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Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht (Akten des XI. Kant-Kongresses 2010) || Praktische Logik und angewandte Logik

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Page 1: Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht (Akten des XI. Kant-Kongresses 2010) || Praktische Logik und angewandte Logik

Praktische Logik und angewandte Logik

Chiara Fabbrizi

Gegenstand dieser Untersuchung ist Kants Reaktion auf die Vorherrschaftdes praktischen Aspekts der Logik in der Zeit der Aufkl�rung. Dargestelltwerden 1) einige wichtige Charakteristiken der Logik in der Zeit derAufkl�rung; 2) Kants Ablehnung der praktischen Logik; und 3) ob undinwiefern die angewandte Logik, von der Kant spricht, die zentralen An-liegen der praktischen Logik in Deutschland weiterfìhrt. Kant leugnetn�mlich einerseits, dass es eine praktische Logik ìberhaupt geben kann,aber er erkennt andererseits an, dass es Fragen gibt, die zwar nicht als Teilder reinen Logik gelten kçnnen, aber dennoch Probleme zum Ausdruckbringen, denen gegenìber die Logik nicht gleichgìltig sein kann. Die reineLogik bleibt davon zwar unberìhrt, aber es entsteht dadurch Raum fìr eineweitere Spezies der allgemeinen Logik, welche das Subjekt berìcksichtigt,das die Regeln des Denkens zur Anwendung bringt.

1 Aufkl�rung durch Logik und Logik als Aufkl�rung

Verschiedene Philosophiehistoriker haben darauf hingewiesen, dass amEnde des 17. Jahrhunderts die Idee Verbreitung findet, die Logik sei eineDisziplin, die sich auch mit psychologischen Fragestellungen besch�ftigenmìsse, wie z.B. mit der Analyse des Erkenntnisvermçgens.1 Dies zeigt sichzum Beispiel daran, dass Lockes Essay Concerning Human Understandingaus dem Jahre 1690 gemeinhin als ein Text betrachtet wurde, der sich unteranderem auch mit Problemen der Logik befasst, und in diesem Sinneinsbesondere bald auch im deutschsprachigen Raum rezipiert worden ist.2

1 Vgl. Nuchelmans, Gabriel : Judgment and Proposition. From Descartes to Kant.Amsterdam/Oxford/New York 1983; Capozzi,Mirella/Roncaglia, Gino: „Historyand Philosophy of Logic fromHumanism to Kant“. In: Haaparanta, Leila (Hrsg.):The Development of Modern Logic. Oxford 2009, 78–158.

2 Vgl. Buickerood, James G.: „The Natural History of the Understanding: Lockeand the Rise of Facultative Logic in the Eighteenth Century“. In: History andPhilosophy of Logic 6, 1985, 157–190; Easton, Patricia (Hrsg.): Logic and theWorkings of the Mind. Atascadero, Calif. 1997; Wundt, Max: Die deutsche

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Schon seit ihren Anf�ngen bei Christian Thomasius hat in der deut-schen Aufkl�rung die Aufmerksamkeit fìr psychologische Fragestellungenzur Konsequenz, dass die Logik auf der Basis einer empirischen Psychologiebegrìndet (und somit der natìrlichen Logik Vorrang gegenìber derkìnstlichen Logik einger�umt) wird und dass der praktische Aspekt derLogik an Bedeutung gewinnt. Man ist der Auffassung, dass die Logik einInstrument sein kann, um neue Wahrheiten zu entdecken, um den Ver-stand von Irrtìmern und Vorurteilen zu befreien, um Erkenntnisse zubewerten und zu kommunizieren, um zu ìberzeugen, zu widerlegen und zudisputieren. Dies ist sowohl bei denjenigen der Fall, die es fìr nçtig halten,die Logik und deren praktischen Aspekt zugleich darzustellen, um eineexzessive Abstraktheit zu vermeiden, als auch bei denjenigen, die derlehrenden oder theoretischen Logik (logica theoretica) eine ausìbende oderpraktische Logik (logica practica) folgen lassen und auf diese Weise dieUnterscheidung zwischen logica docens und logica utens aufgreifen und neuinterpretieren.3

„Aufkl�rung durch Logik und Logik als Aufkl�rung“, wie es Schneiders(1980) treffend zusammengefasst hat: Die neue ,aufgekl�rte‘ Logik sollallen Menschen zug�nglich sein und eine nìtzlicheMethode liefern.4 Sei es,dass man die Logik als „Ausbesserung des Willens“ versteht, die es erlaubt,ohne Syllogismen neueWahrheiten zu entdecken (Thomasius),5 sei es, dassman die Logik als Wissenschaft des korrekten Denkens versteht, derenKenntnis es automatisch erlaubt, Irrtìmer und Trugschlìsse zu vermeiden(Wolff ).

