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Beten im Herbst des Lebens Das Vaterunser im Alter neu entdecken Klaus Egger

Klaus Egger Beten im Herbst des Lebens - Tyrolia-Verlag...im herbst des lebens „Der Herbst kennt Farben, von denen der Sommer nichts weiß.“ Das gilt auch für den Herbst unseres

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Beten im Herbst des Lebens

Das Vaterunser

im Alter neu entdecken

Klaus Egger

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Beten im Herbst des Lebens

Das Vaterunser

im Alter neu entdecken

Klaus Egger

Tyrolia-Verlag · Innsbruck-Wien

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Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

2013

© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlaggestaltung: Tyrolia-Verlag, Innsbruck

unter Verwendung eines Bildes © Bildagentur Waldhäusl

Layout und digitale Gestaltung: Tyrolia-Verlag

Druck und Bindung: FINIDR, Tschechien

ISBN 978-3-7022-3285-6

E-Mail: [email protected]

Internet: www.tyrolia-verlag.at

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

EInFÜhRUnG . . . . . . . . . . . . . . . . 11Von den Farben im Herbst des Lebens . . . . 11Taktwechsel im Alter . . . . . . . . . . . . . . 13Beten in späteren Jahren . . . . . . . . . . . . 16

DaS GEBEt DES hERRn . . . . . . . . . 19Das Vaterunser bei Lukas . . . . . . . . . . . 20Das Vaterunser bei Matthäus . . . . . . . . . 22

EInlaDUnG . . . . . . . . . . . . . . . 27

VatER UnSER IM hIMMEl . . . . . . . . 30Im Geheimnis Wohnung und Heimat finden 32Die Wurzeln der Gottesbeziehung Jesu . . . 33Unsere Gottesbeziehung auf dem Prüfstand 40Besinnung und Einübung . . . . . . . . . . . 43

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GEhEIlIGt WERDE DEIn naME . . . . 45Den Namen Gottes heiligen . . . . . . . . . . 46Groß sollst du sein, Gott alles in allem . . . . 49Geschaffen, um Gott zu loben . . . . . . . . 51Besinnung und Einübung . . . . . . . . . . . 52

DEIn REICh KOMME . . . . . . . . . . . 54Gottes Königtum . . . . . . . . . . . . . . . . 54Die Predigt Jesu und damalige Erwartungen . 56Die Kirche und das Reich Gottes . . . . . . . 59Besinnung und Einübung . . . . . . . . . . . 63

DEIn WIllE GESChEhE, WIE IM hIMMEl SO aUF ERDEn . . . . 65Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 66Jesus und der Wille des Vaters . . . . . . . . . 66Gottes Wille in unserem Leben . . . . . . . . 69Besinnung und Einübung . . . . . . . . . . . 72

UnSER tÄGlIChES BROt GIB UnS hEUtE . . . . . . . . . . . . . . . 75„Urwort“ Brot . . . . . . . . . . . . . . . . . 75Das andere und das eucharistische Brot . . . 76Brot für heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78Besinnung und Einübung . . . . . . . . . . . 80

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VERGIB UnS UnSERE SChUlD, WIE aUCh WIR VERGEBEn UnSEREn SChUlDIGERn . . . . . . . . . . . . . . . 82Ein Gott des Lebens und der Vergebung . . . 83Bote und Mittler der Vergebung . . . . . . . 84Die Schuldenfalle und die Wohltat der Vergebung . . . . . . . . . . . . . . . . . 86Besinnung und Einübung . . . . . . . . . . . 90

UnD FÜhRE UnS nICht In VERSUChUnG . . . . . . . . . . . . . . 93Versuchung und Erprobung . . . . . . . . . . 94Die Versuchungen Jesu . . . . . . . . . . . . . 94Versuchungen des älteren Menschen . . . . . 97Besinnung und Einübung . . . . . . . . . . . 98

SOnDERn ERlÖSE UnS VOn DEM BÖSEn . . . . . . . . . . . . 100Das Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100Erlösung durch Jesus Christus . . . . . . . 101Aneignung der Erlösung vom Bösen . . . . 104Besinnung und Einübung . . . . . . . . . . 106

SChlUSSGEDanKEn . . . . . . . . . . 109Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . 110

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Vorwort

Noch ein Buch zum Vaterunser, wo es doch schon so viele gibt? In den ersten Jahrhunderten war dieses Gebet der meistkommentierte Text der Heiligen Schrift, weil man es als eine Zu-sammenfassung des christlichen Glaubens an-gesehen hat. Mit diesem Schatz im Herzen und auf den Lippen konnte man leben, auch wenn die äußeren Umstände dem Glauben kaum eine Chance ließen.

