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Koreanische Literatur und deutsche Literaturkritik
Ein Fazit des Frankfurter Gastlandauftritts 2005*
Alljährlich wird auf der Frankfurter Buchmesse der Literatur eines Staats
oder einer Region ein Schwerpunkt gewidmet. Dies bedeutet für Kulturjournalisten
die Herausforderung, über ihnen zumeist bis zu diesem Zeitpunkt unbekannte
Schriftsteller mit einer ihnen ebenso unbekannten literarischen Tradition zu
berichten. Über die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen und über die
geschrieben wird, haben die Journalisten häufig kaum genaue Vorstellungen.
Sie stehen also vor der schwierigen Aufgabe, ihrem Publikum etwas zu
vermitteln, was sie selbst gerade erst und auch bei gutem Willen bestenfalls
halb gelernt haben.
Hier soll es darum gehen, wie dieses Problem im Jahr 2005, beim
südkoreanischen Buchmessenauftritt, gelöst wurde. Beabsichtigt ist zweierlei:
erstens eine Analyse der deutschen Textsorten und Textstrategien; zweitens
ein Blick darauf, welche koreanischen Bücher zu deutschen Leseerwartungen
passen.1)
Im Idealfall führt die Analyse zu einer verbesserten Praxis. Dies ist hier
* Für Unterstützung bei der Materialsuche danke ich Prof. Dr. Lie Kwang Sook
(Nationaluniversität Seoul); Dr. Yoon Buhan (Korean Literature Translation Institute,
Seoul); Dr. Günther Butkus (Pendragon Verlag, Bielefeld); Prof. Dr. Jung Mi-Kyeung
(Kyonggi Universität, Suwon).
1) Die vollständigen Ergebnisse der Untersuchung werden – voraussichtlich 2010 – in einem
von Marion Eggert herausgegebenen Sammelband im Harrassowitz Verlag erscheinen.
kaum wahrscheinlich: Auf deutscher Seite gibt es mediale Zwänge und einen
Arbeitsrhythmus, der auch ökonomisch bestimmt ist. Anmerkungen von
Seiten der Wissenschaft dürften angesichts dessen auf wenig Interesse stoßen.
Für die koreanische Seite ergeben sich zwar einige Hinweise darauf, was mit
Hoffnung auf einen Publikumserfolg zu übersetzen ist. Aber will man das?
Es gibt ja drei mögliche Kriterien für die Auswahl zu übersetzender Texte:
erstens, was kommt gut an; zweitens, was repräsentiert die Kultur des
Ausgangslandes; und drittens, was ist literarisch wertvoll. Mit meinem Ansatz
kann man allenfalls die erste Frage beantworten. Die viel wichtigere aber
wäre die nach der literarischen Bedeutung, und diese ist durch eine Analyse
der Literaturkritik kaum zu beantworten.
Ich habe mich in meiner Arbeit auf Printmedien beschränkt Beiträge in
Radio und Fernsehen folgen völlig anderen Gesetzen. In diesem Aufsatz
beschränke ich mich noch weiter, indem ich nur ausgewählte Aspekte
benenne. Ich lasse ganz weg, welche Gruppen von Personen in den Medien
zu Wort kommen, welche Textsorten verwendet werden, wie durch
Illustrationen ein bestimmtes Koreabild erzeugt wird. Statt dessen möchte ich
folgende Punkte genauer vorstellen:
Welches Verhältnis von nationalkulturellem Wesen und historischem Wandel
zeigt sich in den Beiträgen?
Helfen Vergleiche mit westlichen Autoren?
Wie lassen sich Mechanismen von Lob und Ablehnung herausfinden?
Gibt es Regeln, nach denen sich Favoriten der deutschen Literaturkritik
herausstellen?
Naheliegend wäre auch die Frage: Wie wird die Qualität einer Übersetzung
bewertet? Doch kann wohl kaum einer der Rezensenten Koreanisch und
bleibt es bei allgemeinen Urteilen wie „holprig“2) oder „lebendig“.3) Eine
Frage wie: „Schreiben die so, oder ist es nur schlecht übersetzt?“4) dagegen
ist unfreundlich, zeigt aber immerhin ein gewisses Problembewußtsein.
Zusammengefaßt kann man sagen: Die koreanischen Originale lagen den
Rezensenten nicht vor und wären auch fast immer nicht verstanden worden.
Übersetzungskritik fand nicht ernsthaft statt.
. Kultur oder Geschichte und Gesellschaft?
Inwieweit wird also Kultur, inwieweit wird Gesellschaft und Geschichte
als bestimmender Faktor ausgemacht? Beim Versuch, diese Frage zu
beantworten, zeigt sich zunächst ein nationaler Unterschied. Vor allem bei
manchen jener Koreaner, die im Buchmessenumfeld in deutschsprachigen
Medien zu Wort kamen, findet sich eine gewisse Selbstkulturalisierung; und
auch dort zum Teil generationenspezifisch. Deutsche Autoren hingegen sind
in dieser Hinsicht überwiegend vorsichtig, soweit sie nicht sogar zugunsten
von Geschichte und Gesellschaft ganz auf die Vorstellungen einer Nationalkultur
verzichten.
Die Buchmessenbeilage der Neuen Zürcher Zeitung nimmt nicht nur durch
Umfang und Anzahl der Korea gewidmeten Beitrag eine Ausnahmestellung
ein, sondern auch dadurch, daß allein hier mehrere Personen koreanischer
Herkunft direkt zu Wort kommen. Dabei gibt es unterschiedliche Positionen:
Kim Young Ha schreibt, so sein Titel, über „Korea in seiner wahren Gestalt“,
und die sei die Gestalt der Hauptstadt Seoul, an der er vor allem Modernität
2) Susanne Messmer: Ein Käsecroissant als Riss im Glück. In: die tageszeitung, 19.10.2005.
3) Katrin Hillgruber: Fixsterne am Nachthimmel. In: Der Tagesspiegel (Berlin), 16.10.2005.
4) Georg Patzer: Misthaufen, Grillenhinterbeine, eine Baumfrau und eine Reise. In:
Stuttgarter Nachrichten, 18.10.2005.
und Geschwindigkeit hervorhebt.5) Auf der anderen Seite versucht der Lyriker
Hwang Chi Woo, eine spezifisch koreanische Ästhetik aufzuzeigen. Diese
zeichne sich durch den Verzicht auf europäische Erhabenheit und durch die
Eigenschaften der „Unvollendetheit und Offenheit“ aus.6) Hoo Nam Seelmann,
eine regelmäßige Beiträgerin der Zeitung, versucht, von grammatischen
Eigenarten des Koreanischen ein spezifisch koreanisches Verhältnis zur Welt
herzuleiten.7)
Man könnte in der Entgegensetzung vom Kim Young Ha (geb. 1968) und
Hwang Chi Woo (geb. 1952) einen generationenspezifischen Bruch vermuten;
daß Ko Un (geb. 1933) in einem Interview auf die Frage dem „Lebensgefühl“,
der „Identität“ der Koreaner sich entsprechend positioniert, scheint dies zu
unterstreichen. Ko sieht diese Identität einerseits in dem sogenannten
„Han“-Gefühl, einer Einheit aus „Traurigkeit und Bitterkeit“, und andererseits
einem „lustige[n] Temperament“.8) Allerdings beschränkt sich Hwang Sok-
yong (geb. 1943) in einem Artikel für Die Zeit ganz auf politische Aspekte
der Konstellation von nord- und südkoreanischer Literatur,9) und Yi Munyol
5) Kim Young Ha: Korea in seiner wahren Gestalt. Seoul – eine Metropole der rasenden
Geschwindigkeit. In: Neue Zürcher Zeitung, 15./16.0.2005; antitraditional ist auch Kims
Beitrag im Tagesspiegel (Berlin) vom 19.10.2005: Schuhe, die die Welt bedeuten.
6) Hwang Chi Woo: Berühren bitte. Kleiner Versuch über die koreanische Ästhetik. In:
Neue Zürcher Zeitung, 15./16.0.2005.