Schulphilosophie im Zeitalter der Aufkl�rung. Hildesheim 1992; Pozzo, Riccardo:Georg Friedrich Meiers „Vernunftlehre“. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, 106. AuchKant interpretiert in seinen Vorlesungen Lockes Essay (polemisch) in diesem Sinne:vgl. V-Lo/Wiener, AA 24: 796; V-Lo/Dohna, AA 24: 701; Logik Hechsel (in: Kant,Immanuel: Logik-Vorlesungen. Unverçffentlichte Nachschriften. Hrsg. von T. Pin-der. Hamburg 1998, als LV mit Nennung der Band- und Seitenzahlen zitiert), LVII: 288 f.

3 Vgl. Schneiders, Werner: „Praktische Logik. Zur Vernunftlehre der Aufkl�rung imHinblick auf Reimarus“. In: Walter Wolfgang/Borinski Ludwig (Hrsg.): Logik imZeitalter der Aufkl�rung. Gçttingen 1980, 83; Conrad, Elfriede: Kants Logikvor-lesungen als neuer Schlìssel zur Architektonik der Kritik der reinen Vernunft. Stuttgart1994, 77 ff.

4 Vgl. Schepers, Heinrich: Andreas Rìdigers Methodologie und ihre Voraussetzungen.Kantstudien Erg�nzungshefte 78. Kçln 1959.

5 Vgl. Schneiders, Werner: „Vernunft und Freiheit. Christian Thomasius als Auf-kl�rer“. In: Studia Leibnitiana XI/1, 1979, 3–21; Schepers 1959, 34 f.

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Es zeigt sich hierin auch eine Beziehung zur Logik der Renaissance(nicht zuf�llig wird h�ufig Bacon zitiert) und zur Rhetorik.6Denn: 1) VieleAufkl�rer kritisieren die herkçmmliche Rhetorik, „die sich seit Aristotelesnicht auf dasWahre, sondern auf dasWahrscheinliche und die allgemeinenAnsichten stìtzt und konzentriert ; sie wird als Quelle von Irrtìmern undLìgen angegriffen“.7 Eben deshalb ist es nìtzlich, sie zu kennen, um ihreTrugschlìsse zu vermeiden. 2) Da die praktische Logik auch eine Methodezur Entdeckung neuerWahrheiten ist, ìbernimmt sie einige Techniken derRhetorik (welche sich mit der inventio befasst)8 ; 3) Die Einteilung derlogica utens weist h�ufig nicht wenige öhnlichkeiten mit Bacons Unter-teilung der „logischen Kìnste“ („artes logicae“) in inventio, judicium, cu-stodia oder memoria und elocutio auf, die auf die Tradition der Rhetorikzurìckgeht.9

Der Bezug zur Einteilung der Rhetorik ist klar in Ludwig PhilippThìmmigs Institutiones logicae, seu philosophiae rationalis (Frankfurt/Leipzig 1725), in Christian Wolffs Philosophia rationalis sive Logica, me-thodo scientifica pertractata (Frankfurt/Leipzig 1728), in Alexander Gott-lieb Baumgartens Acroasis logica in Christianum L.B. de Wolff (Halle 1761),sowie in der Vernunftlehre (Halle 1752) und im Auszug aus der Vernunft-lehre (Halle 1752) von Georg Friedrich Meier.

2 Kants Reaktion

Als Kant seine eigene Konzeption der Logik ausarbeitet, muss er dieserSituation Rechnung tragen. Zudem ist er gezwungen, sich mit der Un-terscheidung zwischen logica theoretica und logica practica auseinanderzu-setzen, denn diese Unterscheidung ìbernimmt auch Meier im Auszug ausder Vernunftlehre (§ 7), den Kant w�hrend der gesamten Zeit seiner

6 Vgl. Blanch¦, Robert: La logique et son histoire d’Aristote � Russell. Paris 1970, Kap.VII, § 1; Capozzi/Roncaglia 2009, § 1; Schneiders 1980, 77.

7 Schneiders, Werner (Hrsg.): Lexicon der Aufkl�rung. Deutschland und Europa.Mìnchen 1995, 356 f.

8 Vgl. Carruthers, Mary: The Craft of Thought. Cambridge 1998.9 Bacon, Francis:De dignitate et augmentis scientiarum libri IX. London 1623, Pars V,

2, Rossi, Paolo: Francesco Bacone. Dalla magia alla scienza. Torino 1974, 231.

