen selbst die Löcher zur legalen"Steuerhinterziehung". So z.B. mit der Regelung des Verlustvortrages, mit dem die FirmenVerluste vergangener Jahre mit Gewinnen der Gegenwart oder Zukunft verrechnen unddadurch Steuem sparen können. Diese Verlustvorträge sind inzwischen zu einer Höhe von850 Milliarden Euro aufgelaufen. Jedes Jahr kommen etwa 50 Milliarden dazu. "Könntendie Untemehmen ihre Verluste auf einmal steuerlich geltend machen, hätten Bund, Länderund Gemeinden rund 200 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen", schreibt die 'Wirt-schaftswoche' (14.1 1.201 1).

2 Milliarden Entlastung für Unternehmen: In einem Zwölf-Punkte-Programm will dieschwarz-gelbe Koalition die Besteuerung von Unternehmen "modernisieren". Kempunkt isteine neue Gruppenbesteuenrng, die die Verrechnung von Verlusten in Konzemen gegenüberdem bisherigen Verfahren erleichtem soll. Die Reform soll zu einer Steuerentlastung voneiner Milliarde Euro in 2016 und zwei Milliarden jährlich ab 2017 fi.ihren (vgl. 'FinancialTimes Deutschland', | 5.2.2012).

Angeblich plant die Bundesregierung "Steuerentlastungen fiir mittlere und untere Einkom-men" durch Milderung der so genannten "kalten Progression". Sie sind als Wahlspeckgedacht, denn sie sollen im Wahljahr 2013 und in einer zweiten Stufe 2014 gültig werden.Der Grundfreibetrag soll auf 8.354 erhöht und der gesamte Steuertarif um 4,4 Prozent inRichtung höherer Steuem verschoben werden. Auf 104.400 Euro sollen dann so viel Steuemanfallen wie heute auf 100.000 Euro. Dadurch würden Steuerpflichtige um maximal 359Euro im Jahr entlastet. Geringverdiener hätten am wenigsten bzw. gar nichts davon. 28 Pro-

isw-wirtschafrsinfo 46 39

Page 42: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

zent der Beschäftigten zahlen überhaupt keine Lohnsteuer, weil ihr Verdienst zu niedrig ist.Sie haben von Lohnsteuersenkungen überhaupt nichts. Die meisten Beschäftigten hättenzehn bis zwanzigEuro mehr netto im Monat. Gutverdiener etwa 30 Euro. Das Gesetz würdezu Steuerausftillen von über sechs Milliarden Euro jährlich flihren. Angesichts der Staatsver-schuldung und Schuldenbremse ein Humbug.Kommt hinzu, dass auch wegen drohender Rezession oder Stagnation der wirtschaftlichenEntwicklung mit Steuerausftillen zu rechnen ist. Erstmals seit l7 Monaten sanken im Januar2012 die Steuereinnahmen von Bund und Ländern wieder. Ein Prozent Wachstumsverlustbeim BIP flihrt zu einem Steuerausfall von ebenfalls etwa einem Prozent, etwa 6 MilliardenEuro. Die vom Arbeitskreis Steuerschätzung angepeilten höheren Steuereinnahmen von 20Milliarden Euro (2011:571,2 Milliarden; 2012:592,0 Milliarden) dürften mitnichten er-reicht werden. Bereits im vierten Quartal 2011 gingen die Steuereinnahmen spürbar zurück.

Deutschland unter EU-Steuerniveau

Ver.di-Chef Frank Bsirske fordert eine stärkere Besteuerung der Kapital und Untemehmens-gewinne: "Würde Deutschland den durchschnittlichen EU-Steuersatz verlangen, hätten wirjedes Jahr 70 bis 85 Milliarden an Mehreinnahmen." (zit. nach 5Z,,7.2.12).

In der Tat: Deutschland liegt bei der Besteuerung von Kapital (Gewinne, Zins- und Dividen-deneinkommen und Einkommen aus Vermietung und Verpachtung) weit unter dem EU-Durchschnitt (siehe Tabelle). Bei Steuern auf Vermögen hat Deutschland unter den OECD-Ländern das zweitniedrigste Belastungsniveau. Das Aufkommen entspricht etwa 0,8 0% desBIP - in anderen großen Industrieländern wie USA, Großbritannien, Frankreich, ... ist es

vier- bis fi.infmal so hoch (siehe Tabelle, isw-wirtschaftsinfo 44, S. 41).

Der Steuerbelastung von deutschen Kapitalgesellschaften weist die OECD im EU-Rahmenden untersten Rang zu. Während die Belastung im Durchschnitt der EUl5-Länder 3,4 oÄ desBIP entsprach, ist sie in Deutschland gerade mal halb so groß: 1,7 Yo. Allein das entsprichteinem Steuerausfall von über 40 Milliarden Euro.

Steuer- und AbgabenquoteSteuern und Abgaben in Prozent des BIP 2010

45,8 0/o

m

Im

trffin

Sozial-beiträge

Lohnsummen-steuern u.a.

Verbrauch-steuern

Steuern aufEigentum

Einkommen-und Gewinn-steuern

Hätte Deutschland die Steuer- und Abgabenquote von Schweden, würde es üer 200 Miiliarden Euro mehr ötfentlicheEinnahmen pro Jahr verfügen.

Quelle: OECD Revenue Stolhtics, 201 I isw-grcIik mz

Schweden ltalien Frankreich Deutschland Großbritan. USA

40 isw-wirtschaftsinfo 46

Page 43: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Steueraufkommen in 7o des BIP

tui6d' Eüi]fEu-r.z-t--------lEs,4_-.]|El.".r.* Jrq,

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Spitzensatz Einkommensteuer*in o/",2000 und 201 1

2000 201',l Differenz

EU27 44,7 37,',| .7,6%

ER17 47,1 41,8 - 5,3 0/o

Belqien 60,6 53,7 -6,9%

Dänemark 59,7 51,5 - 8,2Yo

Deutschland*' 53,8 47,5 - 6,3 Yo

lrland 44,O 41,0 -3,0%Griechenland 45,0 45,0 o,o%

Soanien 48,0 45,0 -3,0%Frankreich 59,0 46,7 12,3 o/o

Italien 45,9 45,6 - 0,3 o/o

Niederlande 60,0 52,0 - 8.0 Yo

Östereich 50,0 50,0 0,0 %

Polen 40,0 32,0 -8.0%Portuoal 40,0 46,5 +6,5%

Finnland 54,0 49,2 -4,8%

Schweden 51,5 56,4 + 4,9 o/o

Großbritann. 40,0 50,0 + 10,0 o/o

- fällig bei unterschiedlichen Einkommenshöhen:z.B. Deutschland ab 53.000: 42 % + 2,3 % Solizuschlag;Frankreich ab 70.000; Schweden ab 60.500; Belgienab 34.000; Niederlande ab 54.000; Großbritannien ab'179.000; Griechenland ab 100.000; Spanien ab 175.000;Italien ab 74.000; Polen ab 21.000*. Deutschland: inklusive Solidaritätszuschlag(Normalsatz 45 Yo + 2,5 o/o Solizuschlag) ouele: Eurosior

2000 2011 Differenz

EU27 31.9 23.2 - 8.7 o/"

ERIT 34,4 25,5 - 8,9 0/o

Belqian 40,2 34,O - 6,2 o/o

Dänemark 32,0 25,0 -7,00/o

Deutschland'. 51,6 29,8 - 21,8 Yo

lrland 24,0 12,5 11,5 0/o

Griechenland 40,0 23,0 17,0 0Ä

Spanien 35,0 30,0 - 5,0 0Ä

Frankreich 37,8 34,4 - 3.4 Yo

Italien 41,3 31,4 - 9,9 Yo

Niederlande 35,0 25,0 10,0 %

Österreich 34,0 25,0 - 9,0 0/o

Polen 30,0 19,0 11,0 0/o

Portuoal 35,2 29,0 - 6,2 0/o

Finnland 29,0 26,0 -3,0%

Schweden 28,0 26,s 1,7 %

Großbritann. 30,0 27,0 -3,0%

Körperschaft steuersatzin o/o,2000 und 2011

Deutschlandisf Slegerim Steuerwettlaufnach unten

Que le: Eurostor isw-grolik m?

Besteuerung von Kapital und Arbeit in der EUim Jahr 2009 (Auswahl)

KAPlTnL

24,6 o/o

24.7 Yo

ARBEIT

EU 27 32,9 Yo

33,5 %Eurozone

Italien | 42,6 o/o

--1 q's"t

1qty,I +0,+v,

) rc,lv,] aa,a v"

35,5 0/o

35,0 %

1,8%E

i

BelEien

Frankreich

Finnland

österreich

Deutschland

Niederlande

Dänemark

Spanien l325,1 %o

23,1%

Großbritannien

Portuqal

43,8 yo

. lmplizite Steuersätze messen die effektive durchschnittliche Abgabenbelastung der verschiedenen Aften vonEinkommen. Arbeit = Löhne und Gehälter; Kapital = Gewinne, Zins- und Dividendeneinkommen und Einkommenaus Vermietung und Verpachtung; Steuern: Gewinn- und Ertragsteuern, Grund- und Vermögensteuern werdenin vollem Umfang den Erlragsteuern hinzugercchnet. Quel ei Eurostot

39,1 yo

38,9 %

35,6 Yo

33,8 0/o

30,9 %

29,9 0/o

27,2 Yo

22,1 0/o

20,5%

Niederlande 15,4 o/o

isw-wirtschaftsinfo 46 41

Page 44: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Versch u ld u n g Öffentl iche Ha nd, P ro-Kopf-Versch u ld u n g, Zinszahlu n ge n

DefinitionDie gesamte Staatsverschuldung (Verschuldung der ÖffentlichenVerschuldung der Haushalte der Gebietskörperschaften - Bund,Sondervermögen und Fonds (2.B. Fonds "Deutsche Einheit").

Hand) setzt sich zusammen aus derLänder, Gemeinden - und der sog.

20il:. 2.029.47 0.016.000 Eu ro Stootssch u lden

(31.12.2011, 24 Uhr)

Schulden und Sühne(zahlungen)Trotz Sparpaket und Schuldenbremse tickt die Schuldenuhr des Bundes der Steuerzahlerweiter. Sie zeigte in der Silvesternacht 2011 den Stand von 2,03 Billionen Euro (nur Ge-bietskörperschaften; Bund 64 oÄ, Länder 30 o/o, Kommunen 6 oÄ). Jede Sekunde kommen2012 1.335 Euro hinzu. Gemessen am BIP machen die gesamten öffentlichen Schulden(einschließlich "Sondervermögen") etwa 82 oÄ aus. Pro Kopf - ob Kind ob Greis - sind es

fast 25.000 Euro (24.905 Euro).

Es wird in der offiziellen Politik viel von der Belastung künftiger Generationen durch dieöffentlichen Schulden geredet. Verschwiegen wird, welche Generationen von den künftigenSühne-Zahlungen profitieren. Darauf macht der Vorstandsvorsitzende des DIW aufmerk-sam: "Man sollte bedenken, wer von den Staatsschulden überhaupt profitiert: Das sinddiejenigen in den nachwachsenden Generationen, deren Eltern ein Vermögen haben, Zinsenaus Staatsanleihen bekommen und dies alles an ihre Nachkommen vererben. Insofern wer-den bei Kürzungen nur die vermögenslosen Schichten der künftigen Generationen wirklichbelastet. Die Diskussion über Generationengerechtigkeit muss auch die vererbten Ungleich-heiten in den Blick nehmen." (SZ, 5.12.11). Wagner zeigl im übrigen auf, dass "es falsch ist,

leröftntl. tlarshallein Milliarden EuroxrachSÜtuldenuhr tsdst

il-s:ProEinwohr. w@]gffi:@

Kassenkredite der Kommunensteigen und steigen

Kassenkredite sind Darlehen zum Ausgleichku tzf i sti ge r Liq u id itätsschw a n ku ng e n. S i edürfen nur für den VeNaltungshaushalt derKommunen verwendet werden, nicht für denI nvest itito n sh a u shalt.

Quelle: Deutscher Stödtetog ßw-grofik mz

42

Page 45: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Personalim öffentlichen Dienst

Bund550_800

Länder2.356.600

Sonstige605.000

Sozial-kassen385.000

Kommunan1.747.100

auelle:storßrtches Bundesomr ßw-grofi[ m,

den Sozialstaat für die Staatsschulden verantwortlich zu machen, etwa drei Viertel unsererSchulden haben andere lJrsachen" (ebenda). Er verweist aufden sprunghaften Anstieg derSchulden durch die Finanzkrise und die Kosten der Wiedervereinigung. Aber selbst dieZltnahltl,e der Sozialausgaben ist bedingt durch ein Wirtschaftssystem, das keine sicherenArbeitsplätze garantieren kann und eine neoliberale Regierungspolitik, die Konjunktur- undBeschäftigungspakete ausdrücklich ablehnt.

Ztdem gebe es, so Wagner, wie jeder intemationale Vergleich zeige, Spielraum für Steuer-erhöhungen. Es sei über eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes ebenso nachzudenken, wieüber eine ergiebigere Erbschaftsteuer und die Wiedereinführung einer Vermögensteuer.

Auch auf der Ausgabenseite wären durchaus sinnvolle Kürzungen möglich. So z.B. beimWehretat, der trotz Sparpaket um ein Prozent, auf 32 Milliarden Euro steigt - jeder zehnteEuro des Bundeshaushalts wird frir eine Angriffs- und Interventionsarmee ausgegeben. Esist der drittgrößte Etatposten, wobei nochzusätzliche Rüstungsausgaben im Etat AllgemeineFinanzverwaltung versteckt sein dürften. Auch beim Etat des Innenministeriums - 5,5 Milli-arden Euro - gäbe es einiges zu annulieren, insbesondere die ganzen Ausgaben für Überwa-chungsmaßnahmen. Beim Wirtschaftsministerium - 6,1 Milliarden - wären die gesamtenKonzemsubventionen zu streichen.