7) Hoo Nam Seelmann: Einübung ins Geschehen. Die Dinge sind in uns, und wir sind in
den Dingen – über die koreanische Sprache. In: Neue Zürcher Zeitung, 15./16.0.2005.
Seelmann arbeitet ein passives Geschehenlassen als Wesen der koreanischen Seele
heraus, was in einem merkwürdigen Kontrast zu dem Aktivismus steht, den die Artikel
über Seoul benennen. Andernorts benennt Seelmann durchaus historische Faktoren als
bestimmend für die Entwicklung der koreanischen Literatur, vgl. ders.: Geschichte,
Brüche und Gegenwart. Die koreanische Literatur im Prozess großer gesellschaftlicher
Veränderungen. In: Forum Kommune, Oktober / November 2005, S. 83-88.
8) Wenn man seine Mutter trifft, muß man sie töten. Ein Gespräch mit dem koreanischen
Dichter Ko Un über Vorbilder, Diktatorenlyrik und den Buddhismus. In: Süddeutsche
Zeitung, 10.9.2005.
9) Hwang Sok-yong: Unsere Literatur ist eins! In: Die Zeit, 11.8.2005. In einem anderen
(geb. 1948) distanziert sich im Schlußsatz seines historisch ausgerichteten
Beitrags für die Neue Zürcher Zeitung von der „veraltete[n] Idee der kulturell
autarken Nation“.10) Der Befund ist also uneinheitlich und fügt sich nur
teilweise einem Generationenschema.
Westliche Autoren greifen allenfalls zögerlich auf das Konzept der
kulturellen Identität zurück. Nur sehr selten wird es als Mangel benannt, daß
es der koreanischen Literatur an Fremdheit fehle. Ebenfalls selten gibt es
eine Mischung aus Distanzierung von kulturalistischen Muster einerseits und
Anknüpfung an sie andererseits. So referiert Susanne Messmer in der taz,
was das Han-Gefühl ausmache, und fügt sie im Konjunktiv hinzu: „Wäre
außerdem an der leicht fahrlässigen Charakterzusammenfassung auch nur ein
Krümel Wahrheit, nach der die Koreaner in Bezug auf ihre Empfindsamkeit
die Italiener des fernen Ostens sind man käme dem, was in diesem Herbst
rund um den Länderschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse an koreanischer
Literatur ins Deutsche übertragen wurde, einigermaßen nah.“11)
Es handelt sich um eine Rhetorik, die sich gegen den Vorwurf der
Stereotypisierung abzusichern versucht, um im gleichen Satz doch mit den
Stereotypen zu operieren. Anders als hier kann das Kulturkonzept
erkenntnisgewinnend eingesetzt werden, wenn es historisiert und auf einen eng
umgrenzten Bereich bezogen wird. So zeigt sich für den Literaturkritiker Jörg
Drews zwar besonders in der Lyrik ein „vielfältiger Kampf um eine spezifische
koreanische Identität“, den er im folgenden Absatz wohlbegründet gerade an Ko
Un und Hwang Chi Woo festmacht; Drews ist übrigens einer der wenigen
Gespräch bezeichnet Hwang sich als „Kosmopoliten“, der „Tradition und Moderne mit
universaler Perspektive“ betrachten wolle, „um mit den Bürgern dieser Welt zu
kommunizieren.“ (Mit den Bürger der Welt kommunizieren. In: Buchkultur 101
(Oktober / November 2005), S. 22.
10) Yi Munyol: Zeit der Heimsuchungen. Die koreanische Literatur des 20. Jahrhunderts hat
viele Heimsuchungen erlebt. In: Neue Zürcher Zeitung, 15./16.0.2005.
11) Susanne Messmer: Ein Käsecroissant als Riss im Glück. In: die tageszeitung, 19.10.2005.
Rezensenten, die sich bereits vor 2005 mit koreanischer Literatur befaßt haben und
entsprechend sachkundig waren. Entgegen nationalistischer Indienstnahmen versteht
er diesen Kampf zum einen als Reaktion auf die Kolonial- und Kriegsgeschichte,
zum anderen hebt er hervor, daß diese Identität sowohl durch den Rückgriff auf
„traditionelle Sprechweisen und poetische Muster“ als auch durch den auf
„westliche Lyrik von Rimbaud bis zur Konkreten Poesie“ angestrebt werde.12)
Was hier als Wissen formuliert ist, kann sich in der regionalen Presse auch als
Frage finden. Zu einer Lesung von Lee Sung-U und Bae Suah in Bielefeld heißt
es: „Gleichwohl blieb der in der anschließenden Diskussion aufgeworfene
Stellenwert der literarischen Tradition in den vorgestellten Erzählungen mangels
Vergleichsmöglichkeiten letztlich unbeantwortet. Welche sprachlichen Bilder,
welche Erzählperspektiven sind neu, welche traditionell?“13)
Eine Strategie der Literaturvermittlung läßt sich aus all dem nicht ableiten.
Es besteht keine Einigkeit, in welchem Maße Literatur überhaupt nationale
Besonderheiten aufweisen soll; den Kulturalismen kann man die Position von
Sylvia Bräsel entgegensetzen, die den Übersetzungen aus dem Koreanischen
die „Auseinandersetzung mit ‚Menschheitsmustern’“ attestiert und die die
Gedichte Hwang Tong-gyus dafür lobt, daß sie „über den Sinn des Lebens
jenseits der Kulturgrenzen nachdenken“ lassen.14) Es läßt sich auch überhaupt
nicht vorhersehen, was als fremd wahrgenommen wird: So heißt es über die
dtv-Sammlung „Koreanische Erzählungen“, deren Mitherausgeberin Bräsel ist,
in einer Rezension: „So kann der westeuropäische Leser etwas erkennen von
dem, was koreanische Mentalität ausmacht.“15) Über dieselben Erzählungen
12) Jörg Drews: Enter Korea. In: buchjournal 3/2005, S. 76-79, hier S. 78.
13) Marcus Ostermann: Korea, das unbekannte Land. In: Neue Westfälische, 20.10.2005.
14) Sylvia Bräsel: Tradition und Moderne in einem geteilten Land. In: Das Parlament,
17.10.2005.
15) Rena Lehmann: Der koreanischen Seele nachgespürt. In: Rhein-Zeitung, Koblenz,
21.10.2005.
erfährt man woanders: „Alles ganz selbstverständlich, und wären da nicht die
fremd klingenden Namen, es könnte direkt bei uns um die Ecke spielen.“16)
Angesichts solcher Unwägbarkeiten ist es verständlich und wahrscheinlich
auch seriöser, wenn die Mehrzahl der deutschen Beiträger sich auf Geschichte
und Politik des Landes konzentriert. Dies ist sowohl in vielen Überblicksartikeln
der Fall als auch fast durchgehend in den Rezensionen zur Prosa bei der
Prosa bieten sich Inhaltsangaben als Gelegenheit an, historische oder
landeskundliche Hintergründe zu schildern.
Angesichts der Schärfe der Konflikte, die in der Tat die koreanische
Geschichte und damit die Literatur bestimmten, eignet sich sogar eine sonst
häufig als eher weltabgewandt-subjektiv gelesene Gattung wie die Lyrik dazu,
sie als Widerspiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse aufzufassen. Dafür
können drei Darstellungsweisen dienen. Die erste besteht darin, die gemessen
an deutschen Verhältnissen große Popularität der Gattung mittels ihrer Funktion
zu erklären, daß sie eine nationale Identität konstituiere. Diese Version ist
relativ selten und trägt auch nur für eine Minderheit der Dichter, wie für Ko
Un oder Hwang Chi Woo, und überhaupt nicht etwa für Hwang Tong-gyu, auf
den sich ja auch Bräsel beruft.
Häufiger ist die zweite Version, die einem beliebten Darstellungsformat
und dem Wissensstand der Verfasser entspricht, nämlich der Sammelrezension.