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Lehrt�tigkeit als Lehrbuch fìr seine eigenen Logik-Vorlesungen an derAlbertina benutzt.10

Kants Reaktion ist eindeutig: Es kann keine praktische Logik geben,die Logik muss von allen psychologischen Aspekten abstrahieren, vor allemaber kann und darf sie nicht auf der Basis einer empirischen Psychologiegegrìndet sein.11 In der Tat ist Kant bekanntlich der folgenden Auffassung:

[…] wenn einige Neuere sie [die Logik] dadurch zu erweitern dachten, daß sietheils psychologische Capitel von den verschiedenen Erkenntnißkr�ften (derEinbildungskraft, dem Witze), theils metaphysische ìber den Ursprung derErkenntniß oder der verschiedenen Art der Gewißheit nach Verschiedenheitder Objecte (dem Idealism, Scepticism u.s.w.), theils anthropologische vonVorurtheilen (den Ursachen derselben und Gegenmitteln) hineinschoben, sorìhrt dieses von ihrer Unkunde der eigenthìmlichen Natur dieser Wissen-schaft her. (KrV, B VIII)

Dennoch verh�lt es sich auch im Falle Kants nicht so einfach, wie es scheint,denn auchKant gesteht der Psychologie eine Rolle zu, insofern er der reinenLogik auch eine „angewandte Logik“ beiseite stellt. Diese Disziplin wirdsowohl in der Logik J�sche als auch in der Kritik der reinen Vernunft als eineLogik charakterisiert, die „auf die Regeln des Gebrauchs des Verstandesunter den subjectiven empirischen Bedingungen, die uns die Psychologielehrt, gerichtet ist“ (KrV, A 53/B 77 f.).

Das Problem, das Kant hier in den Blick nimmt, ist keineswegszweitrangig: Auch wenn die Logik von allen psychologischen Aspektenabstrahieren muss, so bleibt doch das menschliche Denken das Denkeneines sowohl vernìnftigen als auch sinnlichen Wesens. Mit Blick auf dieAnwendung der Denkregeln seitens des Menschen ist es daher nçtig, demmenschlichen Subjekt als ganzem Rechnung zu tragen.

Kant verneint also, dass es eine praktische Logik geben kann, aber erschenkt vielen der Themen Beachtung, die in der Aufkl�rung als Teil derpraktischen Logik behandelt worden sind, und listet sie als Gegenst�ndeeiner angewandten Logik auf: der Einfluss der Sinne, die Spiele der Ein-bildung, die Gesetze des Ged�chtnisses, die Macht der Gewohnheit, dieNeigung, die Quellen der Vorurteile, die Aufmerksamkeit, deren Hin-dernis und Folgen, der Ursprung des Irrtums, der Zustand des Zweifels, desSkrupels, der �berzeugung usw.

10 Vgl. Capozzi, Mirella: Kant e la logica, I. Napoli 2002, Kap. III; Oberhausen,Michael/Pozzo, Riccardo: Vorlesungsverzeichnisse der Universit�t Kçnigsberg(1720–1804). Stuttgart-Bad Cannstatt 1999; Conrad 1994, 86–95.

11 Vgl. Capozzi 2002, Kap. VI.

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Kant unterbreitet somit ein neues Verst�ndnis der logica utens gegen-ìber der praktischen Logik im traditionellen Sinne. Dieses wird in derAetaskantiana, z.B. von LudwigHeinrich Jakob (Grundriß der allgemeinen Logikund kritische Anfangsgrìnde der allgemeinen Metaphysik. Halle 1788), Jo-hann Gottfried Karl Christian Kiesewetter (Grundriß einer allgemeinenLogik nach Kantischen Grunds�tzen. Zum Gebrauch fìr Vorlesungen. Be-gleitet mit einer weitern Auseinandersetzung fìr diejenigen die keine Vorle-sungen darìber hçren kçnnen. Bd. I: Reine allgemeine Logik. Berlin 1791,Bd. II: Angewandte Logik. Berlin 1796), Johann Christoph Hoffbauer(Anfangsgrìnde der Logik.Halle 1794) und JohannGottliebGerhard Buhle(Einleitung in die Allgemeine Logik und die Kritik der reinen Vernunft.Gçttingen 1795) rezipiert, akzeptiert und weiterentwickelt, dann aber z.B.von Edmund Husserl (Logische Untersuchungen, in: Gesammelte Werke.Hrsg. von E. Holenstein. Den Haag 1975, XVIII.1: 45) kritisiert, dessenAuffassung zufolge die angewandte Logik der praktischen Logik entspricht.

Im Folgenden werde ich Kants Kritik an der traditionellen praktischenLogik und seine Idee einer angewandten Logik analysieren.

2.1 Nicht praktische Logik, sondern nur Methodenlehre

„Wenn man“, Kant zufolge, „die Philosophie, sofern sie Principien derVernunfterkenntniß der Dinge (nicht bloß die Logik Principien der Formdes Denkens ìberhaupt ohne Unterschied der Objecte) durch Begriffeenth�lt, wie gewçhnlich in die theoretische und praktische eintheilt : soverf�hrt man ganz recht“ (KU, AA 05: 171). Die Unterscheidung zwischeneinem theoretischen und einem praktischen Teil ist also in der Philosophiemçglich, nicht aber in der Logik.

Aber auch in der Philosophie wird diese Unterscheidung in polemi-scher Absicht von Kant anders verstanden, als dies traditionell der Fall ist :

Es hat aber bisher ein großer Mißbrauch mit diesen Ausdrìcken zur Ein-theilung der verschiedenen Principien und mit ihnen auch der Philosophiegeherrscht: indem man das Praktische nach Naturbegriffen mit dem Prakti-schen nach dem Freiheitsbegriffe fìr einerlei nahm und so unter denselbenBenennungen einer theoretischen und praktischen Philosophie eine Ein-theilung machte, durch welche (da beide Theile einerlei Principien habenkonnten) in der That nichts eingetheilt war. (KU, AA 05: 171–172.)

