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Die Korrektur von skelettalen und dentalen Angle-Klasse II- Malokklusionen mithilfe funk- tioneller kieferorthopädischer Apparaturen ist eine der größten Herausforderungen in der heuti- gen Zahnmedizin. Innerhalb Eu- ropas stellt sie bei Kindern die am meisten verbreitete Anoma- lie dar. Verschiedene Quellen be- richten von einer Prävalenz zwi- schen 23 und 63 %. Angle-Klasse II-Malokklusionen können dabei folgende Ursachen haben: 14 Die größte Kindergruppe (etwa 70 %) zeigen einen defizienten Unterkiefer und beide Zahnbö- gen weisen eine jeweils norma- le Position in ihrem Kiefer auf. Eine kleinere Kindergruppe zeigt eine maxilläre Protrusion der Zähne, wobei die Kieferre- lation normal ist. Die kleinste Gruppe hingegen weist ein exzessives Wachs- tumsmuster (superdolichofa- zial) des Oberkiefers auf. Der Unterkiefer rotiert dabei nach unten und nach hinten. Einleitung Im Jahre 1980 haben Wissen- schaftler festgestellt, dass das Problem von Klasse II-Malok- klusionen nicht im protrusiven Oberkiefer, sondern eher im de- fizienten Unterkiefer begründet liegt. Heutzutage werden oft zwei Gruppen von FKO-Apparaturen benutzt, um die Klasse II-Ano- malie mit defizientem Unter- kiefer zu korrigieren: herausnehmbare Apparatu- ren, wie z.B. der FR-2 Regu- lator (nach Fränkel), der Aktivator (nach Andre- sen), der Twin Block (nach Clark) und Modi- fikationen, festsitzende Appara- turen, wie Pancherz’ Herbst-Scharniere, Jas- pers Jumper und Modi- fikationen. Während der letzten 20 Jah- re wurden in der wissenschaft- lichen Literatur drei Dimensio- nen berücksichtigt, um die Be- handlung von Klasse II-Anoma- lien zu verbessern. Diese Dimen- sionen sind die drei räumlichen Ebenen (vertikale, sagittale und transversale Ebene). Das primäre Ziel von funktions- kieferorthopädischen Geräten ist es, den defizienten Unterkiefer zu verlängern und gleichzeitig die maxilläre Protrusion zu hem- men, sodass der sagittale Overjet korrigiert wird. Es ist die Summe des Remodeling von Kondylus und Fossa Glenoidale und Än- derungen der Kondylenposition in der Fossa, die den Unterkiefer nach vorn wachsen lässt. Dies än- dert die Kinnposition und lässt den Unterkiefer rotieren. 15 Bei der Twin Block-Therapie wird der Overjet korrigiert. Dies ge- schieht sowohl durch eine ske- lettale als auch eine dentoalveo- läre Komponente. Die Erfolge skelettaler Korrektur liegen zwi- schen 27 und 67 %. 1,10,11 Der Rest ist der Hemmung des vorderen Wachstums der Oberkiefermo- laren und der Mesialbewegung der Unterkiefermolaren zuzu- schreiben. Des Weiteren erfolgt die Retroinklination der oberen Schneidezähne. Dieser Effekt wird wahrscheinlich durch die Lippenmuskulatur 16 und die Labi- albewegung der unteren Schnei- dezähne verursacht. Die vierte Dimension Die vierte Dimension, nämlich die Zeit, fand in der internationa- len wissenschaftlichen Literatur bisher nur wenig Beachtung. So wird bis heute noch immer ein Unterschied zwischen einer „frü- hen“ und einer „späten“ Behand- lung gemacht. Dabei wird die Frühbehandlung von vielen Wis- senschaftlern und Klinikern als jene Behandlung definiert, wel- che in der Milchzahn- oderWech- selgebissphase vor Durchbruch der bleibenden Zähne beginnt. Diese Annahme bzw. dieser Ge- dankengang kann sich jedoch als sehr problematisch und in- effizient erweisen, wenn das Kind mithilfe einer FKO- Apparatur behandelt wird. Das Ziel der funktionellen Kieferorthopädie darf nicht die Korrektur der Zähne sein, sondern ist es viel- mehr, die skelettale Ent- wicklung des Unterkie- fers zu erhöhen. Bisher berücksichtigen wenige wissenschaftli- che Studien die biologi- schen Aspekte des einzel- nen, individuellen, skelet- talen Wachstums. So wurde vor allem geforscht, wenn die Wachstumsentwicklung des Unterkiefers zu früh oder bereits vorbei war. Studien (z.B. von Kevin O’Brien et al. 10,11 ) untersuchten die Zu- nahme der Unterkieferlänge bei Einsatz von Herbst-Scharnier und Twin Block und kamen zu dem Ergebnis, dass frühe kieferortho- pädische Behandlungen keine Vorteile gegenüber einer Spät- behandlung vorweisen. Nachteil dieser Untersuchung und vieler anderer Studien rund um FKO- Apparaturen in den letzten zehn Jahren ist, dass diese keine si- chere Auskunft darüber geben, wann das skelettale Wachstum stattfindet. Stattdessen wurde dies durch das chronologische Alter oder den Zahndurchbruch (frühe Wechselphase, mixed oder permanentes Gebiss) gesichert. Tatsächlich ist das Wachstum des Unterkiefers in CS 1 und CS 2 sehr gering und nimmt in CS 5 und CS 6 stark ab. In diesen Studien ist es daher logisch, dass nur ein ge- ringer oder gar kein Unterschied zwischen einer frühen und einer späten KFO-Behandlung gefun- den wurde. Eine globale Diagnose für Klas- se II-Anomalien impliziert, dass nicht nur die Zähne im Zahnbo- gen behandelt werden sollen, son- dern auch das komplette Gesicht. Die Konvexität des Gesichts, der Nase und das weiche Gewebe um den Mund herum sind ebenso wichtig wie die Korrektur der dentalen Klasse II-Malokklusion. Dieser globale kieferorthopädi- sche Ansatz würde nicht allein ei- ne Verbesserung des konvexen Gesichtsprofils bewerkstelligen, sondern auch verbesserte psy- chische und soziale Auswirkun- gen bieten. Dieser Artikel soll die Bedeutung einer genauen Beurteilung des skelettalen Wachstums zu Beginn der Behandlung mittels funk- tionskieferorthopädischer Ge- räte verdeutlichen, unabhängig vom Alter des Kindes und der dentalen Phase, in der sich das Kind befindet. WISSENSCHAFT & PRAXIS 12 | www.kn-aktuell.de Nr. 3 | März 2012 Klasse II-Anomalie – die vierte Dimension Ein Beitrag von Dr.TomVerhofstadt aus Kevelaer in memoriam an den jüngst verstorbenen Prof. Dr.Tiziano Baccetti. Abb. 1: Vordersicht einer Twin Block-Apparatur. Abb. 4: Vertebrae Pumps der Designer Dean und Dan Caten. Tabelle 1: CVS: Stadien und morphologische Merkmale der Wirbelkörper. 2–4 a b Abb. 2: Die vierte Dimension – die Zeit. Abb. 3a, b: Konvexes Profil eine Klasse II (a) sowie nach erfolgter Twin Block-Behandlung (b).