Älter werdend habe ich in mir den Anspruch verspürt, mir selbst noch einmal Rechenschaft zu geben, weshalb das Vaterunser auch in späteren Jahren mein kostbarstes Gebet bleiben kann und soll. An diesen Überlegungen möchte ich auch andere teilhaben lassen.

Ich habe einerseits versucht, der Gesinnung und der Lebenswelt Jesu, aus der dieses Gebet herausgewachsen ist, nachzuspüren und ander-seits das eigene Älterwerden nicht aus den Augen zu verlieren.

Die Auswahl der biblischen Texte, welche den einzelnen Bitten Leben einhauchen möchten, hat sich aus einem jahrzehntelangen Umgang mit

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der Bibel ergeben. Die Zitate sind zum größten Teil der Einheitsübersetzung entnommen.

Die Hinweise auf die späteren Jahre, in denen uns das Vaterunser kostbare Impulse zu geben vermag, gehen ebenfalls auf persönliche Erfah-rungen und auf Erfahrungen mit älteren Men-schen zurück. Kleine spirituelle und literarische Texte möchten dazu beitragen, tiefer in die Welt des Vaterunsers einzudringen.

Am Beginn der Heilsgeschichte steht die Gestalt des Abraham, der noch in hohem Alter aufgebro-chen ist, um den Verheißungen Gottes entgegen-zuwandern. In den Bitten des Vaterunsers kön-nen wir auch die Verheißungen Gottes an uns entdecken, um ihnen in der Zeit, die uns noch zugedacht ist, entgegenzuwandern. Das Gebet des Herrn ist ein guter Wegweiser und ein guter Wegbegleiter.

Klaus Egger

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EInFÜhRUnG

Von den Farben im herbst des lebens

„Der Herbst kennt Farben, von denen der Sommer nichts weiß.“ Das gilt auch für den Herbst unseres Lebens. Wie sich in den verschiedenen Jahreszei-ten unsere Welt je anders präsentiert, so ist es auch in unserem Leben. In den verschiedenen Lebens-abschnitten – Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und spätere Jahre – sehen wir unsere Welt mit je anderen Augen. Manches von dem, was uns frü-her einmal ganz wichtig erschienen ist, verblasst langsam, und anderes beginnt erst jetzt richtig zu leuchten in der milden Herbstsonne. So werden im Herbst die Tage kürzer und die Nächte länger, die Luft wird klarer und weitet die Sicht, Früchte werden geerntet und gleichzeitig zieht sich das Le-ben der Natur langsam zurück.

Im Herbst unseres Lebens erfahren wir Ähn-liches. Die Zeit, die noch vor uns liegt, wird von

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Tag zu Tag kürzer und der Radius unserer Mög-lichkeiten wird enger. Gleichzeitig aber öffnet sich der Blick für das Ganze unseres Lebens, und zwar nicht bloß auf unsere Vergangenheit, son-dern auch auf das, was noch vor uns liegt. In der Sprache der Psalmen hört sich das so an: „Ich ge-dachte der vergangenen Jahre und habe im Sinn die Jahre der Ewigkeit“ (Vulgata Übersetzung Ps 76,6). Dankbar dürfen wir uns an alles erin-nern, was wir an Früchten in die Scheunen unse-res Lebens einfahren konnten, dankbar auch da-für, dass wir trotz unseres Versagens und unserer Begrenztheit immer wieder den Mut gefunden haben und vor allem durch andere ermutigt wor-den sind, aufzustehen und weiterzugehen. Jetzt geht es nicht mehr darum, immer noch mehr zu erleben, sondern darum, dem, was bisher zu kurz gekommen ist, eine Chance zu geben, intensiver zu leben und die geschenkten Tage auszukos-ten. Und häufiger als in früheren Zeiten drängt sich vermutlich leise und oft kaum hörbar die Frage auf, wohin die Reise nun gehe. Auch da-durch gewinnt das Leben nochmals Farben, die wir vorher gar nicht gekannt haben. In diese Far-ben mischen sich aber auch Nebelfelder, die uns als Beeinträchtigung unserer Gesundheit, als de-

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pressive Phasen, als Trauer über versäumtes Le-ben und auch als bedrohliche Daseinsängste be-gegnen können.