Bundeshaushalt

Ausgaben und Einnahmenin Milliarden Euro (gerundet)

Einnahmen Ausgaben davon aus Steuern

Nettokreditaufnahme

2011

306 306

256/ 252

erwarteteslst

228 226

lst lst

in Milliarden Euro

System ische Verknü pfu ngzwischen Banken und ZentralstaatEchtes Geld brächte vor allem die Umschuldung der gesamten Staatsschulden. Insgesamt60,1 Milliarden Euro anZinsert waren fiir die öffentlichen Schulden im Jahr 2011 füllig, 40Milliarden hatte allein der Bund zu zahlen - der zweitgrößte Etatposten im Bundeshaushalt.Das entspricht einem Zinssatz von etwa 2,8 %. Würde die EZB nicht den Banken, sondernstattdessen an die Staaten Billionen-Kredite zu einem Zinssatz von weniger als einem Pro-zent vergeben, ließen sich allein bei den Zinszahlungen für deutsche Staatsschulden etwa 40Milliarden Euro einsparen. So aber ist die zunehmende Staatsverschuldung in Verbindungmit der Zuschüttung der Banken mit hunderten Milliarden Euro durch dieEZB zu Niedrigst-zinsen - nach FAZ (1.3.12) Anfang l|l4ärz 530 Milliarden Euro, nach 489 Milliarden kurzvor Weihnachten 2011 - für die Geldhäuser ein Riesengeschäft. Darauf machte bereits Ende2010 die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) aufmerksam: "Das opportunistischeHalten von langlaufenden Staatsanleihen dürfte bei gegebener Refinanzierung durch dieEZB (bei geringen Liquiditätsabschlägen und 0 % Risikogewichtung dieser Aktiva) äußerstlukrativ sein".

Refinanzierung durch die EZB bedeutet, dass die Banken die Staatsanleihen durch dieStaatsanleihen bei der EZB beleihen können, d.h. sie reichen sie als Sicherheit ein - unab-hängig von den Bonitätsnoten der Rating-Agenturen - und erhalten im Gegenzug Geld zumLeitzins von derzeit weniger als einem Prozent; sie kassieren also eine erhebliche Zinsdiffe-renz. "00lo-Risikogewichtung" bedeutet, die Banken müssen für das Risiko, dass ein Euro-

43

Page 46: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

staat seine Schulden nicht mehr bedient, kein Eigenkapital vorhalten. Die LBBW schätzt,dass die Banken durch die Nutzung der EZB-Finanzierung bereits von Ende 2008 bis Mitte2010 "Windfall"-Zinsgewinne von 34 Milliarden Euro eingeheimst haben. Und sie ziehtfolgendes Fazit: "Das vorgestellte Zahlenwerk dürfte deutlich machen, dass es fi.ir die Ban-ken äußerst opportun ist, in Staatsanleihen investiertzu bleiben. In einem von hoher ökono-mischer Unsicherheit geprägten ökonomischen Bild, wie insbesondere in der Eurozonen-Pe-ripherie vorzufinden, werden Banken ihre nationalen Staatsanleihen aus Mangel an Alterna-tiven kaufen. Die systemische Verknüpfung zwischen Banken und Zentralstaat wird dadurchweiter verstärkt".

Es bleibt nicht bei einer finanziellen Symbiose zwischen Banken und Staaten. Die Bankenmünzen ihre gestiegene Finanzmacht gegenüber den Regierungen zunehmend in politischeEinflussnahme um, insbesondere in der Finanz- und Wirtschaftspolitik. ImZuge der Finanz-krise wurde die Demokratie eingeschränkt und Weichen in Richtung einer Finanzdiktaturgestellt. Mit der Aufnahme der "Schuldenbremse" in das Grundgesetz der BRD soll garan-tiert werden, dass die Geldvermögenden auch weiterhin bedient werden können. Sie wurdevon Merkozy in Form des Fiskalpakts auch den anderen Euro- und EU-Ländern aufok-troyiert. Die Souveränität und der Gestaltungsspielraum der Parlamente wurde minimiert.Der Bundestag behält z.B. das Recht, über eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze um drei Eurowochenlang zu debattieren, die großen Finanzentscheidungen aber fallen in anderen Gremi-en. Rettungspakete über zig-Milliarden Euro für die Banken wurden in Nacht- und Nebelak-tionen von einem exklusivenZirkel bestehend aus der Kanzlerin, dem Finanzminister, zweiPrivatbankem und zwei Staatsbankem beschlossen. Das Parlament hat sich entmündigen,sich sein originäres und zentrales Recht, das Budgetrecht weitgehend nehmen lassen.

Der Souverän der Politik sind heute die Banken und Finanzkonzeme. Als "Urteil der Finanz-märkle" heben und senken sie den Daumen über ganze Volkswirtschaften. Es hat eine totaleVerbankerung der Politik.stattgefunden. Gar nicht zu reden von den "Problemländem"innerhalb der Euro-Zone. Uber deren Wirtschafts- und Finanzpolitik bestimmen heute "Sys-tem"-Banken und die "Troika" aus EZB, IWI und EU-Kommission. In Italien (Mario Monti,Corrado Passera) und Griechenland (Lukas Papademas) haben Banker direkt die Regie-rungsgeschäfte übemommen, in anderen Ländem schicken sie sich dazu an.

Ausblick 2012

Ende November 20ll billigte der Bundestag den Haushalt2012. Er sieht Gesamtausgabenin Höhe von 306 Milliarden Euro vor. Da die Bundesregierung nur mit Gesamteinnahmenvon 280 Milliarden Euro (davon 250 Milliarden Euro Steuern) rechnet, bleibt eineDeckungslücke von 26 Milliarden Euro. Die Neuverschuldung mit 26,1 Milliarden Euro istdamit höher als die Nettokreditaufnahme 2011 mit 17,3 Milliarden Euro. Die Neuverschul-dtng 2012 könnte sogar noch höher ausfallen. Denn die Regierungschefs der Eurostaatenhatten Ende vergangenen Jahres beschlossen, den permanenten Rettungsschirm ESM (Euro-päischer Stabilitäts-Mechanismus) bereits 2012 inKraft nt setzen. Deutschland soll bis 20 17

in flinf Tranchen 21,5 Milliarden Euro einzahlen. Durch die Vorziehung wird die ersteÜberweisung in Höhe von 4,3 Milliarden Euro bereits Mitte dieses Jahres ftillig. Es wirddamit gerechnet, dass im Juni 2012 ein Nachtragshaushalt vorgelegt werden muss, in demdie zusätzlichen Ausgaben enthalten sind. Die Nettokreditaufrrahme könnte dann auf über30 Milliarden Euro anwachsen.

Um die Neuverschuldung zu minimieren sollen drastische Einsparungen bei Soziales, Ge-sundheit, Landwirtschaft/Verbraucherschutz und Umwelt erfolgen. Während die Gesamt-ausgaben gleich bleiben, wird beim Etat Arbeit- und Soziales um 3,6 Yo gekird., beimGesundheitsministerium um 8,2 Yo,beim Landwirtschaftsministerium um 3,9 % und beimUmweltetat um 2,6 %. Bundesfinanzminister Schäuble plant zudem eine neue Privatisie-rungswelle. Die Einnahmen aus Privatisierung sollen sich gegenüber dem Vorjahr auf 5,1

Milliarden verdoppeln. Die dicksten Brocken könnten dabei die Anteile an der Telekom,Post und Commerzbank sein.

Zldem greift Finanzminister Schäuble in die Sozialkassen, um die Neuverschuldung des

Bundes zu senken. Die Bundeszuschüsse an die Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversi-cherung sollen im kommenden Jahr um flinf Milliarden reduziert werden.

44 isw-wirtschaftsinfo 46

Page 47: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Vendruldung ds Eum-Staf,tenin%dstslPo 2aW r zon (s.ouartal)

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6?.§

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Versrfi uldung Euro'Rau m

l}l 2000 0, 02 03 Al 05 06 s7 93 srs to 2011

Deutschland: Profiteur der Eurokrise

Der deutsche Staat muss gegenwärtig bei Schuldenaufrrahme etwa zrvei Prozent Zinsenbezahlen. Bei einer Gesamtverschuldung von über zwei Billionen Euro würde jedes Prozentmehr Zinsen eine zusätzliche Zinslast von zwanzig Milliarden Euro bedeuten. Das ist etwaso viel, wie der Etat des Gesundheits- und Familienministeriums zusammengenommen: 21

Milliarden Euro. Bei Peripherieländem der Euro-Zone, wie Irland, Portugal oder Griechen-land betragen die Renditen auf zehnjährige Staatsanleihen aufgrund der Herabstufung durchdie Rating-Agenturen mittlerweile l0 bis 15 Prozent. Aber auch das G7-Land Italien mussmittlerweile eine Rendite von 6 Prozent garantieren, wenn es an neue Kredite herankommenwill. Das bedeutet für alle diese Länder eine gigantische Zinslast in den kommenden Jahren.Beispiel Italien: Um 635 Milliarden Euro erhöht sich die Zinslast flir Italien in den kommen-den zehn Jahren, wenn die Staatsschulden statt mit 5 Yo mit 8 oÄ verzinst werden müssen(Handelsblatt, 10.11.2011). Zum Vergleich: 635 Milliarden Euro - das ist der Gegenwertvon zwei deutschen Bundesetats.

Umgekehrt ergeben sich die niedrigen Zinsen fi.ir deutsche Staatsanleihen nicht nur aus demTriple A der Rating-Agenturen. Mindestens ein Prozent resultiert aus der hohen Nachfragenach "sicheren" deutschen Staatsanleihen infolge der europäischen Schuldenkrise. Dadurchsteigen die Kurse fliLr diese Papiere und sinken die Renditen. Ein Gewinn von mindestens 20Milliarden Euro infolge der Misere der anderen Länder. Dabei hat Deutschland in absolutenBeträgen die höchsten Schulden von ganz Europa.

1,27 Billionen an Staatsanleihen müssen allein in diesem Jahr in der Euro-Zone refinanziertwerden. Mit dem downgrading von neun Eurostaaten zu Beginn des Jahres haben dieRating-Agenturen das Kredit-Revolving für diese Staaten verteuert und fi.ir die Investorenlukrativer gemacht. Das macht es für die europäischen Regierungen immer schwieriger, sichaus der Zinsfalle zu befreien; sie bleiben die Geiseln der Finanzmärkte.

isw-wirtschaftsinfo 46 45

Page 48: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

lndustrieländer tief in den roten Zahlen

Zusammensetzung der Gesamt-Schuldender 10 größten lndustrie-Länder2. Quartal 2011 -in % des BIP

Schulden der Euro-Krisenländer imVergleich zu den Top 10 lndustrieländern2. Quartal 2010 - in % des BIP

Quelle; McKinsey Globol lnslilute sw-srolik mz Griechenland ltalien Portugal Spanien lrland

Achtung: in isw-spezial 26 auf Seite 1 I wurde bei dieser Säulengrafik die Legende vertauscht. Hier die richtigeReihenfolge von oben nach unten: Staat, Finanz-lnstitutionen, Nicht-finanzielle Unternehmen, Privathaushalte.

Privat-haus-halte

Nicht-finan-zielleUnter-nehmen

Finanz-lnstituti-onen Staat gesamt

Japan ot 120 226 s',t2

Großbrit. 98 109 219 8'l 507

Spanien a2 134 76 71 363

Frankreich 48 'l.11 97 90 346

Italien 45 82 /o 111 314

Süd-Korea 81 107 YJ 314

USA 87 72 40 80 279

Deutschl. 60 49 87 83 278

Australien 105 59 91 21 277

Kanada 91 53 63 69 276

der Top10lndustrie-länder

46 isw-wirtschaftsinfo 46

Page 49: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Privates u. betriebliches Geldvermögen, Gesamtvermögen, Produktiwermögen

Die Deutsche Bundesbank hat in ihrerF in anz ie ru ngsrech n u ng im a bgel aufe n e nJahr umfangreiche Anderungen in derslafisflschen Eiassung der Daten vor-genommen. Das fühfte zu einer Revisionder Werte, vor allem für Wertpapiere.Die Ergebnisse sind daher mit den infrüheren Jahren veröffentlichten Wertennicht mehr vergleichbar. ln der Tendenzstimmen sie aber überein So haf srbhdas Geldvermögen aller privaten Haus-halte 201 1 gegenüber 1 990 glaft ver-dreifacht. Die Zahl für 2011 beruht aufeiner Schätzung von Allianz Globallnvestors.

