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Keine Keine Leitern Leitern zu zu erklettern erklettern Winter-Sesshin Winter-Sesshin 29. Januar – 1. Februar 1998, Volzendorf 29. Januar – 1. Februar 1998, Volzendorf Kommentare zu den Strophen 34 und 35 Kommentare zu den Strophen 34 und 35 aus dem aus dem Shinjinmei Shinjinmei von Meister Sōsan, von Meister Sōsan, kommentiert von Zen-Mönch Philippe Coupey kommentiert von Zen-Mönch Philippe Coupey

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Keine Keine Leitern Leitern zu zu erklettern erklettern

Winter-SesshinWinter-Sesshin29. Januar – 1. Februar 1998, Volzendorf29. Januar – 1. Februar 1998, Volzendorf

Kommentare zu den Strophen 34 und 35Kommentare zu den Strophen 34 und 35aus dem aus dem ShinjinmeiShinjinmei von Meister Sōsan, von Meister Sōsan,kommentiert von Zen-Mönch Philippe Coupeykommentiert von Zen-Mönch Philippe Coupey

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kommentierte Verse aus dem Shinjinmei von Meister Sōsan:

34. Wenn wir uns frei ausdrücken, so wird dies ganz natürlich.In unseren Körpern gibt es keinen Ort,

wo man hingehen oder verweilen sollte.

35. Wenn wir Vertrauen in die Natur haben,Werden wir im Gleichklang mit dem Weg sein.

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Winter-SesshinVolzendorf

—29. Januar – 1. Februar 1998

Godō: Philippe Coupey

Donnerstag, 29. Januar 1998, 21.45 Uhr[Zazen in Stille]

Freitag, 30. Januar 1998, 7.00 Uhr[Zazen in Stille]

Kyōsaku!1

Wenn ihr nachlässig werdet, euren Rücken gerade nach oben zu streckenvon der unteren Wirbelsäule an, wird es schwierig für euch, euren Kopfgerade zu halten. Und noch schwieriger ist es, euer Kinn zurückzuziehen.Es wird schwerer für euch sein, mit den Knien auf den Boden zu drücken.Auch wird es euch das Atmen erschweren. Und es wird eureKonzentration schwächen.

Mit anderen Worten: streckt das Rückgrat; nach oben drücken, dasKinn zurückziehen und auf die Ausatmung der Luft konzentriert sein.Wenn ich sage, das Rückgrat sollte gerade sein, dann ist das eineRedeweise. Die korrekte Form des Rückgrats, der Wirbelsäule, ist ein „S“.Ein „S“, das euch erlaubt, euren Kopf auf euren Schultern zu halten.

[Kinhin2 in Stille]

[Zazen]Auch wenn es bei uns keine Stufen und Grade zu erlangen gibt, keineLeitern zu erklimmen, keine Folgen von Kōans, auf die wir antworten

1 Der Stock für das Erwachen. Man bittet darum, indem man zuerst Gasshō macht —die Handflächen zusammengelegt in Höhe des Gesichts. Ein oder zwei Schlägewerden auf jede Schulter gegeben.

2 Zazen in Bewegung, welches zwischen zwei Runden im Sitzen gemacht wird. Einlangsamer „Gang“ im Rhythmus des Atems.

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müssen, so besteht der Anfang dieser Praxis darin, zum Normalzustanddes Geistes und des Körpers zurückzukehren. Und egal wie weit ihr indiese Praxis einsteigt und wie tief ihr geht und wie erwacht ihr werdet, soist es doch stets das Bleiben im Normalzustand.

Der Normalzustand des Körpers ist es, in der aufrechten Position zusein, während man sitzt. Und mit dem Kopf ordentlich auf den Schultern.Meister Dōgen sagte Gen No Bi Choku — „Augen waagerecht, Nasesenkrecht“. Das scheint so offensichtlich zu sein, aber wenn man sich dieLeute in der Welt anschaut, dann ist das nicht so offensichtlich.

Wenn du gehst, gehst du. Wenn du sitzt, sitzt du. Und wenn duschläfst, schläfst du.

Der Normalzustand des Geistes ist es, nicht in der Angst und Furcht zubleiben. Der Normalzustand des Geistes ist es, nicht irgendetwashinterherzurennen oder vor irgendetwas wegzulaufen — im Geiste.

Wenn ein Blumentopf droht, auf deinen Kopf zu fallen, trittst du zurSeite, klarerweise.

Ich rede vom Geist. Der Normalzustand ist nicht, von Erscheinung zuErscheinung zu gehen. Und auch nicht, nach links und rechts gezerrt zuwerden durch widersprüchliche Impulse — Yin und Yang.

Wir werden für etwa 60 Stunden zusammen sein. Während dieser Zeitsollten wir in voller Hingabe sein. Das heißt nicht rumzulaufen oder zusitzen wie ein Zombie, ohne je zu reden oder zu lächeln. Es bedeuteteinfach der Normalzustand.

Volle Hingabe bedeutet, seid nicht von den Worten geführt, die ihrsprecht oder hört, sondern führt diese Worte. Seid nicht von derUmgebung beeinflusst, sondern beeinflusst die Umgebung durch eurePraxis des Weges.

Wir alle haben Buddha in uns. Wir sitzen alle wie Buddhas, wenn wirrichtig sitzen, ohne unseren Gedanken zu folgen.

Ansonsten wärt ihr nicht hergekommen. Erinnert euch also an eureursprünglichen Absichten zu praktizieren und verliert nicht dieseinnerliche Hingabe aus dem Blick.

Kaijō!3

3 Dies wird gesagt, um das erste Zazen am Morgen und das letzte Zazen am Abend zubeenden.

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Freitag, 30. Januar 1998, 11.00 Uhr[Zazen]

Kyōsaku!Wenn es in den Händen keinen Tonus gibt, dann rutschen die Daumennach unten. Genauso ist es mit dem Geist. Der Geist rutscht, wird groggy.Konchin.

[Kinhin]Drückt auf den Boden mit der Wurzel des großen Zehs und drückt dieWurzel des Daumens gegen die Stelle unter dem Brustbein. Da ist einChakra.

[Der Godō geht durch die Reihen und korrigiert die Haltungen.]Wenn ich eine Korrektur gebe, zum Beispiel an den Händen, dann ist

es nicht nötig, auf die Korrektur zu gucken. Fühlt es.

[Zazen]Wenn ihr weitermacht, euren Gedanken zu folgen, werdet ihr müde,manchmal gelangweilt. Und dann schlaft ihr einfach ein. SeinenGedanken zu folgen, ist nicht Aktivität. Man folgt nicht wirklich einerSache. Man steckt fest. Man ist eingeklemmt, man ist zugeklebt.

Aktivität ist, nicht seinen Gedanken zu folgen. Seinen Gedanken zufolgen, ist, in der Vergangenheit oder in der Zukunft steckenzubleiben.Nicht seinen Gedanken zu folgen sondern in der Zazen-Haltung zubleiben, ist, in der Gegenwart zu sein. In der Gegenwart zu sein … das istdie echte Aktivität. Die Gegenwart ist niemals langweilig.

Es ist, wie man die Hände während Zazen hält; die Kraft, die manbenutzt, wenn man die Daumen einander berühren lässt. Es ist dieHandlung des Drückens der Handkanten an den Unterbauch. Diefortwährende Spannung, die erzeugt wird, indem man die Innenflächender Hand stets nach oben zeigen lässt. Die Position der Ellbogen. DieOhren, die Augen, die Nase… Wie hält man die Nase während Zazen?Seine Lippen, seine Zunge, seine Zähne? Und natürlich noch der Bauch,der sich ausdehnt während der Ausatmung. Und die Füße währendZazen. Die Knie. Wir haben eine Unterweisung für jede dieserEinzelheiten.

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Deshimaru würde sagen, wenn ihr euch auf alles gleichzeitigkonzentrieren wollt, dann konzentriert euch auf die Hände, auf dieFinger.

Was ich gerade eben aufgezählt habe, ist Gegenstand derKonzentration. Man sollte nicht die ganze Zeit in der Konzentrationverbleiben. Ihr wisst, dass der sechste Patriarch gesagt hat, dass, wennihr von Konzentration zu Konzentration geht, dann werdet ihr wie einHolzblock.

Zazen ist nicht nur Konzentration, sondern es ist auch Beobachtung.Beobachtet die Ausatmung, das Ausströmen des Atems. Beobachtet denGeist. Beobachtet euren eigenen Geist natürlich und die Gedanken, diekommen und gehen.

Aber den großen Geist4 zu beobachten — das ist unmöglich. Wir sindGeist. Das kann man nicht beobachten.

Freitag, 30. Januar 1998, 16.30 Uhr[Zazen]

Kyōsaku!

Warum praktiziert man Zazen? Nicht aus gesundheitlichen Gründen,ansonsten würden wir nicht das Kesa oder Rakusu tragen. Es gibt welche,die sagen: um uns selbst zu entdecken. Das ist nicht so einfach zuverstehen, was das bedeutet. Es bedeutet ganz sicher nicht, sich selbst impsychologischen Sinne zu entdecken. Wenn man sich im psychologischenSinne entdecken will, sollte man zu einem Psychologen gehen. Warumalso tragen wir das Kesa und praktizieren Zazen? Ist es nötig, diese Fragezu beantworten?

