Kapitalismus, Märkte, Krisen - #14

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  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    KapiKapitalismtalismus, Mrkte, Krisenus, Mrkte, Krisen(A(Ausgabe Nusgabe Nr. 14, 7r. 14, 7. F. Febebruar 201ruar 2012)2)

    Bild: Jrg Mller

    Krisenzeiten sind Zeiten der Vernderung. Vernderung, nicht

    notwendig hin zum Guten und zur Linken. Wenn Bundeskanzlerin

    Merkel fr ihre Politik weithin Zustimmung erntet, und wenn die SPD

    von Austerittspolitik nicht lassen will, dann ist die Frage durchaus

    berechtigt, ob die Menschen in diesem Land die Tragweite deraktuellen Ereignisse wirklich erkannt haben. Und doch zeichnet sich

    ein Wandel ab, zwar nur sehr sanft und sicher nicht weitreichend

    genug, aber doch deutlich: Das neoliberale und marktradikale Konzept

    des Kapitalismus ist gescheitert. Liberale, die Steuersenkungen

    fordern, werden nicht mehr ernst genommen, Teile der SPD gefallen

    sich in exzessiver Selbstbezichtigung und selbst Merkel und Sarkozy

    sprechen sich fr eine Finanztransaktionssteuer aus. Der Beispiele

    gbe es noch sehr viel mehr. Zeit also, ber Krise, Kapitalismus undNeoliberalismus nachzudenken. Diese Ausgabe von kritisch-lesen.de

    hat einen wirtschaftspolitischen, einen polit-konomischen

    Schwerpunkt. Er setzt an der aktuellen Krise an, geht aber auch

    darber hinaus und stellt grundstzlicher die Frage nach

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    vermeintlichen polit-konomischen Wahrheiten und deren

    Entzauberung.

    Das Scheitern des Neoliberalismus stellt Patrick Schreiner in seiner

    Rezension von John Cassidys How Markets Fail in den Mittelpunkt.Dabei macht er deutlich, dass selbst ohne eine klare linke

    Positionierung des Autors diese Analyse des modernen Kapitalismus

    mit Gewinn gelesen werden kann und dies gerade auch vor dem

    Hintergrund der bis weit ins brgerliche Feuilleton reichenden

    Debatte um das Scheitern bestimmter Schulen der

    Wirtschaftswissenschaften. In hnlicher Weise zeigt Martin Koch in

    seiner Besprechung von Elmar Altvaters Krisenanalyse Der groe

    Krach auf, dass und wie der Neoliberalismus gescheitert ist. Altvaters

    Buch zeigt detailliert die Ursachen und den Verlauf der aktuellenFinanzkrise auf. Ein Vergleich beider Rezensionen macht dabei das

    fruchtbare Spannungsverhltnis deutlich, das zwischen der Analyse

    des linksliberalen US-Journalisten Cassidy und des linken deutschen

    Politikwissenschaftlers Altvater besteht. Kai Eicker-Wolf stellt

    anschlieend in seiner Rezension von Georg Flberths kleinem

    Bndchen Das Kapital kompakt einen Versuch vor, das Marxsche

    Denken in einfhrender Form als Alternative zu gngigen

    Kapitalismusanalysen wie auch zum wirtschaftswissenschaftlichenMainstream (wieder) in Stellung zu bringen. Auch Fritz Gde zeigt

    in seiner Besprechung von David Harveys Der neue Imperialismus

    auf, dass ltere Begrie und Theorien linker Kapitalismusanalyse

    keineswegs eingemottet gehren. Gerade der Imperialismusbegri,

    von Harvey neu und in erfrischender Weise reaktiviert, zeige sich

    als erklrungsstarkes Instrument. Der Schwerpunkt schliet mit zwei

    Rezensionen, die spezische Erscheinungsformen eines vermeintlich

    alternativen Wirtschaftens unter die Lupe nehmen und bei denen

    von einer Krisenanalyse im engeren Sinne nicht mehr gesprochenwerden kann. Ismail Kpeli zeigt anhand von Gerhard Klas kritischer

    Analyse der Mikronanz-Industrie, dass Kleinkredite keineswegs ein

    gelungenes Instrument zur Armutsbekmpfung darstellen. Patrick

    Schreiner setzt sich in seiner Rezension von Irmi Seidls und Angelika

    Zahrnts Postwachstumsgesellschaft kritisch mit den aktuellen

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    http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/das-(zwischenzeitliche)-scheitern-des-liberalen-marktradikalismus/http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/der-dreifachcharakter-der-krise/http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/der-dreifachcharakter-der-krise/http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/die-ruckkehr-eines-vermeintlichen-%E2%80%9Etoten-hundes/http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/imperialismus-ein-tauglicher-begriff-zur-analyse/http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/mikrokredite-die-losung-gegen-armut/http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/postwachstumistische-mythen/http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/postwachstumistische-mythen/http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/mikrokredite-die-losung-gegen-armut/http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/imperialismus-ein-tauglicher-begriff-zur-analyse/http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/die-ruckkehr-eines-vermeintlichen-%E2%80%9Etoten-hundes/http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/der-dreifachcharakter-der-krise/http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/der-dreifachcharakter-der-krise/http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/das-(zwischenzeitliche)-scheitern-des-liberalen-marktradikalismus/
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    wachstumskritischen Debatten auseinander. Er versteht diese als

    gefhrlichen Wolf im (manchmal antikapitalistischen) Schafspelz,

    was auch Seidls/Zahrnts Sammelband einmal mehr deutlich mache.

    Auerhalb des Schwerpunkts rezensiert Gabriel Kuhn Und wirbewegen uns noch von Robert Foltin zu jngeren sozialen Bewegungen

    in sterreich. Das Buch sei eine Fundgrube an Information zu linken

    Diskussionen und linkem Widerstand. Sebastian Friedrich stellt

    anschlieend das Buch Rassismus von Wulf D. Hund vor, das zwar

    hervorragend die historischen Zusammenhnge und Kontinuitten bei

    der Konstruktion von Stereotypen darstelle, aber in der

    vorgeschlagenen Rassismustheorie zu kritisieren sei. Sebastian

    Kalicha nimmt abschlieend die Darstellung von Rebellionen von

    Heugabel bis Kalaschnikow in dem Buch Der groe Traum vonFreiheit genauer unter die Lupe.

    (Pro)feministischen Leser_innen wird nicht entgangen sein, dass in

    dieser Ausgabe weiblich sozialisierte oder identizierte Autor_innen

    nicht vertreten sind. Selbstkritisch mssen wir dazu anmerken, dass

    dies nur die Zuspitzung einer Tendenz zu unausgewogenen

    Geschlechterverhltnissen unter den Rezensent_innen von kritisch-

    lesen darstellt eine Tendenz, die wir in Zukunft ndern wollen und

    verstrkt bercksichtigen werden.

    Zur Erinnerung: Wer rechtzeitig ber unsere neuesten Ausgaben

    informiert werden mchte, kann sich in der Spalte rechts mit E-Mail-

    Adresse fr den Newsletter eintragen.

    Viel Spa beim kritisch(en) Lesen!

    Seite 3 von 48 - kritisch-lesen.de

    http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/mehr-als-haider-und-strache/http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/mehr-als-haider-und-strache/http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/rassismus-als-superlativ/http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/rebellionen-von-heugabel-bis-kalaschnikow/http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/rebellionen-von-heugabel-bis-kalaschnikow/http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/rebellionen-von-heugabel-bis-kalaschnikow/http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/rebellionen-von-heugabel-bis-kalaschnikow/http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/rassismus-als-superlativ/http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/mehr-als-haider-und-strache/http://www.kritisch-lesen.de/2012/02/mehr-als-haider-und-strache/
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    Das (Das (zwischenzeizwischenzeitlichetliche) Schei) Scheitern des liberalentern des liberalenMarktradikalismMarktradikalismusus

    John CassidyHow Markets FailThe Logic of Economic Calamities

    Von Patrick Schreiner

    John Cassidy zeigt aus einer marktkritischen Perspektive, wie sich

    der Liberalismus ideologisch verrannt hat und sptestens mit der

    Krise (scheinbar) scheitert.Bcher zur Krise gibt es jede Menge

    geschrieben in vielen Fllen aus kritischer Perspektive. Kritisch meint

    in diesem Fall insbesondere, dass die Autorinnen und Autoren dieser

    Arbeiten an marxistischen oder keynesianischen berlegungen

    ansetzen. Die meisten dieser Bcher zeichnen sich dadurch aus, dass

    sie die beliebten, aber tzend langweiligen Spielchen zahlreicher

    Politiksekten nicht mitmachen: Ihnen geht es nicht darum, mglichstviele vermeintlich notwendige Schlagworte wie

    "berkonsumtionskrise" oder "Nachfragetheorie" bei der Analyse der

    aktuellen Krise(n) hinauszuposaunen als ob es fr jede Nennung

    der zentralen Begrie des jeweiligen Theoriegebildes wie in einer

    Quizshow Punkte zu sammeln gbe. Ihnen geht es auch nicht darum,

    die systemische Grundstzlichkeit der aktuellen Krise(n) zu beweisen

    und damit wieder einmal das Ende des Kapitalismus zu verknden, das

    am Ende dann blderweise doch nicht eintritt.

    Sich solchen Pawlowschen Ideologie-Reexen zu verweigern, spricht

    fr zahlreiche der aktuellen Buchverentlichungen zum Thema. Im

    deutschsprachigen Raum wre hier etwa auf Wolfgang Mnchaus

    Flchenbrand zu verweisen, der schon sehr frh (2008) eine

    fundierte Analyse der Krise vorgelegt hat. Mnchau ist gewiss kein

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    http://www.kritisch-lesen.de/author/patrick-schreiner/http://www.kritisch-lesen.de/author/patrick-schreiner/
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    Linker, aber zumindest ein kritischer Zeitgenosse. Lucas Zeises im

    gleichen Jahr erschienenes Ende der Party ist inhaltlich hnlich wie

    das Mnchaus angelegt und wurde zwischenzeitlich von einem sehr

    viel grundstzlicheren Buch ber Geld ergnzt (Zeise 2010).

    Mnchau und Zeise sind Journalisten mit fundierten Kenntnissenkonomischer Theorie. Etwas aus dem Rahmen fllt dem gegenber

    Das Gespenst des Kapitals des Literaturwissenschaftlers Joseph Vogl

    (2011). Dieser strker essayistisch angelegte Text erhebt keinen

    Anspruch auf wirtschaftswissenschaftliche Analyse oder

    journalistische Gesamtargumentation, sondern versteht sich eher als

    ideologiekritische Darstellung des neoliberalen Kapitalismus unter

    Bezugnahme auf den weiteren Hintergrund brgerlich-kapitalistischer

    Ideologiegeschichte.

    Im englischsprachigen Raum sind (mindestens) zwei Bcher

    erschienen, die jenen Mnchaus und Zeises in vielem hnlich sind: Ihre

    Autoren sind Journalisten mit fundierten Kenntnissen konomischer

    Theorie, und ihr Erkenntnisinteresse ist dem Scheitern des

    Neoliberalismus gewidmet nicht dem Versuch, ein Scheitern des

    Kapitalismus als solchem abzuleiten. Zugleich sind sie mehr oder

    weniger von kritischem Anstzen der konomietheorie geprgt, ohne

    dass diese Theoriebestandteile in jeder Zeile herausgeschwitztwerden. Es ist dies zum einen John Authers (2010), der detailgenaue

    Analysen moderner Finanzinstrumente und ihrer Auswirkungen auf

    Finanzmrkte wie auch Realwirtschaft liefert. Und schlielich John

    Cassidys How Markets fail (2010), auf das im Folgenden genauer

    eingegangen werden soll.

    AbAbrrechnechnung und fundierte Analung und fundierte Analyseyse

    Streckenweise erscheint Cassidys Buch wie eine persnlicheAbrechnung mit Alan Greenspan, dem frheren langjhrigen Prsident

    der US-Notenbank Fed. Dessen peinliches Auftreten vor dem

    Untersuchungsausschuss des US-Kongresses zur Finanzkrise wlzt

    Cassidy durchaus unterhaltsam ebenso aus wie die marktradikale

    Ideologiegenese des Ex-Notenbankers. Angesichts des quasi-

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    messianischen Nimbus, der Greenspan jahrelang zugeschrieben

    wurde, ist dieser Denkmalsturz mehr als verstndlich und berechtigt.