Die Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Philosophieimpliziert fìr Kant nicht, dass letztere die „Regeln der Geschicklichkeit, die

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mithin nur technisch-praktisch sind“, enth�lt (KU, AA 05: 173). DieUnterscheidung basiert vielmehr fìr Kant auf einer anderen Grundlage:

Es sind aber nur zweierlei Begriffe, welche eben so viel verschiedene Principiender Mçglichkeit ihrer Gegenst�nde zulassen: n�mlich die Naturbegriffe undder Freiheitsbegriff. […] so wird die Philosophie in zwei den Principien nachganz verschiedene Theile, in die theoretische als Naturphilosophie und diepraktische alsMoralphilosophie (denn so wird die praktische Gesetzgebung derVernunft nach dem Freiheitsbegriffe genannt) mit Recht eingetheilt. (KU, AA05: 171.)

Der „wesentliche Unterschied“, den die Tradition (gemeint ist hier vorallem Wolff ) „unbestimmt gelassen“ hat, ist Kant zufolge: Ob, „in An-sehung des Praktischen“, „der Begriff, der der Causalit�t des Willens dieRegel giebt, ein Naturbegriff, oder ein Freiheitsbegriff sei“ (KU, AA 05:172). Im ersteren Fall (Naturbegriff ) handelt es sich um „technisch-prak-tisch[e]“ Prinzipien, die „zur theoretischen Philosophie (als Naturlehre)gehçren“; im letzteren Fall (Freiheitsbegriff ) dagegen um „moralisch-praktisch[e]“ Prinzipien, die „ganz allein den zweiten Theil, n�mlich (alsSittenlehre) die praktische Philosophie, ausmachen“ (ebd.).

Da die Logik rein formal ist und die Freiheit nicht zum Gegenstandhat, kann es keine praktische Logik geben. Was die Tradition praktischeLogik nennt, „w�re eine contradictio in adjecto, weil eine praktische Logikdie Kenntniß einer gewissen Art von Gegenst�nden, worauf sie angewandtwird, voraussetzt. Wir kçnnen daher jede Wissenschaft eine praktischeLogik nennen; denn in jeder mìssen wir eine Form des Denkens haben“(Log, AA 09: 17–18; vgl. Logik Bauch, LV I: 19;Warschauer Logik, LV II:513; Logik Hechsel, LV II: 285). „Logic muß also nicht in den theoretischenund praktischen Theil, sondern in den dogmatischen und technischenTheil getheilet werden. Der dogmatische ist der Canon: der technische istdie Vorschrift der Regeln der Schule“ (V-Lo/Wiener, AA 24: 794).

Der dogmatische Teil ist n�mlich die Logik des allgemeinen Verstan-desgebrauchs, welche „die schlechthin nothwendigen Regeln des Denkens,ohne welche gar kein Gebrauch des Verstandes stattfindet“, enth�lt, undalso „auf diesen unangesehen der Verschiedenheit der Gegenst�nde“ geht;der technische Teil ist die Logik des besondern Verstandesgebrauchs, welche„die Regeln, ìber eine gewisse Art von Gegenst�nden richtig zu denken“,enth�lt. Der technische Teil der Logik „kann daher nichts weiter sein alseine Technik der Gelehrsamkeit ìberhaupt, ein Organon der Schulmethode[…], eine logische Kunst in Ansehung der Anordnung und der logischenKunstausdrìcke und Unterschiede, um dem Verstande dadurch seinHandeln zu erleichtern“ (Log, AA 09: 18).

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W�hrend man die erstere auch „Elementarlogik“ nennen kann, kannman die letztere auch „das Organon dieser oder jener Wissenschaft“nennen (KrV, A 50/B 76; vgl. NEV, AA 02: 310).

Was ist nun „eineTechnik der Gelehrsamkeit ìberhaupt, einOrganon derSchulmethode“? In der Logik J�sche heißt es, dass Philosophie in der„scholastischen Bedeutung des Worts […] nur auf Geschicklichkeit“ gehtund dass zu ihr nach dem Schulbegriffe zwei Stìcke gehçren: „Erstlich einzureichender Vorrath von Vernunfterkenntnissen, fìr’s Andre: ein syste-matischer Zusammenhang dieser Erkenntnisse oder eine Verbindungderselben in der Idee eines Ganzen“ (Log, AA 09: 24; vgl. KrV, A 838/B866).