Machen wir Fortschritte in Zazen? Was bedeutet Fortschritt?Vor etwa einer Woche wurde ich im Fernsehen interviewt; nicht

direkt (also nicht ‚live‘). Die letzte Frage, die die Frau gefragt hatte, warüber Fortschritt. Sie ist eine buddhistische Praktizierende in einer dertibetischen Linien. Ihre Frage war nicht wirklich eine Frage. Es war ehereine Beobachtung, dass wir fortschreiten: „Wir machen Fortschritte imZen, nicht wahr?“

Ich habe mit absoluter Aufrichtigkeit geantwortet. Ich habe ihr direkt

4 engl. „the Mind with capital ‚M‘“ (Anm. d. Übers.).

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in die Augen geschaut, und mit so viel Überzeugtheit, wie ich sie inmeinem Gesicht ausdrücken konnte, sagte ich ihr: „Es gibt keinenFortschritt“. Es war keine Zeit mehr, näher zu erklären, wir waren geradeam Ende der Sendung angekommen. Sie sagte „Danke“ und ich habeGasshō gemacht und „Auf Wiedersehen“ gesagt. Am nächsten Morgenwachte ich auf und dachte besonders über diese Antwort nach, die ich ihrgegeben hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Meister Deshimaruso eine Antwort im Fernsehen gegeben hätte. Im Dōjō, das ist eine Sache,und im Fernsehstudio, das ist eine andere Sache … vielleicht. Ich habe mirDeshimarus Antwort vorgestellt: „Natürlich gibt es Fortschritt — Glück!Wahres Glück!“ Und so sollte man vielleicht im Fernsehen reden. Positivsein gegenüber den Zuschauern.

Also beschloss ich, die Fernsehleute anzurufen, um ihnen zu sagen,dass sie diese letzte Äußerung von mir rausnehmen sollten, dieÄußerung, dass es keinen Fortschritt im Zen gebe. Ich hab bei demGedanken daran sehr gelitten. Ich wurde von ihnen schon an sechsanderen Stellen in diesem selben Interview zensiert. Zum Beispiel, als ichanfing, über den Papst zu sprechen, wurde die gesamte Passage entfernt.Als ich anfing, über Sex zu sprechen, musste das auch entfernt werden.Ich sprach über das Trinken und dass es nicht notwendig sei, demBarkeeper gegenüber Gasshō zu machen, wenn er einem ein Bier serviert.Das wurde auch zensiert.

Ich war überhaupt nicht böse, dass sie mich zensierten. Es ist nur so,dass ich eine spezielle Schwierigkeit habe, mich im Fernsehen zuzentrieren. Und jetzt war ich dabei, der Frau am Telefon zu sagen, auchnoch eine der wenigen Stellen zu zensieren, die sie haben durchgehenlassen. Warum? Da ist dann ja nichts vom Programm mehr übrig. Das waralso die einzige Sache, die ich im Fernsehen gesagt hatte: kein Fortschritt.

[Kinhin]Einige Leute halten die Hände zu niedrig. Eure Hände sollten da sein, woihr die Vertiefung im Brustkorb habt. Die Gegend des Solarplexus. DiesenPunkt müsst ihr mit der Wurzel des Daumens der linken Hand drücken.Das ist nicht so einfach, aber zumindest werden eure Knie davon nichtmüde. [Eine Frau praktiziert Kinhin mit eingeknicktem vorderen Knie.] EinigeLeute beugen das vordere Knie. Das vordere Knie sollte vollständiggerade sein, das hintere ist gebeugt. Kinhin ist nicht wie Tai Chi. Es ist wie

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der Matador, der dabei ist, den Bullen zu töten. Die Handflächen solltenparallel zum Boden sein. Das ist auch etwas nicht so Einfaches. Es istgenau das Gegenteil zum Zazen. In Zazen zeigen die Handflächen direktnach oben. Erst zeigen die Handflächen zum Himmel, jetzt zeigen dieHandflächen zur Erde.

[Zazen]Za-Zen: Za ist die Erde, Zen ist der Himmel, der Geist… Wie ich es jetztschon seit vielleicht drei Jahren tue — Kommentare zum Shinjinmei zugeben — werde ich heute dort weitermachen, wo ich beim Sesshin inStuttgart vor etwa einem Jahr aufgehört habe. Ich habe die Strophe 34beim Stuttgarter Sesshin beendet. Das Shinjinmei ist ein langes Gedicht.Jemand aus dem Berliner Dōjō hat auf der Gendronnière eine Zeichnungauf der Plattform angefertigt und an einer Stelle hat er mich als Godōdargestellt. Sein Kommentar dazu war, dass der Autor, Meister Sōsan,drei Monate gebraucht hatte, das Gedicht zu schreiben und dieser Godōbrauchte dreißig Jahre, es zu kommentieren. Er übertreibt. Shinjinmeibedeutet „Glaube an den Geist“. Man sollte sich stets erinnern, dass esden Geist gibt und dass es den Geist gibt. [Der Godō betont besondersletzteren.] Natürlich ist der Glaube an den Geist der Glaube an den großenGeist. Das ist tatsächlich das, was Glaube im Buddhismus ist. Es ist nichtder Glaube an Gott. Das ist vielleicht der hauptsächliche odergrundsätzliche Unterschied zwischen den Religionen des Buddhismusund des Christentums, diese Frage der Dualität: Mensch und Gott. Aberman kann im Buddhismus nicht sagen: Mensch und großer Geist. Menschund großer Geist ist eins. Es ist dasselbe. Für uns, für Buddhisten ist dieDualität: Mensch und kleiner Geist.

Ich habe vor mir Deshimarus französische Übersetzung dervierunddreißigsten Strophe. Ich habe die englische Übersetzung vonBlyth5. Ich habe die verbreitetste Version von einem gewissen Clarke6,welche von Maezumis7 Schüler Genpo8 in den Vereinigten Staaten

5 Reginald Horace Blyth (1898-1964), englischer Autor und Übersetzer vielerjapanischer Schriften. (Anm. d. Übers.)

6 Richard B. Clarke (1933-2013), Meister der Harada-Yasutani-Kapleau-Linie, Gründerdes Living Dharma Center, Massachusetts. (Anm. d. Übers.)

7 Hakuyū Taizan Maezumi (1931-1995), Meister der Sanbō Kyōdan-Linie. (Anm. d.Übers.).

8 Dennis Genpo Merzel (geb. 1944), Schüler von Maezumi (Anm. d. Übers.).

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verwendet wird und auch von Rajneesh9 in Indien. Und ich habe dieÜbersetzung von Sheng Yen10 ins Englische. Er ist ein chinesischerMeister, ein Zen-Meister, der in Taiwan und den Vereinigten Staaten lebt.

Immer wenn ich diese Übersetzungen anschaue, sehe ich einebestimmte Sache. Blyth, Sheng Yen, Clarke sagen so ziemlich dasselbe.Blyth und Clarke sagen dasselbe. Sie neigen beide zum Akademischen.Und dann haben wir die Übersetzung von Deshimaru, welchevollkommen anders ist. Tatsächlich ist der Unterschied so gewaltig, dassich nicht einmal über den Kommentar der englischen Übersetzungennachsinnen kann. Hier ist Deshimarus Übersetzung dervierunddreißigsten Strophe. Ich werde es frei aus dem Französischenübersetzen:

Wenn wir uns frei ausdrücken, so wird dies ganz natürlich.In unseren Körpern gibt es keinen Ort,

wo man hingehen oder verweilen sollte.

Wenn wir uns frei ausdrücken, so wird dies ganz natürlich. In unseren Körperngibt es keinen Ort, wo man hingehen oder verweilen sollte… – Wenn man es soformuliert, ist dieser Vers sehr physisch; eine sehr einfache Sprache.Vielleicht nicht einfach zu verstehen, aber man kann kaum behaupten,dass dies ein intellektueller Vers sei.

Hier ist Blyths Übersetzung. Blyth war ein Englischlehrer, der in Japanlebte und den Kaiser Englisch beibrachte. Er verbrachte die Kriegsjahre ineinem Konzentrationslager und er hatte für Zazen überhaupt nichtsübrig. Dennoch war er eine sehr tiefe Person, er schrieb einige sehr feineArbeiten über Zen und er besaß großes Wissen als Japanisch-Englisch-Übersetzer. Hier nun, wie er die vierunddreißigste Strophe übersetzt:

Wenn wir an gar nichts haften, sind alle Dinge so, wie sie sind.Mit Tätigkeit gibt es kein Gehen, kein Verweilen.

9 Bhagwan Shree Rajneesh, auch bekannt als Osho, gebürtig Chandra Mohan Jain(1931-1990). (Anm. d. Übers.)

10 Shèngyán (chines. 聖嚴 , geboren als Zhāng Bǎokāng, 張保康 ), 1930-2009, Chán-Meister, Abt des Nung Chan-Klosters auf Taiwan, Gründer des Institute of Chung-Hwa Buddhist Culture in New York und der Stiftung Dharma Drum Mountain.

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Meister Deshimaru spricht vom Funktionieren in natürlicher,automatischer, unbewusster Art und Weise. Und dann macht Sensei,Deshimaru, diese überraschende Beobachtung, gemäß seinerÜbersetzung, die ich wiederholen werde:

Wenn wir uns frei ausdrücken, so wird dies ganz natürlich.In unseren Körpern gibt es keinen Ort,

wo man hingehen oder verweilen sollte.

Sensei sagt: „Ich denke, diese kosmische Wahrheit ist eins und ewig undman kann sie ‚Gott‘ nennen.“

Blyth spricht davon, an nichts anzuhaften. Er bezieht sich dabei aufdie „Soheit“ — die Dinge, so wie sie sind. Sein Kommentar ist interessant,auch wenn er ziemlich anders ist. Blyth sagt: „Dies ist“, — und hier gibt erdem Leser zwei Zitate — „wie die Schwäche der Frauen, welche denstärksten Mann bezwingt.“ Und dann erläutert er es mit diesem Bild: Ersagt, es sei wie Blätter, die im Herbst fallen, ohne reluctance (Widerwillen)… [Der Godō hilft dem Übersetzer.] … ohne Zögern (hesitation).