Die Sammelrezension bietet keinen Raum dafür, auf ästhetische Eigenarten
der einzelnen Autoren oder gar einzelner Gedichte einzugehen, auch fehlen
zumeist Vergleichmöglichkeiten aus der koreanischen Literatur. Eine behelfsmäßige
literaturhistorische Reihung, die sich an den Daten der politischen Geschichte
orientiert, stellt eine mögliche Lösung dieser Probleme dar.17)
16) ds: Wo kein Tourist jemals hinkommt. In: Passauer Neue Presse, 21.10.2005.
17) Vgl. etwa Steffen Gnam: Wo der Nebel Schnee von gestern ist. In: Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 15.10.2005; Hoo Nam Seelmann: Geschichte, Brüche und
Gegenwart. Die koreanische Literatur im Prozess großer gesellschaftlicher Veränderungen.
Drittens besteht die Möglichkeit, über das Schicksal einzelner Autoren die
rettende Vermittlung zu bekannten Fakten herzustellen. Daß der eigentlich
unpolitische Modernist Yisang von den japanischen Kolonialherren inhaftiert
wurde und 1937 kurz nach seiner Freilassung starb, daß Ko Un und Kim
Chi-ha als Kämpfer gegen die Militärdiktatur in den 1970er Jahren
eingekerkert wurden, verweist auf die gesellschaftliche Repräsentanz der
Gattung.18)
Insgesamt ergeben sich drei Topoi zu Geschichte und Gesellschaft. Erstens
erscheint die Abfolge von Kolonialisierung, Krieg, Teilung und Kampf gegen
die Diktatur als grundlegend für das Werk der älteren Generationen. All das
läßt sich einem deutschen Publikum mühelos darstellen; ein Bezug zur
eigenen Geschichte wird vor allem über das Motiv der Teilung gesucht. Das
ist konsequent, denn Deutschland war nie kolonialisiert und kannte zwar
Kriege, aber keinen, in dem Bürgerkrieg und ausländische Intervention
zusammentrafen. In der NS-Diktatur waren anders als in Südkorea Ansätze
zu einer literarischen Gegenöffentlichkeit vollständig unterdrückt, so daß es
eine analoge Widerstandsliteratur nur im Exil und damit unter völlig anderen
Bedingungen gab.
Allerdings ist die Teilung zwar das Schicksal ganz weniger und sich
deshalb vielleicht nahestehender Nationen, doch ermöglicht sie nur bedingt
eine Parallelisierung zum Eigenen: Die Isolation zwischen Nord und Süd ist
seit mehr als einem halben Jahrhundert so konsequent durchgesetzt wie es
die zwischen Ost und West niemals war. So nimmt zwar eine ganze Reihe
In: Forum Kommune, Oktober / November 2005, S. 83-88; Fridolin Furger: Südkoreas
diffiziler Weg in die Moderne. In: Der Landbote, 18.10.2005; Ralph Umard: Literatur
der Wunden. In: tip 22/2005, S. 74-75.
18) Vgl. dazu die pointierte Bemerkung bei Katharina Borchardt: Blüten der Freiheit. In:
Die ZeitLiteratur, 13.10.2005, man könne „die Geschichte des modernen Korea und
seiner Literatur durchaus als eine Geschichte der Inhaftierung seiner Dichter schreiben“.
von Artikeln die nationale Teilung zum Ansatzpunkt,19) doch sind zu Recht
fast immer die Unterschiede betont.20)
Zweitens verweisen die Artikel auf die rasche Industrialisierung und damit
gesellschaftliche Modernisierung der letzten Jahrzehnte. Anschaulich werden die
Folgen in der modernen Stadt Seoul, die besonders in Reisereportagen als
beispielhaft technisiert, als hektisch erdrückend auftaucht.21) Im Bereich der
Literatur führt dies zum Zerfall tradierter Ordnungen und in jüngster Zeit zu
einem Individualismus, was westlichen Vorstellungen von einem „normalen“
Ablauf von Literaturgeschichte durchaus entspricht: Nach einer Phase ideologischer
Kämpfe im Vollzug der Industrialisierung geraten bei wachsendem Wohlstand
persönliche Probleme ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Gleichzeitig zerfallen
patriarchale Familienordnungen und gewinnt ein weiblicher Blick an Gewicht.22)
19) Vgl. etwa Tilman Spreckelsen: Asiaten schreiben vor. In: Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 22.7.2005; Anke Zimmer: Unter dem Eis. In: Fuldaer Zeitung, 15.10.2005;
Rainer Traub: Träume vom besseren Leben. In: Spiegel Special 6/2005, S. 26-32, hier
S. 26; Tilmann Eberhardt: Korea: geteiltes Land – geteilte Aufmerksamkeit. In: Literaturblatt
Sept./Okt. 2005, S. 5-7, hier S. 5; Monika Bent: Endstation 38. Breitengrad. In:
Märkische Allgemeine, Potsdam, 18.10.2005; dku: Gefangen in den Schmerzen eines
geteilten Landes. In: Kölnische Rundschau, 18.10.2005.
20) Vgl. etwa Rainer Traub: Träume vom besseren Leben. In: Spiegel Special 6/2005, S.
26-32, hier S. 26; Susanne Messmer: Gewagte Übertragungen. In: die tageszeitung,
17.10.2005; Tanya Lieske: Literatur aus einem geteilten Land. In: Handelsblatt,
14.10.2005; Michael Braun: Unterwegs im Land der Morgenstille. In: freitag, 21.10.2005;
Stefanie Wirsching: Korea, das unbekannte Land der Dichter, ist ab Mittwoch Gastland
der Frankfurter Buchmesse – eine Annäherung. In: Augsburger Allgemeine, 15.10.2005; o.
Autor: Kurz und knapp: Korea. In: Berliner Morgenpost, 16.10.2005.
21) Vgl. etwa Christof Siemes: Alles auf Zukunft. In: Die Zeit, 13.10.2005; Suki Kim: Die
Ahnen und das Wasser. Erinnerung an meine ferne Heimat – ein Besuch in Südkorea. In:
Neue Zürcher Zeitung, 15./16.0.2005; ohne den Aspekt des Bedrohlichen bei Andreas
Schäfer: Starbucks für die Ahnen. In: Berliner Zeitung, 15.10.2005; noch deutlicher als
Ausnahme die Schilderung von Seoul als entspannter Stadt ders.: Der vertikale
Lebensstil. In: Der Kleine Bund, 15.10.2005.
22) Vgl. etwa Andreas Schäfer: Starbucks für die Ahnen. In: Berliner Zeitung, 15.10.2005;
Christof Siemes: Alles auf Zukunft. In: Die Zeit, 13.10.2005; Steffen Gnam: Wo der
Dies ist im Groben zutreffend, auch wenn sich die koreanischen Autorinnen
angesichts fortbestehender Herrschaftsstrukturen in sehr unterschiedlichem Maß aufs
Private zurückgezogen haben. Die erfolgreiche Modernisierung jedenfalls
führte zu einer erfolgreichen Exportwirtschaft, die mittlerweile auf Produkten
der Hochtechnologie beruht. Von Korea kennt man, neben der Organisation
sportlicher Großereignisse wie der Olympiade 1988 und der Fußball-WM
2002, Fernseher von LG und Samsung sowie Autos von Hyundai, nicht aber
Dichter. Dieses Mißverhältnis wird zum dritten Topos der Artikel daß man
von Korea zwar Sport und vor allem Technik kenne, doch seine Bücher
nicht.23) Dies ist häufig damit verbunden, ein Ungleichgewicht bei der
gegenseitigen Rezeption von Literatur zu konstatieren: Koreanische Literatur
werde in Deutschland kaum, deutsche Literatur hingegen in Korea sehr viel
gelesen.24) Das führt zuweilen zu einer deutlichen Überschätzung der
Nebel Schnee von gestern ist. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.10.2005; Rainer
Traub: Träume vom besseren Leben. In: Spiegel Special 6/2005, S. 26-32, bes. S. 31f.;
Hoo Nam Seelmann: Geschichte, Brüche und Gegenwart. Die koreanische Literatur im
Prozess großer gesellschaftlicher Veränderungen. In: Forum Kommune, Oktober /
November 2005, S. 83-88, hier S. 87f.; Hans-Dieter Grünefeld: Vermutungen über das
Labyrinth. In: Der Standard, 8.10.2005; Thomas Hocke: Land der Morgenstille und der
Teilung. In: Wiesbadener Kurier, 15.10.2005. Eine gegenläufige, pessimistische
Konvergenztheorie findet sich bei Irmtraud Gutschke: Fremd? Mitnichten! In: Neues
Deutschland, 19.-23.10. 2005. Gutschke betont eingangs das auf den ersten Blick
Fremde Koreas, um dann im dortigen, vergleichsweise sozial weniger abgefederten
Kapitalismus ein mögliches bedrohliches Bild der eigenen Zukunft zu sehen. Das
Politische am Schreiben der Autorinnen ist betont bei Helga Picht: Stimmen aus Korea.