Vermögens-Statistik + MethodikIn Deutschland wird zwar jede Tonne geftirderte Kohle registriert; wieviel "Kohle" die Reichenbesitzen, wird nicht zuTage geftirdert - eine eigene Reichtums- und Vermögensstatistik gibt es nicht.Lediglich alle ftinf Jahre flihn das Statistische Bundesamt eine Einkommens- und Verbrauchsstich-probe (EVS) durch, deren Auswertung knapp zwei Jahre später vorliegt. Sie gibt zumindest Anhalts-punkte über die Verteilung des Reichtums in Deutschland. Sie dient auch als Grundlage flir dieArmuts- und Reichtumsberichte ("Lebenslagen in Deutschland") der Bundesregierung, die seit 2000alle flinf Jahre veröffentlicht werden. Befragt werden im Rahmen der EVS 0,2 %o aller privatenHaushalte auf freiwilliger Basis. Die superreichen Haushalte werden nicht in die Befragung einbezo-gen. Das Statistische Bundesamt schreibt dazu: "Ferner liefert die EVS keine Angaben fiir Haushaltemit einem monatlichen Haushaltseinkommen von 18.000 Euro und mehr, da diese in der Regel nichtin so ausreichender Zahl an der Erhebung teilnehmen, dass gesicherte Aussagen über ihre Lebensver-hältnisse getroffen werden können". Untersuchungen zeigen jedoch, dass sich gerade bei diesen Haus-halten ein Großteil des Vermögens konzentriert. Die EVS und damit auch der Reichtumsbericht sinddamit in Bezug auf die Verteilung des Vermögens von relativ geringer Aussagekraft.

Angaben über die Gesamtsumme des "Privaten Geldvermögens" veröffentlicht die Bundesbank jlihr-lich in ihren Monatsberichten; in größeren Abständen macht sie Angaben zum Privaten Gesamtuermö-gen. Mit dem Ürbergang zum "Europäischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen" im Jahr2000 werden keine Angaben mehr über das Behiebsvermögen und das betriebl. Geldvermögen gemacht.

SOEP (Sozioökonomisches Panel): Seit 1984 lässt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung(DIW) jährlich mehr als I 1.000 Haushalte mit über 23.000 Menschen nach ihrer wirtschaftlichen undsozialen Lage befragen (u.a. Einkommen, Vermögen, Schulden).

Privates Geldvermögen: Setzt sich zusammen aus Bargeld (Sichteinlagen), Spareinlagen, Termingel-dem, Wertpapieren, Investmentzertifikaten, Aktien, Bauspareinlagen, Anlagen bei Versicherungen.Privates Netto-Geldvermögen: Geldvermögen minus Verschuldung der Privathaushalte.Privates Gesamfvermögen: Immobilienbesitz + Geldvermögen + Gebrauchsvermögen (hochwerrtige

Gebrauchsgüter). Privates Reinvermögen: : Gesamtvermögen abzüglich Verpflichtungen (Kredite).

Ende 2oll:I Fost 4,74 Billionen 14.740 Milliordenl Euro

Privotes Geldvermögen.1 % besitzt 46 %

Privates

wrm0qeninBill.€

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ZttlO20lf,o 2C)(37 2a10isw-grofik bbQuellen: Bundesbonk I Allianz Group

20()8 20c.9

isw-wirtschaftsinfo 46 47

Page 50: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Deutschland: Eine Million Dollar-Millionäre

Fär Deutschland zählt der World Wealth Report (Capgemini) fi.ir das Jahr 2010 insgesamt924.000 Dollar-Millionäre, 62 Tausend mehr (+ 7,2 %) als im Jahr davor. Hielt der Trendan, dam dtirfte es Anfang 2012 in Deutschland eine Million Dollar-Millionäre gegebenhaben. 924.000, das sind l,l oÄ der Gesamtbevölkerung. Damit hat Deutschland in Europanach der Schweiz die höchste Millionärsdichte. Selbst in den USA ist sie mit 1,0 o/o etwasniedriger.

Nach Berechnungen von Capgemini/IMenill Lynch besaß jeder europäische HNWI (HighNet Wodh Individual: Personen, die über ein Finanzvermögen von mindestens einer MillionDollar verfügen) im Durchschnitt 3,3 Millionen Dollar an Geldvermögen. Legt man dieseGröße auch bei den 924.000 deutschen HNWIs zugrunde, dann machte ihr gesamtes Geld-vermögen Ende 2010 3,04 Billionen Dollar aus. Bezogen auf das gesamte deutsche Geldver-mögen ist das ein Anteil von fast 46 o/o (45,6 7o). Das bedeutet: Die Geld-Dollar-Millionä-re in Deutschland besitzen fast die Hälfte des gesamten Geldvermögens. Das I oÄ

(l,l oÄ der Gesamtbevölkerung; 1,4 oÄ der Erwachsenen) hat soviel Geld wie die restlichen99 oÄ der Bevölkerung.

Die Liechtensteiner Investmentgesellschaft Valluga untersucht speziell die Vermögensver-hältnisse im deutschsprachigen Raum. In ihrem D.A.CH-Report 2011 stellt sie fest: Erstmals(2010) gibt es mehr als eine Million Euro-Millionäre in den Ländern Deutschland, Öster-reich und der Schweiz (: D.A.CH). Insgesamt 1,054 Millionen: 830.000 davon leben inDeutschland, 150.000 in der Schweiz und 74.000 in Österreich. Sie verfi.igen über eingesamtes Geldvermögen von 2.849 Milliarden Euro, 190 Milliarden mehr (+ 7,1 o/o), alsbeim bisherigen Höchststand vor der Finanzkrise (2007). (vgl., Valluga, 10)

Vor allem 2010 sind die Vermögen nach dem kurzzeitigen Einbruch 2008 wieder starkangestiegen. "Gewaltige 177 Milliarden Euro (+ 8,8 %) beträgt der Vermögenszuwachs derdeutschen Millionäre im Jahr 2010. Der mit Abstand reichste Millionärsclub Europas liegtsomit ganz deutlich über der Zwei-Billionen-Marke (2.191 Milliarden Euro). DeutschlandsMillionäre haben den Höchststand des Jahres 2007 {2.050 Milliarden Euro) damit ebenfallsweit hinter sich gelassen." (Valluga, l1).Die Konzentration des Reichtums nahm im Jahr 2010 weiter zu, stellt Valluga fest (S. 15):

"Die Reichen werden immer reicher". Was für viele nach einem simplen Vorurteil klingt,bestätigte sich auch im Jahr 2010 eindrucksvoll". Die reichsten 30 Personen der D.A.CH-Region verfligen über rund 260 Milliarden Euro (ebenda). Die zehn reichsten Deutschenbesitzen zusammen 104,8 Milliarden. Nach den Recherchen von ManagerMagazin gab es

2010 in Deutschland 108 Vermögensmilliardäre, deren gesamtes Vermögen sich auf 307Milliarden Euro addierte. Jeder dieser Megareichen besaß im Durchschnitt ein Vermögenvon knapp drei Milliarden Euro. Dazu kommen noch 13 Milliardärs-Großfamilien, wie dieFamilien Brenninkmeyer, Henkel, Haniel, Heraeus, Porsche, Siemens usw. Sie brachten es

zusammen auf weitere 7l Milliarden Euro (5,5 Milliarden im Durchschnitt pro Familie).Insgesamt gebieten die vom ManagerMagazin untersuchten 500 reichsten Deutschen plusdie 13 Milliardärs-Familienclans über ein gesamtes Vermögen von über einer halben BillionEuro (550 Milliarden Euro); im Durchschnitt hatte also jeder gut eine Milliarde Euro anVermögen (1000 Millionen). Im "Durchschnitt". Denn selbst unter den 513 Reichsten istnochmals eine extreme Konzentration zu beobachten. Die ausgewiesenen 108 Milliardäreund Multimilliardäire plus 13 Familiendynastien : 121 machen der Zahl nach knapp einViertel der 513 aus, sie nennen aber 70 Prozent der Supervermögen ihr Eigen. Dennochmuss auch der "Armste" der Reichen-Hitliste samt seinen Pferden nicht gerade am Hunger-tuch nagen; Der ehemalige Springreiter und heutige Pferdezüchter Paul Schockemöhlebringt es mit Platz 500 im Reichen-Ranking immer noch auf ein Vermögen von 150 Millio-nen Euro (ManagerMagazin, ll N20ll).Der deutsche Hochadel des Geldes, diese winzige Minderheit der 513 Superreichen, selbstmit Familienangehörigen weniger als ein Zebfiel Promille der Bevölkerung, verfügt übermehr Vermögen als die unteren zwei Drittel, also die ärmeren 66 oÄ der Bevölkerung. NachBerechnungen des DIW haben die unteren 70 Prozent der Bevölkerung gerade mal 5,8 oÄ

des Nettovermögens; die 513 Milliardäre und Multimillionäre haben sich dagegen einenAnteil von 5,4 Yo des gesamten Vermögens gekrallt.

"Die Vermögen der Milliardäre vermehren sich noch dynamischer als jene der Millionäre.Während die Milliardärsvermögen rund 10 %o pro Jahr ansteigen, verzeichnen jene derMillionäre ein um 2Yo geringeres Wachstum", schreibt Valluga im D.A.CH-Report (S. 15).

Eine Analyse der Vermögensentwicklung der Millionäre über die letzten Jahrzehnte zeigtWachstumsraten von durchschnittlichS% pro Jahr. "Die Vermögen der Reichen und Super-reichen sind auch in der Vergangenheit etwa 2,5 bis dreimal so schnell gewachsen wie ihreVolkswirtschaften. Dieser Beschleunigungstrend besteht bereits seit Anfang der 80er Jahredes vorigen Jahrhunderts und wurde durch die zunehmende Globalisierung der Weltwirt-schaft und den Siegeszug der Informationstechnologie substantiell untersti.itzt." (ebenda,

Geldvermögen derprivaten Haushalte in DeutschlandJahresendstände in Billionen Euro

4,69 4,74

2006 2007 2008 2009 2010 2011-

Quelle: Dt. Bundesbonk Dez. 201 l;Dorstellung: Allionz Globol lnvestors

Das Privatvermögender Deutschen

Vermögen 2010 in Mrd. Euro

5.200

Verteilung der Geldvermögen

E

IJ

11 %Anleihen

12%lnvestmentfonds Versicherungen

48 isw-wirtschaftsinfo 46

Page 51: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

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Geldvermögender D.A.CH.MillionäreVermögen in Mrd. Euro

2 606Mrd. €

2.849Mrd. €

2010

D.A.CH = Deutschland, Austria, Schweiz (CH)

Veränderung der Millionärsvermögenin o/o 2010

[ Österreich +9,5o/o

! Schweiz + 11,9 o/o

f; Deußehland + 8,8o/o

Regionale Verteilung der Reichen

Personen (in Tausend) mit mehr als einerMillion Dollar Geldvermögen 2010(in Klammern Steigerung gegenüber Vorjahr)

Großbrit.:4il(+ 1,4yo)

Kanadai2S2 Deutschland: Japan:1.739(+'12,3 %) 9241+7.20/o\ (+5,4"/"1

.. . : : Frarikr€ich:. ,ii .iir:Chinä: i535i

USA: 3.104 396 (+ 3,4 %) (+ 12,0 "Ä)(+ 8.3 %)

Sqhweiz:ii .,.. lndien:153.-- 243 (+9,7 o/o) (+20,8olo)

Brasilien:155(+ 5.9 o/o) halien: Australien:'193

fia (4,7 ok) (+ 11,1 %)' ir..,:

'sw-groirL rz

Que le: Copgemlni/Metrill Lynchr World Weollh Repod

S. l2). Valluga prognostiziert, dass auch für die kommenden drei Jahre die Vermögen derMillionäre dreimal so stark wachsen werden wie die Gesamtwirtschaft in der D.A.CH-Regi-on. Aufgrund der erreichten Höhe des gesamten Millionärsvermögen können die rusätzli-chen Ansprüche der Geld-Millionäre nicht mehr aus dem BlP-Zuwachs befriedigt werden.So betrug der Vermögenszuwachs der deutschen Geld-Millionäre im Jahr 2010 177 Milliar-den Euro. Der nominale BlP-Zuwachs betrug jedoch nur 101 Milliarden Euro. Der zusätzli-che Anspruch des Geldadels wird durch den Zuwachs an realen Werten in der Volkswirt-schaft nicht mehr gedeckt. Er kann nur noch durch weitere Umverteilung und Enteignungdes Volkes (Privatisierungen) befriedigt werden.

(siehe dazu auch: isw-spezial 26: Fred Schmid: Die Herren des Geldes - Reichtum undMacht des I %)

Erbschaften:Der Teufel sch... immer auf den größten Haufen

Die Konzentration der Vermögen wird in den nächsten Jahren auch durch die Erbschaftenverstärkt. Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Altersvorsorge (DIA) werden bis2020 2,6 Billionen (27 %) des rund 9,4 Billionen Euro (andere Berechnungen kommen auf10,1 Billionen - siehe Grafik, S. 48 unten) umfassenden Vermögensbestands (Geldvermö-gen 4,6; Immobilien 3,8; Sachwertveflnögen 1,0 Billionen Euro) vererbt. Das "Erbvermö-gen" wird damit um etwa ein Fünftel größer sein als im Jahrzehnt zwischen 2001 und 2010.Wie das DIA hervorhebt, ist die Verteilung sehr ungleich. Die meisten Erben erhaltenwenig, wenige Erben erhalten viel. Der Durchschnittswert einer Erbschaft liege bei 305.000Euro, doch nur bei 0,2 Yo der Erbftille liege der Wert der Erbschaft über 250.000 Euro unddas sind in der Regel die Erben, die ohnehin die höchsten Haushaltseinkommen haben. In9 Yo der Erbftille wird gar kein Vermögen vererbt, bei 28 % weniger als 25.000 Euro. Bei33 oÄimmerhin zwischen 150.000 und 250.000.

Durch die Anhebung der Freibeträge durch die schwarz-gelbe Bundesregierung (2.B. Ehe-gatten: 500.000; Kinder: 400.000 Euro), werden immer weniger Erbftille von der Erbschaft-steuer erfasst. Das Aufkommen sank dadurch gegenüber 2008 um 11 %. Mit einem Auf-kommen von 4,2 Milliarden bedeutet es eine Besteuerung des Erbvolumens von weniger alszweiProzent.