Letztendlich sagen beide so ziemlich das gleiche: natürlich,automatisch und unbewusst.

Der grundsätzliche Unterschied besteht darin, dass das eine physischund das andere geistig ausgedrückt ist. Ich will gar nicht Blythherabwürdigen; ich respektiere seinen Humor und seine Tiefe. Und dochist es — wie es ein Satz besagt, der von einem anderen Zen-Meistereinmal geäußert wurde bezüglich jener, die im Bereich des akademischenStudierens (d.h. der Intellektualität) bleiben — wie ein Requisitenschwert(stage sword) [Der Godō hilft dem Übersetzer:], sowie man es von derTheaterbühne kennt. Es ist sieht aus als sei es sehr scharf, aber man kannnicht damit schneiden.

MondōWenn jemand eine Frage hat, kann er die Hand heben, herkommen unddie Frage stellen. Und ich werde mein Bestes tun, sie zu beantworten.

ERSTER FRAGENDER:Ich bin immer noch verwirrt über das „Ich“ und das Ego. Man kann

nur etwas aufgeben, was da ist. Und ich weiß, dass dies hauptsächlich ein

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begriffliches Problem ist, manchmal verstehe ich aber ich kann es nichtergreifen. Ähm … [möchte weitersprechen…]

GODŌ:Das ist tief genug, mach nicht weiter. [Gelächter] Du sagst, du musst

aufgeben, etwas aufgeben — nun denn, tu es.

ERSTER FRAGENDER:Naja, wenn es nicht da ist, kann man es nicht aufgeben.

GODŌ:Haha! Du willst sagen, dass du Illusionen nicht aufgeben kannst?

ERSTER FRAGENDER:[zögerlich] Nun, es geht um die Persönlichkeit. Es geht um… man muss

etwas aufbauen. Was ich meine, ist, dass eine Person zuerst einePersönlichkeit haben muss, um in der Lage zu sein, diese aufzugeben.

GODŌ:Ja, diese Praxis des Aufgebens ist das Aufgeben von Illusionen. Es ist

nicht das Aufgeben des Charakters und der Persönlichkeit sondern dasGegenteil. Es bedeutet, seinen Charakter und seine Persönlichkeit zufinden. Die Leute machen oft diesen Fehler. Und es gibt einen gutenGrund, diesen Fehler zu machen, aufgrund der Art und Weise, wie dieDinge im Buddhismus formuliert werden. Manchmal kriegen wir denEindruck, dass wir „überhaupt nichts“ sein sollten. Aber so ist es nicht.Wir sollten „überhaupt nichts“ sein, sofern es die Illusionen betrifft! Dasbedeutet, wir sollten uns selbst finden. Unser wahres Selbst zu finden,bedeutet, unseren Charakter zu finden. Aber wir sollten uns selbst finden.Unser wahres Selbst, welches der Charakter ist.

Was ist es, was letztlich weitergegeben wird? Ich denke nicht, dass esdie mündliche Unterweisung ist, die weitergegeben wird. (Vielleicht gibtes in einem bestimmten Sinne dort auch eine Weitergabe, aber ich denke,die wahre Weitergabe ist der Charakter). Charakter begegnet Charakter,aber nicht im Sinne zweier besonderer Typen oder Charaktere, die sichgegenseitig treffen. Sondern Charakter, die wahre Essenz einer Person,die vollkommen unterschiedlich ist bei jeder Person, trifft auf Charakter.

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Dieser Unterschied, von dem ich spreche, wird auch zu Ähnlichkeit. Ichdenke, das ist eine Art, die Weitergabe auszudrücken. Die Weitergabe desUnterschieds und der Ähnlichkeit aller Menschen. Verstehst du?

ERSTER FRAGENDER:Ja.

GODŌ:[lacht] Deshimaru sagte einmal zu mir: „Verstehst du?“, und ich sagte

„Ja“. Er sagte: „Was hast du verstanden?“ [Lachen]

* * *GODŌ:

Frage?

ZWEITER FRAGENDER:Ich habe große Angst vor dem Bösen.

GODŌ:Dem Bösen?

ZWEITER FRAGENDER:Ja, und auch davor, selbst böse zu sein. Und im letzten Zazen stellte ich

fest, wenn ich so vertieft ins Böse bin, dann sitze ich ganz besonders gut.Und daher habe ich den Eindruck, ich würde das Böse benutzen und fühlees durch meine Konzentration.

GODŌ:Vielleicht näherst du dich gerade einem Rinzai-Satori. Im Rinzai

entwickeln sie sowas. Ja, finde das Böse. Aber im Sōtō nehmen wir diesenAnsatz nicht zu stark. Vielleicht kann ein Sōtō-Meister, wenn erpersönlich mit einem Schüler zu tun hat, mit dem er regelmäßig sitzt,solch einen Ansatz nehmen. Dir geht es immer schlechter, solange bis duexplodierst, und dann hast du Satori. Aber das ist nicht meine Erziehung.Ich funktioniere so nicht. Zumindest nicht in dieser Situation.

Du sagst, du bist ängstlich vor dem Bösen und du benutzt das Böse, umdich zu bessern, richtig?

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ZWEITER FRAGENDER:Ich stelle fest, dass ich es benutze und das macht mir Angst.

GODŌ:Nun, was ist Angst? Ich denke, Angst ist, wenn es einem an Vertrauen

in den gegenwärtigen Augenblick fehlt. Mit diesem Vertrauen meine ich,dass alles in dem gegenwärtigen Moment da ist. Wo ist also das Gute, woist das Böse? Kannst du mir folgen? Nein? Vertrauen in das Hier undJetzt. Vertrauen in die eigene Erfahrung. Ich sehe Zazen als Erfahrung.Indem wir hier sitzen, erfahren wir wirklich das Leben. Gewiss genausosehr, wenn wir aktiv uns in der Arbeit betätigen oder im Sport, einemTennisspiel oder einer Diskussion. Wenn wir sitzen, so wie wir es tun, mitdiesem Gewahrsein, erfahren wir dieses Vertrauen, von dem ich spreche.Aber wenn du Zweifel hast, diese Angst, die Angst vor dem Bösen…

Wir können in lange philosophische Debatten geraten über das Böseund das Gute, aber ich denke nicht, dass das wichtig ist. Böse, was istböse? Das Böse kann kann einfach Leiden sein. Was wäre falsch daran, dasLeiden zu benutzen? Benutze alles, was du kannst. Picasso sagte: „Ichbenutze Rot, aber wenn ich kein Rot mehr übrig habe, benutze ich Blau.“Wie auch immer, wir haben da Glück. Wir können das Leiden der Weltbenutzen, welches weitaus tiefer ist als unser eigenes Leiden. Du weißt,dass ein Bodhisattva eine Person ist, die alles Leiden der Welt in sich hat,und auch alles andere hat. Wenn also ein Bodhisattva das Leiden der Weltsieht, dann ist er nicht überrascht. Es haut ihn nicht aus den Latschen.Warum? Weil er bereits dieses Leiden ist.

Und jetzt kommen wir zu der ersten Frage über das „Ich“ zurück. Wasist „Ich“? Wenn du etwas lockerer wirst mit dem „Ich“, „Mich“, „Moi“,dann wirst du dieses Leiden einfach als Teil der Welt akzeptieren, ohneHorror, ohne Schuld. Okay?

* * *GODŌ:

Noch eine Frage?

DRITTER FRAGENDER:Es ist eine Frage über das Karma. Man erzeugt drei verschiedene Arten

von Karma: das Karma durch den Körper, das ist klar, genauso wie das

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Karma durch das gesprochene Wort, aber was ich nicht genau verstehe,ist das Karma durch das Denken. Existiert diese Art von Karma als eigenerBereich oder ist es die Wurzel für die anderen beiden Karmas in Hinsichtauf Handeln und Sprechen. Ich möchte wissen, ob es ein Karma desDenkens gibt.

GODŌ:Ja, es gibt das Karma des Denkens.

DRITTER FRAGENDER:Aber bedeutet das einfach, dass es vor der Handlung kommt? Ist es

(das Karma des Denkens) einfach die Wurzel der anderen Karmas desHandelns und des Sprechens?

GODŌ:Ja, vielleicht ist es die Wurzel. Vielleicht ist der Geist, der kleine Geist,

die Wurzel des Karmas des Körpers und des Sprechens. Vielleichtfunktioniert das unbewusst. Man denkt etwas Schlechtes und dann tutman etwas Schlechtes, du fügst jemandem Schaden zu. Du denkst, wiesehr du jemanden hasst, „Der ist so ein Fiesling, er stolziert, ganzselbsterfüllt, durch die Gegend, kommt ins Dōjō, kommandiert herumund denkt, er sei der Godō oder Meister, sagt mir, ich solle den Fußbodenwischen, ohne mich auch nur anzusehen. Mistkerl, dem zeig ich’s.“[Gelächter] Und dann, bumm, eines Tages…, nicht wahr? Was ist also dieWurzel? Dein Geist?…

Was beim Karma wichtig zu verstehen ist, ist, dass das Karma — sei esdas Karma des Geistes, das Karma des Körpers oder das Karma desMundes — aus deiner Vergangenheit herrührt. Es bereitet diegegenwärtige Situation … aber nicht die Antwort auf die Situation…

Karma muss nicht notwendigerweise das Ergebnis einer Situationvorherbestimmen. Du bist frei, alles jederzeit selbst zu bestimmen.