In: Emma, September / Oktober 2005, S. 92-94.
23) Vgl. etwa Susanne Messmer: Gewagte Übertragungen. In: die tageszeitung, 17.10.2005;
Gunter Blank: In weiter Ferne, so nah. In: Welt am Sonntag, 16.10.2005; Stefanie
Wirsching: Korea, das unbekannte Land der Dichter, ist ab Mittwoch Gastland der
Buchmesse – eine Annäherung. In: Augsburger Allgemeine, 15.10.2005; Sylvia Bräsel:
Zaghafter Sonnenschein. In: Falter (Wien), 42/2005; der Hinweis bei Frauke Meyer-
Gosau: Kalte Nüchternheit, stummes Entsetzen. In: Literaturen 9/2005, S. 33-35, hier S.
33, mit dem abweichenden Bezugspunkt, daß koreanische Literatur anders als das Kino
und die bildende Kunst des Landes in Deutschland unbekannt sei.
Bedeutung, die deutsche Literatur in Korea besitzt, kennzeichnet freilich ein
tatsächliches Ungleichgewicht.
Ähnlich fragwürdig ist die Überschätzung des Stellenwerts von den Literatur
in Korea überhaupt. Im Vergleich zu den stets wiederkehrenden Informationen
über Krieg, Teilung, Diktatur und Modernisierung handelt es sich um ein
nachrangiges Motiv; indessen erscheint es mehrfach an herausgehobener Stelle.
„Anders als in der europäischen Tradition besitzen viele koreanische Autoren
bis heute eine starke gesellschaftliche Autorität, was sich auf die politischen
Positionen der vormodernen konfuzianistischen Gelehrten zurückführen lässt“,
liest man in der Zeit noch relativ zurückhaltend,25) während es andernorts
heißt: „Schriftsteller/innen in Korea sind Halbgötter, Lyriker sind Götter“.26)
Das ist vielleicht ein klein wenig übertrieben und so liegt der Gedanke
nahe, daß angesichts von Klagen über den Bedeutungsverlust der Literatur in
Deutschland die vermutete Lage in Korea vor allem als Gegen- und
Wunschbild attraktiv ist. Daß die ernüchternde Realität kaum überprüft
werden kann, unterstützt diese Projektion.
Abgesehen von diesem Aspekt aber bewegt sich das deutsche Feuilleton in
Hinblick auf Geschichte und Gesellschaft Koreas auf einem recht sicheren
Gebiet. Über einzelne Einschätzungen ließe sich streiten, und kleinere Fehler
24) Vgl. etwa Nicole Bastian: Leben in einer Welt der Brüche. In: Handelsblatt, 14.10.2005;
Gunter Blank: In weiter Ferne, so nah. In: Welt am Sonntag, 16.10.2005; Barbara
Oetter: Die Teilung des Himmels. In: freitag, 21.10.2005; Sylvia Bräsel: Tradition und
Moderne in einem geteilten Land. In: Das Parlament, 17.10.2005.
25) Vgl. Katharina Borchardt: Blüten der Freiheit. In: Die ZeitLiteratur, 13.10.2005., S. 36;
ähnlich Dirk Godder: Im Land der Morgenstille. In: Münchner Merkur, 18.10.2005 und
ders. wortgleich: Aufbruch im Schatten der historischen Traumata. In: Nordkurier
(Neubrandenburg), 18.10.2005; seriös mit Zahlenangaben zum Bereich der Lyrik in
Korea auch das Interview mit Günther Butkus: Bücher-Boom im Land der Morgenstille.
In: baz, 17.10.2005.
26) Thomas Hocke: Land der Morgenstille und der Teilung. In: Wiesbadener Kurier,
15.10.2005.
im faktischen Detail waren angesichts der Ausgangslage kaum zu vermeiden;
doch gibt es dies Faktische als Haltepunkt und Kontrollinstanz, was bei
einem so hochideologisierten und vagen Feld wie „Kultur“ nicht der Fall ist.
. Vergleiche mit westlichen Autoren
Eine mögliche Methode der Vermittlung von Unbekanntem ist der
Vergleich mit Bekanntem oder doch zumindest Renommiertem aus der
eigenen Literaturgeschichte. Dies wird auch in den Beiträgen zur Buchmesse
zuweilen versucht, wobei sich herausstellt, daß die koreanische Literatur vor
allem über zwei Kafkas und einen Grass verfügt.
Mit Kafka wird zum einen, durchaus begründet, der 1959 geborene Lee
Sung-U verglichen, der in seiner Erzählung „Ein Tag“ sogar Kafkas „Ein
Landarzt“ zitiert.27) Problematischer ist die Lage bei Han Kang, die mit „Die
Früchte meiner Frau“ eine Erzählung vorgelegt hat, die die Verwandlung
einer emotional vernachlässigten Ehefrau in eine Pflanze zum Thema hat und
so eine stoffliche Parallele zu Kafkas „Verwandlung“ aufweist.28) Auch hier
machen die deutschen Literaturvermittler von der Vorgabe dankbaren
Gebrauch: dem Rezensenten des Spiegel29) fällt hier Kafka ebenso ein wie
27) Vgl. Ludger Lütkehaus: „Tragt das Schweigen an die Enden der Meere“. In: Neue
Zürcher Zeitung, 15./16.10.2005; Georg Bergmeier: Fünf Erzählungen aus dem modernen
Korea. In: Buchprofile 50 (2005), Heft 3; einige Zeit nach der Messe Bärbel Röben:
Kafkaeske Erzählungen aus Korea. In: eins 17 (2006), S. 39.
28) Die Vorversion der Übersetzung, die der Lesereise Han Kangs im Sommer 2005
zugrunde lag, trug sogar den Titel: „Die Verwandlung meiner Frau“. Erst nachdem Han
zu ihrem großen Ärger auf Lesungen mehrfach auf einen vermuteten intertextuellen
Bezug auf Kafka angesprochen wurde, änderte der Verlag den Titel zugunsten der dann
gedruckten Version, die der koreanischen Vorlage entspricht.
dem der Frankfurter Allgemeinen,30) und für einen Autor der Kieler
Nachrichten scheint mit diesem Text „Kafka in Korea anzukommen“.31)
Vorsichtiger sind indessen die Stuttgarter Nachrichten: „Was für uns purer
Kafka ist, ist für die Koreaner nicht nur ein Griff zur Moderne, sondern
auch ein Rückgriff auf Traditionen, von denen wir nichts wissen.“32)
Dies Eingeständnis eigener Wissenslücken wirkt bescheiden gemessen an
anderen Vergleichsorgien. Für Ludger Lütkehaus in der Neuen Zürcher
Zeitung ist Yi Munyols Roman „Der entstellte Held“ „eine Art von
‚koreanischem ‚Törleß’’“, Kim Hyon Seungs Lyrik spreche „mit Rimbaud“,
und Kim Kwang Kyu tritt als „eine Art koreanischer Heine“ auf.33) In Yi
Munyols „Befestigter Gesang“ findet er einen „braven Soldaten Schwejk“, in
„Die Gezeichnete“ von Park Wan Seo Brechts unwürdige Greisin und in Lee
Changdongs „Die Sympathie der Goldfische“ „ein koreanisches Kain-und-
Abel-Drama“. Kim Dongris Roman „Ulhwa, die Schamanin“ ende wie das
„Drama des Euripideischen Bakchen“. Der Wiener Standard fühlt sich bei
Oh Jung-hees Roman „Vögel“, in dem in der Tat ein Geschwisterpaar von
den Eltern verlassen wird, an Hänsel und Gretel erinnert.34) Allesamt sind
dies recht freie Assoziationen, die auf der Verwandtschaft einzelner Motive
beruhen.35)
Die Liste der Vergleiche ist damit noch lange nicht erschöpft: Von
29) Rainer Traub: Träume vom besseren Leben. In: Spiegel Special 6/2005, S. 26-32, hier
S. 32.
30) Steffen Gnam: Die Frau als Zimmerpflanze. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
25.11.2005.