Europa: Reichster Kontinent

Nach dem Global Wealth Report 201I der Schweizer Bank Credit Suisse betrug das welt-weite Gesamtvermögen (Geldvermögen, Immobilien, Sachvermögen) Mitte 20ll 231 Bil-lionen (231.000 Milliarden) Euro; gegenüber dem Vorjahr ein Zuwachs von 19 %. Diesesgigantische Vermögen ist extrem ungleich verteilt. Die ärmere Hälfte der Weltbevölkerungbesitzt weniger als 1 Yo des globalen Vermögens. Umgekehrt besitzt das reichste I Yo derWeltbevölkerung ca. 45 oÄ, also fast die Hälfte des Weltvermögens (vgl. isw-spezial: DieHerren des Geldes, S. 3f).

Von den 231 Billionen Dollar Gesamtvermögen liegen 34 oÄ in Europa, 28 Yo it Nordameri-ka und 11 % in Japan, also fast drei Viertel (73 %) in den kapitalistischen Zentren.

Die Dollar-Vermögensmillionäre leben zu etwa 90 Yo in den Industrieländem, zn 74 % inden G7-Staaten. Ahnlich ist die Verteilung der Dollar-Geldmillionäre. 7,1 Millionen (65 %)der insgesamt 10,9 Millionen Millionäre leben in den G7-Staaten. Deutschland belegt mit924.000 Dollar-Millionären nach den USA (3,1 Millionen) und Japat(1,7 Millionen) Platz3der Geldrangliste.

Der reichste Mensch auf der Welt bleibt der Mexikaner Carlos Slim mit 69 MilliardenDollar. Es folgen Bill Gates (61 Milliarden) und Warren Buffett mit 44 Milliarden Dollar.Unter die Top Ten schaffte es auch Aldi-Gründer Karl Albrecht (Platz l0) mit25,5 Milliar-den Euro. Insgesamt zählte Forbes in seiner Worlds Billionaires 1226 DollarMilliardäre inder Welt - mehr als je zuvor. Im Schnitt hatte jeder dieser Superreichen 3,7 MilliardenDollar. Alle zusammengerechnet verfügen über 4,6 Billionen Dollar. Das ist mehr als das

BIP von Großbritannien und Frankreich zus€Immen.

49

Page 52: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

DefinitionIn einem Ratsbeschluss hat sich die Europäische Union (EU) 1984 auf eine Definition von Armutgeeinigt: "Verarmte Personen sind Einzelpersonen, Familien oder Personengruppen, die über so gerin-ge (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossensind, die in einem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum anwendbar ist".

Zur Messung der Armut hat sich die EU im wesentlichen auf den (landesspezifischen) Einkommens-Median festgelegt. Einkommens-Median benutzt auch die Bundesregierung in ihren Armuts- undReichtumsberichten ("Lebenslagen in Deutschland"). Armut bzrv. "Armutsrisikoquote" "bezeichnetden Anteil der Personen in Haushalten, deren bedarfsgewichtetes Nettoäquivalenzeinkommen" weni-ger als 60 Prozent des Mittelwertes (Median) aller Personen beträgt. (Median-Einkommen: Reiht mandie Bevölkerung nach der Höhe ihres Einkommens auf, dann ist das Einkommen der Person, die indieser Hierarchie genau in der Mitte steht das Median-Einkommen. Dieser Mittelwert ist nicht iden-tisch mit dem Durchschnittseinkommen).

Als absotut arm gilt ein Mensch, dessen physische Existenz bedroht ist, der also nicht über ausrei-chend Nahrung (und Trinkwasser) und Schutz vor Kälte und Krankheiten verfügt. Nach Berechnungender UNO und Weltbank lebt derzeit weltweit fast die Hälfte der Weltbevölkerung von weniger alsaryei Dollar am Tag. 1,2 Milliarden Menschen gelten als absolut arm (weniger als ein Dollar pro Tag).

r Einmol orm, immer orm

"Der Satz 'Einmal arm, immer arm' gilt", sagte die Soziologin Jutta Allmendinger (Präsi-

dentin des Wissenschaftszentrums flir Sozialforschung in Berlin) bei der Vorstellung des

"Datenreport 20ll - Sozialbericht" des Statistischen Bundesamtes. Es sei in den vergange-nen Jaluen immer schwieriger geworden, aus der Armut wieder herauszufinden. Das Risiko,im unteren Bereich der Einkommensskala zu bleiben, sei seit den 80er Jaken von 57 auf 65

Prozent angestiegen. Umgekehrt ist für Wohlhabende die Chance gestiegen, einmal erreich-te Spitzeneinkommen auch zu halten - von 38 Prozent aü 5l Yo im gleichen Zeitraw.Nach dem Datenreport galten 2008/09 15,5 yo der Bevölkerung in Deutschland als arm -"armutsgef?ihrdet" wie es beschönigend heißt. Die Auswirkungen der Krise sind damit nochnicht erfasst. Als "armutsgefährdet" nach dem Datenreport gilt, wer einschließlich Sozialleis-tungen des Staates über weniger als 929 Euro im Monat verfügt.

In Bundesländern wie NRW und Berlin registriert der Paritätische Wohlfahrtsverband einesteigende Armut, insbesondere in einer Reihe von Ruhrgebietsstädten.

Fast ein Drittel der Armen kann nur jeden zweiten Tag eine richtige Mahlzeit zu sich nehmen.Jeder Sechste kann seine Wohnung nicht immer warm halten. Dazu passt die Meldung des

Bundes der Energieverbraucher, wonach 800.000 Haushalten jährlich der Saft abgedrehtwird, weil sie ihre Stromrechnung nicht mehr bezahlen können. Mit den rasch steigendenEnergiepreisen und den zunehmenden Niedrigverdiensten nehme das Problem zu.

Jedes vierte Kind lebt in armen Verhältnissen

"In Deutschland lebt fast jedes vierte Kind unter 15 Jahren nach Daten der PASS-Studie(IAB-Panelerhebung PASS - F.S.) 200812009 in einem Haushalt, der - bezogen auf die60%-Armutsschwelle - einkommensarm ist und/oder SGB-Il-Leistungen (Hartz-IV- F.S.)bezieht", schreibt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in seinem Kurz-bericht (6/2011).

Bundesregierung: Kinder von Gutverdienern sind mehr wert

"Mit dem Elterngeld wird unverblümt eine schichtenspezifische Bevölkerungspolitik betrieben",schreibt Steffen J. Roth, Geschäftsführer des lnstituts für Wirtschaftspolitik an der Uni Köln (SZ,

2.1.2012).Wer 2.750 Euro netto pro Monat verdient, bekommt mehr als dreimal soviel Elterngeld ,

wie derjenige, der vor der Unterbrechung der Erwerbstätigkeit nur 750 Euro netto nach Hausebringt. "Über 14 Monate hinweg reicht die Spanne beim Elterngeld von 4200 Euro für das Kind

von Geringverdienern bis hin zu 25.200 für das Kind von Gutverdienern". Aber darüber entrüstesich fast niemand. "Deutschland ist bereit, eine nach Einkommenschichten differenzierte Bevölke-rungspolitik gutzuheißen, bei der man von Staats wegen unterscheidet, wessen Kinder manwertvoller und wessen Nachwuchs man weniger wertvoll findet".

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Nach Angaben des Deutschen Kinderhilfswerks gibt es in Deutschland 2,7 Millionen armeKinder und Jugendliche unter 18 Jahren: Das sind zwei Millionenstädte von der GrößeMünchens, deren Einwohner nur aus armen Kindem bestehen. Viele politisch Verantwortli-che hätten sich "anscheinend an die hohe Kinderarmut in unserem Land gewöhnt", beklagtdie Bundesgeschäftsführerin des Werkes, Heide-Rose Brückner. Das Hilfswerk fordert einnationales Programm gegen Kinderarmut.

Jeder vierte Europäer von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht

Glaubt man den Regierenden, dann befinden sich EU und Euro-Zone nach dem tiefenKriseneinbruch im Jahre 2009 seit 2010 im Konjunkturaufschwung. Doch aufuärts geht es

auf der einen Seite mit Konzemprofiten und dem Geldreichtum der Millionäre, auf deranderen Seite aber mit Arbeitslosigkeit und Armut.Wie Eurostat berichtet (8.2.12), waren in der EU27 im Jahr 2010 115 Millionen Menschenb2w.23,4 % der Bevölkerung, also fast ein Viertel, von Armut oder sozialer Ausgrenzungbedroht. Jeder sechste EU-Bürger (16,4%) war direkt armutsgeftihrdet, 8,1 0% litten untererheblicher materieller Entbehrung und 9,9 o/o lebten in Haushalten mit sehr niedriger Er-werbstätigkeit. Personen, die von mindestens einer dieser drei Lebensbedingungen betroffenwaren machten die genarmten 23,4 oÄ aus. Über dem Durchschnitt lagen die südlichenPeripherieländer von EU und Euro-Zone: Griechenland 27,7 %o, Spanien 25,5 yo, Italien24,5 yo,Portugal 25,3 yo. Mit der Verschärfung der Schuldenkrise und dem damit verbunde-nen Anstieg der Arbeitslosigkeit in den genannten Ländern dürfte die Armut 20ll weiterzugenommen haben. (-+ Arbeitslosigkeit). Einen weiteren Schub in Richtung Armut dürftedie Rezession bewirken, in die EU und Euro-Zone seit Ende vergangenen Jahres gerutschtsind.

Armutsgefährdung oder soziale Ausgrenzung2010 in Prozent der Gesamtbevölkerung

Ouelle: Eurosiot

Personen,die armuts-gefährdetsind, nachSozial-leistungen

Personen,die untererheblichermateriellerEntbehrungleiden

Personen von0 - 50 Jahrenin Haushaltenmit sehr nie-driger Erwerbs.tätigkeit

Personen,die von mind.einem derdrei Kriterienbetroffensind

Armuts.gefährdungvon Kindern(0 - 17 Jahre)in Prozentder Kinder

EU27 16.4 8.1 9.9 23.4 26,9

Beloien 14.6 5.9 12.6 20,8 23.2

Buloarien 20.7 35.0 7.9 41.6 44.6

Tschech. Rep. 9,0 ö-l 6.4 14.4 18.9

Dänemark 13,3 2.7 10.3 15.1

Deutschland 15,6 4,5 11.1 19.7 21.7

Griechenland 20,1 11 ,6 7.5 27.7 28.7

Spanien 20,7 4,0 9.8 25.5 29.8

Frankreich 13,5 5,8 9,8 19.3 23.0

Italien 18,2 6,9 10.2 24,5 28.9

Lettland 21,3 27,4 12.2 38.1 42.0

Litauen 20,2 19,5 9.2 33,4 34.3

Unqarn 12,3 21,6 11,8 29.9 38.7

Niederlande 10,3 2,2 8,2 15,1 16.9

Österreich 12,1 4,3 7,7 16,6 18.8

Polen 17,6 14,2 7,3 27,8 30,8

Portuqal 17,9 9,0 8,6 25,3 28,7

Rumänien 21,1 31,0 o,ö 41,4 48.7

Finnland 13,1 2,8 9,1 16,9 14.2

Schweden 12,9 1,3 5,9 15,0 14.5

Großbritann. 17 ,1 4,8 1 3,1 23,1 29.7

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Page 54: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Am stärksten betroffen von Armut und sozialer Ausgrenzung sind ehemalige RGW-Staaten,die sich von der Einfi.ihrung der Marktwirtschaften "blühende Landschaften" erhofft hatten.In Bulgarien und Rumänien ist bald jeder zweite Einwohner armutsgeftihrdet 42 oÄ bmv.41 oÄ, in Lettland 38 Yo,Litalen 33 Yo, Ungam 30 o/o und Polen 27,8 oÄ. Große Ausnahmen:Tschechien 14,4 yo und Slowakei 20,6 Yo. Tschechien hat die niedrigste Quote überhaupt,noch vor Schweden mit 15,0 oÄ. Dabei ist zu beachten, dass die Armuts-Schwellenwerte(Aquivalenzeinkommen) in den osteuropäischen Staaten und südlichen Peripherieländemohnehin schon wesentlich niedriger sind als inZentral- und Nordeuropa.

In Deutschland ist jeder flinfte Einwohner (19,7 oÄ) von Armut und sozialer Ausgrenzunggeführdet. Niedriger war die Quote in Frankreich (19,3 yo), Finnland (16,9 Yo), Osterreich(16,6 %) und Niederlande (15,1 %).

"Kinder sind stärker von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht als der Rest der Bevölke-rung", teilt Eurostat mit. In der EU27 waren im Jahr 2010 27 %o der Kinder unter 18 Jahrenvon einer der drei genannten Formen prekärer Lebenssituation betroffen. In Deutschlandwaren es 21,7 yo, besonders hoch wiederum die Peripherieländer: Griechenland 28,7 oÄ,

Spanien 29,8 yo,Italien 28,9 yo, Portugal 28,7 yo. Spitzenreiter Rumänien 48,7 yo und Bul-garien 44,6 oÄ.

Steffen Stierle, Mitglied im Koordinierungskreis von Attac, zum Eurostat-Bericht: "Diejtingste Entwicklung der Armut in Europa ist eine Folge der desaströsen Krisenpolitik, diedie Lasten der Krise nach unten umverteilt und sozialpolitisch völlig blind ist. Da dieserAnsatz seit dem Ausbruch der Krise konsequent durchgesetzt wurde, ist zu beftirchten, dass

die Daten für 2011 und20l2 noch viel schlimmer ausfallen werden".