Klasse II-Anomalie – die vierte Dimension

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Written by Dr. med dent Tom Verhofstadt

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Page 1: Klasse II-Anomalie – die vierte Dimension

Die Korrektur von skelettalenund dentalen Angle-Klasse II-Malokklusionen mithilfe funk-tioneller kieferorthopädischerApparaturen ist eine der größtenHerausforderungen in der heuti-gen Zahnmedizin. Innerhalb Eu-ropas stellt sie bei Kindern dieam meisten verbreitete Anoma-lie dar. Verschiedene Quellen be-richten von einer Prävalenz zwi-schen 23 und 63%.Angle-Klasse II-Malokklusionenkönnen dabei folgende Ursachenhaben:14

• Die größte Kindergruppe (etwa70%) zeigen einen defizientenUnterkiefer und beide Zahnbö-gen weisen eine jeweils norma-le Position in ihrem Kiefer auf.

• Eine kleinere Kindergruppezeigt eine maxilläre Protrusionder Zähne, wobei die Kieferre-lation normal ist.

• Die kleinste Gruppe hingegenweist ein exzessives Wachs-tumsmuster (superdolichofa-zial) des Oberkiefers auf. DerUnterkiefer rotiert dabei nachunten und nach hinten.

Einleitung

Im Jahre 1980 haben Wissen-schaftler festgestellt, dass dasProblem von Klasse II-Malok -k lusionen nicht im protrusivenOberkiefer, sondern eher im de -fizienten Unterkiefer begründetliegt. Heutzutage werden oft zweiGrup pen von FKO-Apparaturenbenutzt, um die Klasse II-Ano-malie mit defizientem Unter-kiefer zu korrigieren:• herausnehmbare Apparatu-

ren, wie z.B. der FR-2 Regu-lator (nach Fränkel), derAktivator (nach Andre-sen), der Twin Block(nach Clark) und Modi-fikationen,

• festsitzende Appara -turen, wie Pancherz’Herbst-Scharniere, Jas-pers Jumper und Modi -fikationen.

Während der letzten 20 Jah-re wurden in der wissenschaft-lichen Literatur drei Dimensio-nen berücksichtigt, um die Be-

handlung von Klasse II-Anoma-lien zu verbessern. Diese Dimen-sionen sind die drei räumlichenEbenen (vertikale, sagittale undtransversale Ebene).Das primäre Ziel von funktions-kieferorthopädischen Gerätenist es, den defizienten Unterkieferzu verlängern und gleichzeitigdie maxilläre Protrusion zu hem-men, sodass der sagittale Overjetkorrigiert wird. Es ist die Summedes Remodeling von Kondylusund Fossa Glenoidale und Än -derungen der Kondylenpositionin der Fossa, die den Unterkiefernach vorn wachsen lässt. Dies än-dert die Kinnposition und lässtden Unterkiefer rotieren.15

Bei der Twin Block-Therapie wirdder Overjet korrigiert. Dies ge-schieht sowohl durch eine ske-lettale als auch eine dentoalveo-läre Komponente. Die Erfolgeskelettaler Korrektur liegen zwi-schen 27 und 67%.1,10,11 Der Restist der Hemmung des vorderenWachstums der Oberkiefermo -laren und der Mesialbewegungder Unterkiefermolaren zuzu-schreiben. Des Weiteren erfolgtdie Re troinklination der oberenSchneidezähne. Dieser Effektwird wahrscheinlich durch dieLippenmuskulatur16 und die Labi-albewegung der unteren Schnei-dezähne verursacht.

Die vierte Dimension

Die vierte Dimension, nämlichdie Zeit, fand in der internationa-len wissenschaftlichen Literaturbisher nur wenig Beachtung. Sowird bis heute noch immer einUn terschied zwischen einer „frü -hen“ und einer „späten“ Behand-lung gemacht. Dabei wird dieFrühbehandlung von vielen Wis-senschaftlern und Klinikern alsjene Behandlung definiert, wel-che in der Milchzahn- oderWech-selgebissphase vor Durchbruchder bleibenden Zähne beginnt.Diese Annahme bzw. dieser Ge-dankengang kann sich jedoch

als sehr problematisch und in-effizient erweisen, wenn das

Kind mithilfe einer FKO-Apparatur behandelt wird.Das Ziel der funktionellenKieferorthopädie darf nichtdie Korrektur der Zähne

sein, sondern ist es viel-mehr, die skelettale Ent-wicklung des Un ter kie -fers zu erhöhen. Bisher berücksichtigen

wenige wissenschaftli-che Studien die biologi-

schen Aspekte des einzel-nen, individuellen, skelet-

talen Wachstums. So wurdevor allem geforscht, wenn dieWachstumsentwicklung des

Un terkiefers zu früh oder bereitsvorbei war.Studien (z.B. von Kevin O’Brienet al.10,11) untersuchten die Zu -nah me der Unterkieferlänge beiEinsatz von Herbst-Scharnier undTwin Block und kamen zu demErgebnis, dass frühe kiefer or tho -pädische Behandlungen kei neVorteile gegenüber einer Spät-behandlung vorweisen. Nachteildieser Untersuchung und vieleranderer Studien rund um FKO-Ap paraturen in den letzten zehnJahren ist, dass diese keine si-chere Auskunft darüber geben,wann das skelettale Wachstumstattfindet. Stattdessen wurdedies durch das chronologischeAlter oder den Zahndurchbruch(frühe Wechselphase, mixed oderpermanentes Gebiss) gesichert. Tatsächlich ist das Wachstum desUnterkiefers in CS1 und CS2 sehrgering und nimmt in CS5 und CS6stark ab. In diesen Studien ist esdaher logisch, dass nur ein ge -ringer oder gar kein Unterschiedzwi schen einer frühen und einerspäten KFO-Behandlung gefun-den wurde. Eine globale Diagnose für Klas -se II-Anomalien impliziert, dassnicht nur die Zähne im Zahn bo -gen behandelt werden sollen, son-dern auch das komplette Gesicht.Die Konvexität des Gesichts, derNase und das weiche Gewebe umden Mund herum sind eben so