Dieser letzte Punkt ist sehr wichtig, denn „die Erkenntniß, als Wis-senschaft, muß nach einer Methode eingerichtet sein. Denn Wissenschaftist ein Ganzes der Erkenntniß als System […] nach ìberlegten Regeln“.Diese Regeln werden in der allgemeinen Methodenlehre angegeben, wel-che „von der Form einer Wissenschaft ìberhaupt, oder von der Art undWeise zu handeln [hat], das Mannigfaltige der Erkenntniß zu einer Wis-senschaft zu verknìpfen“ (Log, AA 09: 139).12

Denn der dogmatische Teil der Logik wìrde die Elementarlehre, dertechnische Teil die Methodenlehre heißen kçnnen. Die Begriffe Elemen-tarlehre und Methodenlehre erscheinen in den von Kant verçffentlichtenTexten zum ersten Mal 1781, in der ersten Auflage der Kritik der reinenVernunft, und in den Reflexionen nicht vor Mitte der 1770er Jahre.13 DieseSystematik wird dann endgìltig, so dass auch die Logik J�sche sowie die dreiKritiken und die Tugendlehre die Unterscheidung zwischen Elementarlehreund Methodenlehre aufweisen.

Tats�chlich leistet Kant zufolge dieMethodenlehre derKritik der reinenVernunft in transzendentaler Absicht das, „was unter dem Namen einerpraktischen Logik in Ansehung des Gebrauchs des Verstandes ìberhaupt inden Schulen gesucht, aber schlecht geleistet wird“ (KrV, A 708/B 736).Den Platz der praktischen Logik nimmt daher die Methodenlehre ein,ohne dabei jedoch die Beziehung zur Psychologie zu ìbernehmen, denn inbeiden Teilen der Logik, „dem technischen so wohl als dem dogmatischen,wìrde […] weder auf Objecte noch auf das Subject des Denkens diemindeste Rìcksicht genommen werden dìrfen“. Insofern auf das Subjektdes Denkens Rìcksicht genommen wìrde, wìrde die Logik „eingetheilt

12 Vgl. Refl, AA 16: 780–781 (R 3325).13 Vgl. Capozzi 2002, 260.

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werden kçnnen […] in die reine und in die angewandte Logik“ (Log, AA09: 18).

Die Beziehung zur Psychologie, welche die praktische Logik derAufkl�rung charakterisiert, kommt daher der angewandten Logik zu, ohnedass dies den (von der Psychologie vollst�ndig getrennten) Charakter derreinen Logik ver�ndert. In der angewandten Logik finden so die psycho-logischen Kapitel (von den verschiedenen Erkenntniskr�ften: der Einbil-dungskraft, demWitze, u.s.w.) und die anthropologischen Kapitel (von denUrsachen der Vorurteile und Gegenmitteln) Platz, die einige Neuere derLogik zugeschlagen haben, die jedoch nicht Teil der reinen Logik seindìrfen.

Dagegen finden die metaphysischen Kapitel keinen Platz in der ange-wandten Logik, denn was den Ursprung der Erkenntnis betrifft, kann ìberdie Entdeckung ihrer Quellen (welche Aufgabe der Elementarlehre derKritik der reinen Vernunft ist) hinaus nichts ausgesagt werden. Ebensowenigsind die „verschiedene(n) Art der Gewißheit nach Verschiedenheit derObjecte (dem Idealism, Scepticism u.s.w.)“ (KrV, B VIII) Gegenstand derangewandten Logik, weil diese als allgemeine Logik sich nicht mit Ob-jekten befasst und weil zudem die Gewissheit (als logische Vollkommen-heit) nicht an den Objekten, sondern an den zureichenden bzw. unzu-reichenden subjektiven und objektiven Grìnden des Fìrwahrhaltensgemessen wird.

2.2 Was ist angewandte Logik?

Die Definition dessen, was angewandte Logik im Gegensatz zur reinenLogik sei, findet sich in der Kritik der reinen Vernunft (B 74 ff./A 50 ff.) imKontext der Darstellung der allgemeinen und elementaren Logik.

Die reine Logik („die eigentlich nur allein Wissenschaft ist“) a) ab-strahiert „von allen empirischen Bedingungen, unter denen unser Verstandausgeìbt wird, z.B. vom Einfluß der Sinne, vom Spiele der Einbildung,den Gesetzen des Ged�chtnisses, derMacht der Gewohnheit, der Neigung,etc. , mithin auch den Quellen der Vorurtheile, ja gar ìberhaupt von allenUrsachen, daraus uns gewisse Erkenntnisse entspringen, oder unterge-schoben werden mçgen, weil sie bloß den Verstand unter gewissen Um-standen seiner Anwendung betreffen, und, um diese zu kennen, Erfahrungerfordert wird“; b) hat „mit lauter Principien a priori zu thun“; c) ist „einKanon des Verstandes und der Vernunft […] in Ansehung des Formalenihres Gebrauchs“.