In der Tat: Die Auflagen und Anpassungsprogrcmme der Troika (EZB, Eu-Kommissionund IWI) an die Krisenländer wirken wie ein Brandbeschleuniger bei der flächenbrand-mäßigen Ausbreitung der Armut. Jüngstes Beispiel: Das neu verordnete Sparprogramm,dem die griechische Regierung ausdrücklich zustimmen mussteo um ein neues "Rettungspa-ket" zu erhalten: Streichung zigtausender Stellen im Öffentlichen Dienst, weitere Renten-kärzungen, Lohnkürzungen in der Privatwirtschaft und 22- brw. 32 %oige (bei Neueinstel-lungen) Kürzung der Mindestlöhne, die in Griechenland ohnehin n,ur 4,28 Euro je Stundebetragen; Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 23 oÄ.Und das bei einer Arbeitslosenquote von21.8 yo, Jugend 48,1 yo (Oktober 2011) und einer Armuts- und Ausgrenzungsrate von27,7 Yo (2010).

Die Armuts- und Arbeitslosenraten zeigen, wie den Menschen in Europa systematisch dieZukunft verbaut wird - ein Armutszeugnis flir die Regierenden der reichsten Region derWelt. Wie aus dem Global Wealth Report 2011 von Credit Suisse hervorgeht, lieget 34 Yo

des globalen Gesamtvermögens von 23 I Billionen Dollar in Europa. Und der World WealthReport 2011 von Capgemini/Nlerrill Lynch offenbart: In Europa leben 3,2 Millionen derweltweit 10,9 Millionen Millionäre und -Multimillionäre, die 2010 über ein Geldvermögenvon insgesamt 10,2 Billionen Dollar verfi.igten. Während Arbeitslose und Arme durch dieKrise ärmer geworden sind, haben diese Superreichen an der Krise offenbar verdient undsind reicher geworden. (siehe dazu "Die Herren des Geldes - Reichtum und Macht des 1 0%",

isw-spezial26).

Würde man diese Millionärsvermögen nur mit zehn Prozent besteuern, hätte man eineBillion Dollar - über 750 Milliarden Euro - fi.ir ein Programm, das man zur Bekämpfungvon Armut und Arbeitslosigkeit einsetzen könnte. Ein Programm flir den sozial-ökologi-schen Umbau der Volkswirtschaften und den Ausbau öffentlicher Daseinsvorsorge.

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MethodischesArbeitslose: Arbeitslose sind Arbeitsuchende bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres, die nicht oderweniger als 15 Stunden wöchentlich in einem Beschäftigungsverhältnis stehen, die nicht Schüler,Studenten oder Teilnehmer an Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung, nicht arbeitsunftihig er-krankt, nicht Empf?inger von Altersrente sind und fiir eine Arbeitsaufirahme als Arbeitnehmer sofortzur Verfügung stehen. Arbeitslose müssen sich persönlich bei ihrer zuständigen Arbeitsagentur oderdem nach SGB II zuständigen Träger gemeldet haben.

Langzeitarbeitslose: Als Langzeitarbeitslose gelten im Rahmen der Arbeitsmarktstatistik alle Perso-nen, die am jeweiligen Stichtag der Zählung 1 Jahr und länger bei den Arbeitsagenturen arbeitslosgemeldet waren. Seit dem 1.1.2008 gilt der § 53a, Abs. 2, SGB II, nach dem Langzeitarbeitslose imAlter von über 58 Jahren aus der Arbeitslosenstatistik fallen, wenn ihnen nicht innerhalb eines Jahres

ein konkretes Jobangebot gemacht wird. Sie gelten danach nicht mehr als arbeitslos.

Erwerbstätigez Zt den Erwerbstätigen in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen zählen allePersonen, die als Arbeitnehmer (Arbeiter, Angestellte, Beamte, geringfligig Beschäftigte, Soldaten)oder als Selbstständige beziehungsweise als mithelfende Familienangehörige eine auf wirtschaftlichenErwerb gerichtete Tätigkeit ausüben, unabhängig vom Umfang dieser Tätigkeit. (www.destatis.de)

Erwerbspersonen (in Deutschland: Zivile Erwerbspersonen): Darunter versteht man die Gesamtheitder Erwerbstätigen (Unselbständige, Selbständige und mithelfende Familienangehörige plus registrier-te Arbeitslose)

20lr:. 2,98 Mi I I ionen Arbeitslose (Jo h resd u rchsch n ittl

ober S,4 Millionen suchen (mehrl Arbeit

Registrierte Arbeilslose i n DeutsrltJahresdurüsünitt in M il lioneng» AoeltslosefiquotE ell?r EtwcnBpüslnal aÄ 7o

19ss 2000 01 02 05Quelle: Bundesogentur für Arbeit

0+ B5 t)6 D7 06 09 10 2011isw-grafik bb

Die Zahl der Arbeitslosen sank im Vorjahresvergleich um 250.000. Die Zahl der Erwerbstä-tigen ist so hoch wie seit 20 Jahren nicht mehr: 41,6 Millionen im vierten Quartal. Die Zahlder Arbeitnehmer überschritt erstmals die 37-Millionen-Marke. Und dennoch ist es ein"Jobwunder" mit erheblichen Schlag- und Schattenseiten. Das ergibt sich schon aus der Zahlder geleisteten Arbeitsstunden: Während die Zahl der Erwerbstätigen 2011 um 4,3 Yo iberdem bisherigen Höchststand im Jahr 2000 lag, ist die Zahl der geleisteten Arbeitsstundenfast gleich geblieben: + 0,3 oÄ. Das weist bereits darauf hin, dass in erster Linie prekäre

Arbeitsplätze geschaffen wurden, Teilzeitarbeit splätze, Mini-Jobs usw.

In die gleiche Richtung weist auch eine Arbeitskräfteerhebung des Statistischen Bundesamtsfür das Jahr 2010. Danach gab es ein so genanntes ungenutztes Arbeitskräftepotenzial von8,4 Millionen Menschen (destatis, 10.11.11). Das sind Personen, die sich Arbeit bzw. mehr

isw-wirtschafrsinfo 46 53

Page 56: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

1 8-Millionen-Heer des PrekariatsDas vielgepriesene Jobwunder, entpuppt sich mehr und mehr als die wundersame Vermehrungvon prekären und Billig-Jobs, wie aus einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes(19.7 .11) hervorgeht. Danach waren von den 322.000 zusätzlichen Beschäftigungen im Jahr 201 0243.000 atypische Arbeitsplätze. "Damit trug die atypische Beschäftigung gul75 o/o zum Gesamt-wachstum der Zahl abhängig Beschäftigter zwischen 2009 und 2010 bei." (destatis). Unter "atypi-scher Beschäftigung" werden nach der Definition des Statistischen Bundesamtes alle abhängigBeschäftigten verstanden, die eines oder mehrere der folgenden Kriterien aufweisen: Befristung,Teilzeitbeschäftigung mit 20 oder weniger Stunden, Zeit-lleiharbeitsverhältnis, geringfügige Be-schäftigung. Die Zunahme atypischer Beschäftigung zwischen 2009 und 2010 wiederum isthauptsächlich auf den Zuwachs von Personen in Zeitarbeitsverhältnissen zurückzuführen. DieZeitarbeit trug mehr als die Hälfte (57 o/o) zum gesamten Beschäftigungsanstieg bei. 'Vor allemZeitarbeit und befristete Beschäftigung wurden von den Unternehmen als Mittel genutzt, umflexibel auf die konjunkturellen Veränderungen zur reagieren". lm Klartext: Die Konzerne gehengezielt zu einer Strategie des schnellen "Hire and Fire" über.

Atypische Beschäftigung im VormarschDie atypische Beschäftigung ist in den vergangenen 15 Jahren auf Kosten des Normalarbeitsver-hältnisses stark angestiegen. Unter einem Normalarbeitsverhältnis ist eine ungeförderte, sozial-versicherungspflichtige, unbefristete Vollzeitbeschäftigung außerhalb der Leiharbeit zu verstehen.Nach Ansicht des lnstituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bei der Bundesagentur für Arbeit(lAB; 3.3.201 1) ist zwar "das Normalarbeitsverhältnis kein Auslaufmodell", die vom IAB vorgeleg-ten Zahlen beweisen jedoch, dass es zumindest stark erodiert:

I Befristete Beschäftigung: Fast jede zweite Neueinstellung ist befristet (46 Prozent, ohneAuszubildende). Vor zehn Jahren war es weniger als jeder dritte. Es gibt heute rund 2,7Millionen befristet Beschäftigte und damit rund eine Million mehr als Mitte der neunziger Jahre.

r Teilzeitbeschäftigung: Die Teilzeitbeschäftigung hat sich - ohne die geringfügige Beschäfti-gung - in den letäen 15 Jahren verdoppelt: von 4,35 Millionen auf 8,7 Millionen. Von denerwerbstätigen Frauen arbeiteten 2010 45,6 o/o in Teilzeit. lm EU-Durchschnitt war die Teilzeit-quote mit 30,6 % deutlich niedriger (destatis, 7.3.12).

r Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse bis 400 Euro: Hier gibt es erst ab 1999 zuverläs-sige Daten. Seitdem hat die Zahl um mehr als 1,2 Millionen auf 4,9 Millionen ausschließlichgeringfügig Beschäftigte zugenommen; hinzu kamen noch 1,3 Millionen im Nebenjob. lmFebruar 2012 betrug die Gesamtzahl der Mini-Jobber 7,4 Millionen.

r Leiharbeit: Die Leiharbeit hat sich seit 1994 verfünffacht: Von 140.000 auf knapp 800.000."Mittlenreile nähern wir uns der Million" (lAB).

lnsgesamt ergibt sich daraus die Gesamtzahl atypischer Beschäftigungsverhältnisse von 17,2Millionen, über sieben Millionen mehr (+ 73 %) als Mitte der neunziger Jahre.

Eigentlich ist noch eine knapp Million Menschen aus der Zahl der Selbständigen hinzuzufügen,die seit 1994 um 900.000 wuchs. Denn "der Zuwachs beruht auf der deutlichen Zahl der Solo-Selbständigen ohne Mitarbeiter", schreibt das lAB. Es sind also im wesentlichen Schein-Selbstän-dige, die eigentlich atypischer Beschäftigung zugerechnet werden müssten. Addiert man siehinzu, dann zählt das Heer des Prekariats heute über 18 Millionen - fast 50 Prozent der abhängigBeschäftigten.

Auch diese Zahlen sind aufschlussreich: Fügt man zu den 18 Millionen prekär Beschäftigten nochdas Arbeitslosenheer von über fünf Millionen hinzu (registrierte Arbeitslose im Jahr 2010 3,2Millionen + Stille Reserve ca. 1,8 Millionen), dann ergibt das über 23 Millionen Menschen, diekeine oder nur prekäre Arbeit haben. Das ist weit mehr als die Hälfte aller Erwerbspersonen (43,3Millionen) in Deutschland.

"Atmende Unternehmen", bei denen der Belegschaft die Luft ausgehtDiese Millionenheere versuchen Unternehmer und Konzerne in vielfacher Weise für ihre Zweckeins Feld zu führen. Der prekäre Beschäftigungsbereich ist der Kern des ausgeweiteten Niedrig-lohnsektors, aber zugleich die Speerspitze bei der Lohndrückerei im Bereich der Normalarbeits-verhältnisse. Nach Berechnungen des DGB verdient gut eine Million Vollzeitbeschäftigte wenigerals 1000 Euro brutto im Monat. MitAusnahme von Deutschland und Japan sind die Reallöhne inallen kapitalistischen lndustrieländern von 2000 bis 2009 gestiegen; in Deutschland dagegen sindsie um 4,5 7o gesunken. Die lnternationale Arbeitsorganisation (lLO) schreibt dazu: "Neben denmoderaten Tarifabschlüssen der vergangenen Jahre sind die Ausweitung des Niedriglohnsektorsund die Zunahme atypischer Beschäftigungsformen - wie Zeitarbeit und 40O-Euro-Jobs - wesent-liche Gründe für das schlechte Abschneiden Deutschlands". Die prekäre Beschäftigung dientzudem als Rammbock, um tarifierte Arbeitsbedingungen und Arbeitszeitvereinbarungen aufzubre-chen bzw. als Einfallstor, um diese zu umgehen. Das zeigt sich am deutlichsten bei dem roll-backgegenüber der 3S-Stunden-Woche.

Mit der prekären Beschäftigung wird der Warencharakter der Arbeitskraft auf die Spitze getrieben.Das Kapital kann sie optimal in den Takt des Betriebes einpassen und problemlos, risikolos undkostengünstig wieder entfernen. Prekär Beschäftigte, allen voran die Zeitarbeiter, sind gewisser-maßen die just-intime-Arbeitskräfte des modernen kapitalistischen Betriebs. Soziologen sprechenvon "flexiblen Zweitbelegschaften", die von den Firmen aufgebaut werden. Sie ermöglichen das"atmende Unternehmen", bei dem der Belegschaft immer mehr die Luft ausgeht.

Leiharbeit boomtLeiharbeiter in Tausend

kw-srofik mz Quelle: lw

2003 04 05 06 07 08 09 10 okt.2011

2004: vollsGndige Deregulierung/ der Leihaöeitdurch SPD und Grüne

54 isw-wirtschaftsinfo 46

Page 57: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Arbeit wünschen. Dieses ungenutzte Potenzial setzt sich zusammen aus 2,9 Millionen Er-werbslosen, 2,2 Millionen Unterbeschäftigten in Teilzeit,2,1 Millionen Unterbeschäftigtenin Vollzeit und 1,2 Millionen in der Stillen Reserve.