wichtig wie die Korrektur derdentalen Klasse II-Malokklusion.Dieser globale kieferorthopädi-sche Ansatz wür de nicht allein ei -ne Verbesserung des konvexenGesichtsprofils bewerkstelligen,sondern auch verbesserte psy-chische und soziale Auswirkun-gen bieten. Dieser Artikel soll die Bedeutungeiner genauen Beurteilung desskelettalen Wachstums zu Beginnder Behandlung mittels funk-tionskieferorthopädischer Ge-räte verdeutlichen, unabhängigvom Alter des Kindes und derdentalen Phase, in der sich dasKind befindet.

WISSENSCHAFT & PRAXIS12 | www.kn-aktuell.de Nr. 3 | März 2012

Klasse II-Anomalie – die vierte DimensionEin Beitrag von Dr.TomVerhofstadt aus Kevelaer in memoriam an den jüngst verstorbenen Prof. Dr.Tiziano Baccetti.

Abb. 1: Vordersicht einer Twin Block-Apparatur.

Abb. 4: Vertebrae Pumps der Designer Dean und DanCaten.

Tabelle 1: CVS: Stadien und morphologische Merkmale der Wirbelkörper.2–4

a b

Abb. 2: Die vierte Dimension – die Zeit.

Abb. 3a, b: Konvexes Profil eine Klasse II (a) sowie nach erfolgter Twin Block-Behandlung (b).

Page 2: Klasse II-Anomalie – die vierte Dimension

CVM (CervicalVertebralMaturation)

Der ideale Indikator, radiolo-gisch das skelettale Wachstumzu beurteilen, umfasst folgendeMerkmale:2–4

1. Die erhaltene Information mussmit einem Referenzindex ver-gleichbar sein.

2. Der Unterkieferwachstums-schub muss anhand einer ra -diologischen Diagnose schnell und zielgerichtet zu finden sein.

3. Die Verringerung von Rönt-genstrahlung beim Patienten.

4. Die Methode muss eine gro-ße Validität aufweisen, um dasskelettale Wachstumsstadiumzu evaluieren.

Lamparski8 sowie später Bac-cetti und Franchi1,2,6 schlugensechs Stadien vor, die mit sechsWachstumsphasen der zervi ka -len Vertebrae während des puber -tären Alters übereinkamen. Die -se sechs Stadien werden durchmorphologische Änderungen undgroße Änderungen des zweitenbis vierten Wirbelkörpers (CS 2bis CS 4) festgelegt. Die Methode hat in der Vergan-genheit ihre Effizienz und Zu-verlässigkeit in der Praxis be-wiesen. So stimmen die Wachs-tumsstadien der Halswirbel mitden Veränderungen im Unter -kieferwachstum während derPubertät überein.3,12

CVS 1: Die inferiore Begrenzungaller Wirbelkörper ist flach. CVS 2: Die inferiore Begrenzungdes 2. Wirbelkörpers entwickelteine Konkavität.CVS 3: Die inferiore Begrenzungdes 3. Wirbelkörpers entwickelteine Konkavität.CVS 4: Die inferiore Begrenzungdes 4. Wirbelkörpers entwickelteine Konkavität. Die Wirbelkör-per C3 und C4 sind rechteckiggeformt.CVS 5: Die inferioren Begren-zungen aller Wirbelkörper sindkonkav. Die Wirbelkörper sindfast viereckig und der Raumzwischen den Wirbeln verrin-gert sich.CVS 6: Alle Wirbel weisen tiefeKonkavitäten auf und sind invertikaler Richtung rechteckig.