31) Oliver Stenzel: Geteiltes Leid. In: Kieler Nachrichten, 18.10.2005.
32) Georg Patzer: Misthaufen, Grillenhinterbeine, eine Baumfrau und eine Reise. In:
Stuttgarter Nachrichten, 18.10.2005.
33) Ludger Lütkehaus: „Tragt das Schweigen an die Enden der Meere“. In: Neue Zürcher
Zeitung, 15./16.10.2005
34) Hans-Dieter Grünefeld: Vermutungen über das Labyrinth. In: Der Standard, 8.10.2005.
35) Ludger Lütkehaus: Krieg im Land der Morgenstille. In: Die ZeitLiteratur, 13.10.2005.
„Dostojewskischem Kasteiungsfeuer“ ist, glaubt man der FAZ, Kim
Seong-Dongs Roman „Mandala“,36) wohingegen Oh Jung-Hee, laut Literaturen,
„eine Art Bauhaus-Stil der Literatur“ praktiziert.37) Lee Hochol steht für Das
Parlament, weil er über die koreanische Teilung schreibt, sowohl Uwe
Johnson als auch Christa Wolf nahe,38) während in einem anderen Artikel
gleich mit dem Titel „Die Teilung des Himmels“ die ganze koreanische
Literatur in die Nähe der DDR-Autorin Christa Wolf gerückt wird.39)
Weitgehend Einigkeit besteht, daß es sich bei dem Erzähler Hwang
Sok-yong um einen koreanischen Günther Grass handele. Es ist dies wohl
der häufigste Vergleich, vielleicht auch deshalb, weil Hwang der meistrezipierte
koreanische Autor des Jahres 2005 ist.40) Es folgt dann einer politischen
Logik, wenn als Antipode des nach koreanischen Maßstäben Linksliberalen
Hwang der konservative Yi Munyol zu einer „Art Martin Walser Koreas“
wird.41) Das auch dann einem solchen Vergleich die Beliebigkeit droht, zeigt
sich allerdings darin, daß bei Lütkehaus Yi, bevor er Robert Musils „Törleß“
ein weiteres Mal schrieb, als „koreanischer Villon“ auftrat,42) Hwangs
36) Ingeborg Harms: Wanderungen eines Zen-Mönchs. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
26.8.2005.
37) Frauke Meyer-Gosau: Kalte Nüchternheit, stummes Entsetzen. In: Literaturen 9/2005, S.
33-35, hier S. 34.
38) Sylvia Bräsel: Tradition und Moderne in einem geteilten Land. In: Das Parlament,
17.10.2005.
39) Barbara Oetter: Die Teilung des Himmels. In: Freitag, 21.10.2005.
40) Vgl. etwa Tanya Lieske: Literatur aus einem geteilten Land. In: Handelsblatt,
14.10.2005; Gunter Blank: In weiter Ferne, so nah. In: Welt am Sonntag, 16.10.2005;
Stefanie Wirsching: Korea, das unbekannte Land der Dichter, ist ab Mittwoch Gastland
der Buchmesse – eine Annäherung. In: Augsburger Allgemeine, 15.10.2005; K.C.:
Heimatspaltung. In: profil extra, 17.10.2005; Lilo Plaschke: Traum vom Glück. In:
Thüringer Allgemeine, Erfurt, 21.10.2005.
41) Beide Vergleiche bei Susanne Messmer: Gewagte Übertragungen. In: die tageszeitung,
17.10.2005.
42) Ludger Lütkehaus: „Tragt das Schweigen an die Enden der Meere“. In: Neue Zürcher
Zeitung, 15./16.10.2005.
Erzählung „Ein Mensch wie du und ich“ das Neue Deutschland in ihrem
„aufklärerischen Pathos an Büchners Woyzeck denken lässt“43) und das
Schicksal eines nach langen Jahren aus dem Gefängnis Entlassenen in
Hwangs „Der ferne Garten“ eine Zeit-Rezensentin an Döblins Franz
Biberkopf erinnert.44) Angesichts von Hwangs „Die Geschichte des Herrn
Han“ falle es „dem westlichen Leser schwer, dabei nicht an Brechts
unnachahmliche Diktion zu denken, in der auch davon geschrieben wird, dass
die Güte wieder schwächlich war, die Bosheit an Kräften wieder einmal
zunahm“, so der freitag45)
Zwar können derartige Vergleiche im Idealfall dem Leser helfen, über eine
ihm unbekannte literarische Landschaft einen Überblick zu gewinnen und
genau jenes Buch zu finden, das ihm gefällt. Wenn aber ein Autor, wie
Hwang, gleichzeitig Grass und Döblin sowohl als Büchner und Brecht
entsprechen soll, so kann es um den Wert einen solchen Orientierung nicht
besonders gut stehen. Problem ist, daß sich die Vergleiche auf vier Ebenen
beziehen können: auf ästhetische Eigenschaften eines Werks, auf dessen
stoffliche Parallelen zu einem Werk der europäischen Literatur, auf allgemein
Atmosphärisches oder auf die politische Stellung eines Autors in seiner
Heimat. Leider ist nur vereinzelt angegeben, auf welche dieser Ebenen sich
der Vergleich stützt. Solche Vergleiche hängen am Detail, ohne doch das
Besondere des jeweiligen Schreibens erfassen zu können.
43) Irmtraud Gutschke: Fremd? Mitnichten! In: Neues Deutschland, Literaturbeilage, 19. bis
23.10.
44) Dorothea Dieckmann: Der gefrorene Fluss. In: Die ZeitLiteratur, 13.10.2005.
45) Mario Scalla: Der Garten des Glücks. In: freitag, 21.10.2005.
. Mechanismen von Lob und Ablehnung
In fast allen Beiträgen rettet die Inhaltsangabe vor einer Auseinandersetzung
mit dem literarischen Wert. Das ist jedenfalls höflich: Den Gästen aus der
Ferne wird nur in Ausnahmefällen ein unfreundliches Wort gesagt. Gleichzeitig
ist das Höfliche schädlich: Die Literaturkritik verfehlt ihre Orientierungsfunktion.
Wo überall verständnisvoll Inhalte nacherzählt werden, weiß der potentielle
Leser nicht, welches Buch er kaufen soll; und im schlimmsten Fall kauft er
ein für ihn langweiliges oder ein schlecht übersetztes Buch und beschließt
dann, es nie wieder mit Korea zu versuchen. Angesichts des zuweilen
ungenügenden Deutsch der Übersetzungen handelt es sich um ein Versagen
der Literaturkritik aufgrund von Wohlwollen.