Unterbeschäftigte sind Erwerbstätige, die den Wunsch nach zusätzlichen Arbeitsstundenhaben und für diese auch zur Verffigung stehen. Interessant ist, dass die Zahl der Unterbe-schäftigten in Vollzeit um 134.000 Personen gegenüber dem Jahr davor zunahm. Das sind inerster Linie Geringverdiener, die mit ihrem Verdienst kaum über die Runden kommen unddeshalb Mehrarbeit suchen.

Personen in Stiller Reserve sind erwerbslos und suchen Arbeit, stehen aber im Moment -aus verschiedenen Gründen - ftir eine Arbeitsaufnahme nicht zur Verftigung.

Nur der Mittelstand schuf ArbeitsplätzeDer eigentliche Job-Motor war bis dato der Mittelstand, nicht die Konzerne. Nach Untersu-chungen der staatlichen Förderbank KfW erfolgte fast der gesamte Stellenaufbau in denJahren 2005 bis 2010 in den rund 3,8 Millionen mittelstäindischen Betrieben, während dieKonzerne im Inland keine Arbeitsplätze schufen und die Öffentliche Hand Stellen abbaute.Gut 1,8 Millionen Stellen seien seit 2005 dazugekommen, davon 1,77 Millionen im Mittel-stand. Selbst im Krisenjahr 2009 habe der Mittelstand noch 340.000 Stellen geschaffen.

Trotz steigender Umsätze und explodierender Gewinne bauten Deutschlands börsennotierteFirmen Stellen ab. Im Inland reduzierten die Dax-Konzerne ihre Mitarbeiter im Geschäfts-jahr 2010 um insgesamt 11.626. "Der Trend ist eindeutig: Die Großkonzeme sind an dererfreulichen Entwicklung des deutschen Stellenmarktes nicht beteiligt", sagt ThomasKautzsch von der Strategieberatungs-Firma Oliver-Wyman (zit. nach HB, 29.12.11). ImAusland entstanden dagegen bei den Dax-Konzernen 31.771 Firmen. Auch die anderenbörsennotierten Firmen verlagern weiterhin sukzessive Arbeitsplätze ins Ausland. Bei den

Firmen im Dax, MDax, TecDax und SDax enstanden 2010 48.830 neue Stellen.

Im Inlaad aber geht das Belegschafts-Sterben bei den Konzemen weiter. Im isw-Konjunk-turbericht vom Dezember 2011 (www.isw-muenchen.de) veröffentlichten wir eine Arbeits-platz-Streichliste von Konzemen. Der Belegschaftsabbau bei Schlecker und anderen Firmenist dabei noch gar nicht erfasst.

Ausblick 2012

"2012: Unsichere Zeiten für den Arbeitsmarkl" überschreibt das IAB seine Herbstprognose2011. Doch wegen der demografischen Entwicklung und des von der Bundesregierungvorhergesagten Wachstumsplus von 0,7 %o rechnen die Arbeitsmarktforscher mit einer Ar-beitslosigkeit von2,84 Millionen im Jahresdurchschnitt 2012; das wären 130.000 wenigerals im Vorjahr. Es könnte aber im Rahmen der Euroland-Rezession und Schuldenkrise ganzanders kommen.

Europas Jugend: Zerstörte Lebensentwürfe

Die OECD schlägt Alarm: Der spürbare Wirtschaftsabschwung in vielen Industrieländemhabe schwere Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. In ihrer Arbeitsmarktstudie vom Herbst201 1 geht sie davon aus, dass in absehbarer Zeit keine neuen Jobs geschaffen werden. In den30 OEcD-Mitgliedsländern waren Mitte vergangenen Jahres bei einer Arbeitslosenquotevon 8,2 0% insgesamt 44,5 Millionen Menschen ohne einen Job; 13,4 Millionen mehr als vorder Krise 2009.

Auch der World of Work Report 2011 der ILO (Intemationale Arbeitsorganisation) weistdarauf hin, dass die Beschäftigung nach dem Kriseneinbruch 2008109 längst nicht neuaufgebaut ist. Dem Bericht zufolge müssten in den nächsten zwei Jahren global 80 Millio-nen Jobs geschaffen werden, um die Vorkrisenbeschäftigung von 2007 zu erreichen (27

Millionen davon in den entwickelten Ökonomien). In Europa fehlen 4,5 Millionen Arbeits-plätze im Vergleich zum Vorkrisenstand. Nach Ansicht von Juan Somavia, dem Generaldi-reklor der ILO, "stehen wir seit Mitte 201I am Rande einer globalen Arbeitsmarktrezession,die ein ganzes Jahrzehnt andauern könnte - ein dann verlorenes Jahrzehnt" (zit. tach SZ,3. I I . I 1 ). Und er beflirchtet in diesem Zusammenhang "katastrophale soziale und politischeFolgen". Nach dem Bericht der ILO steigt in 45 der 119 untersuchten Länder die Gefahrsozialer Unruhen, insbesondere in der EU und in den arabischen Ländem.

,sw-wirtschaftsinfo 46 55

Page 58: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Diese negative Arbeitsmarktentwicklung lässt sich in der EU-27 und im Euroraum gutnachvollziehen. Im Februar 2012 stieg die Arbeitslosigkeit auf knapp elf Prozent - so hochwie nie. Die neue Krise der Beschäftigung im Rahmen der Rezession in der Euro-Zone setztauf einem weit höheren Arbeitslosensockel auf als in der Rezession 2008/09. Die Arbeitslo-senquote ist auch in den so genannten Außchwung-Jahren 2010 und 2011 weiter gestiegen.Sie lag im Januar 2012 mit l0,l %o in der EU um 3,2 Prozentpunkte über dem Niveau vonJanuar 2008 - eine Steigerung um 46 o%. Besonders stark ist der Anstieg in den Peripherie-ländern, die mit dem EU-Spardiktat schon vor Monaten in die Rezession getrieben wurden(siehe Grafik).

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EU-JuqendohrpArheit-ohneZulunfr

Arüef hloruq uüen iu'/lau.?ofr u. lni.zol?

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Arbeitslosigkeitges. Jugend

Schweden 7,6 22,3Finnland 7 ,5 20,1

Estland *'11,3 21 ,8

Lettland *14,8 30,0Litauen *15,3 31,0Polen 10,1 27,5

Tschech. R. 6,9 '19,8

Slowak. R. 13,3 36,0Östeneich 4,0 8,9Rumänien *7,2 23,4

Bulgarien 11,5 28,9Slowenien *8,2 15,2

Zypem *9,6 25,8

Dänemark 7,9 14,6Niederlande 5,0 9,0Belgien 7 ,4 21,2Luxemburg 5,1 13,9

Ungam 10,9 27,3

Jugend unter 25 Jahren* Okt. 2011; * Nov. 2011

1Ap%erüeitsto§eJugtdl,rlt€

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6r.Britan. De'rnhl.spanien 6deüenl. hlugalQuelle: Eurostot

Jtalien Jrland

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Frankr. USA

Keine Arbeit, keine ZukunftNiemand leidet jedoch mehr unter der Krise als die Jugend Europas: Sie hat keine Arbeit,keine Zukunft. Ihr wurden die Lebensentwürfe zerstört.

Knapp ein Viertel (22,4 %) der europäischen Jugendlichen zwischen 15 bis unter 25 Jatrenin der Europäischen Union hat weder Job noch Ausbildungsplatz. Gut ein weiteres Viertelmuss mit prekärer Beschäftigung vorlieb nehmen. Im Verlauf der Finanz-, Wirtschafts- undSchuldenkrise ist die Jugendarbeitslosigkeit in der EU-27 um 48 % bis Januar 2012 gestie-gen. In den Peripherieländem hat sie sich verdoppelt bis verdreifacht. In Spanien undGriechenland ist inzwischen jeder zweite Jugendliche ohne Arbeit; in Portugal und Italien istes jeder dritte. Eine verlorene Generation. Eiruig in Deutschland ist sowohl die Gesamtar-beitslosigkeit als auch die Jugendarbeitslosigkeit gesunken. Ein Grund dafür liegt im höhe-ren Anteil an prekärer Arbeit.

In Europa sind mittlerweile 5,5 Millionen junge Menschen zum Nichtstun verurteilt. Millio-nen, die besser ausgebildet sind als Generationen vor ihnen, bessere Sprachkenntnisse habenund besser mit den neuen Technologien umgehen können. Und die vor allem kreativ arbei-ten und ihr Leben planen möchten. So aber sind sie arbeitslos, chancenlos, perspektivlos.Dabei sollen sie einmal die Schulden abtragen, die ihnen die "Bankenretter" und politischenKonzernwohltäter hinterlassen haben, die Zinsen für Staatsanleihen bezahlen, die an dieKinder reicher Eltern vererbt wurden, das Rentensystem finanzieren...

Es ist eine gigantische Vergeudung von produktivem und schöpferischem Potenzial, das hierdurch die weitgehende Brachlegung einer Generation von statten geht. Es ist ein Verbrechenan diesen Jugendlichen, sie nicht an die Möglichkeiten ihrer Phantasie und Kreativitätheranzufi.ihren.

56 isw-wirtschaftsinfo 46

Page 59: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Geldreichtum blockiert WirtschaftskreislaufUnd warum das alles, weshalb der Mangel an bezahlter Arbeit? Nicht deshalb, weil dieGesellschaft at arrn ist, sondem weil ein Prozent der Gesellschaft zu reich ist. Dieses eineProzent hat knapp die Hälfte des gesamten Geldreichtums vereinnahmt (siehe dazu: isw-spe-zial 26, "Die Herren des Geldes"). Diese Minderheit des Geldadels saugt über die Zinsenfast das gesamte volkswirtschaftliche Mehrprodukt auf. Die wachsende Kluft zwischen Armund Reich ist aber nicht nur ein soziales und ethisches Problem. Es wird zu einem wachsen-den Problem des volkswirtschaftlichen Kreislaufs und der Konjunktur. Denn diese Geldrei-chen investieren immer weniger in reale Produklion, weil aufgrund fehlender volkswirt-schaftlicher Nachfrage - Reallohnabbau - ihnen dort die Renditen zu mickrig sind. Deshalbstecken sie ihren Geldüberfluss via Fonds und professionelle Vermögensverwaltung in dieFinanzmärkte - zur höheren Verzinsung. Ihre Finanzmarktkarussells und Spekulationsräderaber sind die Vorboten der nächsten Finanzkise. Für die Öffentliche Daseinsvorsorge, fürökologische und Infrastrukturinvestitionen in der Realwirtschaft aber fehlt diese kaufl<räfti-ge Nachfrage. Diese Blockade der Geldvermögensbesitzer muss durchbrochen werden. Indem Maße wie es über eine wirksame Besteuerung gelingt, den Reichtum abzuschöpfen undüber öffentliche Nachfrage in mehr Öffentlichen Dienst, für Bildungsinvestitionen, ftir dieEnergiewende und den sozial-ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft zuverwenden, steigen auch die Arbeits- und Zukunftschancen der jungen Generation. Jede

Milliarde, die den Geld-Millionären weggesteuert wird, bedeutet eine Milliarde wenigerFinanzmarkt-Spekulation und auf der anderen Seite ein Mehr an öffentlichen Investitionen.

Es gibt hoffnungsvolle Anzeichen dafür, dass sich die Generation, die zu null Arbeit, nullSicherheit, null Perspektive vergattert ist, nicht zur Null-Bock-Generation stempeln lässtund resigniert. Die "Bewegung der Plätze", die Occupy-Bewegung, die Proteste der Empör-ten (Indignados) und die Aktionen von "Echten Demokratie Jetd!" - sie alle skandieren:"Wir sind die 99 %o" . Das sind hoffnungsvolle Anzeichen in immer mehr Ländem. Angefan-gen bei Nordafrika, über Europa, die USA bis ins feme Chile. Großes Interesse ftir dreiAktivisten der chilenischen Protestbewegmg, die in zehn Städten der BRD über ihre Erfah-rungen berichteten. Karol Cariola, die Vorsitzende der Kommunistischen Jugend Chiles,betonte bei ihrem Auftritt im Münchner Gewerkschaftshaus, dass die Proteste tief in derchilenischen Gesellschaft verankert sind: Sie "sind das Ergebnis eines jahrelangen Prozes-ses, in dem die Wut gewachsen ist". Und: "Wir werden nicht aufhören, bis wir endlich echteDemokratie haben". Camilla Vallejo, Vizepräsidentin des chilenischen StudentenverbandesFECH ergänzte: "Viele Faktoren spielen eine Rolle, aber der wichtigste ist die Erschöpfungdes neoliberalen Wirtschaftsmodells. Niemand glaubt mehr an die die falschen Verspre-chungen und die Menschen spüren den Missbrauch. Sie merken, dass sie, auf gut chilenisch,beschissen werden. Sie haben diese Situation lange ausgehalten, aber jetzt nicht mehr. Dieheutige Generation hat tatsächlich keine Angst mehr, gegen eine Diktatur zu demonstrieren.Wir sind des Systems überdrüssig, das uns unterdrückt und die Menschen ausraubt".

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Page 60: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

DelinitionFusion = Zusammenschluss (Verschmelzung) von zwei oder mehreren Unternehmen zu einer recht-lichen und wirtschaftlichen Einheit (engl. Merger; Acquisition: Übemahme).Pleite = Bankrott, Konkurs eines Untemehmens.Insolvenz : Zahlungsunftihigkeit von Untemehmen oder Privatpersonen

Fusionen 20ll (mit deutscher Beteiligungl:r Anzohh +l %r Tronsokfionsvolumen: +3 %

Obwohl viele Unternehmen volle Kassen haben, hat der Übemahmemarkt kaum expandiert.Vor allem spektakuläre und Top-Deals blieben aus. Insbesondere die Telekom blieb vorerstauf ihrer amerikanischen Tochtergesellschaft T-Mobile USA sitzen. Der Verkauf sollte 40Milliarden Dollar bringen.