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Die angewandte Logik dagegen a) ist „auf die Regeln des Gebrauchs desVerstandes unter den subjectiven empirischen Bedingungen, die uns diePsychologie lehrt, gerichtet“; „ist eine Vorstellung des Verstandes und derRegeln seines nothwendigen Gebrauchs in concreto, n�mlich unter denzuf�lligen Bedingungen des Subjects, die diesen Gebrauch hindern oderbefçrdern kçnnen, und die insgesammt nur empirisch gegeben werden“; b)„handelt von der Aufmerksamkeit, deren Hinderniß und Folgen, demUrsprunge des Irrthums, dem Zustande des Zweifels, des Scrupels, der�berzeugung u.s.w.“; sie hat „empirische Principien, ob sie zwar in so fernallgemein ist, daß sie auf den Verstandesgebrauch ohne Unterschied derGegenst�nde geht“; c) ist ein „Kathartikon des gemeinen Verstandes“.

Die angewandte Logik ist dabei jedoch fìr Kant kein Organon, son-dern lediglich ein Kanon, denn dies „kann man als eine sichere undbrauchbare Warnung anmerken: daß die allgemeine Logik, als Organonbetrachtet, jederzeit die Logik des Scheins, d. i. dialektisch, sei“ (KrV, A 61/B 86). Gleichwohl bleibt die Rezeption von Kants Unterscheidung zwi-schen reiner und angewandter Logik in der Aetas kantiana mit einer ge-wissen Ambiguit�t zwischen praktischer Logik, angewandter Logik undDialektik behaftet.14

Der Definition der angewandten Logik in der Kritik der reinen Ver-nunft fìgt die Logik J�sche nicht viel hinzu. Dort heißt es:

In der reinen Logik sondern wir den Verstand von den ìbrigen Gemìtskr�ftenab und betrachten, was er fìr sich allein thut. Die angewandte Logik betrachtetden Verstand, sofern er mit den andern Gemìtsk�ften vermischt ist, die aufseine Handlungen einfließen und ihm eine schiefe Richtung geben, so daß ernicht nach denGesetzen verf�hrt, von denen er wohl selbst einsieht, daß sie dierichtigen sind. (Log, AA 09: 18.)

�brigens scheint J�sche bei der Redaktion der Logik in diesem Punkt ebender Vorlage der Kritik der reinen Vernunft gefolgt zu sein, denn in denlogischen Reflexionen finden sich nur vereinzelte Andeutungen zur an-gewandten Logik (vgl. Refl, AA 16: 783 (R 3333); Refl, AA 16: 47 (R1629)).

Die Definition der angewandten Logik in der Logik J�sche erscheintaußerdem unpr�zis, denn sie n�hert die angewandte Logik allzu sehr an diePsychologie an. In der Tat heißt es weiter:

Die angewandte Logik sollte eigentlich nicht Logik heißen. Sie ist eine Psy-chologie, in welcher wir betrachten, wie es bei unserm Denken zuzugehenpflegt, nicht wie es zugehen soll […]. Aber […] die Psychologie, aus welcher in

14 Vgl. z.B. Kiesewetter 1796, § 9.

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der angewandten Logik alles genommen werden muß, ist ein Theil der phi-losophischen Wissenschaften, zu denen die Logik Prop�deutik sein soll. (Log,AA 09: 18.)

Auch die Logik Pçlitz assimiliert die angewandte Logik an die Psychologie.Dort heißt es:

Die Logik kann eigentheilt werden in die reine und applicirte. Die reine Logikbetrachtet wie der Verstand handeln soll. Die applizierte Logik sollte eigentlichnicht Logik heißen, denn sie ist eine Psychologie, wo wird die Ph�nomene desVerstandes d. i. wie er zu handeln pflegt, betrachten, nicht wie der handeln soll[…]. (V-Lo/Pçlitz, AA 24: 507.)

Dagegen betont Capozzi (2002, 266), dass dies nicht korrekt ist, da Kant inder Kritik der reinen Vernunft die angewandte Logik als ein „Kathartikon“bezeichnet und ihrmithin eine Aufgabe zuschreibt, „die er wohl kaum einerrein deskriptiven und nicht normativen Wissenschaft wie der Psychologiezuschreiben wìrde“.

Da in der Kritik der reinen Vernunft die angewandte Logik neben derreinen Logik Teil der Logik des allgemeinen Verstandesgebrauchs ist, kannsie nichtmit der Psychologie identifiziert werden, obgleich sie sich auchmitden subjektiven empirischen Bedingungen der Erkenntnis befasst.

Um die Beziehung zu kl�ren, welche die angewandte Logik zur reinenLogik einerseits und zur Psychologie andererseits unterh�lt, zieht Kant eineParallele zur Moralphilosophie:

[…] zu ihr [zur angewandten Logik] verh�lt sich die allgemeine und reineLogik wie die reine Moral, welche bloß die nothwendigen sittlichen Gesetzeeines freien Willens ìberhaupt enth�lt, zu der eigentlichen Tugendlehre,welche diese Gesetze unter den Hindernissen der Gefìhle, Neigungen undLeidenschaften, denen die Menschen mehr oder weniger unterworfen sind,erw�gt, und welche niemals eine wahre und demonstrirte Wissenschaft ab-geben kann, weil sie eben sowohl als jene angewandte Logik empirische undpsychologische Principien bedarf. (KrV, A 54 f./B 79.)