Die übelste Form der Literaturkritik ist die Sammelrezension. In wenigen
Sätzen werden viele Bücher kurz vorgestellt; im Extremfall werden Inhalte
auf einen Satz reduziert. So finden sich im börsenblatt auf zwei Seiten die
Rubrik „Service Buchtipps“ mit Vorstellungen von neun Büchern, wobei die
mit etwa fünfzehn Zeilen ohnehin kurz ausgefallenen Texte zum Teil in im
Fettdruck hervorgehobenen Etiketten gipfeln wie „Gesellschaftskritischer,
einfühlsam geschriebener Familienroman“.46) Problematischer noch als in
einer Zeitschrift für Buchhändler ist die Sammelrezension in Tageszeitungen,
wo sie auf gänzlich unvorbereitete Leser trifft. So stellt etwa der General-
Anzeiger auf gut achtzig Zeilen koreanische Lyrik vor. Zu Jeong Jiyoung
heißt es dann etwa, nach knappen biographischen Informationen: „Bestimmend
46) Vgl. börsenblatt 6/2005, S. 252f.; die erste Seite ist Empfehlungen der Redaktion
reserviert, die zweite solchen von „Experten“ wie dem koreanischen Botschafter in
Deutschland oder einem „Fußballspieler bei der Eintracht Frankfurt“ (der sich mit einem
Kochbuch rettet). Das Zitat bezieht sich auf den Roman „Das Haus auf dem Weg“ von
Lee Hye-Kyoung und ist von der Redaktion zu verantworten.
für seine Lyrik sind Naturbilder, vor allem das Meer, das in vielen
Gedichten wiederkehrt, sowie sein katholischer Glaube.“ Ebenso oberflächlich
werden dann noch vier weitere Bände abgehandelt.47)
Die Zeitungen haben ihre Pflicht erfüllt und viele Bücher genannt; die
freien also unterbezahlten Mitarbeiter haben mit minimalem Zeitaufwand
Verlagsinformationen in Artikel verwandelt (in der Eile wird denn auch mal
ein Gedichtband zum Roman). Es liegt auf der Hand, daß solche Artikel
nutzlos sind. Beim Frühstück gelesen, sind sie dreißig Sekunden später auch
schon wieder vergessen. Aber selbst bei eingehenden Rezensionen überwiegt
die Wiedergabe eines landeskundlichen oder biographischen Hintergrunds und
fehlt meist die literarische Kritik.
Will man erfahren, welche Autoren in Deutschland Chancen haben, sind
deshalb die Rezensionen der beiden Sammelbände mit Erzählungen, die 2005
bei Suhrkamp und bei dtv erschienen, eine wertvolle Quelle. Hier können die
Rezensenten die eine Erzählung tadeln, weil sie die andere loben; und auch,
was erwähnt und was weggelassen wird, kann interessant sein.
Das Ergebnis vorweg: Es ist kaum im voraus berechenbar, was an
koreanischer Literatur in Deutschland gut ankommt. Relativ einfach ist dies
am von Friedhelm Bertulies herausgegebenen Suhrkamp-Band „Die Sympathie
der Goldfische“ zu belegen, der vier Kurzromane von zwischen 1931 und
1953 geborenen Autoren und Autorinnen vorstellt. Für die Süddeutsche
Zeitung ist Yi Munyols „Befestigter Gesang“ ein „brillantes Stück Literatur
von dem vielleicht bedeutendsten koreanischen Schriftsteller der Gegenwart“,
und die anderen drei Texte werden nicht einmal genannt.48) Eben diese
47) Adalbert Reif: Jenseits des Rausches. In: General-Anzeiger, 19.10.2005.
48) Ijoma Mangold: Das Manöver ist der Ernstfall. In: Süddeutsche Zeitung, 19.10.2005;
auch Jörg Drews und Rüdiger Suchsland heben diese Erzählung hervor. (Drews: Enter
Korea. In: buchjournal 3/2005, S. 76-79, hier S. 79; Suchsland: Mörder ohne Reue. In:
Münchner Merkur, 18.10.2005).
Erzählung aber gilt der taz als „ein konstruiertes Lehrstück“.49) Genausowenig
Einigkeit besteht über Choi In-Suks „Bruder!“ der Text ist aus Sicht der
Schaffhauser Nachrichten der beste des Bandes,50) die Zeitschrift Buchhändler
heute dagegen, die den Inhalt der anderen drei Erzählungen lediglich referiert,
lehnt ihn dagegen explizit ab.51) Während der freitag Pak Wan-Seos „Die
Gezeichnete“ hervorhebt52) und die Märkische Allgemeine überhaupt allein
diese Erzählung erwähnenswert findet,53) findet auch die Titelgeschichte von
Lee Changdong ihre Bewunderer: Das Neue Deutschland erwähnt allein
dieses Werk und lobt den Autor als „Multitalent“.54) Auch die Salzburger
Nachrichten beschränken sich auf Lees „Die Sympathie der Goldfische“ und
loben die Erzählung als „ein gelungenes Sprachereignis von heute“; in ihr
habe Lee „Weltstandard“ erreicht.55) Nennt man noch den Beitrag aus den
Stuttgarter Nachrichten, in dem wiederum ausschließlich diese Erzählung
vorgestellt ist,56) so hat man die meisten Rezensionen zu diesem Buch, in
denen deutliche Akzente gesetzt werden, genannt. In anderen Kritiken werden
lediglich die Handlungen und Themen referiert und ist weder explizit noch
mittels Gewichtung eine Wertung festzustellen.
49) Susanne Messmer: Ein Käsecroissant als Riss im Glück. In: die tageszeitung, 19.10.2005.
50) Robin Blank: Eine zerrissene Gesellschaft. In: Schaffhauser Nachrichten, 15.10.2005.
51) Heinz Müller: Enter Korea. In: Buchhändler heute 10/2005, S. 72-80, hier S. 76.
52) Barbara Oetter: Die Teilung des Himmels. In: freitag, 21.10.2005; auch bei Katrin
Hillgruber: Fixsterne am Nachthimmel. In: Der Tagesspiegel (Berlin), 16.10.2005 und
Ludker Lütkehaus: Krieg im Land der Morgenstille. In: Die ZeitLiteratur, 13.10.2005, S.
38f. – Der 2000 bei Middelhauve unter dem Titel „Der Brunnen meiner Seele“ publizierte
Band mit Erzählungen Chois findet nirgends mehr Erwähnung.
53) Marika Bent: Endstation 38. Breitengrad. In: Märkische Allgemeine, Potsdam, 18.10.2005.
54) Hans Eberhardt: Was ist das für ein Frühling? In: Neues Deutschland, Literaturbeilage,
19. bis 23. Oktober. 2005; die Passage ist wörtlich der Einführung Bertulies’ (S.7-22,
hier S. 16) entnommen.
55) Anton Thuswaldner: Koreanische Realitäten. In: Salzburger Nachrichten, 15.10.2005.
56) Georg Patzer: Misthaufen, Grillenhinterbeine, eine Baumfrau und eine Reise. In: Stuttgarter
Nachrichten, 18.10.2005.
Ein wenig komplexer stellt sich die Lage zu der von Sylvia Bräsel und
Lie Kwang-Sook bei dtv herausgegebenen Sammlung dar. Zum einen bringt
der Band nicht nur vier, sondern acht kürzere Erzählungen, so daß stets
einige davon nicht erwähnt werden; zum anderen tritt in vielen Fällen hier
die ästhetische Beurteilung, die für den Bertulies-Band wichtig war, zurück
und überwiegt ein stoffliches Interesse.
Das gilt vor allem für zwei Erzählungen, die relativ häufig zu den
Genannten gehören. Lee Hochol ist als Autor von „Panmunjom“ für das
deutsche Publikum kein Unbekannter; im Pendragon Verlag lagen bereits vor
der Messe seine Romane „Menschen aus dem Norden, Menschen aus dem
Süden“ (auf Deutsch 2002) und „Kleine Leute“ (auf Deutsch 2004) vor.