Die beschriebene Methode bie-tet folgende Merkmale:4

• Die CV-Stadien sind unabhän-gig vom chronologischen Le-bensalter.

• Die Änderungen in Größe undMorphologie der Vertebrae inden sechs Phasen sind identischfür beide Geschlechter.

• Die Identifizierung und Repro-duzierbarkeit der Daten bzw.der CVM-Stadien liegt zwischen91,2%13 und 98,6%1,6.

• Der skelettale Wachstumsschubund der Schub des Unterkie-fer wachstums finden zwischen CS 3 und 4 in 95% der Fälle statt.

• CS 1 kommt mindestens zweiJah re vor dem skelettalen Wachs-tumsmaximum vor.

• CS 2 kommt ein Jahr vor Beginndes skelettalen Wachstums-schubs vor.

• CS 5 tritt ein Jahr nach Ende des Wachstumsmaximums undCS 6 mindestens zwei Jahre nachdem Wachstumsmaximum auf.

• CS 6 markiert das Ende des pu-bertären Wachstums.

• Die morphologischen Änderun -gen der zervikalen Wirbel begin-nen bei Mädchen früher als beiJungen.

Die Änderungen hinsichtlichGrö ße und Morphologie derVer-tebrae in den sechs Phasen sindidentisch für beide Geschlechter.Es gibt – im Gegensatz zu Lam-parski – keine unterschiedlichenAngaben für Mädchen und Jun-gen.8

Im Rahmen einer Studie wurdebei 250 Kindern untersucht, obeine Differenz zwischen denzervikalen Stadien und den ver-schiedenen Stadien des Zahn-durchbruchs besteht7 (Tabelle 2).Aus der Tabelle geht hervor, dasseine große Übereinstimmungzwischen der frühen dentalenWechselphase und dem skeletta-len Wachstum besteht. Währenddes Wachstumsschubs im zervi-kalen Stadium 3 besteht wenigÜbereinstimmung mit der den-talen Wechselphase.Wenn die permanenten Eckzäh neund Prämolaren durchbrechen,ist die späte dentale Wechselphaseerreicht. Ein Viertel der Kinder be-findet sich noch in ihrem prä-pu-bertären Wachstumsschub (CS 2)und ein Drittel der Kinder im pu-bertären Wachstum (CS 3).

Befindet sich das Kind in der spä-ten dentalen Wechselphase oderdem frühen permanenten Gebiss,hat der Behandler eine Chancevon 66%, den Wachstumsschubin CVS3 zu erkennen.

Weitere Untersuchungen erga-ben, dass zwischen dem Lebens-alter und dem skelettalen Wachs-tum große Differenzen bestehen.Der Wachstumsschub in CS3kann zwischen dem 8. und 14,5.Lebensjahr auftreten.Diese Studie belegt, dass wenigÜbereinstimmung zwischen demskelettalen Wachstum der Man-dibula, den verschiedenen den -talen Wechselphasen sowie demLebensalter besteht.

Die vierte Dimension – der klinische Beweis

In einer Untersuchung von Bac-cetti aus dem Jahre 2004 wurden36 Patienten mit einer Angle-Klas -se II-Anomalie mithilfe der TwinBlock-Apparatur therapiert undmit 30 nichttherapierten KlasseII-Patienten verglichen. Von den36 Patienten wurden 21 vor und15 Patienten nach dem puber -tären Wachstumsschub thera-piert.

Die „frühe“ skelettale Wachs-tumsgruppe wurde vor dem pu-bertären Wachstumsschub the-rapiert. Sie befand sich am An-fang der Twin Block-Behandlungzwischen Phase CS1 und CS2.Nach durchschnittlich einem Jahrund zwei Monaten Behandlungbefanden sich die Patienten zwi-schen Phase CS1 und CS3. Die „späte“ skelettale Wachstums-phase wurde nach dem pubertä-ren Wachstumsschub therapiert.Sie befand sich bei Beginn derBehandlung zwischen Phase CS3und CS5. Nach erfolgter TwinBlock-Behandlung von durch-schnittlich einem Jahr und fünfMonaten Dauer befanden sich diePatienten zwischen Phase CS4und CS6.