DRITTER FRAGENDER:Wenn ich einen Gedanken habe und er ist noch nicht verwirklicht, ist

das dann das gleiche wie nicht manifestiertes Karma?

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GODŌ:Nicht notwendigerweise. Millionen von Gedanken gehen durch unsere

Köpfe. Das ist fast wie der universelle Geist, der nur plappert. Natürlichplappert der universelle Geist nicht. Er spricht keinen Unsinn. Aber wenndu an dem Gedanken festhältst, in dem Moment erzeugst du nichtmanifestiertes Karma. Es wird zu manifestiertem Karma, wenn duherumläufst und es die ganze Zeit ausdrückst. Wenn du fortwährendsagst: „Eines Tages werde ich ihn umbringen,“ dann manifestierst du es.Deshalb sagen wir immer wieder „Lasst die Gedanken vorbeiziehen.“ Esgäbe absolut keine Hoffnung für die Menschheit, wenn jeder dieserGedanken auch die karmischen Folgen entwickeln würde. Wir habenGedanken, die lästig sind. Lass sie vorbeiziehen, nicht wahr, Nathalie?Wir haben Gedanken, die herrlich und angenehm sind. Lass diese auchvorbeiziehen, denn wir müssen weiter gehen als das. Wir transzendierendiese beiden Zustände.

Okay?

DRITTER FRAGENDER:Okay.

* * *

Freitag, 30. Januar 1998, 8.30 Uhr[Zazen in Stille]

Kyōsaku!

Träumt bitte nicht!

[Kinhin]Wenn ihr euch im Gesicht kratzt, macht Gasshō davor und danach…,besonders dann, wenn ihr direkt vor dem Godō steht. Wenn ihr einenSchritt nach vorne geht, bewegt euch. Es gibt hier eine Frau, die, wenn sienach vorne geht, so langsam ist… das ist wie eine Katze, die versucht, eineMaus zu fangen. Wenn ihr vorwärts geht, tut es mit Überzeugung. Das istdie Praxis des Weges.

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[Zazen]Heute Nachmittag habe ich kurz, sehr kurz, die erste Zeile dervierunddreißigsten Strophe in der Übersetzung von Meister Deshimaruerklärt und auch in der akademischen Übersetzung.

34. Strophe: die zweite Zeile ist von Deshimaru übersetzt:

In unseren Körpern gibt es weder das eine noch das andere, weder einen Ort zum Kommen oder zum Gehen.

Die englische Version lautet:

Mit der Aktivität gibt es kein Gehen, kein Verweilen.

Und noch eine weitere Version lautet:

Es gibt weder Kommen noch Gehen.

Die englische Version „Mit der Aktivität gibt es kein Gehen, kein Verweilen.“ist abstrakter, intellektueller als Deshimarus Version „In unserenKörpern…“ … „In unseren Körpern“ bedeutet: „in unserem Körper-Geist“ —die gleiche Sache. Geist, wo ist der Geist? Geist ist im Körper. Geist ist imHara.

„Kein Kommen, kein Gehen“ bedeutet Bewegung. Bewegung in demSinne, dass wir alle gegenwärtig in Bewegung sind, wenn wir korrektpraktizieren. Bewegung im Gegensatz zum Feststecken in etwas.

Wie also die Strophe sagt:

Wenn wir uns selbst frei ausdrücken, so wird dies natürlich.

ist es eine andere Art zu sagen „Wenn wir frei sind“ — frei bedeutet, wieich eben gesagt habe: frei von Ideen, frei von Begriffen, frei von Gefühlen,frei von Sentimentalität, frei von Liebe und Hass. Das ist Bewegung.

Dies ist Religion im wahrsten Sinne. Religion bedeutet für michErfahrung, lebendige Erfahrung. Also: im Körper-Geist — Bewegung,Flexibilität. Wenn der Wind weht, bewegt sich der Baum, bewegt sich derSchatten. Bei einigen Bäumen ist es so, wenn der Wind weht, bewegen siesich nicht. Dann bricht der Baum durch. Dann gibt es überhaupt keinen

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Schatten. Das ist wie der Geist, der feststeckt.

[Etwa fünfzehn Minuten vergehen in Stille.]

Meister Deshimarus Übersetzung der fünfunddreißigsten Strophe ist —wie die der vierunddreißigsten Strophe, über die ich heute Nachmittagsprach — sehr verschieden von allen anderen Übersetzungen. Ichübersetze aus dem Französischen die Übersetzung derfünfunddreißigsten Strophe von Meister Deshimaru:

Wenn wir Vertrauen in die Natur haben,Werden wir im Gleichklang mit dem Weg sein.

Die anderen Übersetzungen lauten ziemlich anders. Eine Übersetzunglautet:

Der Natur gehorchend sind wir im Einklang mit dem Weg,wandern frei und ohne Beeinträchtigung11.

[Der Godō hilft dem Übersetzer:] Ohne „annoyance“, ohne Schwierigkeiten,ohne Hindernisse.

Und eine andere Übersetzung ist:

Sei im Einklang mit deiner Natur, vereint mit dem Weg,wandere ungezwungen, ohne Verdruss.

[Der Godō kichert zum Übersetzer.] Ich wiederhole es langsam: [wiederholt esfür den Übersetzer.]

Sei im Einklang mit deiner Natur. Vereint mit dem Weg, werde eins, vereinigt. Wandere ungezwungen, ohne Verdruss, ohne Beeinträchtigung.

Nun, zuerst einmal, allein wenn wir über die erste Zeile sprechen, kannman sehen, wie unterschiedlich sie sind. Deshimaru spricht über „Natur“,

11 Engl. „annoyance“.

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während alle anderen über „die eigene Natur“ sprechen. Während dereine darüber spricht, an die „Natur“ zu glauben oder Vertrauen in die„Natur“ zu haben, sagen alle anderen Übersetzungen, dass wir „unserereigenen Natur“ gehorchen sollten, was eine völlig andereVerwendungsweise des Worts „Natur“ ist. Welche ist also die richtige?Sie sind beide richtig. Offensichtlich, wenn man seiner eigenen Naturgehorcht, wird man im Einklang mit dem Weg sein. Wir hören dasimmerzu. Aber wir hören selten nur, wie Deshimaru es ausdrückt. Wennwir der Natur gehorchen … der kosmischen Ordnung … das geht tiefer.

Wenn wir Vertrauen in die Natur haben, nicht in unsere Natursondern einfach in die Natur, nicht meine, nicht deine… Ich bevorzugeoffensichtlich Meister Deshimarus Übersetzung, einfach deshalb, weil wirnur selten über die Natur in solchen Begriffen sprechen. Wir sprechenimmer über unsere eigene Natur. Aber niemals, oder selten darüber, imEinklang mit dem Wind in den Bäumen zu sein oder Vertrauen in dasFließen des Flusses zu haben. Meister Deshimaru erklärt im Detail dasWort „Natur“ und führt mehrere verschiedene Bedeutungen auf.

Das japanische Kanji ist Shō. Manchmal bedeutet es „Natur“,manchmal bedeutet es „Landschaft“. Aber manchmal kann es auch„Charakterzug“ bedeuten. Der Charakterzug in jedem von uns. Es gibtauch noch eine dritte Bedeutung, aber ich kann mich nicht erinnern, wases ist. Jedenfalls ist diese Sprache, sind diese Kanjis sehr reichhaltig…„Natur“ kann für unterschiedliche Personen unterschiedliche Dingebedeuten. Aber im Englischen oder Französischen gibt es nur sehr kleineVariationen. Entweder sagt man „meine Natur“ und dann bedeutet es nur„meine Natur“, oder man sagt „Natur“ und dann bedeutet es nur „Natur“.Und so sagt Meister Deshimaru:

Wenn wir Vertrauen in die Natur haben, werden wir den Weg erlangen und alles Leiden abschneiden können.

Vertrauen in die Natur zu haben, bedeutet nicht, dass man im Winterkeine warmen Sachen anzieht, oder dass man (nicht) ins Haus geht, wennein Hurrikan kommt, oder dass man auf dem Fluss treibt, ohne denFelsen, Steinen und Baumstämmen auszuweichen.

Ich fahre morgen fort…

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[Der Godō steht auf und gibt Kyōsaku. Eine Frau, die einen Ski-Parka aus Nylonträgt, empfängt den Kyōsaku, was ein seltsames Geräusch ergibt.]

Es ist besser, wenn ihr eure Rüstung ablegt, bevor ihr ins Dōjō kommt.

Kaijō!

Dreht euch bitte um. Wir werden das Hannya Shingyō singen.

Sonnabend, 31. Januar 1998, 7.00 Uhr[Zazen]Im Zazen schlafen wir nicht. Wir erfahren das Leben so, wie es ist. Wennwir nicht schlafen und wir nicht unseren Gedanken oder unserenpersönlichen Wünschen folgen, dann erfahren wir das, was ist — Soheit.

Wenn wir nicht denken, dann handeln wir. Wenn wir handeln, dannverändern wir die Welt, selbst wenn wir nicht beabsichtigen, es zu tun.

Dies ist nicht eine Religion. Wir folgen nicht irgendeinem Glaubenoder Dogma. Es ist einfach Religion, nicht eine Religion, sondern Religion.Die Religion der Religionen.

Und dann ist es Erfahrung, lebendige Erfahrung. Das ist es, wovon dieStrophe Fünfunddreißig spricht — Natur, eins sein mit der Natur.

Kaijō!