Beide gehören zu jenen Pendragon-Büchern, die in den Beiträgen zur
Buchmesse keine Rolle mehr spielten, weil sie zu lange vorher erschienen
waren. Das fehlende Interesse läßt sich auch damit erklären, daß beide
Bücher sehr einfach und traditionell realistisch erzählt sind und der Autor
sehr direkt seine Personen oder gleich den Erzähler aussprechen läßt, was er
seinen Lesern übermitteln will. Auch „Panmunjom“ hat diesen didaktischen
Zug, der deutschen Lesegewohnheiten fremd geworden ist. Wenn man sich
nun anschaut, in welchem Zusammenhang diese Erzählung in deutschen
Medien genannt ist, so fällt das stoffliche Moment auf. Der Titel bezeichnet
einen Übergang an der innerkoreanischen Grenze, und Thema ist in der Tat
die koreanische Teilung, die ihrerseits ein geeigneter Anknüpfungspunkt ist,
deutschen Lesern etwas ihnen Bekanntes aus Korea anzubieten. So meint die
Koblenzer Rhein-Zeitung, daß die Erzählung „die Themen des Bandes
gleichsam wie eine Klammer umschließt“ nämlich „wie Krieg, Teilung und
anhaltende Feindseligkeit den Alltag bestimmen“,57) während Der Standard
57) Rena Lehmann: Der koreanischen Seele nachgespürt. In: Rhein-Zeitung, Koblenz,
21.10.2005.
den Text der immerhin von 1961 und der bei weitem älteste des Bandes
ist exemplarisch auf die gegenwärtige Aufgabe der koreanischen Literatur
verweist, die darin bestehen soll, „durch Aufklärung einen Ariadnefaden für
den Ausweg aus dem Labyrinth politischer Konfrontation zu finden.58)
In keiner dieser Kritiken geht es um eine mögliche literarische Qualität
des Textes. Das gilt auch für die Rezeption von Gong Jiyoungs „Die Stimme
des Gewissens“. Die Erzählung ist für deutsche Leser schon deshalb leicht
zugänglich, weil sie in Deutschland spielt und zum Teil Deutsche die
handelnden Personen sind. „Durch die sich kreuzenden unterschiedlichen
Perspektiven, fremde Blicke, die auch die deutsche Geschichte streifen, bietet
der fiktive Text eine interessante Reibungsfläche zum Nachdenken über das
Beziehungsgeflecht von jüngster Geschichte und Gegenwart in Ost und
West“, resümiert der freitag die Erzählung, die als einzige der acht detailliert
vorgestellt ist, wobei mit der Multiperspektivität immerhin auch ein
gestalterisches Merkmal benannt wird.59)
Es gibt auch andere Einordnungen des Werks. Steffen Gnam, ein Rezensent
der Frankfurter Allgemeinen, der auf langjährige Erfahrungen mit koreanischer
Literatur zurückgreifen kann, versucht eine literaturgeschichtliche Verortung und
meint, daß Gong „die Fixiertheit auf private oder innerkoreanische Probleme und
Unterdrückungsmechanismen“ überwinde. Das bezeichnet richtig die Stellung der
Autorin gegenüber anderen ihrer Generation, wäre aber als Aussage über einen
Epochenbruch erst noch zu erweisen.60) Die einzige erwähnte Erzählung ist „Die
58) Hans-Dieter Grünefeld: Vermutungen über das Labyrinth. In: Der Standard, 8.10.2005.
Auch für Barbara Moravec ist die Erzählung, die sie in ihrer Kurzrezension als einzige
nennt, exemplarisch. Allerdings hebt sie das aus ihrer Sicht repräsentative Motiv des
Verschweigens und Verdrängens hervor, das auch Lehmann in ihrer Rezension anspricht.
Moravec: Alltagserzählung. In: Salzburger Nachrichten, 15.10.2005.
59) Barbara Oetter: Die Teilung des Himmels. In: freitag, 21.10.2005.
60) Steffen Gnam: Die Frau als Zimmerpflanze. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
25.11.2005.
Stimme des Gewissens“ auch in einer Kurzvorstellung der Berliner Morgenpost,
wobei hier allerdings die Differenz zwischen Westdeutschland und Südkorea
zentral ist: Südkorea habe sich erst langsam zu einer Demokratie entwickelt,
wofür hier das Massaker von Kwangju steht.61) Doch überwiegt in der durch
Interesse allein am Inhalt gekennzeichneten Rezeption dieser Erzählung der
Deutschland-Bezug.62)
Von den anderen sechs Erzählungen findet eine Su Jung-In: „Heimkehr“
überhaupt kein Interesse bei deutschen Kritikern, drei andere werden nur
vereinzelt erwähnt. Kang Sok Kyongs „Hinter Glas“, steht dabei für die
Anonymität des Lebens in modernen koreanischen Hochhaussiedlungen,63)
Kim Wonils „Unvergessen“ steht für „Wertkonflikte“64) und auch für eine
„realistische Schreibweise“, wie sie nach Meinung der Märkischen Allgemeinen
„für viele koreanische Gegenwartsautoren typisch“ sei65) ein Urteil, das so
sicher nur auf die ältere Generation koreanischer Autoren zutrifft, aber
durchaus ein Resultat der Auswahl an durch koreanische Institutionen geförderten
Übersetzungen sein kann. Auffällig ist, daß Hwang Sok-yongs „Ein Mensch
wie du und ich“ zwar zuweilen vorgestellt wird, aber bei weitem keine solch
prominente Position einnimmt, wie die Rezensenten Hwang als Autor der bei
dtv verlegten Romane „Die Geschichte des Herrn Han“ und „Der ferne
Garten“ einräumen.66) Diese beiden Romane, weil bei dtv erschienen, bekamen
61) o. Autor: Kurz und knapp: Korea. In: Berliner Morgenpost, 16.10.2005.
62) Hanns-Josef Ortheil: Taschenbücher der Woche. In: Die Welt, 15.10.2005; ähnlich bei
Katrin Hillgruber: Fixsterne am Nachthimmel. In: Der Tagesspiegel (Berlin), 16.10.2005
63) Etwa bei Irmtraud Gutschke: Fremd? Mitnichten! In: Neues Deutschland, Literaturbeilage,
19. bis 23.10; Besonderheit ist hier eine spezifisch ostdeutsche Rezeption, wenn
Gutschke hervorhebt, daß die Lebenslage der Protagonistin, als Hausfrau auf die
Heimkehr ihres berufstätigen Mannes zu warten, „hier zu Lande längst wieder normal“ sei.
64) Hans-Dieter Grünefeld: Vermutungen über das Labyrinth. In: Der Standard, 8.10.2005.
65) Marika Bent: Endstation 38. Breitengrad. In: Märkische Allgemeine, Potsdam, 18.10.2005.
66) Eine Ausnahme bei Rüdiger Suchsland: Mörder ohne Reue. In: Münchner Merkur,
18.10.2005, wo sich auch der Titel der Sammelrezension auf Hwangs Erzählung bezieht.
sehr viele Einzelrezensionen. Im Vergleich mit anderen Autoren relativiert
sich indessen die Position des Nobelpreisanwärters, wie es aus koreanischer
Sicht Hwang neben Ko Un ist.