Beide Gruppen wurden respektivmit einer nichttherapierten Klas -se II-Anomalie-Kontrollgruppeverglichen, die sich in demselbenvertebralen Stadium befand. Da die experimentellen Gruppenklein waren (36 behandelte Kin-der verglichen mit 30 nicht be-handelten Kindern), waren nurdie Ergebnisse der Unterkiefer-länge (Co-GN) und der WinkelCL-ML signifikant.

Diskussion

Eine Behandlung mithilfe vonfunktionskieferorthopädischenApparaturen – in unserem Fallmithilfe der Twin Block-Ap pa ra -tur – ist während oder nach demskelettalen Wachstumsschub desUnterkiefers viel effektiver alsvorher. Nach dem Wachstums-schub sind die in duzierten ske-lettalen Änderungen der kondy-läre Knorpel güns tiger.In der „späten“ skelettalen Wachs-tumsgruppe betrug der Unter-schied des Unterkieferwachstumsim Vergleich zur Kontrollgruppe4,75mm, gemessen in einem Jahrund fünf Monaten (im Durch-schnitt 3,35mm pro Jahr). In der„frühen“ skelettalen Wachstums-gruppe betrug der Unterschieddes Unterkieferwachstums imVergleich zur Kontrollgruppe1,88mm, gemes sen in einem Jahrund zwei Monaten (im Durch-schnitt 1,61mm pro Jahr). Das Un -terkieferwachstum ist also in der„späten“ skelettalen Wachstums-phase doppelt so groß wie in der„frühen“ Phase.

Die Zunahme der Unterkiefer-länge (Co-Pg) in der „späten“Wachstumsgruppe ergibt sich ausderVerlängerung der Ramus Ma-nudibulae (Co-Gn) in vertikalerRichtung und einer Zunahme derKorpuslänge vom Un terkie fer(Go-Pg) in horizontaler Richtung.Im Jahre 1977 stellten Lavergne et al.9 fest, dass die Wachstums-richtung der Kondylen in pos te -riorer Richtung ausgerichtet ist.Das wurde auch festgestellt durchden Unterschied im Winkel Kon-dylenlinie (CL) und man dibuläreLinie (ML) zwischen der „späten“skelettalen Wachstumsgruppeund Kontrollgruppe. Die „mor-phogenetische posteriore Unter-kieferrotation“ ist ein biologi-scher Mechanismus, der es mög-lich macht, die Unterkieferlängezu vergrößern und so eine effek-tive Verbesserung der skelettalensagittalen Klasse II zu er reichen.

Fazit

Mit diesen Erkenntnissen überdie kephalometrischen Ergebnis -se bei Klasse II-Malokklusionenist eine der größten Kontroversenin der Kieferorthopädie gelöstworden. Von nun an kann mithilfevon FKO-Apparaturen bei KlasseII-Therapien nicht mehr im Hin-blick auf eine „frühe“ oder „späte“Behandlung aufgrund von Zahn-durchbruch oder Lebensalter ge-sprochen werden, sondern viel-mehr im Hinblick auf das früheoder späte skelettale Unterkiefer-wachstum. Mein Dank gilt Prof. Dr. Ti zianoBaccetti, durch dessen Erkennt-nisse aus jahrelanger Forschungs-arbeit und die erfolg rei -che Umsetzung de rer inder Praxis die ser Arti-kel entstanden ist.

Nr. 3 | März 2012 www.kn-aktuell.de | 13WISSENSCHAFT & PRAXIS

Dr. Tom VerhofstadtHeiligenweg 2947626 KevelaerTel.: 02832 [email protected]

Adresse

Dr. med. dent. Tom Verhofstadt

• Jahrgang 1964

• Studium der Zahnmedizin an der Reichs-universität Antwerpen und an der Katholischen Universität Leuven

• 1994 Approbation und Promotion ander Universität des Saarlandes

Kurzvita

Wirbelstadium/ frühe Wechselphase Wechselgebiss späte Wechselphase frühes permanentes

Eruptionsphasen Gebiss

CS 1 96 68 31 7

CS 2 4 28 24 19

CS 3 0 4 36 30

CS 4 0 0 8 30

CS 5 0 0 0 11

CS 6 0 0 0 3

Tabelle 2: Skelettales versus dentales Stadium.

Abb. 5: Computer Assisted Analyses (CAA) der Vertebrae.5

Abb. 6: Kephalometrische Merkmale.