    Und doch beschrnkt sich Cassidys Abrechnung keineswegs auf

    Greenspan, der hier letztlich die Rolle eines naiv-dmmlichen

    Umsetzers jahrzehntelangen liberalen und marktradikalenTheoriequarks einnimmt. Cassidy bietet vielmehr eine fundierte und

    sehr breite Analyse eben gerade dieses Theoriequarks wie auch

    kritischer Gegenpositionen.

    Dreh- und Angelpunkt seiner Darstellungen ist dabei das Verstndnis,

    das verschiedene Denkschulen von Mrkten haben. Als Utopian

    Economics beschreibt er eine Traditionslinie von Adam Smith ber

    Friedrich August von Hayek und Milton Friedman bis zu modernen

    mathematischen Theorien des Finanzmarkts. Den naiven Glauben etwaan sich automatisch einstellende Gleichgewichtszustnde, an adquate

    Verteilung von Risiken und die eziente Allokation von Kapital

    beschreibt er in gebotener Krze bei gleichzeitig angemessener

    Intensitt. Der liberale Marktradikalismus bzw. dieses utopische

    konomiedenken erscheint hier zu Recht als realittsfern und als

    bermig selbstbezogen.

    RealiRealityty-based Ec-based Ecoononomicsmics

    Dem stellt er Denkweisen gegenber, die er als Reality-Based

    Economics bezeichnet: konomische Theorien und Anstze, die am

    tatschlich beobachtbaren Marktgeschehen ansetzen. Es sind dies

    keineswegs nur marktkritische Denkweisen auch psychologische

    Anstze der Wirtschaftswissenschaften oder die durchaus am

    angeblich rationalen Handeln der Individuen ansetzende Spieltheorie

    ordnet er in den Reigen realittsbezogenen konomiedenkens ein.

    Dies mag zunchst verstren, ist aber im Rahmen seinerUnterscheidung von Utopian Economics und Reality-Based

    Economics durchaus nachvollziehbar: Wenn utopisch der Glaube an

    Marktezienz ist, dann sind alle Anstze realittsbezogen, die

    mangelnde Marktezienz nachweisen.

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    Selbstverstndlich drfen in einer Darstellung realittsbezogener

    wirtschaftswissenschaftlicher Theorien und Anstze die berlegungen

    John Maynard Keynes' und der sich auf ihn berufenden Schulen nicht

    fehlen. In gewisser Weise erscheint Keynes bei Cassidy als Telos, auf

    den das kritische konomiedenken notwendig zuluft. Tatschlich istdie Keynes'sche Kritik der Marktwirtschaft durchaus sehr breit

    angelegt breiter, als politisch Handelnde und auch viele Linke hug

    anzuerkennen bereit sind. Fragen der Verfgbarkeit von

    Informationen, der gesamtgesellschaftlichen Irrationalitt rationalen

    Verhaltens oder der Abstraktheitsgrade des Agierens an

    Finanzmrkten seien hier beispielhaft, aber bei Weitem nicht

    erschpfend genannt.

    Cassidy ndet bei Keynes vieles, was in zahlreichenrealittsbezogenen Theorieschulen mhsam gegen den utopischen

    wirtschaftsliberalen Mainstream durchgesetzt werden musste. Das

    Verdrngen Keynes' aus dem wirtschaftswissenschaftlichen Zentrum,

    hin zu einer Auenseiterposition, erweist sich vor diesem Hintergrund

    als hochgradig falsch. Der Wirtschaftsliberalismus musste sich dem

    gegenber viele Feststellungen und Gedanken neu erarbeiten, die er

    als innovativ und kritisch verkauft, die sich tatschlich aber in der

    keynesianischen Denktradition schon lngst nden.

    Die aktuelle KriseDie aktuelle Krise

    Cassidys Argumentationskette ist aus sich heraus durchaus schlssig.

    Tatschlich hat sich kritisches, vor allem keynesianisches Denken in

    der Krise als erklrungsstark erwiesen. Die Arbeiten Hyman Minskys

    zur Entstehung von Blasen an Finanzmrkten wren hier beispielhaft

    zu nennen. Und es waren keynesianische Rezepte, die von zahlreichen

    Regierungen entgegen der jahrzehntelang gepredigtenvermeintlichen Wahrheiten in der ersten Phase der Krise angewendet

    wurden. Dies geschah durchaus mit einigem Erfolg: Die

    Konjunkturpakete haben, bei aller Kritik im Detail, einen noch

    gravierenderen Absturz der Wirtschaft verhindert. Es hat sich gezeigt:

    Der Staat spielt eine zentrale Rolle in der Wirtschaft ausgerechnet

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    jener Staat also, der seitens der Marktradikalen Jahrzehnte lang

    verteufelt wurde.

    Auf der anderen Seite ist eben jenes marktradikale und liberale

    Denken, das seit dreiig Jahren Wirtschaftspolitik undWirtschaftswissenschaften bestimmt und verdummt hat, grandios

    gescheitert. Ein Scheitern allerdings, das in der aktuellen zweiten

    Phase der Krise Stichwort Eurokrise eine geradezu absurde

    Umkehrung erfhrt. Mit groem Erfolg ist es den liberalen Ideologen

    verschiedenster Parteibcher und Lehrsthle gelungen, die aufgrund

    von Bankenrettungen und Konjunkturpaketen explodierten

    Staatsschulden zur Krisenursache schlechthin zu erklren. Eine

    klassische Umkehrung von Ursache und Folge markiert die Rckkehr

    eines selbstbewussten, weil umso utopischeren marktradikalenLiberalismus. Wirtschaft von den Fen auf den Kopf gestellt.

    Man wird Cassidy nicht vorwerfen knnen, dass er hierauf in seinem

    Buch nicht eingegangen ist. Schlielich hat er dieses schon mit Ende

    der ersten Phase der Krise beendet. Kritisch anzumerken wre

    allerdings durchaus, dass Cassidy geradezu zwanghaft versucht, sich

    von marxistischen Anstzen der Gesellschafts- und

    Kapitalismusanalyse zu distanzieren. Dies ist noch rgerlicher, als er

    sich hierdurch die Mglichkeit verbaut, mgliche Interessen und

    antagonistische Interessengegenstze hinter den ideologischen

    Auseinandersetzungen zwischen utopischen und realittsbezogenen

    Theorien und Anstzen zu erkunden. Ohne dies nmlich erscheint

    die Abfolge verschiedener wirtschaftstheoretischer Denkweisen

    bestenfalls als Abfolge von Modeerscheinungen, schlechtestenfalls als

    reiner Zufall. Genau damit haben wir es aber nicht zu tun: Die derzeit

    zu beobachtende Wiederkehr eines um so radikaleren und

    verbohrteren Marktradikalismus erfolgt nicht im luftleeren Raum,sondern sie ist grundlegende ideologische Voraussetzung eines

    Umverteilungsprozesses auf Kosten von Beschftigten, Rentnerinnen

    und Rentnern sowie den Empfngerinnen und Empfngern von

    Sozialtransfers. Hinter dieser Politik und hinter diesen Denkweisen

    stecken Interessen: Wir leben in einer Klassengesellschaft. Es ist

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    schade, dass dieser Aspekt in Cassidys ansonsten absolut

    berzeugenden und in gut lesbarem Englisch prsentierten

    Ausfhrungen vllig fehlt.

    ZZustzlich vustzlich verwerwendete Liendete LiteraturteraturAuthers, John 2010: The Fearful Rise of Markets. Global Bubbles,

    Sychronized Markets and how to prevent them in Future. Financial

    Times Prentice Hall, Opper Saddle River.

    Mnchau, Wolfgang 2008: Flchenbrand. Krise im Finanzsystem.

    Bundeszentrale fr Politische Bildung, Bonn.

    Vogl, Joseph 2011: Das Gespenst des Kapitals. 2. Auage. Diaphanes,

    Zrich.

    Zeise, Lucas 2008: Ende der Party. Die Explosion im Finanzsektor und

    die Krise der Weltwirtschaft. PapyRossa Verlag, Kln.

    Zeise, Lucas 2010: Geld - der vertrackte Kern des Kapitalismus.

    Versuch ber die politische konomie des Finanzsektors. PapyRossa

    Verlag, Kln.

    John Cassidy 2010: How Markets Fail. The Logic of EconomicCalamities. Penguin Books, London.

    ISBN: 9780141036519. 416 Seiten. 12.99 Euro.

    [Link zum Artikel]

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    Der DrDer Dreifachcharakter der Kriseeifachcharakter der Krise

    Elmar Altvater

    Der groe Krachoder die Jahrhundertkrise von Wirtschaft und Finanzen, von Politik undNatur

    Von Martin Koch

    Der groe Krach ist eine ungemein faktenreiche und packende

    Analyse der aktuellen Finanzkrise. Wer das Buch liest, lernt nicht nurdie destruktive Dynamik spekulativer Geschfte, sondern auch ihre

    notwendige Fortsetzung in sozialen und kologischen Krisenprozessen

    verstehen.Seit Jahrzehnten verentlicht Elmar Altvater mit

    beeindruckender Kontinuitt Standardwerke zu weltwirtschaftlichen

    Dimensionen und Krisentendenzen und kann hierzulande jenseits eines

    neoklassischen Mainstreams als herausragender Kritiker der

    politischen Globalkonomie gelten. Als er 2010 sein Werk zur

    Finanzkrise vorlegte, musste es darum schon im Vorfeld als eine ArtSchattenklassiker aufgefasst werden.

    Tatschlich ist Der groe Krach ein solches Grundlagenwerk zum

    Verstndnis der Krise. Doch Altvater ging es schon immer um mehr als

    ihre blo monetre Erscheinung. Er sieht gleichermaen kologische

    und soziale Lebensgrundlagen erschttert und weitet seine Diagnose

    auf die Komplexitt einer Krise des kapitalistischen Wirtschafts- und

    Gesellschaftssystems aus. Das Buch ist in vier Teile gegliedert: Nach

    einem grundlegenden und theoretischen Teil ber das Wesenkapitalistischer Krisen werden Hintergrnde des derzeitigen

    Finanzcrashs erlutert. Im dritten Abschnitt beschreibt Altvater die

    zwangsluge Gleichzeitigkeit von Umverteilung und kologischer

    Ressourcenerschpfung und weist schlielich nach einer Kritik

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    vorliegender Gegenstrategien mit dem fragmentarischen Entwurf

    eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts darber hinaus.

    Dem Anspruch einer ganzheitlichen Krisendiagnose wird das Buch von

    Beginn an gerecht: Indem Altvater Marx Werttheorie, insbesondereden Doppelcharakter der in den Waren dargestellten Arbeit zum

    Ausgangspunkt seiner Analyse nimmt, leitet er notwendige

    Abhngigkeiten von Natur, Produktion und Geldzirkulation her und

    berwindet das neoklassische Paradigma einer Eigenstndigkeit des

    Finanzsektors: Finanzinstrumente jedweder Form bleiben auf

    realkonomische Werte bezogen und forcieren mit ihrer Ausweitung

    Produktivittssteigerungen, die ihrerseits auf der Ausschpfung von

    Naturressourcen grnden. Altvaters Krisendiagnose rekurriert damit

    auf die Unvereinbarkeit dreier Geschwindigkeiten. Die exponentielleAusweitung des Finanzsektors verlangt unmgliches

    Wirtschaftswachstum, dessen bloer Versuch sich an der Endlichkeit

    natrlicher Reproduktionszyklen bricht.