Martin Buber, der große jüdische Religions-philo soph († 1965), hat einmal geschrieben: „Alt- sein ist ja ein herrlich Ding, wenn man nicht ver-lernt hat, was anfangen heißt. Du brauchst nicht jung tun, sei so alt wie du bist. Doch lebe dein Al-ter auf junge Weise – des Anfangenkönnens kun-dig.“

In den späteren Jahren nochmals anfangen in allem, was uns jetzt noch möglich ist, das ist wohl die letzte große Chance und Herausforderung in unserem Leben, so auch für unser Beten.

taktwechsel im alter

Der Wechsel vom sommerlichen Grün zur bun-ten Herbstpracht vollzieht sich in der Natur kaum wahrnehmbar und leise, aber manchmal kann ein früher Frost die Landschaft in einer Nacht verwandeln. Ähnlich ist es auch im Herbst des Lebens. Die Altersforschung spricht von vier Phasen des Alterns, von den jungen Alten, von den Alten mit ersten Verlusterfahrungen, von

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den Hilfsbedürftigen und von den Pflegebedürf-tigen bis hin zur Demenz. Die Übergänge sind manchmal kaum wahrnehmbar und manchmal ganz abrupt. Wir sind jedoch diesem Prozess des stufenweisen Alterns nicht einfach ausgeliefert. Es ist uns als Menschen die Möglichkeit gegeben, diesen Prozess auch aktiv in die Hand zu neh-men. Dafür bietet sich das Bild vom Taktwech-sel an, der nicht bloß ein entscheidendes Element in der Musik darstellt, sondern auch in unserem Leben. Wie sich in der Musik durch einen Takt-wechsel neue Klangdimensionen eröffnen, so ist es bei uns, wenn wir das Altern als einen Prozess ansehen, den wir selbst mitgestalten und somit den Takt angeben können.

Darauf hat auch das „Europäische Jahr des aktiven Alterns 2012“ hingewiesen. Wir wachsen zurzeit in eine Gesellschaft des langen Lebens hinein und haben damit – vermutlich zum ers-ten Mal in der Geschichte – in breiten Schichten die Möglichkeit, das Altern kreativ zu gestalten. Freudig und dankbar dürfen wir auf die viel-fältigen Angebote zu einem aktiven Altern bli-cken. Mit dem steigenden Wohlstand der letz-ten Jahrzehnte wurden die alternden Menschen wirtschaftlich und politisch geradezu neu ent-

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deckt. Der Seniorentourismus ist ja nicht mehr wegzudenken und Seniorenstimmen sind bei je-der Wahl gefragt. Auch im Bildungsbereich hat sich eine Wende vollzogen. Waren es früher nur Einzelne, die im Alter nochmals einen Hörsaal der Universität betreten haben, so gibt es heu-te in manchen Bereichen bereits mehr Senioren als junge Studenten. Und dazu kommen noch die vielfältigen Seniorenangebote in den ver-schiedensten Bildungseinrichtungen. An Ange-boten für aktives Altern fehlt es nicht, aber geht es nur um das Annehmen von externen Offer-ten? Kommt es nicht ganz wesentlich auch dar-auf an, dass ich mich um mich selbst kümmere, dass ich auf den verschiedensten Ebenen meines Daseins den Taktstock selbst ergreife? Liegt darin nicht auch die Chance, meinem Leben seine end-gültige Gestalt zu geben, indem ich einem letzten Reifen Raum gewähre? Könnte es nicht sein, dass auch in meinem Beten ein Taktwechsel ansteht, indem ich mit den neuen Erfahrungen und Fra-gen des alternden Menschen an das Beten heran-trete, und so auch an das Vaterunser?

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Beten in späteren Jahren

Wie ist es da um unser Beten bestellt, wenn wir in den Herbst unseres Lebens eintreten? Gewiss, die vier Grundformen des Betens – Loben, Dan-ken, Bitten und Klagen – bleiben auch im Alter weiterhin gültig, aber sie bekommen eine an-dere Färbung und einen anderen Rhythmus. So wie es Kinder- und Jugendgebete gibt, die aus der Lebenssituation von Kindern und Jugend-lichen heraus entstehen, so gibt es auch ein Be-ten der Erwachsenen und dann auch ein eigens akzentuiertes Beten älterer Menschen. In jedem Alter geht es ja darum, im Gebet das eigene Le-ben vor Gott vertrauensvoll auszubreiten. Je älter wir werden, umso mehr erleben wir, wie sich die Gestalt und der Rhythmus unseres Lebens und damit auch unser Beten verändert. In jüngeren Jahren trägt einen mehr das Beten in einer Grup-pe, das Beten im Gottesdienst. Hunderttausende aus der jüngeren und auch mittleren Generati-on aus Europa und anderen Kontinenten waren in den vergangenen Jahrzehnten in Taizé. Die Er-fahrung mit Gebet und Gottesdienst in diesem Dorf in Burgund ist oft so tiefgehend, dass zu-hause nach Taizé-Gebetsgruppen Ausschau ge-

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halten wird, um in dieses Erleben wieder eintau-chen zu können. Ähnliches wurde und wird auch bei Wallfahrten und gemeinsamen Gottesdiens-ten erfahren. Gemeinschaftliches Beten ist und bleibt auf jeden Fall eine der tragenden Säulen einer echten Gebetskultur.