Sonnabend, 31. Januar 1998, 11.00 Uhr[Zazen in Stille]

[Kinhin][Jemand schaut aus dem Fenster, vier oder fünf weitere Personen gehen hinausauf die Toilette.]

Schaut in euch selbst, nicht zur Tür oder zum Fenster hinaus. DieLeute, die hinausgehen zum Urinieren, sollten den Shusō um Erlaubnisbitten. Drückt die Hände gegen den unteren Teil des Brustbeins. Oder,wenn ihr wollt, gegen den oberen Teil des Solarplexus. Der Solarplexusbefindet sich leicht unter dem Brustbein. Wenn es jemanden von euchstört, dass die Fenster während Kinhin geöffnet sind, dann sprecht mitdem Shusō und er wird nicht mehr so viele öffnen. Wie ihr wollt.

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[Zazen]Letzte Nacht habe ich mit dem Kommentar zur fünfunddreißigstenStrophe des Shinjinmei, was „Glaube an den Geist“ bedeutet, begonnen.Glaube an den kosmischen Geist. Die fünfunddreißigste Strophe gemäßMeister Deshimaru:

Wenn wir Vertrauen in die Natur haben, können wir im Einklang mit dem Weg sein und alles Leiden abschneiden.

Ich habe ausführlich über die unterschiedlichen Übersetzungengesprochen. Meister Deshimaru sagt „[Vertrauen in die] Natur“ und dieanderen Übersetzer sagen „in die eigene Natur“. Abhängig vom eigenenBlickwinkel aus können diese beiden Unterschiede dennoch dasselbewerden — unsere eigene, die uns eigene Natur, und Natur.

Shinjinmei — Glaube an den Geist bedeutet Glaube in die eigene Natur,in unsere eigene, ursprüngliche Natur, welches die kosmische Natur ist.Meister Deshimaru hat den Ausdruck „kosmische Natur“ immerzuverwendet, also verwende ich ihn auch. Wir haben also die kosmischeNatur draußen und wir haben die kosmische Natur drinnen. Es ist nichteinfach nur Energie, sagt Meister Deshimaru in seinem Kommentar. Nochist es nur Aktivität, noch ist es lediglich Licht, noch ist es nur Luft, nochElektrizität. Was ist es aber dann?

Ich habe einen Kommentar zu dieser Strophe von Meister Keizan.Meister Keizan starb 1325. Er kam kurz nach Dōgen. Er ist etwa dreißigJahre, nachdem Dōgen starb, geboren.12 Er wird im Ekō erwähnt, das wirmorgens rezitieren. An einer Stelle im Ekō sagen wir Keizan Jōkin Daioshō.In unserem Ekō erwähnen wir eine ganze Reihe der Patriarchen undMeister jeden Morgen. Wir erwähnen Buddha, wir erwähnenBodhidharma. Wir erwähnen Dōgen. Und wir erwähnen Keizan. Dannerwähnen wir Kōdō Sawaki, und am Ende Meister Deshimaru.13

Während Dōgen als der Vater des Sōtō-Zen angesehen wird, betrachtetman Keizan als die Mutter, denn er war weicher, mütterlicher als Meister

12 Dōgen: 1200-1253, Keizan: 1287-1325.13 Aogi koi negawaku wa sanbo fushite shokan wo tare tamae. Jorai Makahannya

Haramita Shingyō wo Fujutsu, atsumuru tokoro no kudoku wa, Daihon KyoshuHonshi Shakyamunibutsu, Shintan Shusō Bodaidaruma Daioshō, Shusō Eihei Dōgen

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Dōgen. Dōgen war sehr streng, strikt, sehr puritanisch. Eine Geschichteerzählt, dass er einmal eine Frau nackt gesehen haben soll und inOhnmacht fiel — nicht so wie die Godōs heutzutage. Aber er war sehrernst und er war konkret. Eines Tages wurde er wütend auf einen seinerSchüler, der ohne Erlaubnis fortging, um den Shōgun zu treffen und vonihm etwas Geld zu erhalten für Dōgens neuen Tempel, den er geradebauen ließ. Er kam zurück zum Tempel mit dem Versprechen einergewaltigen Geldsumme. Er beeilte sich, Dōgen zu treffen, um ihm die guteNachricht zu erzählen. Dōgen hat es nicht in demselben Licht gesehen. Erwarf den Mann hinaus: „Verschwinde!“ Später ließ er ein Loch im Dōjōgraben, wo dieser ehemalige Schüler immer gesessen hatte [Gelächter]und er hat den Dreck weit weg in den Wald werfen lassen, um jedeweitere Kontamination zu vermeiden. Kein sehr mütterliches Verhalten.

Aber der Kommentar von Keizan ist ein wenig mystisch und ganzsicher poetisch. Keizan schrieb — ich weiß nicht, ob er das WerkDenkoroku schrieb oder ob es Kusen waren, die niedergeschrieben wurdenvon seinen Schülern — … aber das Denkoroku ist ein interessantes Werk,das das Leben und den Geist unserer Linie beschreibt. Ich glaube es reichtbis zu Nyojō, der der Meister von Dōgen war. Es beginnt mit Buddha undes endet mit Nyojō.14

Sein Kommentar zu dieser Strophe ist ziemlich lang. Ich weiß nicht, obes ein Gedicht ist oder nicht. Tatsächlich habe ich ein paar Versionen vonÜbersetzungen, die Deshimaru angefertigt hat in dem typischen freienStil oder Technik. Zum Beispiel spricht er in einer derÜbersetzungsversionen manchmal von dem Gesang eines Grashüpfers,und dann blättere ich weiter und sehe, dass er es noch einmal übersetzthat mit dem Quaken eines Frosches. Also da ich das original Japanischenicht lesen kann, ist es vielleicht der Gesang eines Grashüpfers odervielleicht ist es das Quaken eines Frosches. Es ist so, wie ihr es möchtet.

Deshimaru war kein Übersetzer. Er war ein Meister. Mit ihm zuarbeiten, so wie ich es an verschiedenen Übersetzungen gemacht habe —meine Arbeit war es, sein Englisch, was sehr begrenzt war, zu korrigieren.

Daioshō, Keizan Jōkin Daioshō, Kaku Kaku Rekidai no Daioshō, Narabini Sōmon KōdōDaioshō, Mokudō Taisen Daioshō, Mokushō Senku Ko Oshō, No tame Kamiji on nimukui. Honjitsu (Name des Dōjōs) ni, Sanzen Seishu Ichidō no Kofuku wo kinen senkoto wo…

14 Tatsächlich geht es bis zu Ejō, Dōgens erstem Schüler, der darin als 52. Patriarchbezeichnet wird.

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Er hatte ein begrenztes Vokabular … aber dafür war es auch sehr klar,einfache Worte.

Wir haben einmal einen Abschnitt aus einem Sūtra übersetzt. Ich habeetwa zwei Tage gebraucht, um es richtig hinzukriegen. Ich war sehrzufrieden mit der Arbeit. Und dann, zwei Wochen später stießen wir aufdenselben Abschnitt und ich sagte: „Nun, das müssen wir nicht allesnochmal neu übersetzen, wir haben es ja schon übersetzt.“

Aber weil ich zu lange brauchte, die betreffende Seite zu finden, wurdeer ungeduldig und begann, es neu zu übersetzen in etwas vollkommenanderes. Ich sagte: „Hey, warte, wir haben das doch schon gemacht. Ichhabe Tage bei der Übersetzung verbracht.“ Wir hatten eine perfekteArbeit geleistet, aber das hatte ihn nicht beeindruckt. Er wollte es da indem gegenwärtigen Moment noch einmal übersetzen… Das hat mich sehrbeeindruckt. So war die Art, wie er Sūtren übersetzte, ganz und gar nichtan den Worten haftend. Ganz und gar nicht Gefangener von Zeichen undSymbolen. Er war kein Übersetzer.

Ich werde also etwas von Keizans Kommentar zur StropheFünfunddreißig über die Natur vorlesen, was noch etwas roh ist, da ich essehr schnell aus dem Französischen ins Englische übersetzt habe, und daich selbst auch kein Übersetzer bin, kann ich nicht versprechen, dass esvollständig gültig ist:

Wenn wir nach nichts suchen, nichts erhoffen,können weder Buddha noch der Teufel uns überraschen.Und wir werden niemals verstört, niemals ängstlich sein.

Wenn wir den Berg sehen, leben wir im Berg.Wenn wir über das fließende Wasser sinnieren,

leben wir in diesem Wasser.

[Das Aufnahmegerät macht ein Geräusch, als sei es am Ende der Kassetteangelangt.]

Wir warten, bis die Kassette gewechselt ist.

Weder liebt noch hasst die Geräusche. [selbst das Klicken der Kassette nicht]

Weder liebt noch hasst die Farben.

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Wie die Reflexionen des Mondes im Wasser,wie das Bild, das vom Spiegel reflektiert wird,wird das Dharma, der Buddhismus, nicht vom Vulgären gestört.

Das Spirituelle wird nicht durch das Materielle angegriffen.Das Wort ist geräuschvoll wie der Gesang des Grashüpfers.Die Stille gleicht einer Säule.Ohne jede Angst vor der Hölle,

ohne jeden Wunsch nach dem Paradies.

Dies ist eine Version der Übersetzung von Keizans Kommentar zurfünfunddreißigsten Strophe:

Wenn wir Vertrauen in die Natur haben, Können wir in Harmonie mit dem Weg sein

und somit alles Leiden abschneiden.

Und hier ist diese Strophe, in gutes Englisch übersetzt von Blyth:

Unserer Natur gehorchend sind wir im Einklang mit dem Weg,Wandern frei und ohne Beeinträchtigungen.