    Bereits hier wird klar: Altvater schreibt hochkomprimiert mit

    angesichts der Thematik verblend bildhafter Sprache und stellt

    konsequent zentrale Wirkfaktoren heraus. Allerdings wird der Text

    immer dann etwas kryptisch, wenn er Details zu Finanzinstrumenten

    behandelt. Wer sich nicht lngst damit auskennt, kann beispielsweise

    schwer nachvollziehen, wie mit Credit Default Swaps gegen

    Collateralized Debt Obligations oder mit CO2-Emmissionen spekuliert

    werden kann. Hier wre ein Glossar wnschenswert. Und an einigen

    theoretischen Stellen, wie etwa zum tendenziellen Fall der Protrate,

    empehlt sich die begleitende Lektre von Marx Original. Trotzdem

    erzielt das ungemein faktenreiche Buch einen aufklrerischen Eekt.

    Historische Herleitungen und Zitate erscheinen wie eine

    Wiederherstellung von Zeit. Die Lesenden erleben, dass die ungeheureObsznitt der geschilderten Realitt historische Tatsache ihrer

    Lebenswirklichkeit ist. Dabei wirkt die Lektre beinahe befreiend.

    Kaum jemals ist der Mechanismus einer willkrlichen

    Inwertsetzungskette ungedeckter Papiere plastischer dargestellt

    worden. Das schrittweise Verstehen verschat ein Gefhl

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    zurckgewonnener Handlungsmacht, obwohl sich mit jedem Detail

    katastrophische Abgrnde nen. Wer Altvaters kologische

    Fortschreibung des Wertgesetzes nachvollzieht, muss

    Naturkatastrophen, Hunger, Umverteilung, Entdemokratisierung und

    Spekulationsblasen als strukturelles Ensemble antagonistischerEigendynamiken verstehen.

    Dieser aufklrerische Eekt wird allerdings relativiert, wenn es um

    mgliche Alternativszenarien geht. Denn whrend Altvater Marx

    Werttheorie konsequent im nanzmarktkapitalistischen Kontext

    reformuliert, lsst er dessen Klassenanalyse weitgehend aus. Fast

    durchgehend scheinen konkrete Akteur_innen hinter den

    geschilderten Vorgngen zu verschwinden. So umfassend Tendenzen

    und Einussfaktoren der Krise auch dargestellt werden, bleiben dochmindestens zwei Phnomene im Vagen: die Vielfalt von Interessen

    und Abhngigkeiten, mit denen diverseste Gruppen die Hegemonie

    des Neoliberalismus befrdern, und dessen Tendenz zur Ausung

    kollektiver Lebenszusammenhnge, in denen Gegenstrategien

    entwickelt und als alternative Gemeinschaftsentwrfe gelebt werden

    knnten. Entsprechend vermag die abschlieende Vision einer

    solidarischen konomie kaum mehr als diuse Emprung ohne die

    Reexion gemeinsamer Interessen zu mobilisieren.

    Dem Anspruch einer strukturierten Krisenanalyse aber wird Der

    groe Krach in hervorragender Weise gerecht. Es ist aktuell selten

    mglich, Zeugnisse derart umfnglichen Wissens und stilistischer

    Erfahrung zu lesen.

    Elmar Altvater 2010: Der groe Krach. oder die Jahrhundertkrise von

    Wirtschaft und Finanzen, von Politik und Natur. Westflisches

    Dampfboot, Mnster.ISBN: 978-3-89691-785-0. 263 Seiten. 19.90 Euro.

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    Die RckkDie Rckkehr eines vehr eines vermeinermeintlichen tlichen totentotenHHundesundes

    Georg Flberth"Das Kapital" kompakt

    Von Kai Eicker-Wolf

    Georg Flberth regt mit einer gelungenen Einfhrung in das Kapital"

    an, Marx wieder zu lesen.Die im Jahr 2008 mit der Lehman-Pleite

    oen ausgebrochene Finanz- und Weltwirtschaftskrise ist auch ein

    Scheitern der herrschenden konomischen Theorievorstellungen, wie

    sie blicherweise an Fachhochschulen und Universitten gelehrt

    werden: Auf freien (Finanz-)Mrkten wrden rational handelnde

    Wirtschaftssubjekte, so die Vorstellungen, das Wirtschaftssystem in

    ein optimales Gleichgewicht bringen. Ein mglichst unregulierter

    Wettbewerb fhre grundstzlich zum ezientesten (Markt-) Ergebnis.Und auch auf internationalen Mrkten seien ein freier Kapitalverkehr

    und Wettbewerb bestens geeignet, um Ressourcen wie Kapital und

    Arbeit optimal zu steuern und einzusetzen.

    Tatschlich macht die aktuelle Finanzkrise deutlich, dass unregulierte

    Marktprozesse gerade keine eziente Allokation hervorbringen als

    Allokation so wird von Mainstream-konominnen und -konomen

    die optimale Verwendung knapper Ressourcen bezeichnet.

    Unregulierte Marktprozesse knnen vielmehr konomisch

    verheerende Folgen bis hin zu systemischen Krisen nach sich ziehen.

    Eine Alternative zu neoliberalen Theorien stellt die Theorie Karl Marx'

    dar. In umfassender Weise hat Marx die grundstzliche

    Krisenanflligkeit der zeitgenssischen Wirtschaftsweise des

    Seite 13 von 48 - kritisch-lesen.de

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  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    Kapitalismus herausgearbeitet. Wer sich mit dem Kapital befassen

    mchte, seinem konomischen Hauptwerk, muss eine Menge Zeit

    investieren: Alle drei Bnde umfassen mehr als 2.200 eng

    beschriebene Seiten. Zur Lektre des Kapitals anregen will Georg

    Flberth mit seinem im PapyRossa Verlag erschienen Einfhrungsbuch'Das Kapital' kompakt. So heit es dort in der Vorbemerkung: Dies

    Bchlein wendet sich an Menschen, die fest annehmen, sie fnden

    niemals in ihrem Leben die Zeit, die drei Bnde des Kapital von Karl

    Marx zu lesen. Sein Zweck ist, sie zu einer Revision dieser Annahme

    und des daraus resultierenden Verhaltens zu veranlassen. (S. 7)

    Diesem eigenen, uerst bescheidenen Anspruch wird der Autor mehr

    als gerecht. Er liefert mit seiner Einfhrung bewusst keine eigene

    Kapital-Interpretation, sondern zeichnet eng am Kapital orientiert undgut verstndlich die Gesamtargumentation von Marx nach. Die

    Gliederung orientiert sich an den drei Kapital-Bnden: Auf den

    Produktionsprozess folgt der Zirkulationsprozess des Kapitals, und als

    drittes wird dann der Gesamtprozess der kapitalistischen

    Produktionsweise behandelt. Ein Schwerpunkt der Einfhrung liegt

    auf dem dritten Band des Kapitals, wobei hier wiederum die

    Darstellung des so genannten Gesetzes vom tendenziellen Fall der

    Protrate mit 20 Seiten vergleichsweise breiten Raum einnimmt.Flberth kommt bei Darstellung dieses Theorems, das die wohl

    bekannteste Krisenerklrung im Marxschen Kapital ist, zu dem

    Ergebnis, dass ein tendenzielles Sinken der Protrate zwar mglich,

    aber anders als von Marx angenommen nicht unvermeidlich sei (S. 89).

    In einem fnfseitigen Exkurs (S. 65) widmet sich der Autor dem

    so genannten Transformationsproblem. Nach Marx bestimmt sich der

    Wert einer Ware bekanntlich durch die fr ihre Produktion notwendige

    gesellschaftliche Arbeitszeit. Das Transformationsproblem wirft dieFrage auf, ob und wenn ja: wie Arbeitswerte logisch konsistent in

    ein Preissystem mit einheitlicher Protrate berfhrt werden knnen.

    Die Debatte um das Transformationsproblem imKapital, die kurz nach

    dem Erscheinen des dritten Kapital-Bandes im Jahr 1894 begann, wird

    von Flberth in ihren Grundzgen bis zu den aktuellsten

    Seite 14 von 48 - kritisch-lesen.de

  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    Diskussionsbeitrgen nachgezeichnet. Wer sich damit ausfhrlicher

    befassen mchte, ndet in dem Exkurs die relevanten

    Literaturhinweise.

    Insgesamt ist es Georg Flberth in vorbildlicher Weise gelungen, dieMarxsche Analyse von Struktur und Funktionsweisen des Kapitalismus

    in komprimierter Form auf gut 100 Seiten zu bndeln. Das Buch eignet

    sich daher wie vom Autor beabsichtigt als Vorbereitung auf die

    Lektre des "Kapital". Aber auch fr Menschen, deren Zeitbudget eine

    Lektre von Marx Originalwerk nicht erlaubt, liefert das Buch eine

    gute Zusammenfassung. Und nicht zuletzt drfte das Bndchen fr

    jene interessant sein, die sich bereits in der Vergangenheit ausfhrlich

    mit der Marxschen Theorie befasst haben und eine komprimierte

    Aufarbeitung zur Wiederaurischung suchen.

    Jahrzehnte lang wurde Marx von interessierter Seite als toter Hund

    abgetan. Es waren keineswegs nur die Grundstzlichkeit und die

    Radikalitt seiner Analyse, die zur Ablehnung Marxscher Gedanken

    in Wirtschaftswissenschaften gefhrt hat. Der

    wirtschaftswissenschaftliche Mainstream wollte vielmehr von

    jeglicher, noch so vorsichtig formulierten Kritik an Marktprozessen

    und am Glauben an die Ezienz unregulierter Mrkte nichts mehr

    wissen. Besonders, aber keineswegs ausschlielich nach dem

    Zusammenbruch der Sowjetunion und der mit ihr verbndeten Staaten

    wurde ein unregulierter und ungebremster Kapitalismus als historisch

    einzig verbliebene Mglichkeit des Wirtschaftens verkauft. Die

    derzeitige Krise entlarvt derlei Ideologien als wirre Spinnerei. Gerade

    vor diesem Hintergrund kommt Flberths inhaltlich und sprachlich

    gelungenes Buch genau zur richtigen Zeit.

    Georg Flberth 2011: "Das Kapital" kompakt. PapyRossa Verlag, Kln.ISBN: 978-3-89438-452-4. 123 Seiten. 9.90 Euro.

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  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    ImperialismImperialismus - ein tauglicher Begriff zur Analus - ein tauglicher Begriff zur Analyse?yse?

    David Harvey

    Der neue Imperialismus

    Von Fritz Gde

    Harvey entwickelt ein selbstndiges neues Bild des Imperialismus.

    Ohne von den Klassikern Lenin und Luxemburg auszugehen, trit er

    sich mit ihren Ergebnissen.

    Imperium - ein WImperium - ein Woort nrt nur aus alten Tur aus alten Tagen?agen?

    Imperialismus ist ein in den Geschichtsbchern, die bei uns

    herumstanden, ohne Drucksen verwendeter Begri. Es muss ihn zu

    Caesars und Napoleons Zeiten gegeben haben. In England auch. Und

    im ersten Weltkrieg zugegebenermaen. Dann scheint er nach

    smtlichen Reueanfllen und Friedensgebeten 1918 sich irgendwohinverzogen haben. Jedenfalls gab es ihn als aktive Erscheinung nicht

    mehr. Bis wir in den sechziger Jahren Lenin lasen. Und zu unserer

    berraschung erfuhren, dass Imperialismus unsere Epoche

    bestimmte, soweit sie am Kapitalismus festhielt. Und einleuchtend

    beschrieben hatte Lenin die Erscheinung, allerdings hinderten

    verschiedene Schnellschsse von uns Rezipientinnen und Rezipienten

    die berlegte Anwendung des Terminus. So nahmen viele an, der

    imperialistische Zugri erschpfe sich darin, dass z.B. eine deutscheTextilrma in Bangladesh Trikots oder Mtzen nhen lie - fr zwanzig

    Pfennig Stundenlohn. Und die hier verkaufte, als wre ein Macherlohn

    von fnf Mark darauf verwendet worden. Dass es sich hierbei um

    Superausbeutung handelt, war klar. Nur konnte ber diesen

    Extraprot die Rechnung der Industrielnder nie aufgehen. Statistisch

    Seite 16 von 48 - kritisch-lesen.de

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  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    erweisbar verdienten Lnder wie Deutschland am meisten nicht - nur

    - ber Ausbeutung der Lnder der Dritten Welt, auch nicht ber die

    "ungleichen Vertrge", sondern im Austausch innerhalb der industriell

    entwickelten Staaten. Die Zerschlagung Jugoslawiens in unserer

    eigenen Zeit diente nicht zuerst der Ausbeutung ber niedrige Lhne,sondern vielmehr der Ernung eines einheitlichen Handels- und

    Wirtschaftsraums in Unterwerfung unter EU-Regeln. Was dann aber

    anfangen mit dem Imperialismusbegri?