Angefi.ihrt wird die Liste der Übernahmen mit deutscher Beteiligung mit dem Verkauf desbritischen Verteilernetzes Central Networks durch Eon an die PPL Corporation (USA) flir4,7 Milliarden Euro. An zweiter Stelle steht die Mehrheitsübernahme von MAN im Frühjahr2011 durch VW. Der Erwerb der entsprechenden Aktien kostete 3,4 Milliarden Euro. DerBestechungsskandal der MAN-Tochter Ferrostaal wurde beigelegt. Im Zusammenhang mitU-Boot-Aufträgen sollen Mandatsträger in Griechenland und Porlugal fur 62 MillionenEuro bestochen worden sein. Der Fall wurde mit einer Geldstrafe von 140 Millionen Eurofür den Anlagenbauer bereinigt. Für weitere 3,3 Milliarden Euro kaufte VW die PorscheHolding (Salzburg) von den Familien Piech und Porsche. Mit dem Geld zeichneten dieFamilien eine Kapitalerhöhung bei der Stuttgarter Porsche SE, um deren Verschuldung imRahmen der gescheiterten Übemahme von Volkswagen abzubauen.

Ausblick 2012

Der EU-Wettbewerbskommissar Joaquin Almunia rechnet fnr 2012 mit einer neuen Über-nahmewelle: "Es wird eine große Welle von Übemahmen kommen. Ich habe schon 2011damit gerechnet. Wegen des sich verschlechtemden wirtschaftlichen Umfeldes hat sie sichverzögert. Aber jetzt gibt es Untemehmen, die eine Menge Geld haben - und zugleichgünstige Gelegenheiten. " (SZ-Interv iew, 2l .3 .20 l2).

F U S i g n en /U b e f n A h fnB[ ruit d wt sthq Behi I isur,rs

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isw-grofik bb

DamlDas

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Quelle: M&A Intanotiondl 2OO1 03 0t 05 06 o7 08 GI

58

Page 61: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Fusionen und Ubernahmen - ein lukratives Geschäft

2000 2001 2002

Quelle: Thomson Reutere

2003 2004 2005 2006 2007 2008

isw-grofik mz

2009 2010 2011*

'2011: 1. bis 3. Quartal

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011*

Pleiten 2Oll:r 3O.2OO Unternehmenspleiten l- 5,8 %lr IO3.2OO Verbroucherinsolvenzen l- 6) %l

Unternehmenspleiten

zilo'l o2 03 ott 05 05 07 0E 09?§10 +1

Quellen: Stot. Bundesomt / YueinCreditreform isw-grofik bb

Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen ging erneut zurück: -5,8 0Ä; dre Zahl der Arbeits-platzverluste verringerte sich aber nur leicht um 1,7 %. Creditreform vermerkt, dass nicht inallen Fällen die von einer Insolvenz bedrohten Arbeitsplätze vollständig gemeldet werden."Zusätzlich sind bereits im Vorfeld der bevorstehenden Insolvenz Arbeitsplätze im Unter-nehmen abgebaut worden." (Creditreform, Insolvenzen,... 2011, S. 1 0).

isw-wirtschaftsinfo 46 59

Page 62: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

5üruldenquotenin Deutsrtiland

Quelle: Creditreform isw-grofik bb * Schötzung

hraurfier-lhlolvrnzrrDaßülandTausend

DE2ooB 82.iHn 67ß ilio ?.2 Hio .10,7 7.

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ilN 82,oHro SgpHir" 6p Hio 10:lf,?ßog 8r.3r{n 6f,l Hio 6,2 t{io 9,1'/2ol0 8,1,?$o 68,3t{o §.5fiio 3,512011 s{,5Hi, 68,3t{b 6,{ tlio g!1',L

Größtes Unternehmen, das 2011 zahlungsunftihig wurde, war der DruckmaschinenherstellerManroland mit 6.500 Mitarbeitem. An den Standorten Augsburg, Offenbach und Plauenkommt es zu massiven Stellenstreichungen.

Manroland ist zu 75 % im Portfolio der Private-Equity-Tochter der Allianz, der AllianzCapital Partners (ACP). Und der Mehrheitsaktionär Allianz verhält sich hier wie eine ganzgewöhnliche Finanz-Heuschrecke und verfiihrt getreu dem Grundsatz, den vor einigen Jah-ren der damalige Boss des Versicherungsriesen, Schulte-Noelle aufstellte: "Von jeder unse-rer Beteiligungen erwarten wir eine überdurchschniuliche Performance im Vergleich zurBranche. Wird diese nicht erreicht, ist ein Verkauf denkbar. Da gibt es keine Sentimentalitä-ten". Aus Manroland war offenbar diese überdurchschnittliche Rendite nicht mehr herauszu-holen, weshalb Schulte-Noelle-Zögling Paul Achleitner, der Noch-Finanzvorstand der Alli-anu, den Geldhahn zudrehte.

Auch die Verbraucherinsolvenzen haben 2011 abgenommen. Seit der Einfrihrung der Insol-venzordnung im Jahre 1999 haben mehr als 800.000 Deutsche die Restschuldbefreiungbeantragt.

Die Zahl der überschuldeten Erwachsenen verharrt bei 6,4 Millionen. Damit ist fast jederzehrfie Erwachsene (9,4 %) überschuldet.

Ausblick 2012

Fär das Jal'r 2012 geht Creditreform von einer gleichbleibenden bis leicht zunehmendenInsolvenzentwicklung aus.

60

Page 63: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Das bekommen Rentner im Monat

monatlicheAnteil aller Rentner

Rente von ... Männer ll Frauen

Stand 2009 euefle, erond jsw-s.otik m,

unter 150 € 6,7 0/o 13,6 yo

150 bis 300 € 5,8 0Ä 21,1 0/o

300 bis 450 € 5.5 Yo 14.7 0/o

450 bis 600 € 6.0 % 14.3 0/o

600 bis 750 € 7.5 Yo 14,4 0/o

750 bis 900 € 8.9 0Ä 10.6 %

900 bis '1.050 € 11.0 o/o 5.4 0k

1 .050 bis 1.200 € 13.4 0/r 3.0 o/o

1.200 bis 1.350 € 12J §K 1.6%

1.350 bis 1.500 € 9.50/o 0.8 o/o

mehr als 1.500 € 13,0 o/o 0,5 %

r 2oll: + O,99 %t 2Ol2z + 2,18 % (Westenl + 2,26 % (Ostenl fl.7.2012)

Gegenüber 2001: Eine Monatsrente weniger

Zum l. Juli2012 werden die Renten so erhöht, dass man die Zuwachsrate nicht mit demMikroskop suchen muss: etwa um2,2yo.Hält die Teuerungsrate an, die im Februarbei2,3Prozent lag, dann wird auch diese Rentenanpassung von der Inflation aufgefressen. Unterdem Strich bleibt ein Kaufkraftverlust füLr die Rentner.

Wie die Bundesregierung auf eine Anfrage der Partei Die Linke mitteilte, stiegen von 2001bis 2010 die Preise um durchschnittlich 1,36 oÄ im Jatv. Zur gleichen Zeit wurden diegesetzlichen Altersbezüge um 0,82 oÄ pro Jahr erhöht. Werden die Beitragserhöhungen zurKranken- und Pflegeversicherung berücksichtigt, die die Rentner zu zahlen hatten, betrugdas Plus lediglich 0,56 Yojährlich. Daraus resultierte pro Jahr ein erheblicher Kaufkraftver-lust. Nach Berechnungen der Linken ist der reale Wert der Renten damit innerhalb von zehnJahren um sieben Prozent zurückgegangen. Nimmt man noch das Jahr 2011 hinzu, dannsteht einer Rentenerhöhung von 0,99 Yo eine Verteuerung der Lebenshalnng tn 2,3 Yo

gegenüber. Hinzugerechnet zu den sieben Prozent, ergibt das einen Realrenten-Verlust vonknapp 8,2 Yo seit 2001. Er ist damit doppelt so hoch wie der Reallohrverlust bei denBeschäftigten in diesem Zeitraum, mit 4,1 % (-+ Lohn). Mit anderen Worten: Die Rentnerverloren in 11 Jahren, bedingt durch Nullrunden und Mini-Erhöhungen, eine ganze Monats-rente an Kaufkraft. Erhalten sie ihren frliheren Lebensstandard aufrecht, dann reicht ihreJalresrente nur bis Ende November. Im Dezember können sie dann betteln gehen.

Wachsende Altersarmut

Linken-Vorsitzender Klaus Ernst: "Auf Deutschland rollt eine Welle der Altersarmut zu.Wenn die Rente weiter in dem Tempo sinkt, dann liegt die Durchschnittsrente in zehnJahren unter der Grundsicherung." (zit. nach 5Z,5.7.11). Die Grundsicherung (weniger alszwei Drittel des nationalen mittleren Verdienstes) behägt zur Zeit ca. 680 Euro. Die durch-schnittliche Altersrente betrug 2009 bei Männem 979 Exo, bei Frauen 543 Euro.

Die Altersarmut wächst aber noch aus anderen Gründen: Die "Reformen" vorangegangenerBundesregierungen mit Riester-, Nachhaltigkeits- und Nachholfaktoren, sorgen dafür, dass

das R.entenniveau in den nächsten 30 Jahren sinkt. Das trifft alle Beitragszahler, vor allemaber diejenigen, die als Geringverdiener ohnehin nur mit einer dürftigen Rente rechnenkönnen. Und die Zahl derer, die im Niedriglohnsektor tätig sind geht in die Millionen undwächst ständig weiter. Gar nicht zu reden von den Hartz-IV-Empftingern, für die der Staatkein Geld mehr in die Rentenkasse überweist und für die wachsende Zahl von Solo-Selbst-ständigen, die zu wenig Geld verdienen, um flirs Alter vorsorgen zu können.

Mini-Jobber: 139,95 Euro Rente. Von den 7,4 Millionen Mini-Jobbern waren Mitte 20114,65 Millionen Frauen. Gut zwei Driuel von ihnen haben ausschließlich diesen Mini-Job.Für die Alterssicherung zahlt der Arbeitgeber einen pauschalen Rentenbeitrag von 15 Euro.Nach Berechnungen des Bundesarbeitsministeriums erwirbt ein Mini-Jobber, der ein Jahrlang tätig ist, eine monatliche Rente im Alter von 3,11 Euro. Nach 45 Versicherungsjahrenbeträgt der Anspruch auf Altersgeld 139,95 Euro. Millionen von Mini-Jobbem sind dadurchvon Altersarmut bedroht.

An der Misere ändem auch die von der Arbeitsministerin von der Leyen mit großem Brim-borium verkündeten Pläne einer Zusatzrente fi.ir Geringverdiener nichts. Danach soll dieRente von Geringverdienem ab 2013 auf 850 Euro aufgestockt werden. Abgesehen davon,dass auch das zum Leben zu wenig und zum Sterben zuviel ist, werden derart hohe Hürdenaufgestellt, dass nur wenige Tausend in den Genuss dieser Zuschussrente kommen dürften.Es sollen nurjene diesen Zuschuss erhalten, die 45 Jahre rentenversichert sind, 35 Beitrags-jahre (aus Zeiten der Beschäftigung, Kindererziehung oder Pflege) vorweisen können undprivat oder betrieblich für das Alter vorgesorgt haben. Zum Start sollen 40 Versicherungs-jahre, 30 Beitragsjahre und flinfJahre Eigenvorsorge ausreichen. Nach Angaben der Renten-versicherung hatten die Männer, die 2010 in Rente waren, durchschnittlich 40,2 Beihagsjah-

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Page 64: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

re aufzuweisen, Frauen nur 26,8 Jahre (FA2,8.9.11). Diese Zahlen werden in den nächstenJahren weiter zurückgehen. DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach bezeichnete dieRentenpläne als "billige Scheinlösung".

VdK-Präsidentin Ulrike Mascher kritisiert, dass die Zuschussrente die eigentliche Zielgrup-pe nicht erreicht: "Die am stärksten von Altersarmut bedrohten Menschen sind nicht dielanglährig Versicherten mit zusätzlicher Altersvorsorge, sondern Menschen, die lange ar-beitslos waren, lange wenig verdient haben oder aus gesundheitlichen Gründen nicht mehrerwerbsftihig sind. Diese Personengruppe nimmt Frau von der Leyen leider kaum in denBlick". Die meisten Geringverdienet, Langzeitarbeitslosen und Erwerbsminderungsrentnerkönnten die Voraussetzungen für die Zuschussrente gar nicht erfi.illen. Im ersten Jahr wür-den demnach nur 52.000 Neu-Rentnerlnnen in den Genuss dieser Rente kommen. "Ange-sichts der Zahl von derzeit 400.000 Empftingern von Grundsicherung im Alter kann manunschwer erkennen, dass der überwältigenden Mehrheit der von Armut bedrohten Rentne-rinnen und Rentner damit nicht geholfen ist", erklärte Mascher.

Ausraubung der Rentenkasse

Die Rentenversicherung wird zum Selbstbedienungsladen für Unternehmer und den Bundes-finanzminister. Zum 1. Januar 2012 wurde der Beitragssatz zur allgemeinen Rentenversicherungum 0,3 7o auf 19,6 % gesenkt. Es profitieren davon die Arbeitgeber und Beschäftigten mit jeweils'1,3 Milliarden. Nur die Rentner und insbesondere die Empfänger von Mini- und Armutsrentenhaben davon nichts.