[Der Godō kichert leicht] Sōsans Strophe bedarf weniger Kommentar alsKeizans eigener Kommentar… der Kommentar, den ich vielleicht spätergeben werde.

Gähnt nicht. Einige Leute gähnen ständig. Die Samurai hatten eineTechnik um nicht zu gähnen. Es galt als sehr schlechte Manieren, wennman gähnte; vielleicht schlug der Shogun einem den Kopf ab. Wenn siealso spürten, dass sie gähnen mussten, haben die Samurai die Technikentwickelt, ihre Nase mit der Zunge zu berühren. Ich denke mir das nichtaus.

[Die Glocke ertönt und beendet das Zazen.]

Sonnabend, 31. Januar 1998, 16.00 Uhr[Zazen in Stille]

Kyōsaku!

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Streckt das Rückgrat von der Höhe des fünften Lendenwirbels an. DieseGegend ist es, das ganz untere Ende des Rückgrats, direkt über demSteißbein, wo man leicht den Unterleib nach vorne neigt. Um es nochgenauer auf Französisch zu sagen: Vous basculez légèrement la colonnevertebrale en avant. Es ist diese Region hinter dem Hara, unterhalb derHüfte, wo sich die Energie von Zazen konzentriert. Es ist in dieser Region,wo wir nach oben stoßen und nach unten drücken.

[Kinhin][zum Shusō:] Nur zwei Fenster, das sollte genügen. [Gewöhnlich öffnet derShusō alle Fenster während Kinhin. Da es mitten im Winter in Norddeutschlandist, bittet der Godō darum, diesmal nur zwei Fenster zu öffnen.]

Die Schultern fallen und entspannen sich selbst während derAusatmung. In den Unterarmen sollte eine Spannung sein… und in denHänden … insbesondere während der Ausatmung… aber selbst auchwährend der Einatmung.

[Zazen]Vergesst das Selbst. Wir haben noch 40 Minuten vor uns, um zu üben, dasSelbst zu vergessen… „Das Selbst vergessen“ bedeutet, keinepersönlichen Gedanken unterhalten. Schon seit Jahrhundertendebattieren die Wissenschaftler darüber, was Kū sei, die Leere, und dieJüdisch-Christliche Religion untersucht diese Frage ebenfalls bei ihremVersuch, den Buddhismus zu verstehen. Selbst der Papst spricht vonBuddhismus und Leere, und auch er setzt es gleich mit „dem Lebenausweichen, zu wünschen, man sei tot, vollständiger Negativismus“. AberKū ist ganz und gar nicht das. Kū ist, keinerlei persönliche Gedanken zuunterhalten. Alain Liebmann sagte so etwas Ähnliches letzte Woche beiseinem Zazen-Tag im Pariser Dōjō. Sich auf die Hände zu konzentrieren,ist nicht persönliches Denken. Ebenso wenig das Strecken des Rückgrats.Und ebenso wenig der Ausatmung zu folgen. Beobachtet eure Gedanken.Persönliche Gedanken, die kommen und gehen, die genauso schnellkommen wie sie gehen, sind keine persönlichen Gedanken. Sondernwenn sie sich miteinander verknüpfen, dann werden es persönlicheGedanken.15 Wenn ihr aufmerksam seid, könnt ihr es sehen, wie sieerzeugt werden, und ihr könnt sie auch verschwinden sehen. Kommen

15 Vorgefertigte Gedanken. (Anmerkung des Godō)

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und Gehen. Leben und Tod des persönlichen Ego. Das stirbt tatsächlich sowie der Körper. Aber sterben wir denn?

Der Körper ist wie ein Hotelzimmer. Der Geist bewohnt es für eineWeile, dann zieht er weiter. Die Vorstellung, dass wir unseren Körperbesitzen, stimmt so nicht.16

Das ist wie die Weißen, die den Indianern erzählen, dass sie jetzt diesesLand besäßen und die Indianer weiterziehen müssten. Die Indianerdachten, die seien ja verrückt. Dann kamen die weißen Männer miteinem Dokument, das besagte, dies sei ihrs. Und dann wussten dieIndianer, dass sie tatsächlich verrückt sind.

Nach dem Klang der Glocke werden wir hinausgehen zu einemMarsch. Schaut euch nicht die Landschaft an — dies ist kein Spaziergang.Schaut in euch selbst hinein so wie bei Kinhin.

[65 Sesshin-Teilnehmer marschieren schweigend, einer hinter dem anderen. Dereinzige Klang ist der von so vielen Füßen auf den leeren, gepflasterten Straßen.Die Sonne scheint, der Himmel ist strahlend blau, der Wind ist eisig kalt. Mit derEnergie, die wir während fast zweier Tage Zazen gesammelt haben, gehen wirschnellen Schrittes. Wir marschieren 45 Minuten, grüßen hier und davorbeigehende Einwohner und müde Bauern und kehren dann zum Dōjō zurück,um weiter Zazen zu machen.]

Sonnabend 31. Januar 1998, 20.30 Uhr[Zazen in Stille]

[Kinhin]Die Füße sollten nur wenige Zentimeter auseinander stehen. Der Abstandzwischen den Füßen sollte etwa von der Breite eines Fußes sein. Legtalles Gewicht auf das vordere Bein. Das vordere Bein ist vollkommengerade. Das hintere Bein ist leicht gebeugt. Die Ferse des hinteren Fußcesberührt gerade noch den Boden.

[Zazen]Ich hatte vorgehabt, den Kommentar zu Keizans Kommentar zur StropheFünfunddreißig aus dem Shinjinmei fortzusetzen, aber es ist im Moment

16 Genauso wenig wie die Vorstellung, dass wir das Hotel besitzen. (Anmerkung desGodō)

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zu verwirrend für mich. Ich habe nicht genug Zeit gehabt, dieses Problemzu untersuchen. Und es ist für mich nicht gut, es in Paris zu untersuchen,bevor ich hierher komme. Ich muss es hier tun, aber ich verbringe zuvielZeit damit, mit den Leuten zu sprechen, was aber auch notwendig ist.17

Ich könnte natürlich auch mit niemandem sprechen und nur dieUntersuchungen betreiben und unterweisen. Aber das ist auch keineLösung. Ich könnte auch sogar ein paar Tage länger bleiben und einfachmit euch reden; ich meine kommunizieren. Aber das würde auch nichtfunktionieren, weil ihr alle zur Arbeit gehen müsst. Also werde icheinfach eine Geschichte über die Natur erzählen; darüber, wenn wirVertrauen in die Natur haben, alles in Ordnung sein wird. Es ist einewahre Geschichte. Sie ist kurz.

Vor ein paar Jahren überquerte eines Tages ein Matrose denPazifischen Ozean auf einem Frachtschiff. Er befand sich am Bug desSchiffes als ihn eine Welle erfasste und über Bord warf. Es war nachts undniemand hat es mitbekommen, dass er über Bord ging. Erst 18 Stundenspäter hat sein Kajütenmitbewohner bemerkt, dass er fehlte und er gingzum Kapitän, um es ihm zu sagen. Achtzehn Stunden sind eine lange Zeit.Aber der Kapitän beschloss, mit dem Schiff zu wenden undnachzuschauen, ob sie ihn noch irgendwo finden könnten, oder das, wasvon ihm übrig ist, wenn die Haie ihn in der Zwischenzeit erwischt hätten.Durch ein Wunder haben sie ihn gefunden. Er trieb auf dem Wasser, aufdem Wellenberg und schlief… [Gelächter]. Nun, das ist tatsächlich dasEnde der Geschichte. [noch mehr Gelächter] Sie haben ihn natürlichaufgeweckt [Gelächter], sie warfen ihm eine Leiter hinab und er kamhinauf. [Lachen über den Übersetzer] Sie warfen eine Leiter hinab und erkletterte an Deck. [Der Godō fragt den Übersetzer:] Verstehst du nicht? [DerGodō erzählt die Geschichte noch einmal, um dem Übersetzer zu helfen.] Also, ertrieb schlafend auf dem Wasser, und sie riefen und sagten: „Hey, Joe,wach auf!“ Und er öffnete seine Augen und er sah das Schiff und siewarfen eine Leiter hinab und er kletterte die Leiter hinauf ins Schiff.[Andauerndes Gelächter während der Übersetzung des Übersetzers] Nun, dasEnglisch ist vielleicht gut genug. [da die meisten der Deutschen, die das Kusenhören, das Englische bereits kannten.]

[Der Godō setzt die Geschichte fort:] Und die Mannschaft sagte: „Nun, was

17 Während des Sesshins hielt der Godō viele informelle — normalerweise private —Treffen ab, in seinem Zimmer und anderswo.

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ist mit dir passiert?“ Der Matrose antwortete: „Naja, ich habe erkannt,dass ich sowieso nichts machen könnte außer auf dem Rücken zu treiben.Ich konnte ja nirgendwohin schwimmen.“ Er war mitten auf dem Ozeannatürlich. Wie auch immer, diese Geschichte zeigt, wie man Vertrauen indie Natur haben kann. Vertrauen in die Natur, und wir sind in Harmoniemit dem Weg und schneiden alles Leiden ab.