    Es bleibt nichts brig, als solche Autorinnen und Autoren

    heranzuziehen, die von sich aus den Terminus Imperialismus

    verwenden, ohne sich zunchst auf die Autoritten Lenin und

    Luxemburg zu beziehen. Wenn sie auf entsprechende Ergebnisse

    kamen, und diese nachtrglich mit denen der Klassiker zustimmendverglichen, konnte eine Klrung erreicht werden. David Harvey hat

    2003 ein solches Werk vorgelegt. Da alle von ihm angefhrten

    Ereignisse sich in unserer Zeit abgespielt haben, lsst sich seine

    Beweisfhrung leicht berprfen.

    HarHarvveys veys verberblfflffender Aender Ausgangspunktusgangspunkt

    Durch den Ausgangspunkt des US-Amerikaners drfen wir uns nicht

    verblen lassen. Er schaut durch sein Stativ von sehr weit auf uns her.Das knnte zum rmischen Weltreich so gut passen wie zu Napoleon.

    Harvey fragt sich nmlich: Wenn Imperialismus besteht, wie kann

    dieser dann eine Einheit zustande bringen zwischen den "molekularen"

    Handlungen der Einzelkapitalisten unten und den staatlichen

    Bewegungen oben. Zur Absttzung des Konzepts zieht er ein Zitat

    Hannah Arendts heran:

    Eine unabsehbar fortschreitende Besitzakkumulation (...)

    kann sich nur halten, wenn sie sich auf eine

    unwiderstehliche Macht grndet. Der unbegrenzte

    Prozess der Kapitalakkumulation bedarf zu seiner

    Sicherstellung einer unbegrenzten Macht, nmlich eines

    Prozesses von Machtakkumulation, der durch nichts

    Seite 17 von 48 - kritisch-lesen.de

  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    begrenzt werden darf." (Hannah Arendt: Elemente und

    Ursprnge totaler Herrschaft, zitiert nach S. 40)

    Die Tautologie ist oensichtlich. Macht erklrt sich durch Macht.

    Gottseidank wird Harvey im Verlauf des Buches konkreter. Lenin hattedie Sache von vornherein viel strker im Blick auf die Einzelvorgnge

    in einem gegebenen kapitalistischen Staat untersucht. Ein

    Unternehmer sieht sich am Ende einer Rechnungsepoche vor der an

    sich erfreulichen Tatsache, dass er mehr verdient hat als ausgegeben.

    Soll dieses Mehr weiterhin als Kapital fungieren, muss es wieder

    investiert werden. Hat sich fr den Kapitalisten die Gewinnmglichkeit

    auf seinem Gebiet erschpft, muss er auf verwandte ausweichen. Vom

    Brot zum Backpulver zum Beispiel. Sind aber alle Mglichkeiten der

    Investition erschpft, msste zunchst das neu eingesetzte Kapital- als nunmehr berssig - dann aber auch die schon investierten

    Kapitalien, da es keine Nachfrage mehr danach gbe, ihren Wert

    verlieren. Die Zinsen mssten sinken. Am Ende stnde dann der groe

    Kladderadatsch auf den die Sozialisten der ersten Generation so sehr

    gewartet hatten. Der trat aber nicht ein.

    Der Kapitalismus insgesamt blhte zur Zeit vor dem Ersten Weltkrieg

    geradezu auf. Wie war das mglich? Lenins Antwort: Die Grenzen

    mussten berschritten werden, und zwar so, dass in den neuen

    Gebieten der Kapitalanlage sich der jeweils eigene Staat mit allen

    Mitteln schtzend vor diese Anlage stellte. Dazu gehrten

    Bankmanver, Darlehen, Zollabkommen - ganz am Ende, aber

    entscheidend, auch der militrische Einsatz. Daher dann: Krieg als

    einzige Endperspektive im Imperialismus.

    Das Problem des Kontakts zwischen dem Molekularen unten und

    dem Staatlichen oben sah Lenin durch die Monopolisierung gelst.Damals (1916) wie heute. Wenn ehemalige Staatssekretre sich als

    Aufsichtsrte wiedernden, und umgekehrt, drfte das Problem nicht

    unlsbar sein. Ebenso wrde innerhalb des Prozesses der

    Monopolisierung sich als besonders gnstig fr den Kontakt von oben

    nach unten die Entwicklung der Presse erweisen. Wer die Existenz

    Seite 18 von 48 - kritisch-lesen.de

  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    gewisser Banken als "systemisch notwendig" mitteilen kann, muss

    nicht nach weiteren Kontakten suchen.

    HarHarvveys Heys Herleierleitungtung

    Seine unglckliche Begriichkeit sollte uns nicht davon abhalten, aufdie Verdienste Harveys in seiner Herleitung des Imperialismus zu

    achten. Er hat Ernst gemacht mit einer Untersuchung, die dem

    amerikanischen Staat und seinen Monopolen attestiert, dass sie sich

    genau so imperialistisch verhalten, wie das Lenin allen Grostaaten

    1916 vorausgesagt hat. Er zeichnet genau nach, durch welche

    Manahmen imperialistische Staaten ungeheure Schulden aufnehmen

    knnen, ohne dass es im gleichen Mastab zu Ination kommt. Es

    mssen nmlich berschssige Gewinne des letzten Jahres - dervorangegangenen Zeit - so angelegt werden, dass sie nicht unmittelbar

    die Konsummglichkeiten der Massen erhhen, sondern dass sie in

    langlebige Einrichtungen umgeleitet werden. Zu diesen gehren in

    erster Linie staatliche Manahmen fr Bildung und berwachung.

    Militr nicht zu vergessen. In zweiter Ablenkung knnen Grobauten

    aller Art, auch Kanle etc. untersttzt werden. Die groen

    Baugesellschaften, die samt zugehrigen Banken lang nach der

    Drucklegung des Buchs in der Krise 2008 zusammenbrachen, gehren

    dazu. Vertrauen gewinnen solche Anlagen dauerhaft freilich nur dann,

    wenn ganz am Ende ein realer Gewinn erwartet werden kann. Dieser

    Punkt war 2008 berschritten.

    Harvey akzeptiert ohne Einschrnkung die Grundkonzeption aller Anti-

    Imperialisten. Sie alle, ob mehr der Leninschen Richtung folgend oder

    mehr derjenigen Rosa Luxemburgs, staunen zunchst vor dem

    Umstand, dass der groe Zusammenbruch noch nicht eingetreten ist.

    Innerhalb eines festumgrenzten Gebietes der Kapitalverwertungmsste im Prinzip schon immer oder seit langem der Zeitpunkt

    erreicht sein, in welchem der Gewinn des letzten Jahres nicht mehr

    gewinnbringend anzulegen wre. Also entsteht

    Kapitalberakkumulation - berproduktion von Geld, das fr

    Investitionen nachgefragt werden soll, aber nicht nachgefragt wird.

    Seite 19 von 48 - kritisch-lesen.de

  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    Folge: Zinsverbilligung. Entwertung des aufgehuften Kapitals - mit

    Folgen auch fr die bisher schon gettigten Investitionen.

    Die imperialistische Lsung: GDie imperialistische Lsung: Grrenzberschrenzberschreieitungtung

    Harveys besonderes Verdienst besteht darin, dass er gesttzt geradeauf Rosa Luxemburgs Konzeption den weiteren Weg des Imperialismus

    ber Lenin hinaus zu entwerfen versucht. Er geht dabei genau vom

    schwchsten Punkt Luxemburgs aus: ihrer Vorstellung, dass der

    Kapitalismus der entwickeltsten Staaten sich nur so lange halten kann,

    wie es unterentwickelte nichtkapitalistische Gegenden gibt mit

    eigenen Strukturen. Ihr Musterbeispiel ist der Entwurf der

    Bagdadbahn. Initiiert von der Deutschen Bank, unter dem Schutz des

    Kaiserreichs und des in Abhngigkeit gehaltenen trkischen Staates.Die nichtkapitalistischen zur Ausbeutung bestimmten Gebiete wren

    dann die des arabischen Orients. Ohne Staatsmacht im Hintergrund

    wre das Projekt niemals gewinnbringend zu installieren. Der

    Haupteinwand gegen Luxemburg knnte, bald hundert Jahre spter,

    lauten: Inzwischen sind Lnder wie die Emirate, aber auch Syrien oder

    der Iran selbst durchkapitalisiert. Wo sollte da der Kapitalismus im

    Sinne Luxemburgs noch Nahrung nden? Harveys Lsung: Es muss

    sich nicht um den absoluten Gegensatz handeln von kapitalistisch

    und vor-kapitalistisch. Das Ganze funktioniert auch dann, wenn wir

    ein Geflle annehmen von technisch entwickelteren Lndern und

    solchen, die es noch nicht so weit geschat haben. Genauer: die man

    noch nicht so weit kommen lie - oder denen man das Erreichte

    wieder wegnahm. Plumpes Beispiel ist der Mangel an Ranerien zur

    Benzinherstellung in Libyen oder im Iran, also in Lndern, die den

    Grund-Roh-Sto im berma besitzen, aber nicht ausreichend die

    Mittel zu seiner Verarbeitung.

    Mit anderen Worten: Harvey geht mit Marx von einer primren

    Akkumulation aus, die berhaupt erst - durch Schaung eines Mehr

    an Grundstcken, Herden, Verknechteten - die Entstehung kapitalen

    Austauschs ermglicht. Nach Harvey darf das nicht als ein einmaliger

    Vorgang gesehen werden. Kapitalismus fordert immer neu in

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  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    schpferischer Zerstrung (Bakunin/Schumpeter) Wiederholung

    dieses Vorgangs. Damit wird aber auch das Hervorgehen des

    Imperialismus aus dem Kapitalismus leichter verstndlich. Als

    Radikalisierung eines immer schon mitzudenkenden Vorgangs

    nmlich.

    Inszenierte Krisen als BeraubungInszenierte Krisen als Beraubung

    Demnach sind auch die von den USA ausgehenden Krisen - etwa

    die Asien-Krise - als Manahmen der Beraubung zu sehen mit

    nachfolgender Chance der Wiederaneignung zu geringeren Preisen.

    "Der Kulminationspunkt war 1997/98 die Disziplinierung

    der Konkurrenz aus Ost-und Sdostasien in einer Weise,

    die es den Finanzzentren von Japan und Europa, vor allem

    aber der USA, ermglichte, Vermgenswerte praktisch

    zum Nulltarif zu ergattern und damit ihre eigenen

    Gewinne auf Kosten massiver Entwertungen und die

    Zerstrung von Lebensgrundlagen anderswo zu erhhen.

    Das war jedoch nur ein Beispiel fr die unzhligen

    Schulden und Finanzkrisen, die viele Entwicklungslnder

    nach etwa 1980 heimsuchten." (S. 183)

    Sieht man das so, lassen sich zahlreiche Mittel erdenken, um ein

    Land in Abhngigkeit zu halten. Harvey weiht dem Vorgang ein ganzes

    Kapitel: Akkumulation durch Enteignung (S. 136-179). Er richtet

    seinen Blick vor allem auf ein Mittel, den Kapitalberschuss auf Null

    zu bringen, den der anderen, der nicht rechtzeitig Gewarnten. Die

    sogenannten Aktien- und Banken-Krisen, gestartet von einzelnen

    Spekulanten, unter wohlwollender Mitwisserschaft der Akteure in

    New-York schaten angehufte Kapitalgewinne weg - und ernete

    den Zugri auf die Reste in der Schssel. Bis die wieder auf den Markt

    drfen. Was Harvey nicht mehr behandeln konnte in seinem 2003

    beendeten Buch sind die gegenwrtigen Versuche, einige randstndige

    Lnder innerhalb der EU hnlich zu behandeln. Also ehemals zu den

    herrschenden gerechnete. Griechenland! Wie viele taumeln schon!