Zudem kürzt Finanzminister Schäuble im Einvernehmen mit der Bundes"sozial"ministerin von derLeyen ab kommendem Jahr den Bundeszuschuss zur Rentenversicherung um eine MilliardeEuro. Bis 2016 soll der Bundeszuschuss gar um 4,75 Milliarden sinken. DGB-VorstandsmitgliedAnnelie Buntenbach sagte dazu: "Wenn die Koalition den Rentenbeitrag weiter senkt und denSteuerzuschuss kürä, wird die Rentenversicherung bis aufs letzte Hemd ausgeraubt. Dann blei-ben keine Spielräume gegen die drohende Altersarmut. Wir fordern, die Rücklagen der Gesetzli-chen Rentenversicherung für schlechte Zeiten zurückzulegen und den Beitragssatz stabil zuhalten. Es wäre ein Wahnsinn, wenn der Beitragssatz weiter abgesenkt wird und gleichzeitig dasRentenniveau in den Keller rutscht. Wer aber heute den Beitrag und die Steuerzuschüsse senkt,kürzt die Renten von morgen".

Stufenweiser Einstiegin die Rente mit 67Wie die Regelaltersgrenzevon 2012 bis 2029 steigt

Rentenbeginnmit 66 Jahren

+'16[,{onate

+14Monate

+10

+7Monate

+4+3 NronatB

Ö 'l' I 't turceburtsiahrsans t 1' 'l 'i1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962

v .l .1, 'f frühestmöglicher Rentenbeginn ohneAbschlägeü V 'J, v2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 2026 2027

Abschläge für diejenigen, die weiterhin mit 65 Jahren in Rente geh€n0,6 0,9 1,2 '1,5 1,8 2,1 2,4 2,7 3,0 3,3 3,6 4,2 4,8 5,4 6,0

+6

tbis 1946

.l201',|

,,f

1947

v2012

tt'1963 1964

'..], rl,202A 2029

0% 0,3 6.6 7.20/o

Guelle: OECD lsw-groik mz

Mit dem 1. Januar 2012 beginnt der stufenweise Einstieg in die Rente mit 67 - und zwar 2012 für alle, die 1947geboren wurden und somit im Laufe des Jahres 65 Jahre alt werden- Sie müssen einen Monat länger arbeiten,um eine abschlagsfreie Rente zu bekommen. Oder sie müssen auf 0,3 Prozent ihrer Rente verzichten. lm Jahr2029 macht dieser Abschlag 7,2 lo aus, wenn ein Angehöriger des Jahrgangs 1964 mt 65 in Rente gehen will.Der Sachverständigenrat fordert bereits Rente mit 69. Der durchschnittliche Rentenbeginn liegt zur Zeit bei61,8 Jahren (Männer und 60,5 Jahren (Frauen).

62

Page 65: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Schreckgespenst Demografie

lmmer wenn die Regierenden Einschnitte in das Soziale Netz vorhaben, holen sie das Schreckge-

spenst der Demografie aus ihrem Gruselkabinett. Der Sozialstaat sei nicht mehr finanzierbar, weil

die Gesellschaft überaltere.

Gerd Bosbach, der an der Fachhochschule Remagen Statistik und Empirische Sozialforschung

lehrt, setä sich mit der "Mär von den unbezahlbaren Renten" auseinander (SZ, 2.1 .2012). "EinRechenbeispiel: 'selbst wenn die Produktivitätssteigerung je Arbeitnehmer jährlich nur ein Prozent

beträgt, könnte jeder Beschäftigte im Jahr 2060 dreißig Prozent Rentenbeitrag zahlen und gleich-

zeitig noch sein verbleibendes Einkommen um über vierzig Prozent steigern, nach Abzug der

Preissteigerung. Vorausgesetä ist allerdings, dass die erhöhte Produktivität auch ausgezahlt wird,

die Verteilung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber sich nicht zugunsten der Arbeitgeber

ändert. Auch bei der Finanzierung der Renten ist das Hauptproblem also nicht die demografische

Entwicklung. Die Umverteilung zugunsten der Unternehmer wirkt viel stärker'. Deshalb seien auch

die Produktivitätsentwicklungen der vergangenen Jahre nicht im Portemonnaie der Arbeitnehmer

angekommen. Und Bosbach fragt zum Schluss: 'Wenn unsere Wirtschaft auch nur schwach

weiter wächst, wenn gleichzeitig die Menschen in Deutschland weniger werden, was bleibt dann

für jeden Einzelnen übrig? Ein größeres Stück Kuchen. Wenn nicht jemand vorherein StückvomKuchen klaut."'

Renteneintrittsalter: lnternationaler Vergleich - 2O1O

c-^,C68.§o,EtSF g' e s . +E I E tt E; ä; ä ü FtXEC.E§ g E E g ,5E E § 26 oo os a_

69,7 67,0 66,0 65,7 65,5 64,3 63,6 63,3 62,1 61,9 61,8 61,8 61,1 59,1

67,3 63,6 63,6 63,5 64,8 62,1 62,4 63,7 62,6 59,6 60,5 63,4 58,7 59,7

isw-wirtschafrsinfo 46 63

Page 66: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

Ende 2oll:r Überschüsse der Gl(V: 19,5 Milliorden Euro

Plünderer des GesundheitsfondsVon 10,2 Milliarden Euro auf 19,5 Milliarden Euro sind die Überschüsse der GesetzlichenKrankenversicherung (GKV) bis Ende 2011 angewachsen. Beim Gesundheitsfonds stiegendie Rücklagen von 4,2 auf 9,5 Milliarden (wobei 5,1 Milliarden als gesetzliche Reservevorgeschrieben sind), bei den Gesetzlichen Krankenkassenkassen von 6 Milliarden auf 10

Milliarden.Die Gründe liegen einmal im erhöhtenBeitragssatzvon 15,5 % gegenüber 14,9oÄ im Jahrdavor, zum anderen in der Zunahme sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze.

Ein solch gewaltiger Milliardentopf weckt Begehrlichkeiten und entfesselt wahre Vertei-lungskämpfe. Mit Ausnahme der Kassen, die die Überschüsse als Reserve flir konjunkturellflauere Zeiten bewahrt wissen wollen, haben alle politischen und gesellschaftlichen KräfteVorschläge zur Plünderung des Topfes:

r Gesundheitsminister Bahr sieht darin vor allem ein Instrument, seine Klientel üppiger zu- bedienen: Niedergelassene Arzte, Apotheker, Pharmaindustrie. So will er den von seinemVorgänger Rösler eingeführten Zwangsrabatt auf Arzneimittel ggfs. wieder zur Dispositionstellen. Die Pharmaindustrie sollte damit einen Sparbeitrag v.on etwa zwei Milliarden Euroleisten. Weiterhin ist an eine Reihe von Vergünstigungen frir Arzte und Zahnärzte gedacht.

r Finanzminister Schäuble will mit einem um ein bis zwei Milliarden niedrigeren Brurdes-zuschuss zum Gesundheitsfonds einen Beitrag zur Gesundung seines Haushalts leisten.

r Die Arbeitgeberverbände und andere verlangen Beitragsrückzahlungen, was ihnen Milliarden Extraprofi te einbrächte.

r In die gleiche Richtung geht der Vorschlag der CDU, den Beitrag um 0,1 Prozentpunktezu senken. Die Forderung nach Senkung des Krankenkassenbeitrags wird auch dadurchnicht besser, wenn sie auch von sich alternativ gerierenden Gesundheitsexperten erhobenwird, die eine Senkung um mindestens zwei Prozentpunkte fordem. Was bedeuten würde,dass die Kassen bereits im nächsten Jahr wieder tief in den roten Zahlen wären. Allenfallskönnte man vorschlagen, dass der seit 2005 ausschließlich den Versicherten aufgebürdeteZusatzbeitrag von 0,9 yo (0,5 % flir Krankengeld, 0,4 Yo fur Zahnersatz), wieder rückgängig

Ausgaben der GesetzlichenKrankenversicherung (GKVIin Milliarden Euro 2011

Rücklagen der Krankenkassen:2010: 6,0 Mrd. Euro 2011: 10,0 Mrd, Euro

Rücklagen Gesundheitsfonds:2010:4,2 Mrd. Euro 2011: 9,5 Mrd, Euro(gefttzlich vorgeschieben: 5,1 Mrd. Eurc)

Quelle: Bundesminlsrerium 1ür Gesundhell lsw'srofik mz

Beitragsentwicklung in der GKV

(1.1.09)

15,5

14,2 14,2

Bundeszuschussin Mrd. Euro -- - >

15,5

't4,9 14,9(1.7.0e)

15,7 6.9

7,2

1,0

01 02 03 04 05 06 07 08 09 l0 1't 12

Quelle: Bundesreqieruno

2012: von Schäuble geplant' davon Arbeitnehmeranteil 8,2 o/o; Arbeilgeber:7,3 o/a

ßw-srolik mz

64

Page 67: ISW Wirtschaftsinfo Nr. 46 - Bilanz 2011

gemacht wird. Ansonsten bedeutet jede paritätische Beitragssenkung in der Sozialversiche-rung eine Senkung des Bruttolohnes, denn der Arbeitgeberbeitrag ist nun mal ein Lohnbe-standteil. Die Untemehmer würden sich über die Kostensenkungen freuen, wäre es dochzursätzlicher Treibsatz für ihre Exportwalze und Profitrakete.

I Am vernünftigsten erscheint der Vorschlag, den die Linkspartei eingebracht hat und demsich inzwischen auch SPD, Grüne und FDP angeschlossen haben (letztere will allerdings,werul es zur Nagelprobe kommt, im Bundestag mit der CDU/CSU dagegen stimmen): dieAbschaffung der Praxisgebühr. Sie würde mit2,6 Milliarden zu Buche schlagen, käme vorallem auch sozial Schwächeren zugute und würde ein bürokratisches Monster beseitigen.

r Darüber hinaus wäre es notwendig, die Versorgungsstruktur zu verbessern, das Angebotan Prävention und Reha-Maßnahmen zu erweitern und das System der Zuzahhrtgen wiederzurück zu stutzen.

Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP eines Landes

18o/o

160Ä

14o/o 13,7

12o/o

10o/o

60/o

4o/o

2o/o

0o/o

USA

Quelle: OECD

Frank-reich

Groß-britannien

Deutsch-land

Spanien Australien I Japan

isw-qrofik mz

isw-wirtschaftsinfo 46 65

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DRINGEND GESUCHT:AIIER]IAIIUE ZUM MPM1§MUSWo lquern im Kopitolismus die Gefohren für dos Leben dergroßen Mehrheit der Gesellschofl, wos qlso muss überwundenwerden? Gibt es neue Slrolegien des Eingreifens in die gesell-schoftlichen Mochwerhöltnisse? Wo muss ongesetzl werden,um dos kopitolistische System zu lronsformieren?

§omstog 19. Moi 2012 - I0 his 15.30 Uhr

lllünrhen, DGB-Hous, §chwontholerslr. 64

leo lUloyer widmet sein Referot den Frogen, wie der Kopitolismusvergeblich versucht, seine "{ührende Rolle" wiederzugewinnen, und wiewenig trogföhig die Propogondq vom "Sonderfoll Deuischlond" isl.

(onrod Sthuhler stellt die Demokrotisierung des Finonzsektors olsdie noiwendige Voroussetzung für die Demokrotisierung der gesomienWirtschoft und Gesellschoft herous.

ln einem dritten Teil des Forums kommen Aklivisllnnen ous

!G Metoll, uer.di, ollat, und "Erhle Demokrotie leillt"ousführlich zu Wort (Moderoiion: Wolter Listl)

Eintritt: 5 EUR / ermäßigt 3 EUR siehe auch: wvwv.isw-muenchen.de

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ZeitschriftMarxistische

Erneuerung

Mit Beiträgen wn Jörg Miehe, volker M.tz.oth, A(himgigur, Weä Richter, Raja Bernard, Usula Mölleoberg,

Ja(qer Rigaudiat Udo Paulus

Weiterc fhüen:6riechenlands Militänusgaben {Fnnz Keßjes), Warum

die Währung5union 5aheitert (Lu€as Zeise), Deutrches Eu-

ropa (rürgen wagner), Es riecht nach (rieg (cerd D€um-

lich), togik der Geschichte {A" Chadamenko), 4o Jahre

,,Extremistenerlasg" (Eya Petermrnr/Silvia Gingold),

Kuba (Ncl carillo), Einheit in Vielfalt {tothar Geisler}, z!rPeriodisierung des Kapita,ismus (Seate Landefeld),

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-J23. Jahrgang, Nr. 88, Män 2012, 224 Seiten

Zur Theorie globaler Machwerschiebungen

Globale l\lachtverschiebungen - Statistische

Ubersicht I Boris - Auf- und Abstiegsprozesse iFischer & Reiner - Globale Warenke$en / Komlosy -

China im Weltsystem / Weissenbacher - Hegemonie

und ungleiche Entwicklung / Elsenhans - Totalität,

Geschichte und Makroökonomie / Goldberg - lmperia-

lismus * Wegbereiter des Kapitalismus?

ChinaPeters - Chinas Weg zur eigenständigen Weltmacht /Geffken - Streiks & Harmonie

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Und: Peter - Gewerkschaftliche l\,4odernisierung /

Baraki - Afghanistan im Visier der Großmächte /Fößter - Fichte 2012

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