Hier ist eine Geschichte, die, so könnte man sagen, die Interaktionzwischen Natur und Mensch veranschaulicht. Sie handelt von einemBrunnen, einem Brunnen, wo man Wasser findet. Es war ein sehr tieferBrunnen mit viel Wasser. Viele kleine Zuflüsse nährten diesen Brunnen.[Der Übersetzer spricht in sehr tiefer Stimme.] Mein Übersetzer sollte mitmehr Entschlossenheit sprechen. [Gelächter über den Übersetzer, da er dieZeile mit genauso wenig Entschlossenheit spricht wie vorher.] MehrÜberzeugung. Dieser Brunnen befand sich in der Nähe eines Anwesens,irgendwo in den Vereinigten Staaten. Die Einwohner hatten das Anwesenverlassen und sind woanders hingegangen. Der Brunnen wurde auchabgedeckt, das Wetter hatte den oberen Teil des Brunnens mit Schmutzbedeckt. Als dieser Brunnen etwa fünfzehn Jahre später wiederentdecktwurde, war er leer — kein Wasser. Das ist die Ende der Geschichte. Daniemand Wasser aus diesem Brunnen holte, ist er ausgetrocknet.Interaktion ist notwendig. Wechselseitige Abhängigkeit. Das kann mansogar gleichsetzen mit Gyōji, fortgesetzter Praxis. Wenn ihr zum Beispielnicht eure Knie benutzt, um mit ihnen Zazen zu machen, dann trockneneure Knie vielleicht aus. Oder anders gesagt: Wenn ihr Schmerzen in denKnien habt, ist es der beste Weg, die Schmerzen loszuwerden, mehr zupraktizieren. Je mehr ihr eure Knie benutzt, desto geringer sind dieSchmerzen.

Hier ist ein Zen-Mondō. Sensei beschrieb es einmal, als er seinenKommentar zum Eihei-Kōroku machte während des allerletztenSommercamps auf der Gendronnière. Für Sensei war diese Geschichte einwichtiges Kōan, aber für mich, ich sehe in dieser Geschichte dieBeschreibung von Satori, das von außen kommt. Sensei hatte ein paarJahre vorher, als wir in Val d’Isère waren, gesagt, dass das Satori vonaußen käme. Mich hat diese Äußerung besonders getroffen, zumal wir imZen immer sagen, dass das Innere das Äußere sei und so weiter, aberselten sagen wir, das Satori käme nur von außen. Und dennoch handelnviele der Satori-Geschichten von Phänomenen von außen. Ich werde es

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jetzt aus dem Französischen übersetzen:Ein Mönch kam zu Meister Jōshū und sagte: „Der schöne Mond

leuchtet am Himmel.“ Der Mond, der am Himmel leuchtet ist eineMetapher für das Satori oder die Buddha-Natur. Er sagte also: „Derschöne Mond leuchtet am Himmel.“

Jōshū erwiderte: „Du bist unter dem Dach.“ Das bedeutet, du bist aufder Erde … vielleicht eine weitere chinesische Metapher.

Der Mönch fuhr fort und fragte Jōshū: „Wie schaffen wir es, mit demMond in Kontakt zu treten?“

„Der Mond ist es,“ sagte Jōshū, „der zu deiner Begegnung kommenwird.“

Hier ist auch diese Geschichte zu Ende. Senseis einziger Kommentar istdieser: „Es ist nicht nötig zu denken ‚Ich muss zum Himmel gelangen‘,denn der Himmel wird zu dir gelangen.“ Und dann fügt er hinzu: „Dies istZazen.“ Vielleicht war es das, was passierte, als Buddha den Nordsternam Himmel erblickte.

Sonntag, 1. Februar 1998, 7.00 Uhr[Zazen in Stille]

Kyōsaku!

Der Kyōsaku-Mann auf der linken Seite des Dōjōs: Du musst stärkerschlagen mit dem Kyōsaku! Streckt die Hüfte. Sinkt nicht ins Zafu hinein.[zum selben Kyōsaku-Mann:] Stärker mit dem Kyōsaku! Der Kyōsaku mussdurch die drei Welten hindurch schneiden. Mit so einem Schlag kannstdu nicht einmal eine Fliege töten. Als ich das allererste Mal Kyōsaku gab,schlug ich nicht sehr stark, aber die Frau wurde ohnmächtig. Sie musskrank gewesen sein. Ich musste sie hinaustragen. Sie war sehr schwer.[Gelächter] Mir war das peinlich vor Deshimaru. Er hat nichts gesagt.

[Kinhin in Stille]

[Zazen][Der Shusō schaltet das Licht aus, da der Morgen anbricht.] Jetzt ist es Zeitaufzuwachen.[zum Shusō:] Besser du schaltest das Licht wieder an.

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[Der Shusō schaltet das Licht wieder an.] Gut.Eigentlich war es etwas komplizierter, als ich das erste Mal Kyōsaku

gab und die Frau ohnmächtig wurde. Der andere Kyōsaku-Mann warnicht da. Er trommelte die Leute zusammen, die noch in den Bettenlagen. Das war ein Sesshin in Südfrankreich. In jenen Tagen kamen vieleder älteren Schüler nicht zu den ersten Zazens. Sie sagten, die erstenZazens seien was für Trottel. Und Sensei hatte immer wieder dieKyōsaku-Männer losschicken müssen. Als also diese Frau ohnmächtigwurde, war ich allein. Ich richtete sie mit all meiner Kraft auf, aber ihrKimono hing immer wieder halb an ihren Schenkeln fest und ich musstesie wieder auf den Boden lassen, um ihren Kimono zurückziehen zukönnen. Ich schwitzte und ich war nervös. Schließlich hatte ich sie aufmeinem Rücken [Gelächter] und ich torkelte hinaus. Und anschließendsagte Deshimaru zu mir, ich möge die Leute doch nicht massakrieren[größeres Gelächter], und ich sagte: „Ich massakriere sie nicht. Ich schlugsie genau so, wie ich es machen sollte.“ Aber ihr Ehemann wollte michverprügeln.

Nun, heute früh bin ich früher aufgestanden, um mich mit diesemGedicht von Keizan, diesem Kommentar eingehender zu beschäftigen. Esist nicht so schwierig. Wenn wir nach nichts suchen, auf nichts hoffen, sosagt Keizan, dann wird uns weder Buddha noch der Teufel überraschen.Das ist simpel. Bleibe nicht suchend, ohne Wünsche, und das Erscheinenvon Buddha wird uns nicht überraschen. Ich kannte mal einen Mann, derim Himalaya kletterte. Er sagte, wenn er sich dem Gipfel näherte, sähe erBuddha im Himmel. Er sagte, seine Augen wären fast aus dem Kopfgesprungen. Auch der Teufel kann einen nicht ängstigen. Teufel,Dämonen, das sind Vorstellungen, Begriffe, die wir in unserem Kopfhaben: im Leiden der anderen Menschen zu verweilen, besessen zu seinvon den Nachrichten, die wir in der Zeitung lesen, übermäßig besorgtsein über das Böse… In der Vergangenheit benutzten sie oft das WortDämon. Aber ich denke nicht, dass das bedeutet, dass es da um Monstermit Hörnern ging, die ihre Köpfe durch die Fenster steckten. Das kommtrein aus unserer Vorstellung.

Keizan sagt: „Wenn wir den Berg sehen, leben wir im Berg. Wenn wirüber das fließende Wasser sinnieren, leben wir im Wasser.“ Das bedeutetnatürlich nicht, dass wir uns aufmachen müssen, um im Berg zu leben. Esbedeutet einfach, dass wir der Berg werden. Das Ego wird Berg. Der Geist

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wird Berg. Oder anders gesagt: weder Subjekt noch Objekt.Keizan sagt: „Weder liebt noch hasst die Klänge.“ Das bedeutet, lasst

euch nicht hinreißen von lieblichen Klängen der singenden Vögel, aberhasst auch nicht die Geräusche von vorbeifahrenden Autos und LKWs —besonders während Zazen. Das ist dasselbe, was wir immer wiederholen:Lauft nicht hinterher, entflieht nicht. „Liebt weder die Farben noch hasstsie.“ Dieselbe Sache. Denkt nicht darüber nach. Wie Picasso sagte: „Wennmir das Rot ausgeht, verwende ich Blau. Wenn mir das Blau ausgeht,verwende ich Rot.“ Nehmt das, was ihr gerade habt. Fangt nicht an, denDingen hinterher zu suchen. Dies ist eine Art, die Antwort auf Kōans zuverstehen.

Meister Nansen sagte: „Ich werde diese Katze in zwei Hälftenschneiden, wenn ihr mir keine Antwort gebt.“ Alle Mönche standenherum mit offenem Mund. Daher wurde die Katze guillotiniert. Eineheftige Unterweisung. Wer weiß ob das so passierte, aber darum geht esauch nicht. Worum es geht, ist, dass der Schüler Jōshū an jenem Tagspäter dazukam und der Meister, Nansen, erzählte ihm, was passiert war.„Was hättest du getan, Jōshū?“ Und Jōshū legte seine Sandalen auf denKopf. Er hat nicht angefangen, seinen Hut zu suchen, wahrscheinlichhatte er gar keinen. Aber er hatte seine Sandalen und legte sie auf seinenKopf. Und Nansen sagte: „Zu schade, dass du nicht früher da warst. DieKatze würde noch leben.“

Keizan fährt in seinem Kommentar fort:

Wie die Reflexion des Monds auf dem Wasser,Wie das Bild, das vom Spiegel reflektiert wird.

Der Mond ist ein Bild für Satori. Meister Ryū hatte Satori, als er einePfirsichblüte zur Erde hat fallen sehen. Kyōgen hatte Satori, als beimFegen des Bodens ein Kiesel gegen einen Bambus schlug und „Ka-plunk“gemacht hat.

Die Reflexion des Mondes — das ist wie Dōgens Satori. Nicht roh. Nichtmysteriös. Nicht wundersam. Nicht einmal Erleuchtung. Sondernautomatisches, unbewusstes Verstehen.