    Seite 21 von 48 - kritisch-lesen.de

  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    Eine Art transnationale kapitalistische Klasse

    entstand,die sich nichtsdestotrotz auf die Wall Street und

    andere Zentren wie London oder Frankfurt als sichere

    Orte der Kapitalanlage konzentrierte. Diese Klasse verlie

    sich zum Schutz ihrer Vermgenswerte und des Rechts aufBesitz und Eigentum berall auf dem Globus, wie immer,

    auf die Vereinigten Staaten. (S. 181)

    Dass das Verfahren der Kapitalvernichtung schlielich doch auch das

    eigene Land befallen knnte, wie es 2008 geschah, hat Harvey in

    diesem Buch nicht mehr voraussehen knnen. Dass es in der Logik des

    bisherigen Geschehens liegt, deutet er immerhin an. Er sieht schon die

    Folgen des riesigen Hypotheken-Schwindels voraus. In diesem gelingt

    es, bernehmern von Hypotheken in Husern, deren Wert diesenschon nicht mehr entspricht, den Wert der Hypotheken fr den

    unmittelbaren Konsum zu verwenden. Damit wird die Gefahr der

    Unterkonsumption zeitweise berwunden. Um freilich schlimmere

    Folgen mit sich zu bringen. Selbst in diesem Fall war es aber den

    riesigen Finanzinstituten gelungen, die Last ber gedeichselte

    Verlustversicherungen an die ganze kapitalistische Welt

    weiterzureichen.

    WWoher koher koommen dann die Anmmen dann die Antiti-Imperialisten?-Imperialisten?

    Relativ traditionell erwartet Harvey Widerstand gegen die Angrie

    durch das imperialistische Kapital von den unmittelbar Betroenen.

    Etwa den Anwohnern des Flusses in Indien, die zugunsten eines zu

    bauenden Staudamms von Haus und Hof vertrieben werden sollen.

    Die wehren sich zwar, aber im Weltmastab vereinzelt und erfolglos.

    Darber hinaus aber sieht Harvey im Jahre 2003 strkere

    Gegnerschaft voraus von den imperialistischen Konkurrenten selbst.Sie versuchen der Hegemonie zu entspringen und widersetzen sich,

    wie Harvey damals erwartete, dem oenen Zwang. In diesem Punkt

    folgt Harvey vielleicht allzu glubig den Prognosen und Erwartungen

    Lenins. Dieser sah in der schlielich unvermeidlichen Konkurrenz der

    Imperialisten untereinander das Ende des ganzen Systems begrndet.

    Seite 22 von 48 - kritisch-lesen.de

  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    Und 1916 - mitten im Ersten Weltkrieg - schien das nur allzu glaubhaft.

    So trit Harvey folgende Voraussagen im Fall des oenen Angris auf

    Syrien und Iran, wie er jetzt angedroht wird.

    Doch die externen Krfte, die dem neokonservativenImperialismus entgegenstehen, sind gewaltig. Erstens

    wird dieses Projekt, wenn es deutlicher zu Tage tritt, fast

    mit Sicherheit ein immer strkeres Bndnis zwischen

    Deutschland, Frankreich, China, Russland und anderen

    schmieden, das keineswegs machtlos ist. (...) Auerdem

    werden die Briten, sollten die USA tatschlich nach Syrien

    oder in den Iran vordringen, fast sicher ihre Untersttzung

    fr das aufgeben mssen, was dann eindeutig als

    selbstschtiger US-Imperialismus zu erkennen sein wird.Europische Regierungen, die wie Spanien und Italien die

    USA eindeutig gegen die Wnsche ihrer Bevlkerung

    untersttzt haben, werden fast mit Sicherheit fallen, und

    Europa damit zu einem viel geeinteren, den US-Plnen

    entgegenstehenden Machtblock machen, als es momentan

    der Fall ist. Und der weltweite Widerstand innerhalb der

    Vereinten Nationen wird ebenfalls stark zunehmen,

    whrend die USA immer isolierter sein werden. (S. 194)

    Nichts davon ist eingetreten. Die USA marschieren mit den

    Regierungen in Europa weiterhin in einer Front. Wie ist das zu

    erklren? Sicher nicht durch einen weiter verbreiteten Glauben an

    das moralische Recht der USA - und seine Fhrungsqualitten. Eher

    durch das Bewusstsein militrischer Unterlegenheit und Abhngigkeit.

    Unbestreitbar die wachsende Gegenstzlichkeit zwischen Europa und

    den USA. Die aber zur Zerreiung des Zusammenhalts nicht ausreicht.

    Es kann schlielich fr Gegner des Imperialismus nicht daraufankommen, Obama sympathischer zu nden als Merkel - oder

    umgekehrt. Zu oft ist der zwangsweise Untergang des

    imperialistischen Systems vorausgesagt worden - nie ist er

    eingetreten. Den Sozialistinnen und Sozialisten bleibt nichts brig, als

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  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    Imperialismus insgesamt zu bekmpfen, in all seinen Spielarten, ohne

    dem einen oder dem anderen im Urteil befangen beizustimmen.

    Harvey, als Analytiker hervorragend, hat keine klaren Voraussagen

    fr unsere unmittelbare Zukunft treen knnen. Festzuhalten ist aber,dass er - meiner Kenntnis nach - einer der wenigen in den USA ist, die

    die Kategorien Lenins und Luxemburgs konkret anzuwenden suchen.

    Zugleich unternimmt er den Versuch, die zugrundeliegenden

    Denkformen miteinander zu vershnen.

    David Harvey 2005: Der neue Imperialismus. VSA Verlag, Hamburg.

    ISBN: 978-3-89965-092-1. 240 Seiten.

    [Link zum Artikel]

    Seite 24 von 48 - kritisch-lesen.de

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  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    MikrMikrokrokrediedite: Die Lsung gegen Armte: Die Lsung gegen Armuut?t?

    Gerhard Klas

    Die Mikrofinanz-IndustrieDie groe Illusion oder das Geschft mit der Armut

    Von Ismail Kpeli

    Mikrokredite tragen zum Wirtschaftswachstum und zur

    Armutsreduktion bei, ohne die staatlichen Haushalte zu belasten

    und wrden noch zustzlich Frauen und sozial Benachteiligten zur

    Selbstermchtigung verhelfen. Dieses schne Bild wird durch das Buch

    Die Mikronanz-Industrie von Gerhard Klas getrbt.In der

    Entwicklungspolitik sind ber die Jahrzehnte viele Moden, Trends

    und Hypes zu beobachten. Whrend bestimmte Grundannahmen sich

    kaum wandeln (wie der positive Bezug auf Wirtschaftswachstum),

    kommen und gehen die unterschiedlichen Instrumente und

    Manahmen, mit denen die Lnder des globalen Sdens entwickeltwerden sollen. Mal wird die Unterentwicklung auf die fehlende

    Infrastruktur und Energieressourcen zurckgefhrt, so dass Straen

    und Staudmme gebaut werden sollen. Dann stellt sich heraus, dass

    so weder die Lnder innerhalb der kapitalistischen Weltwirtschaft eine

    bessere Stellung noch ihre jeweiligen Bevlkerungen mehr Wohlstand

    erreichen knnen. Zeit fr den nchsten Erklrungsversuch: Vielleicht

    sind Groprojekte der falsche Weg und vielleicht hapert es eher an gut

    ausgebildeten Arbeitskrften? Oder vielleicht sind auch die korrupten

    Regierungen der Trikontlnder selbst Schuld daran, dass die

    Entwicklungspolitik nicht greifen kann? Sollte man Graswurzel-

    Initiativen zu Empowerment von Humankapital frdern oder doch den

    politischen Eliten Good Governance nher bringen? Um solche und

    Seite 25 von 48 - kritisch-lesen.de

    http://www.kritisch-lesen.de/author/ismail-kupeli/http://www.kritisch-lesen.de/author/ismail-kupeli/
  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

    26/48

    viele, viele andere Fragen drehen sich die Debatten um

    Entwicklungspolitik.

    Ein eher neueres Instrument der Entwicklungspolitik sind

    Mikrokredite, die bisher in den wissenschaftlichen und entlichenDebatten einen hervorragenden Ruf haben. Mikrokredite tragen

    demnach positiv zum Wirtschaftswachstum und zur Armutsreduktion

    bei, ohne die staatlichen Haushalte zu belasten und wrden noch

    zustzlich Frauen und sozial Benachteiligten zur Selbstermchtigung

    verhelfen. Gerhard Klas trbt kenntnis- und faktenreich das schne

    Bild von Mikrokrediten als kostengnstige Heilsbringer gegen Armut

    und Frauenunterdrckung.

    Der Autor beleuchtet dazu den Entstehungskontext der Mikrokredite.Dabei ist die Frage nach der Rolle des Staates zentral. Whrend in der

    Entkolonisierungsphase nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er

    Jahre der Staat als der zentrale Entwicklungsmotor angesehen wurde,

    wie etwa bei der Debatte um Entwicklungsdiktaturen, hat sich dies

    sptestens mit der Schuldenkrise am Anfang der 1980er Jahre und den

    anschlieenden Strukturanpassungsmanahmen des Internationalen

    Whrungsfonds (IWF) und der Weltbank grundlegend gendert. Die

    neoliberale Politik in den 1980er und 1990er Jahren fhrte im globalen

    Sden zur Krzung der staatlichen Ausgaben in den Bereichen

    Soziales, Bildung und Gesundheit. Viele Menschen in den Lndern

    der Dritten Welt, die auf die staatlichen Wohlfahrtsmanahmen

    angewiesen waren, konnten sich eine privat nanzierte Versorgung

    mit diesen Gtern nicht leisten. Mikrokredite liefern scheinbar eine

    Lsung fr dieses Problem. Indem auch arme Menschen Zugang zu

    Krediten erhalten, die bis dahin aufgrund fehlender Sicherheiten

    davon ausgeschlossen waren, knnen sie sich diese Gter leisten

    oder die Kredite zu einem einkommenssichernden Schritt nutzen. Soist auch in den Debatten um Mikronanz immer wieder die Rede von

    eiigen KleinstunternehmerInnen, die sich mit einem Mikrokredit ein

    Geschft aufbauen konnten und so der Armut entronnen sind. Das Bild

    scheint auch erstmal schlssig zu sein, aber nur so lange, bis man etwa

    erfahren hat, welche Zinsstze bei Mikrokrediten zu bezahlen sind (im

    Seite 26 von 48 - kritisch-lesen.de

  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    Durchschnitt 38 Prozent, teilweise bis zu 100 Prozent), wie hoch der

    Anteil der KreditnehmerInnen ist, die tatschlich von Mikrokrediten

    protiert haben (5-10 Prozent) und welche Methoden

    Mikronanzinstitute verwenden, um die Schulden einzutreiben.

    Insbesondere die Behauptung der Mikronanz-Befrworter, dass

    Mikrokredite zur Armutsreduktion beitragen oder gar Armut ins

    Museum verbannen (Muhammad Yunus) wrden, wird kritisch

    geprft. Unter anderem anhand der Beispiele Bangladesh und Indien

    Lnder, in denen Mikrokredite eine Massenverbreitung gefunden

    haben wird gezeigt, dass Mikrokredite dieses selbst gesteckte Ziel

    berhaupt nicht erfllen. Die Mehrheit der KreditnehmerInnen bleibt

    arm oder verarmt noch weiter wenig berraschend angesichts der

    hohen Zinsstze. Wer die Zinsen und Rckzahlungsraten nichtbegleichen kann, nimmt weitere Kredite auf und gert so tiefer in die

    Schuldenfalle. Zahlreiche Selbstmorde von KreditnehmerInnen zeigen,

    dass Mikrokredite oft eine weitere Brde sind und kein Ausweg aus

    der Armut.