Der Vergleich zwischen reiner Logik und Moralphilosophie, die beidenotwendig rein sein mìssen, findet sich auch in der Logik J�sche: psy-chologische Prinzipien in die Logik zu bringen „ist eben so ungereimt alsMoral von Leben herzunehmen.“ (Log, AA 09: 14.)

In der Tugendlehre, sofern sie Teil der Metaphysik der Sitten ist,werden wir

oft die besondereNatur desMenschen, die nur durch Erfahrung erkannt wird,zum Gegenstande nehmen mìssen, um an ihr die Folgerungen aus den all-gemeinen moralischen Principien zu zeigen, ohne daß jedoch dadurch derReinigkeit der Letzeren etwas benommen, noch ihr Ursprung a priori dadurch

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zweifelhaft gemacht wird. – Das will so viel sagen als: eine Metaphysik derSitten kann nicht auf die Anthropologie gegrìndet, aber doch auf sie ange-wandt werden. (MS, AA 06: 217.)

In gleicher Weise muss auch die angewandte Logik die besonderen Um-st�nde der Anwendung des Verstandes (dessen notwendige Regeln unsdurch die reine Logik gegeben sind) der Erfahrung entnehmen, aber sie istweder direkt auf Erfahrung gegrìndet noch nimmt sie Rìcksicht auf dieGegenst�nde der Erkenntnis.

Wie die Metaphysik der Sitten von der moralischen Anthropologieunterschieden werden muss, „welche, aber nur die subjective, hinderndesowohl als begìnstigende Bedingungen der Ausfìhrung der Gesetze derersteren in der menschlichen Natur, die Erzeugung, Ausbreitung undSt�rkung moralischer Grunds�tze (in der Erziehung, der Schul- undVolksbelehrung), und dergleichen andere sich auf Erfahrung grìndendeLehren und Vorschriften enthalten wìrde“ (MS, AA 06: 217; vgl. GMS,AA 04: 388), so definiert Kant auch die angewandte Logik „wider diegemeine Bedeutung dieses Worts, nach der sie gewisse Exercitien, dazu diereine Logik die Regel giebt, enthalten soll“ (KrV, A 54/B 78). Die ange-wandte Logik ist daher, obgleich sie auf das allgemeine Verstandesver-mçgen der Menschen gerichtet ist, keine P�dagogik.

Tats�chlich schreibt Kant zwar keine angewandte Logik (und er r�tJakob davon ab, dies zu tun, als dieser ihn nach seiner Meinung ìber dasProjekt seines Grundriß der allgemeinen Logik fragt),15 aber es finden sichdavon „vielf�ltige Spuren im Kontext seiner Abhandlung der logischenVollkommenheiten der Erkenntnis im gesamten logischen CorpusKants“.16

2.3 Das geteilte Erbe der praktischen Logik

Es stellt sich somit die Frage, ob eine Beziehung zwischen den beiden Erbender praktischen Logik, d.h. zwischen der (als praktische allgemeine Logikverstandenen) Methodenlehre einerseits und der angewandten Logik an-dererseits besteht.

Es hatte sich n�mlich zwar einerseits gezeigt, dass das Ziel der Me-thodenlehre darin besteht, „dem Verstande […] sein Handeln zu erleich-

15 Vgl. Br, AA 10: 494.16 Capozzi 2002, 266; vgl. Young, J. Michael: „Translator’s introduction“. In: Im-

manuel Kant, Lectures on Logic. Cambridge 1992, XIX.

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tern“, aber andererseits macht auch die angewandte Logik Aussagen dar-ìber, „was man thun soll, um unter mancherlei subiectiven Hindernissenund Einschr�nkungen einen richtigen Gebrauch vom Verstande zu ma-chen; auch kçnnen wir von ihr lernen, was den richtigen Verstandesge-brauchs befçrdert, die Hìlfsmittel desselben oder die Heilungsmittel vonlogischen Fehlern und Irrthìmern.“ (Log, AA 09: 18.)

Gegenstand der angewandten Logik sind genauer genommen dieRegeln des notwendigen Verstandesgebrauchs in concreto, „n�mlich unterden zuf�lligen Bedingungen des Subjects, die diesen Gebrauch hindernoder befçrdern kçnnen, und die insgesammt nur empirisch gegebenwerden.“ (KrV, A 54/B 78 f.)

Mit anderen Worten: ihr Gegenstand ist der gemeine Verstand, d. h.

das Vermçgen der Erkenntniß und des Gebrauchs der Regeln in concreto zumUnterschiede des speculativen Verstandes, welcher ein Vermçgen derErkenntniß der Regeln in abstracto ist. Sowird der gemeine Verstand die Regel,daß alles, was geschieht, vermittelst seiner Ursache bestimmt sei, kaum ver-stehen, niemals aber so im allgemeinen einsehen kçnnen. Er fordert daher einBeispiel aus der Erfahrung, und wenn er hçrt, daß dieses nichts anders be-deute, als was er jederzeit gedacht hat, wenn ihm eine Fensterscheibe zer-brochen oder ein Hausrath verschwunden war, so verstehet er den Grundsatzund r�umt ihn auch ein. (Prol, AA 04: 369–370.)