Deshimarus Kommentar zu diesen zwei Zeilen über den Mond und denSpiegel ist eine lange Unterweisung über die Go-I, die fünf Prinzipien desSōtō-Zen. Das ist sehr kompliziert. Das erste Prinzip ist die Wahrheit in

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jeder Erscheinung. Das nächste ist die Erscheinung in jeder Wahrheit. Dasdritte ist die Wahrheit, die die Erscheinung durchdringt. Das vierte ist dieErscheinung, die in die Wahrheit eintritt. Diese ersten vier sind ähnlichden vier Prinzipien des Rinzai, aber Sōtō hat natürlich noch ein besseresmehr als Rinzai. [Gelächter] Sie haben ein fünftes Prinzip, in demWahrheit und Erscheinung eins werden. Dies bedarf einer langenErläuterung und ihr könnt das nachlesen, ich glaube im „Brüllen desDrachen“18 oder in einem der Val d’Isère-Kusen von Deshimaru.

Die nächsten beiden Zeilen von Keizans Kommentar, die ich euchkürzlich vorgelesen habe: „Das Dharma, der Buddhismus ist nichtverstört durch das Vulgäre“19, zu denen ich sagte, ich habe nichtverstanden, was das bedeutet. Ich habe schließlich festgestellt, dass dasein Druckfehler war. All diese Kusen, die zu Deshimarus Zeitenniedergeschrieben wurden, wurden nie von Deshimaru gegengelesen undnatürlich kam es da zu Fehlern. Es müsste also folgendermaßen lauten,denke ich — genau gegenteilig:

Das Dharma, der Buddhismus sollte nicht die gesellschaftliche Ordnung stören

Die nächste Zeile lautet:

Das Spirituelle wird nicht vom Materiellen verletzt.

Nachdem ich Keizans Werk Denkoroku gelesen hatte, war ich besondersvon den Ähnlichkeiten zwischen Keizans und DeshimarusUnterweisungen getroffen. Buddhismus sollte nicht die gesellschaftlicheOrdnung stören. Natürlich wird im Dōjō keine Diplomatie praktiziert undviele Leute gehen aus diesem Grund auch weg. Sie billigen die Art, wieman mit ihnen spricht, nicht. Sie billigen nicht die Richtungen, die vomGodō oder Shusō gegeben werden. Sie wünschen, etwas zärtlicherbehandelt zu werden. Außerdem ist das Dōjō kein Krankenhaus, undwenn Leute krank sind, sollten sie in ein Krankenhaus gehen. Darüber

18 „Roar of the Lion“/“Le Rugissement du Lion“, so hieß der ursprüngliche Titel desBuchs, das auf Englisch später mit dem Titel „Sit“ erschienen ist. Auf Deutsch ist esübersetzt mit dem Titel „Sitzender Drachen“, Angkor Verlag 2001.

19 Siehe Keizans Gedicht auf S. 20f.

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hinaus solltet ihr nicht Zazen auf dem Schreibtisch in eurem Büropraktizieren oder vor eurer Ehefrau und Kind, wenn ihr nach einemSesshin nach Hause kommt. Verstört die Leute nicht mit Zazen.Deshimaru hat das oft gesagt. Und Keizan genauso. Macht Zazen im Dōjō.Macht Zazen allein. Wenn ihr in der gesellschaftlichen Welt seid, folgtden Regeln der Gesellschaft. Am Anfang der Praxis kann das schwierigsein. Ich selbst, als ich anfing, habe Zazen überall gemacht. Ich habe allemeine Freunde verloren. Ich habe sogar meine Ehefrau verloren. Siehatte nichts gegen Zazen, aber sie wollte, dass ich arbeite. Aber ich hattekeine Zeit zu arbeiten. Ich wollte einfach die ganze Zeit nur sitzen. Ichwollte die Wahrheit entdecken und ich wollte voranschreiten. Am Anfangdachte ich, wie jeder von uns, dass die Dinge zwei Seiten haben…

In der nächsten Zeile sagt Keizan

Das Wort ist geräuschvoll wie der Gesang des Grashüpfers.

Das ist wahrscheinlich auch ein Fehler. Wahrscheinlich ist es nicht„Gesang“ sondern „Schrillen“ des Grashüpfers, (wenn das das Geräuschist, was ein Grashüpfer macht). An anderer Stelle spricht Sensei vomQuaken eines Frosches während der Paarungszeit. [dem Übersetzerhelfend:] „Mating“, wenn man Liebe macht… Mit anderen Worten, dasWort lautet „geräuschvoll“ und bedeutet, dass der Klang unangenehm ist.Wie das Geschwätz von Leuten, das Schrillen oder Kratzen einesGrashüpfers. Oder das Heulen der Wölfe. Oder das Plappern von Affen.Also:

Das Wort ist geräuschvoll wie das Schrillen eines Grashüpfers,Die Stille gleicht einem Pfeiler.

„Pfeiler“ ist ein Bild für Stärke. In vielen Dōjōs gibt es Pfeiler. In diesemDōjō gibt es sechs Pfeiler und vielleicht saß Keizan im 14. Jahrhundert inseinem Dōjō mit Pfeilern. Also sagte er:

Die Stille gleicht einem Pfeiler.

Seid wie ein Pfeiler im Dōjō. Quakt nicht wie die Frösche.Und die letzte Zeile:

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Ohne jede Angst vor der Hölle, ohne jeden Wunsch nach dem Paradies.

Seid nicht ängstlich vor der Hölle. Dies ist eine Sōtō-Unterweisung. DieRinzai-Unterweisung sagt: Fürchtet die Hölle. — Ein Unterschied. Seidohne Wunsch nach dem Paradies. Versucht nicht, ins Paradies zukommen. Geht nirgendwo hin. Kein Kommen, kein Gehen. Ein Mann, derdabei ist, im Haushalt zu helfen, die Küche säubern, die Tische…, sagtnicht „Oh, ich muss helfen“, sondern er hilft einfach. Sensei sagt über sojemanden: „Er wünscht nicht, andere zu erziehen. Und dennochunterweist er.“ Dies ist der Kommentar zu Deshimarus Kommentar zuKeizans Kommentar zur fünfunddreißigsten Strophe von SōsansShinjinmei.

Kaijō!

Sonntag, 1. Februar 1998, 10.30 Uhr[Zazen in Stille]

Kyōsaku!

[Kinhin]Es gibt schrecklich viel Lärm. Jeder läuft hinaus zum Urinieren. Versucht,euren Urin zu kontrollieren, so wie ihr lernt, euren Geist zukontrollieren.

[Zazen]Natürlich gibt es Fortschritt im Leben. Je mehr ihr praktiziert, destoweniger Schmerz habt ihr in den Knien. Je mehr ihr Zazen praktiziertund die Kusen hört, bewusst oder unbewusst, prägen sich solche Begriffewie „hinter nichts herlaufen“, „vor nichts weglaufen“, „Gedanken ziehenlassen“, in unsere fundamentale Natur ein. Aber andererseits ist diesbereits Teil unserer fundamentalen Natur und es ist bereits in uns. Wasalso sollte noch da eingeprägt werden?

Die Verwirklichung dessen, dass man seine wesentliche Natur, seineBuddha-Natur entdeckt hat, ist nicht so sehr ein Fortschritt, als viel mehreine Verwirklichung, Satori.

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Als Buddha Satori hatte, sagte er so etwas wie: „Ich habe Satori mit derganzen Welt gehabt. Wenn ich erwacht bin, ist gleichzeitig die ganzeWelt erwacht.“20 Wenn ich mit der ganzen Welt voranschreite, was istdann dieses Voranschreiten? Buddha sagte nicht: „Ich, Śākyamuni, binerwacht.“ Er sagte: „Ich bin der einzige, der erwacht ist.“ Das T ist nichtmehr Śākyamuni — Subjekt und Objekt gemeinsam, eins. Noch nichteinmal Eins. Deshimaru sagte viele Male, dass wir nicht alleine sind. Wirpraktizieren mit der Welt. Kōdō Sawaki sagte, wenn wir voranschreiten,schreiten wir mit der Welt voran.

Als Wenn wir mit der Praxis beginnen, hat diese Aussage keineBedeutung. Aber nach Jahren der Praxis können wir es verstehen. Wirversuchen nicht länger, irgendwohin zu gelangen. Kein Zielpunkt.Tatsächlich weder Anfang noch Ende.

In vielen buddhistischen Formen der Praxis verbringt ein Mönch vieleJahre damit, sich auf das Ende vorzubereiten, um dafür bereit zu sein. Dasist nicht die Zen-Praxis.

Mushotoku. Kein Objekt. Daher kein Anfang, kein Ende. Nur natürlichund unbewusst bereits an seinem Ziel sein. Kein Vorher in der Welt vonSamsāra. Kein Nachher in der Welt von Satori. Das ist alles. Tathāgata.

Kaijō!

— ENDE DES SESSHINS —

französische Niederschrift: Sylvie Abin, André Bertrand, Eric Burton, Noëlle Ebel,Patrick Ferrieux, Sylvie Marin, Mireille Pesenty

französische Redaktion: Bernard Convert, Elena Platerourspr. Layout: Elena PlateroIllustrationen: Serge Agostondeutsche Übersetzung und Layoutüberarbeitung: Carsten EichholzAlle Fußnoten die von der deutschen Redaktion hinzugefügt wurden und nicht vom

Godō oder von der französischen Redaktion stammen, wurden entsprechendgekennzeichnet.

20 Mit den Worten von Meister Dōgen sagte Buddha: „Der Morgenstern erschien undich erlangte den Weg gleichzeitig mit allen lebenden Dingen.“

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