    Daneben wird auch skizziert, dass Mikrokredite kein reines Dritte

    Welt-Phnomen sind, sondern dass inzwischen auch im Westen dieses

    Instrument genutzt wird. In Grobritannien etwa werden Mikrokredite

    mit einem Zinssatz von 48 Prozent vergeben. In Deutschland sollen

    Mikrokredite als eine Alternative zu der faktisch abgeschaten

    Grndungsprmie der Arbeitsagentur etabliert werden, wobei die

    Zinsen und Rckzahlungsraten die prekren Existenzgrndungen

    (vielfach als Ich-AGs) noch strker belasten drften die Zahl der

    Insolvenzen drfte steigen.

    Es ist ein sehr lesenswertes Buch und der journalistische Schreibstil

    ermglicht auch eine gute Lesbarkeit. Wer eine strkerwissenschaftliche Auseinandersetzung sucht, ndet genug

    Quellenhinweise hierfr. Der Autor positioniert sich politisch

    eindeutig, ohne in Polemik zu verfallen. Sehr positiv ist auch die

    Kontextualisierung des Themas, die deutlich macht, dass es hier nicht

    Seite 27 von 48 - kritisch-lesen.de

  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    um einen Aspekt fr EntwicklungspolitikspezialistInnen geht, sondern

    um ein Thema, das das Leben von vielen Menschen elementar berhrt.

    Gerhard Klas 2011: Die Mikronanz-Industrie. Die groe Illusion oder

    das Geschft mit der Armut. Assoziation A, Berlin/Hamburg.ISBN: 978-3-86241-401-7. 320 Seiten. 19.80 Euro.

    [Link zum Artikel]

    Seite 28 von 48 - kritisch-lesen.de

    http://www.kritisch-lesen.de/?p=3479http://www.kritisch-lesen.de/?p=3479
  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    PPostwachstumistische Mostwachstumistische Mythenythen

    Irmi Seidl / Angelika Zahrnt (Hg.)

    PostwachstumsgesellschaftKonzepte fr die Zukunft

    Von Patrick Schreiner

    Die Krise befeuert die Wachstumskritik als gefhrlichen Wolf im(manchmal antikapitalistischen) Schafspelz.Das neoliberale und

    marktradikale Kapitalismus-Modell ist sptestens mit der Krise

    gescheitert. Dies wre eigentlich der richtige Zeitpunkt, um

    grundlegend ber Alternativen nachzudenken. Der richtige Zeitpunkt

    auch, um die politische Linke wieder zu einem nennenswerten

    gesellschaftlichen Faktor zu machen. Es wre nicht zuletzt auch der

    Zeitpunkt, die Verteilungsfrage endlich wieder zu stellen. Ein nicht

    unbedeutender Teil der Linken aber beteiligt sich lieber an einer

    wachstumskritischen" Phantomdebatte: In ihr kommen vielfltigeAkteure zusammen etwa Attac, Umweltverbnde und -verwaltung,

    Kirchen, Entwicklungshilfe-Organisationen, linke und rechte

    Sozialwissenschaften sowie Teile aller etablierten Parteien.

    KKoonnturturen einer Debatteen einer Debatte

    Es ist dies eine Debatte, in der Positionen von weit rechts bis weit

    links sich um das goldene Kalb der Kritik am Wirtschaftswachstum

    versammeln. Sie vertreten mit beinahe religiser Inbrunst einenGlaubenssatz: Dass regelmiges Wachstum einer Volkswirtschaft aus

    kologischen Grnden abzulehnen oder aber schlicht unmglich sei.

    Auf ihre Fahnen schreiben sich die wachstumskritischen Aktivistinnen

    und Aktivisten folgerichtig die Forderung nach einer

    Seite 29 von 48 - kritisch-lesen.de

    http://www.kritisch-lesen.de/author/patrick-schreiner/http://www.kritisch-lesen.de/author/patrick-schreiner/
  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    Postwachstumsgesellschaft" oder Postwachstumskonomie" die

    Forderung nach einem Ende oder einer Umkehr des Wachstums also.

    Einige Beispiele:

    - Wohlstand ohne Wachstum" lautet der Titel bzw. der Untertitel

    zweier wirkmchtiger Bcher zum Thema (Miegel 2011; Jackson2011).

    - In Hans Binswangers Wachstumsspirale" (2006) wird

    Kapitalismuskritik zur Kritik am bestndigen Zwang" des Geldes,

    mehr Geld zu werden eine Position, die sich wie ein roter Faden

    durch die Geschichte vermeintlicher Antikapitalismen zieht und die am

    Beispiel des Denkens Pierre Joseph Proudhons schon von Karl Marx als

    irrefhrend und unzureichend analysiert wurde.

    - Als attac Basistext" ist jngst ein kleines Bndchen mit dem Titel

    Postwachstum" erschienen, das versucht, der Wachstumskritik eine

    linke Wendung zu geben (Schmelzer/Passadakis 2011).

    - Und obwohl Wachstumskritiker" bisweilen gerne den Eindruck

    erwecken, ihre Thesen seien neu, betitelte der Club of Rome schon

    1972 seinen einussreichen Bericht mit Die Grenzen des Wachstums"

    (Meadows/Meadows et al. 1972). Dies stand wiederum selbst in einer

    wachstumskritischen" Tradition, fr die sich Beispiele etwa in der

    Bibel, bei Aristoteles, in der (nach-) mittelalterlichen Moralphilosophie

    und in der politischen konomie des 19. Jahrhunderts nden.

    Schon anhand dieser wenigen Bcher lsst sich zeigen, dass

    Wachstumskritik" tatschlich Positionen von weit rechts bis weit links

    unter einem gemeinsamen Schlagwort, einer gemeinsamen

    Grundkonstante ihres Denkens vereint. Das alleine sollte stutzig

    machen. So breitet der rechtskonservative Meinhard Miegel in seiner

    Arbeit einmal mehr das Mrchen vom Ende der Finanzierbarkeit des

    Sozialstaats aus, hier nun wachstumskritisch" gewendet. Auf der

    anderen Seite ndet sich mit dem attac-Basistext eine Arbeit, diedurchaus als links bezeichnet werden kann und etwa die

    Verteilungsfrage mehr oder weniger radikal zu stellen versucht. Der

    hier zu besprechende Sammelband mit dem Titel

    Postwachstumsgesellschaft" reiht sich ein in eine Modewelle neuerer

    Verentlichungen, durch die Wachstumskritik" im Zuge der

    Seite 30 von 48 - kritisch-lesen.de

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    aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise erneut und verstrkt auf die

    politische Tagesordnung gepusht wurde. Und auch in diesem

    Sammelband ndet sich ein buntes Sammelsurium eher rechter und

    eher linker Positionen, hier allerdings eher gemigte.

    Die Autorinnen und Autoren des Bandes betrachten und analysieren

    in ihren Artikeln die unterschiedlichsten politischen Themen durch

    eine wachstumskritische Brille etwa die Frage der

    Alterssicherungssysteme, des Konsums, der Steuerpolitik oder der

    Verteilung. So ist auch der Gewerkschafter Norbert Reuter mit einem

    Aufsatz vertreten, in dem er sich dem Arbeitsmarkt im Spannungsfeld

    von Wachstum, kologie und Verteilung" widmet. Lorenz Jarass hat

    einen Aufsatz zur Steuerpolitik geschrieben, der in diesem

    Sammelband insofern etwas verloren erscheint, als er bermigwachstumskritisch" gar nicht ist. Bei Matthias Mhring-Hesse, der

    sich der Verteilungsfrage widmet, nden sich zwar jede Menge

    abstrakter philosophischer berlegungen, aber wenig tatschlich

    Brauchbares zur Frage der Verteilung im Kontext einer

    (programmatisch ja als anzustreben behaupteten) nicht mehr

    wachsenden Wirtschaft.

    VVerteilung und Soziales?erteilung und Soziales?

    Whrend diese Aufstze harmlos scheinen oder bei Reuter und Jarass

    bisweilen durchaus berlegenswerte Anstze im Sinne einer

    verteilungsgerechteren Gesellschaft nden, zeigt sich in anderen

    Aufstzen die Fragwrdigkeit wachstumskritischer" Haltungen sehr

    deutlich. Paradebeispiel hierfr ist Franois Hpinger, der einmal

    mehr die Forderung nach einer Verlngerung (auch) der

    Lebensarbeitszeit aufstellt, hier wachstumskritisch" begrndet. Ist

    die Rente mit 67" als faktisches Rentenkrzungsprogramm heuteschon gesetztes Recht, so wird hier der Boden fr eine weitere

    Anhebung des Renteneintrittsalters bereitet was letztlich wiederum

    in erster Linie jene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu bezahlen

    haben, die im Berufsalltag krperlich oder psychisch besonders harten

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    Anforderungen ausgesetzt sind und fr die schon die Rente mit 65 ein

    illusorischer Wunschtraum war.

    Die wachstumskritische" Debatte zeigt sich in weiten Teilen als

    hochgradig ignorant gegenber den sozialpolitischen undverteilungspolitischen Implikationen ihrer Forderungen. Die einzige

    Umverteilung, die ernsthaft und breit diskutiert wird, ist jene der

    radikalen Umverteilung und Verkrzung der Arbeitszeit mit dem Ziel,

    auf diese Weise das Wachstum zu bremsen oder umzukehren. Nun

    mag man einer Verkrzung der Arbeitszeit im Grundsatz zwar mit

    Sympathie gegenberstehen. Stutzig machen sollte allerdings, dass

    die Frage eines Lohnausgleichs seitens der Wachstumskritiker" kaum

    thematisiert wird. Viele Beschftigte arbeiten heute 40 Stunden bei

    einem Stundenlohn von fnf oder sieben Euro. Wie diese Kolleginnenund Kollegen sich und ihre Familien zuknftig bei halbierter

    Arbeitszeit und gleichem Stundenlohn durchbringen sollen, bleibt das

    Geheimnis der Wachstumskritiker". Antworten nden sich auch in

    dem hier zu besprechenden Sammelband nicht. Kapitalismuskritik

    sieht anders aus.

    Und selbst wo die soziale Frage zumindest angesprochen wird, sind die

    Konzepte zur tatschlichen Umsetzung bestimmter sozialpolitischer

    Forderungen im Besonderen ebenso dnn wie die Konzepte einer

    Postwachstumskonomie" im Allgemeinen. Hier wr etwa zu

    verweisen auf Irmi Seidls und Angelika Zahrnts Argumente fr einen

    Abschied vom Paradigma des Wirtschaftswachstums" im hier

    besprochenen Sammelband.

    BBruruttottoinlandsprinlandsprododuktukt

    Die in den Aufstzen des Sammelbandes beschriebene

    Wachstumskritik" krankt aber keineswegs nur an einem Mangel an

    Reexion ihrer sozialen und verteilungspolitischen Implikationen.

    Mindestens ebenso fragwrdig, und beides ist eine Gemeinsamkeit des

    Mainstreams der wachstumskritischen" Debatte, ist ihr Verstndnis

    von dem, was Wachstum berhaupt ist. Tatschlich ist dieses nmlich

    nichts anderes als eine statistisch konstruierte Gre die Steigerung

    Seite 32 von 48 - kritisch-lesen.de

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    des Bruttoinlandsprodukts (BIP) einer bestimmten Zeitperiode, etwa

    einem Quartal oder einem Jahr. Das BIP wiederum erfasst die in Geld

    gemessenen Marktwerte der in dem genannten Zeitraum produzierten

    Waren und Dienstleistungen. Undokumentierte Arbeit, andere nicht

    registrierte Beschftigung sowie staatliche Leistungen werden durchSchtz- bzw. Ersatzwerte einbezogen. Beim Vergleich des BIP

    verschiedener Zeitperioden wird zudem die Geldentwertung

    bercksichtigt.