Der Verstand, insofern er korrekt gebraucht wird, ist der gesunde Verstand(vgl. KU, AA 05: 169), eine „Wìnschelruthe […], die nicht jedermannschl�gt, sondern sich nach persçnlichen Eigenschaften richtet“ (Prol, AA04: 369). Insoweit es mçglich ist zu verstehen, wie der gesunde Verstandhandelt, kçnnen Maximen (aber nicht Gesetze) fìr den allgemeinenVerstand aufgestellt werden, die jene Felder betreffen, die nicht a priorivermessen werden kçnnen, da sie zu sehr an die subjektive Sinnlichkeitgebunden sind. Eines dieser Felder ist zum Beispiel die Heuristik: Kantverneint n�mlich, dass die reine Logik eine heuristische Funktion habe(eine der fundamentalen Thesen der praktischen Logik der Aufkl�rung),obgleich dies wìnschenswert und von großem Nutzen w�re.17 Andersverh�lt es sich jedoch bei der angewandten Logik, d.h. bei einer Logik, diedas erkennende Subjekt berìcksichtigt. In diesem Fall ist es n�mlichmçglich, heuristische Maximen und Verfahrensregeln aufzustellen, und

17 Vgl. Capozzi 2002, 212 ff.

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Kant bietet sich selbst als Beispiel an, um Ratschl�ge zu geben, wie manerfolgreich Entdeckungen machen kann.18

Gleichwohl mìssten diese Maximen, insofern sie die Doktrin des„Meditierens“ betreffen, Kant zufolge der Methodenlehre der Logik (vgl.Log, AA 09: 150) zugeschlagen werden. Logische Methodenlehre undangewandte Logik scheinen sich also gleichsam zu ìberschneiden.

Meiner Meinung nach gibt es mindestens zwei Grìnde fìr diese�berschneidung: 1) Eine angewandte Logik w�re aufgrund ihrer Bezie-hung mit der Praxis eine Methodenlehre (und weniger eine Elementar-lehre), die das Subjekt des Denkens berìcksichtigt; und 2) auch dem ge-meinen Verstand ist die methodische Organisation der Erkenntnisse vonNutzen, die in der Methodenlehre aufgewiesen wird: z.B. wenn manIrrtìmer vermeiden will (vgl. die dritte Maxime, „der consequentenDenkungsart“, KU, AA 05: 294–295) oder wenn man die Mçglichkeit inBetracht zieht, heuristische Maximen zu unterbreiten (ein grundlegenderSchritt ist n�mlich die systematische Organisation der Erkenntnisse, ìberdie man nachdenkt).19

Zwischen Methodenlehre und angewandter Logik besteht also an-scheinend eine Beziehung der Kontinuit�t : die angewandte Logik machtsich die Inhalte der Methodenlehre zu Nutze, bedarf aber auch der Er-gebnisse der Psychologie; umgekehrt w�re eine Methodenlehre, die sichdem konkreten Verstandesgebrauch zuwendet, eine angewandte Logik.20

Abschließend bin ich also der Auffassung, dass Kants entschiedeneOpposition zur praktischen Logik vor allem als Reaktion auf die „Dege-neration der Aufkl�rung zur Popularphilosophie“ zu verstehen ist, mit der„auch der aufkl�rerische Typus der praktischen Logik, die […] eine,Vernunftlehre fìr Menschen, wie sie sind‘ sein wollte“ endete (Schneiders1980, 92). Diese Degeneration ist es, die Kant dazu angetrieben hat, dieReinheit der Logik zu betonen und die Idee einer praktischen Logik zu-rìckzuweisen, wie sie sich im Kontext der deutschen Aufkl�rung konfi-guriert hat, ohne dabei jedoch die beiden Kernprobleme der praktischenLogik aus den Augen zu verlieren: das Problem der Methode und das

18 Vgl. Capozzi, Mirella: „Kant on Heuristics as a Desirable Addition to Logic“. In:Cellucci Carlo/Pecere Paolo (Hrsg.): Demonstrative and Non-Demonstrative Rea-soning in Mathematics and Natural Science. Cassino 2006, 123–181.

19 Vgl. ebd.20 In diesem Sinne kçnnte man Husserl zustimmen (a. a. O).

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Problem des Subjekts. Das erstere Problem findet seinen neuen Ort in derMethodenlehre, das letztere in der angewandten Logik.21

21 Fìr eine ausfìhrliche Darstellung zu diesem Thema vgl. Fabbrizi, Chiara: La logicaapplicata. Logica e condizioni empiriche soggettive nella filosofia di Kant.Roma 2012.

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