Wenn aber die Jahre zu- und die Kräfte ab-nehmen, wenn man nicht mehr so mitmachen kann wie früher, wenn man mehr Zeit hat, bei sich selbst einzukehren, dann steigt die Bedeu-tung des inneren und persönlichen Betens. Der Apostel Paulus drückt das in seinem zwei-ten Brief an die Gemeinde von Korinth so aus: „Wenn auch unser äußerer Mensch aufgerieben wird, der innere wird Tag für Tag erneuert … denn wir starren nicht (mehr) auf das Sichtbare, sondern wir schauen aus nach dem Unsichtba-ren“ (2 Kor 4,16.18).

In solchem Rückblick und Ausblick kann man eine erstaunliche Entdeckung machen: Auch in jenen Lebensabschnitten, in denen man viel-leicht nur wenig oder gar nicht gebetet hat, wur-de man irgendwie geheimnisvoll geführt. Gottes Geist war da, auch wenn wir ihn nicht bemerkt haben. Im Gebet können wir uns bewusst mit al-lem, was uns bewegt, dem zuwenden, der alles

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trägt. Man kann das eigene Leben wie ein Buch vor Gott aufblättern, man kann dabei auf vor-gegebene Gebetstexte zurückgreifen oder auch ganz einfach sagen: „Ich bin jetzt vor dir da.“ In all diesen verschiedenen Gebetsformen und Ge-betsweisen treten wir in Gottes Gegenwart ein, nennt er sich doch selbst „Ich bin JHWH – Ich bin der ICH-BIN-DA“. So kann auch ein ganz einfaches „Da sein“ vor Gott zu einem Spiegel der Gegenwart Gottes werden, vor allem dann, wenn uns die Gebetsworte ausgehen. „Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“ (Apg 17,28).

Persönliches und auch wortloses Beten ist die zweite Säule jeder guten Gebetskultur, die in spä-teren Jahren an Bedeutung zunimmt. Im Vater-unser kommt beides zum Tragen: gemeinschaft-liches und persönliches Beten. Letzteres kann in ein einfaches Verweilen bei einer der Bitten ein-münden oder – wie schon gesagt – auch in das bloße Dasein in Gottes Gegenwart.

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DaS GEBEt DES hERRn

Es gibt wohl kein Gebet auf dieser Erde, das von so vielen Menschen und in so vielen Sprachen gesprochen und gebetet wird wie das Gebet des Herrn; aber es gibt wohl auch kein zweites Gebet, das so oft einfach geplappert und geleiert wurde wie dieses. Es wurde am Beginn unseres Lebens über uns gesprochen, wir selbst beten es immer wieder gemeinsam oder auch allein und dür-fen hoffen, dass es auch bei unserem Begräbnis nochmals über uns gesprochen wird.

Bereits am Ende des ersten Jahrhunderts hat das Vaterunser in den christlichen Gemeinden das dreimalige „Schema Israel“ – „Höre Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ (Dt 6,4.5) – abgelöst. Das täglich dreimalige Gebet des Herrn sollte das Leben des christlichen Alltags heiligen. Es wurde damals als eine kostbare Zusammenfas-sung des ganzen christlichen Glaubens betrach-

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tet. Ob es nicht auch für unsere späteren Jahre ein kostbares Angebot darstellt?

Was aber wissen wir über die Herkunft dieses wunderbaren Gebetes?

Das Vaterunser bei lukas

Im Lukasevangelium (Lk 11,1–4) wird uns be-richtet: Jesus betete einmal an einem Ort, und als er das Gebet beendet hatte, sagte einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten, wie schon Johannes seine Jünger beten gelehrt hat. Da sagte er zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht:

Vater,dein name werde geheiligt.Dein Reich komme.Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen.Und erlass uns unsere Sünden;denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist.Und führe uns nicht in Versuchung.

Jesus kam vom Gebet und hat gleichsam aus die-sem Beten heraus auf die Bitte des Jüngers geant-