    Das BIP bezieht also ausschlielich marktfrmig produzierte Waren

    und Dienstleistungen ein, die in Geldform auf Basis ihrer Marktpreise

    erfasst werden. Damit stellt es per se keinen Indikator fr

    Ressourcenverbrauch oder fr Umweltbelastung dar; es kann folglich

    durchaus ein schrumpfendes BIP mit steigendemRessourcenverbrauch oder umgekehrt ein wachsendes BIP mit

    sinkendem Ressourcenverbrauch geben. Einen methodischen,

    systematischen und zwingenden Nexus zwischen dem statistischen

    Indikator Wachstum" und dem Ressourcenverbrauch bzw. der

    Umweltbelastung gibt es nicht.

    Das Problem ist nun, dass die pauschale und undierenzierte

    Forderung nach einem Ende des Wachstums sich nicht dafr

    interessiert, in welchen Bereichen und auf welche Weise eine

    Volkswirtschaft schrumpfen soll. Sie interessiert sich auch nicht dafr,

    wo eigentlich erstens Umweltzerstrung und Ressourcenverbrauch

    in welchem Ausma stattnden und ob zweitens bestimmte

    Manahmen gegen das Wachstum tatschlich zu einem geringeren

    Ressourcenverbrauch fhren. Wer vor diesem Hintergrund schlicht

    eine Begrenzung oder Umkehrung des Wachstums fordert, sieht sich

    drei unbequemen (und vermutlich nicht gewollten) Konsequenzen

    gegenber:

    Erstens droht er oder sie, statistischen Taschenspielertricks

    aufzusitzen. Die Forderung vieler Wachstumskritiker" auch im

    vorliegenden Sammelband nach mehr Ehrenamt und

    Selbstversorgung bedeutet nmlich nichts anderes als die

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    Weiterfhrung bisher am Markt erbrachter Produktion fernab des

    Marktes. Umweltfreundlicher wird das Produzieren dadurch nicht,

    seine Produkte ieen lediglich nicht mehr in die Berechnung des

    Bruttoinlandsprodukts ein.

    Zweitens liegt der Ressourcenverbrauch schon heute weit jenseits des

    Vertrglichen, so dass selbst ein gewisser Rckgang des BIP nicht

    viel helfen wrde. Wachstumskritik" droht hier den Blick auf das

    tatschlich Notwendige zu verstellen, nmlich die Entwicklung und

    Durchsetzung umweltvertrglicherer und ressourcenezienterer

    Produkte und Produktionsverfahren.

    Eine dritte und noch sehr viel gravierendere Konsequenz der

    pauschalen und undierenzierten Forderung nach einem Ende desWachstums ist, dass damit argumentationslogisch auch kologisch

    sinnvolle Projekte, Entwicklungen und Investitionen in Frage gestellt

    werden denn auch sie steigern das BIP und damit das Wachstum.

    Hier wre beispielhaft zu verweisen auf die Behebung von Schden

    an Natur und Umwelt oder Investitionen in Recycling, erneuerbare

    Energien sowie eine bessere Ressourcen- und Energieezienz. Auch

    hier ist zu konstatieren: Eine berzeugende Kapitalismuskritik sieht

    anders aus. Fr alle drei Konsequenzen nden sich Beispiele in dem

    hier zu besprechenden Sammelband.

    QualiQualitatitativves Wes Wachstumachstum

    Sehr viel klger, als Wachstum zu verdammen, wre es, genau zu

    prfen, weshalb in bestimmten Bereichen Wachstum tatschlich mit

    steigendem Ressourcenverbrauch einhergeht und zu berlegen, in

    welchen Bereichen Wachstum zuknftig in welcher Form stattnden

    soll. Eine solche Politik schliet Vorgaben auch ordnungsrechtlicher

    Art durchaus ein, denn in der Tat haben Unternehmen von sich

    aus kein Interesse, Schden und Kosten zu reduzieren, die sie auf

    die Gesellschaft berwlzen knnen. Notwendig ist berdies die

    Intensivierung von Forschung, Entwicklung und Investitionen in

    kologisch nachhaltige Produkte und Produktionsverfahren. Und es

    braucht nicht zuletzt einen Ausbau von gerade auch entlichen

    Seite 34 von 48 - kritisch-lesen.de

  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    Dienstleistungen: Ihre Produktion ist vergleichsweise

    ressourcensparend; so liegt ihr Energieverbrauch in Deutschland nur

    bei einem Viertel von jenem des Produzierenden Sektors (relativ zur

    Bruttowertschpfung).

    Wer aber eine solche Dierenzierung vornimmt, der spricht nicht mehr

    von den Grenzen des Wachstums, sondern von qualitativem Wachstum.

    Von einem Wachstum, das nicht bedingungslos gesteigert wird,

    sondern das in gesellschaftlich und kologisch sinnvollen Bereichen

    stattndet. Dieses erfordert zweierlei: Erstens, mit einem

    Wirtschaftsmodell zu brechen, das primr auf deregulierte Mrkte

    setzt denn den Mrkten als solchen ist die kologische Frage ebenso

    egal wie die soziale. Und zweitens, mit der Vorstellung zu brechen,

    ein Ende des Wachstums" an sich sei die Lsung fr die anstehendenkologischen oder gar sozialen Herausforderungen und Probleme.

    Genau fr ein solches Konzept des qualitativen Wachstums bieten die

    Autorinnen und Autoren in Seidls und Zahrnts Sammelband aber keine

    Denkanstze. Ernsthaft vorwerfen wird man ihnen dies kaum knnen:

    Sie reihen sich damit ein in eine breit angelegte Phantomdebatte, die

    sich als Ganze darin gefllt, radikal (und manchmal antikapitalistisch)

    zu klingen, ohne aber fundierte Konzepte zu entwickeln und ohne

    die Grundlagen und Konsequenzen des eigenen Denkens kritisch zu

    hinterfragen.

    ZZustzlich vustzlich verwerwendete Liendete Literaturteratur

    Binswanger, Hans 2006: Die Wachstumsspirale. Geld, Energie und

    Imagination in der Dynamik des Marktprozesses. Metropolis-Verlag,

    Marburg.

    Jackson, Tim 2011: Wohlstand ohne Wachstum. Leben undWirtschaften in einer endlichen Welt. Oekom Verlag, Mnchen.

    Meadows, Donella/ Meadows, Dennis et al. 1972: Die Grenzen des

    Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit.

    Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart.

    Seite 35 von 48 - kritisch-lesen.de

  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    Miegel, Meinhard 2011: Exit. Wohlstand ohne Wachstum. List

    Taschenbuch, Berlin.

    Schmelzer, Matthias / Passadakis, Alexis 2011: Postwachstum. VSA

    Verlag, Hamburg.

    Irmi Seidl / Angelika Zahrnt (Hg.) 2010: Postwachstumsgesellschaft.

    Konzepte fr die Zukunft. Metropolis, Marburg.

    ISBN: 978-3-89518-811-4. 247 Seiten. 18.00 Euro.

    [Link zum Artikel]

    Seite 36 von 48 - kritisch-lesen.de

    http://www.kritisch-lesen.de/?p=3485http://www.kritisch-lesen.de/?p=3485
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    MMehr als Haider und Sehr als Haider und Strachetrache

    Robert Foltin

    Und wir bewegen uns nochZur jngeren Geschichte sozialer Bewegungen in sterreich

    Von Gabriel Kuhn

    Dass es in sterreich nicht nur rechte Krfte, sondern auch eineauerparlamentarische Linke gibt, dokumentiert Robert Foltin in

    einem neuen Band zu den sozialen Bewegungen des Landes.Im Jahre

    2004 prsentierte der langjhrige Aktivist und Autor Robert Foltin

    mit Und wir bewegen uns doch. Soziale Bewegungen in sterreich

    ein Standardwerk zur Geschichte der sterreichischen

    auerparlamentarischen Linken. Nun legt Foltin mit Und wir

    bewegen uns noch. Zur jngeren Geschichte sozialer Bewegungen

    in sterreich einen Nachfolgeband vor. Whrend das erste Buch in

    der Edition Grundrisse erschien (Foltin ist Redaktionsmitglied derZeitschrift Grundrisse: Zeitschrift fr linke Theorie und Debatte),

    wurde der Nachfolgeband in der Reihe Kritik & Utopie des

    Mandelbaum-Verlages herausgegeben. Die Reihe Kritik & Utopie

    wurde vom Verlag 2011 gestartet, um mit theoretischen Entwrfen

    ebenso wie mit Reexionen aktueller sozialer Bewegungen zu linken

    Debatten in sterreich beizutragen. Ein ambitioniertes Projekt, das

    die kritische sterreichische Publikationslandschaft wesentlich zu

    bereichern verspricht. (In Ausgabe 12 von kritisch-lesen.de wurdebereits ein Buch aus der Kritik & Utopie-Reihe rezensiert: Wie bleibt

    der Rand am Rand).

    Im Vorwort des neuen Buches erklrt Foltin, dass es vor allem die

    studentische Protestbewegung unibrennt war, die ihn zum Verfassen

    von Und wir bewegen uns noch motiviert hat (zu unibrennt unten

    Seite 37 von 48 - kritisch-lesen.de

    http://www.kritisch-lesen.de/author/gabriel-kuhn/http://www.kritisch-lesen.de/2011/12/urbane-reflektierte-wut/http://www.kritisch-lesen.de/2011/12/urbane-reflektierte-wut/http://www.kritisch-lesen.de/2011/12/urbane-reflektierte-wut/http://www.kritisch-lesen.de/2011/12/urbane-reflektierte-wut/http://www.kritisch-lesen.de/author/gabriel-kuhn/
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    mehr). Methodisch bezieht er sich auf den Postoperaismus, dem er

    sich in anderen Publikationen bereits eingehend gewidmet hat, etwa in

    (Post-)Operaismus. Von der Arbeiterautonomie zur Multitude (2010),

    gemeinsam mit Martin Birkner fr die populre theorie.org-Reihe des

    Schmetterling-Verlages verfasst.

    VVoon Schn Schwarz-Bwarz-Blau zur Vlau zur Vielfarbielfarbigkigkeieitt

    Und wir bewegen uns noch gliedert sich in fnf Kapitel. In Februar

    2000: Was ist geblieben? analysiert Foltin die politischen

    Konsequenzen der im Februar 2000 angelobten Regierungskoalition

    der konservativen sterreichischen Volkspartei (VP) und der

    rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei sterreichs (FP). Die

    schwarz-blaue Koalition (Schwarz ist die Parteifarbe der VP, Blauder FP) hatte nicht zuletzt einen groen Einuss auf die jngere

    sterreichische Widerstandskultur. Zu Foltins Schlussfolgerungen

    zhlt die folgende:

    Die Bewegung gegen Schwarz-Blau agierte relativ

    unabhngig auch von den oppositionellen staatstragenden

    Parteien, der SP und den Grnen ein bestmglicher

    Anknpfungspunkt, um auch gegen andere

    Konstellationen der Herrschenden zu rebellieren. (S. 20)

    Keine Atempause bietet einen breiten berblick ber linke

    Initiativen und Bewegungen der letzten zehn Jahre, wobei die

    Entwicklungen in sterreich in einem internationalen Kontext

    nachgezeichnet werden. Foltin konzentriert sich vor allem aber bei

    weitem nicht nur auf Arbeitskmpfe, (queer-)feministische Debatten,

    antirassistischen Aktivismus und Fragen der Stadtplanung

    beziehungsweise Gentrizierung. Diese werden von Foltin nie isoliert

    dargestellt, sondern dem postoperaistischen Ansatz gerecht immer

    wieder in anregender Form miteinander verbunden.

    In Klimawechsel knpft Foltin an das vorhergehende Kapitel an,

    konzentriert sich jedoch vor allem auf Initiativen, die in

    Zusammenhang mit der 2008 deutlich werdenden Finanzkrise

    Seite 38 von 48 - kritisch-lesen.de

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    entstanden, beziehungsweise auf die Reaktionen, die die Krise in

    etablierten linken Bewegungen hervorrief.

    Resonanzen widmet sich breiteren Protestbewegungen, die sich in

    den letzten Jahren, nicht zuletzt in Zusammenhang mit derKrisensituation, entwickelt haben. Neben Beispielen aus der

    antirassistischen Arbeit geht Foltin vor allem auf die studentische

    Protestbewegung unibrennt ein, die sich in sterreich im Sommer

    2009 zu formieren begann und binnen kurzer Zeit eine tatschlich

    erstaunliche Resonanz hervorrief. Auch wenn sich die entliche

    Aufmerksamkeit vor allem auf das besetzte Audimax der Universitt

    Wien konzentrierte, kam es im Laufe der Proteste zu Besetzungen

    von Hrslen an praktisch allen sterreichischen Universitten. Die

    Bewegung war stark von direktdemokratischen Prinzipien geprgt,was sie auch fr viele nicht-studentische Aktivist_innen attraktiv

    machte. Als die Proteste Anfang 2010 schlielich abebbten, waren

    fr Foltin wenigstens einige Teilziele erreicht, vor allem, was die

    praktische Umgestaltung der Bildungseinrichtungen betraf, die von

    erweiterten Bibliotheksnungszeiten bis hin zu einem

    Studierendenzentrum reichten. Forderungen, die allgemein

    bildungspolitische Fragen wie die Entdemokratisierung der

    Universitten, die Probleme bei der Umsetzung desBologna-Prozessesoder die Unternanzierung der Unis anbelangten, blieben jedoch

    ohne greifbare Konsequenz. Die gesamtgesellschaftlichen

    Forderungen sah Foltin medial (nahezu) ignoriert (S. 198f.).

    Im Abschlusskapitel 2011 wird die jngste Vergangenheit in

    sterreich mit den teilweise dramatischen internationalen

    Entwicklungen des Jahres 2011 in Zusammenhang gebracht, etwa den

    Unruhen in Griechenland oder dem sogenannten arabischen

    Frhling. Eine Chronologie, die vom Mai 1999 bis zum September2011 reicht, schat am Ende des Bandes noch einmal einen berblick

    ber die wichtigsten behandelten Ereignisse.

    Seite 39 von 48 - kritisch-lesen.de

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    Ein anderEin anderes sterres sterreicheich

    Wir bewegen uns noch ist eine Fundgrube an Information zu linken

    Diskussionen und linkem Widerstand. Dies ist nicht nur auf sterreich

    beschrnkt. Foltin analysiert die sterreichische Lage immer wieder

    im Kontext internationaler Tendenzen. Auch wenn die entsprechenden

    Exkurse die Ereignisse in sterreich manchmal zu berschatten

    drohen, sind sie hilfreich und notwendig. Zudem beinhalten sie

    zahlreiche erfrischende Kommentare. In einem Verweis auf die

    Strafverfolgung Julian Assanges in Schweden zieht Foltin es

    beispielsweise vor, sexuelle Gewalt zu thematisieren anstatt

    Konspirationstheorien auszuschlachten, was, wie sich zeigte, in der

    Linken nicht als selbstverstndlich vorauszusetzen ist (S. 214).

    Spannend auch die These von einem neuen Internationalismus, denFoltin unter anderem in koordinierten Aktionen und internationaler

    Kommunikation besttigt sieht und mit 1968 zu vergleichen wagt

    (S. 241).

    Was sterreich betrit, so wird keine wichtige Kampagne der Linken

    ausgelassen. Eine Auseinandersetzung mit dem Widerstand gegen die

    seit 1958 als jhrlicher Sammlungspunkt extrem rechter Krfte

    dienende Kriegsgedenkveranstaltung am Krntner Ulrichsberg, die

    aufgrund des antifaschistischen Widerstandes seit 2009 nicht mehr inihrer traditionellen Form stattnden kann, ist ein Beispiel. Ein weiteres

    ist die Darstellung der mehrjhrigen Solidarittskampagne mit den

    2008 verhafteten und spter der Bildung und Mitgliedschaft in einer

    kriminellen Organisation (278a) angeklagten

    Tierrechtsaktivist_innen, die bis zum Mai 2011 auf ihren Freispruch

    warten mussten. Zu beiden Fllen sind in der Reihe Kritik & Utopie

    ausfhrliche Dokumentationsbnde erschienen: Friede, Freude,

    deutscher Eintopf. Rechte Mythen, NS-Verharmlosung undantifaschistischer Protest, herausgegeben vom Arbeitskreis gegen

    den krntner Konsens, sowie 278a: Gemeint sind wir alle! Der

    Prozess gegen die Tierbefreiungs-Bewegung und seine Hintergrnde,

    herausgegeben von Christof Mackinger und Birgit Pack (beide 2011).

    Seite 40 von 48 - kritisch-lesen.de

  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    Eine kritische (trotzige) Anmerkung liegt freilich auf der Hand, wenn

    ein Tiroler das Buch eines Wahlwieners rezensiert: Obwohl Foltin die

    Aktivitten in den sterreichischen Bundeslndern keineswegs

    ignoriert so gibt es beispielsweise einen schnen berblick ber

    die gesamtsterreichische Besetzungsbewegung der letzten Jahre ,konzentriert er sich in seinen Ausfhrungen sehr stark auf die

    Bundeshauptstadt Wien. Dies ist allerdings weder berraschend noch

    kann es einem in Wien ansssigen Autor zum Vorwurf gemacht werden.

    Vielmehr sollte es Aktivist_innen in den Bundeslndern ermutigen,

    regionale Widerstandsgeschichten aufzuarbeiten. Dies wre eine

    spannende Ergnzung zu den berblicksbnden Foltins, die ohne

    jeden Zweifel und mit voller Berechtigung fr lange Zeit die

    Grundlagentexte zu jngeren sozialen Bewegungen in sterreich

    bleiben werden. Fr alle, die sich auch nur ansatzweise fr die

    auerparlamentarische linke Politik sterreichs interessieren, ist ihre

    Lektre unverzichtbar.

    Robert Foltin 2011: Und wir bewegen uns noch. Zur jngeren

    Geschichte sozialer Bewegungen in sterreich. Mandelbaum Verlag,

    Wien.

    ISBN: 978385476-602-5. 288 Seiten. 15.00 Euro.

    [Link zum Artikel]

    Seite 41 von 48 - kritisch-lesen.de

    http://www.kritisch-lesen.de/?p=3472http://www.kritisch-lesen.de/?p=3472
  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    RassismRassismus als Sus als Superlatiuperlativv

    Wulf D. Hund

    Rassismus

    Von Sebastian Friedrich

    Ausgehend von einer Analyse zu den zentralen Begrien der

    Rassismusforschung, den historischen Entwicklungen von Rassismen

    und deren Methoden und Funktionen pldiert der Autor darin fr

    eine Ausweitung des Rassismusbegris.Zu Beginn fhrt Hund in

    magebende Begriichkeiten ein. Anhand einer Analyse der

    Geschichte des Rasse-Begris zeigt er, dass das ideologische Konzept

    des Rassismus lange vor der Etablierung des Begris Rasse

    entwickelt wurde, da bereits vorher unterschiedliche Grade des

    Menschseins postuliert wurden. Verwendung fand der Rassebegrizunchst als klassistische Abgrenzung des Adels in der Krise des

    Feudalismus, bevor er im Kolonialismus als Legitimation fr

    Ausbeutung und Gewalt diente. Die Kategorien Geschlecht, Klasse,

    Nation und Rasse sind in der komplexen und vielfltigen Umsetzung

    und Bedeutung von Rassismus verknpft. In diesem Zusammenhang

    geht Hund auf die Begrie Klassenrassismus,

    Geschlechterrassismus und Nationalrassismus ein. So etwa habe

    Klassenrassismus historisch unterschiedliche Formen angenommen.

    In Abgrenzung zum Klassismus stellt Hund klar, dass der erhote Tod

    von Teilen der Unterschichten die letzte Konsequenz des bergangs

    von der klassistischen zur rassistischen Diskriminierung sei.

    Den grten Raum der Analyse nimmt das Kapitel ber die Formen des

    Rassismus ein. Anhand von sechs Gegensatzpaaren zeigt Hund, wie

    Seite 42 von 48 - kritisch-lesen.de

    http://www.kritisch-lesen.de/author/sebastian-friedrich/http://www.kritisch-lesen.de/author/sebastian-friedrich/
  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    Rassismus durch verschiedene Legitimationsmuster geprgt ist. Diese

    lieen sich durch die Gegensatzpaare Kultivierte und Barbaren,

    Reine und Unreine, Erwhlte und Teufel, Zivilisierte und Wilde,

    Weie und Farbige und Wertvolle und Minderwertige

    kennzeichnen, die Hund einerseits charakteristisch fasst, zugleich aberdarauf aufmerksam macht, dass sie exibel miteinander kombinierbar

    sind. Im darauf folgenden Kapitel wird analysiert, wie rassistische

    Vergesellschaftung auf Entmenschlichung aufbaut und durch

    ideologische Strategien der Dierenzierung und Inferiorisierung

    legitimiert wird. Politisch umgesetzt und dargestellt werde dies mit

    den Methoden der Stigmatisierung und Verkrperung.

    Im letzten Kapitel fasst Hund seine Thesen zusammen und spitzt sie

    zu. Da Rassismus lter als die soziale Konstruktionen von Rassen ist,sei die Bindung des Begris an die Kategorie Rasse problematisch.

    Es sollten die zentralen ideologischen Muster erfasst werden. Hund

    unterscheidet zwischen sozialer und rassistischer Diskriminierung:

    Whrend beispielsweise die Auswahl oder Vorenthaltung von sozialen

    Rumen fr Frauen Sexismus sei, drohe ein Geschlechterrassismus mit

    ihrem Ausschluss aus der Gesellschaft. Rassistische Diskriminierung

    ermgliche Abgrenzung, Aufwertung und Protest in einem und

    stabilisiere gleichzeitig die Verhltnisse, denen sich die Motivation frihre Anwendung verdankt. Gemein sei allen Formen des Rassismus das

    Bestreiten des Menschseins.

    Das Buch zeichnet sich durch eine sehr ausfhrliche und

    kenntnisreiche Lektre aus. Sowohl die Darstellung der vergangenen

    und gegenwrtigen Debatten innerhalb der Rassismusforschung als

    auch die historischen Zusammenhnge und Kontinuitten bei der

    Konstruktion der verschiedenen Stereotype werden hervorragend

    dargestellt. Im Gegensatz zu vielen vergleichbaren Arbeiten imdeutschsprachigen Raum besticht das Buch insbesondere durch die

    umfangreiche Darstellung der Forschung im englischsprachigen

    Bereich. Verwirrend erscheint hingegen der Titel. Dieser suggeriert, es

    handele sich bei dem Buch um eine Einfhrung in die Thematik und

    Forschung des Rassismus. Dies ist jedoch nicht der Fall; Hund greift

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  • 7/31/2019 Kapitalismus, Mrkte, Krisen - #14

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    in die Fachdiskurse ein und schlgt ein den meisten Traditionen der

    Rassismusforschung entgegen stehendes Verstndnis von Rassismus

    vor.

    Hund pldiert dafr, den Rassismusbegri auf andereAusschlieungsformen zu bertragen und das Eliminatorische als

    entscheidendes Merkmal fr Rassismus anzusehen. In dieser Logik

    muss Rassismus als Steigerung von spezischen

    Unterdrckungsformen verstanden werden; Rassismus

    gewissermaen als Zusatzbegri, um das bertreten der Schwelle

    von Diskriminierung zu (vernichtender) Ausschlieung zu bezeichnen.

    Wie soll es aber nach Hund bezeichnet werden, wenn Menschen zu

    einer Kultur oder einer Ethnie konstruiert werden? Konsequent

    msste von Kulturalismus und Ethnizismus als weiche Form derUnterdrckung gesprochen werden und Kultur-Rassismus und Ethno-

    Rassismus als eliminatorische Form. Damit wren die Konstruktionen

    und Wertungen von Ethnien und Kulturen an sich nicht rassistisch.

    Auf der politischen Ebene ergibt sich dadurch eine Verschiebung der

    Grundlage, auf der empowernde Kmpfe von People of Color und

    Schwarzen Menschen stattnden. Wenn Rassismus die Steigerung der

    Ausgrenzung ist, also aus Klassismus und Sexismus Klassen-Rassismus

    und Geschlechter-Rassismus werden kann, wird Rassismus schnell zueinem inationren