Besonders interessant ist die Rezeption zweier jüngerer Autoren. Kim
Young-Ha wird in Reiseberichten immer wieder als wichtiger Autor erwähnt
als „der auffälligste Vertreter der Jungen“, ein „erklärte[r] Kosmopolit“67) oder
als „Zeitgenosse mit dunkel gerandeter Intellektuellenbrille, trockenem Witz
und unaufdringlichem Selbstbewusstsein“.68) Er erscheint als der virtuelle
koreanische Autor, von dem erwartet wird, was die 2005 bereits übersetzte
Literatur noch nicht einzulösen vermochte. Mit „Klingende Weihnachtsgrüße“
kommt Bräsel und Lie das Verdienst zu, eine damals ganz neue, in Korea
erst 2004 erschienene Erzählung aufgenommen und dem deutschen Publikum
zugänglich gemacht zu haben. Allerdings steht der Text, verglichen mit
denen von Lee Hochol und Gong Jiyoung, nicht im Vordergrund des
Interesses. Er wird zwar durchaus erwähnt: Die Monatszeitschrift Kommune
meint etwa, „ein neuer Ton der koreanischen Gegenwartsliteratur“ sei hier zu
spüren, „schrill, aggressiv fast bis zur Karikatur“,69) und die Thüringer Allgemeine
behauptet, daß die „Weihnachtsgrüße“ „das Geschick der geteilten Nation auf
unkonventionelle Weise focussieren“70) auch wenn die Teilung in der Erzählung
keinerlei Rolle spielt. Allein die Süddeutsche Zeitung benennt die literarischen
Qualitäten dieser „psychologische[n] Erzählung von hoher Raffinesse und
67) Tilman Spreckelsen: Asiaten schreiben vor. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
22.7.2005; daß Kim beabsichtigt, bisherige nationalkoreanisch definierte Themen und
Schreibweisen hinter sich zulassen, leitet auch den Beitrag von Hoo Nam Seelmann:
Geschichte, Brüche und Gegenwart. In: Forum Kommune, Oktober / November 2005, S.
83-88, ein.
68) Rainer Traub: Träume vom besseren Leben. In: Spiegel Special 6/2005, S. 26-32, hier
S. 32.
69) Siegfried Knittel: Vom Wandel der Familie. In: Kommune 5/2005, S. 89-90, hier S. 90.
70) Lilo Plaschke: Traum vom Glück. In: Thüringer Allgemeine, Erfurt, 21.10.2005.
sehr zeitgenössischem Charakter“ und verbindet den positiven Leseeindruck mit
dem Wunsch nach der Übersetzung eines Romans dieses Autors.71)
Hier eine deutet sich eine Differenz von Erwartung und Einlösung an, die
wenig später deutlich wurde, als Kims „Sterbehelfer“ unter dem Titel „Das
Gottesspiel“ 2006 als Taschenbuch im Heyne Verlag erschien.72) Die Verlagswahl
ermöglichte eine preiswerte Verbreitung des Romans als Taschenbuch, führte
aber dazu, daß er der Unterhaltungsliteratur zugerechnet und in den Feuilletons
wenig rezipiert wurde.73) Als Lieblingsautorin erwies sich im Bräsel/Lie-Band
denn auch mit Han Kang eine andere Schriftstellerin. Ihre Erzählung „Die
Früchte meiner Frau“ litt zwar, wie oben angeführt, unter dem Vergleich mit
Kafka, wurde jedoch insgesamt auch in ihrer Eigenart positiv gewürdigt. Die
Rede ist von einer „tief berührenden Erzählung“74) oder einer der „schönsten
Geschichten“75) der Anthologie. Mehrfach ist sie die einzige Erzählung, die
aus dem Band ausführlich vorgestellt ist76) und sie verleiht sogar einer
71) Ijoma Mangold: Das Manöver ist der Ernstfall. In: Süddeutsche Zeitung, 19.10.2005.
Auch Kims Erzählung hat einen Deutschland-Bezug, der aber anders als bei der
Rezeption Gong Jiyoungs Text kaum eine Rolle spielt. Bei Kim hat die Heldin einige
Jahre in Deutschland gelebt und dort, etwas klischeehaft, in der Liebe zu einem
Politiker der Grünen jenen Respekt im Sexualleben erfahren, der ihr zuvor in Korea
verweigert worden war. Weil sie nach ihrer Rückkehr nicht mehr so fügsam ist wie
zuvor, wird sie ermordet. Nur Mangold erwähnt dieses Motiv.
72) Der Verlag lehnte die vorliegende Übersetzung aus dem Koreanischen, die Grundlage
des Auszugs in der Autorenbroschüre zu Kim war, ab, und ließ die englische Fassung
ins Deutsche übertragen. Abgesehen von der grundsätzlichen Problematik eines solchen
sprachlichen Umwegs erweist sich beim Vergleich der beiden Fassungen, daß die neue
Version neben etlichen einleuchtenderen oder zumindest glatteren Wendungen auch
manche stilistischen Verschlechterungen bringt.
73) Als Ausnahme vgl. aber die – negative – Rezension von Kai Wiegandt: Lebensmüde Kunst.
In: Süddeutsche Zeitung, 9.1.2007.
74) Irmtraud Gutschke: Fremd? Mitnichten! In: Neues Deutschland, Literaturbeilage, 19. bis
23.10.
75) Susanne Messmer: Gewagte Übertragungen. In: die tageszeitung, 17.10.2005; ähnlich
Katrin Hillgruber: Fixsterne am Nachthimmel. In: Der Tagesspiegel (Berlin), 16.10.2005.
76) So bei Messmer, ebd.; Georg Patzer: Misthaufen, Grillenhinterbeine, eine Baumfrau und
Rezension den Titel.77)
Erscheint auch gerade in dieser Kritik Han als Repräsentantin einer
„moderne[n] Frauenliteratur“, so erscheint sie sonst doch weder im
feministischen Kontext der Emma wo Helga Picht koreanische Autorinnen
ausführlich vorgestellt hat noch, wie Jo Kyung Ran, im Zusammenhang
weiblicher Luxuswünsche in der Modezeitschrift Vogue. Dies weist darauf
hin, daß die positive Rezeption ernsthafter Literatur sich in nur sehr
beschränktem Maße strategisch planen läßt.
Man kann das Ergebnis verallgemeinern. Zur Buchmesse lagen zwei
Sammlungen vor, die jeweils sehr unterschiedliche Texte vorstellten. Beide
wurden, da bei renommierten Verlagen erschienen, mehrfach besprochen.
„Die Sympathie der Goldfische“ enthielt keinen Text, der sich unmittelbar zu
landeskundlichen Zwecken für die Vorstellung Koreas instrumentalisieren
ließ entsprechend verteilten sich die Sympathien der Rezensenten auf die vier
Erzählungen. Der dtv-Band bringt einerseits stofflich bestimmte Hervorhebungen
(die Texte von Lee Hochol und Gong Jiyoung, wobei dem ersteren ästhetisch
kaum eine nennenswerte Wirkung vorherzusagen ist und die zweite womöglich
literarisch besser ist als es das spezifisch deutsche Interesse zu Papier bringt).
Andererseits setzte sich in manchen Artikeln eine ästhetisch motivierte Lesart
sich gegen das landeskundliche Interesse durch. Schon einen solch kurzfristigen
Erfolg kann man also kaum steuern umso weniger die langfristige Wirkung
von Texten.
eine Reise. In: Stuttgarter Nachrichten, 18.10.2005; Oliver Stenzel: Geteiltes Leid. In:
Kieler Nachrichten, 18.10.2005; Rainer Traub: Träume vom besseren Leben. In: Spiegel
Special 6/2005, S. 26-32, hier S. 32 – und S. 29 mit Photo, dessen Bildunterschrift Han
Kang – neben Eun Heekyung und Kim Young-Ha – als „Jungstar“ vorstellt.
77) Steffen Gnam: Die Frau als Zimmerpflanze. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
25.11.2005.
. Favoriten der deutschen Literaturkritik
Mit Lob einerseits und Ablehnung andererseits habe ich ein Zweierschema
benutzt, das in der Literaturkritik eigentlich nicht ganz stimmt. Es gibt
nämlich etwas, was für Autoren noch viel schlimmer ist als eine negative
Kritik: nämlich gar keine Kritik. Statt übersetzten Autor nach dem anderen
zu betrachten, unter dem Gesichtspunkt, wer wie häufig erwähnt wird, gebe
ich nur die Ergebnisse. Wichtig ist
erstens der Verlag. Was bei dtv oder Suhrkamp erschien, wurde deutlich
häufiger besprochen als die Bücher der damals für koreanische Literatur
etablierten Kleinverlage Pendragon und Edition Peperkorn; und noch
seltener das, was in anderen Kleinverlagen erschien;
zweitens die Gattung: Prosa wird zwar nicht häufiger besprochen als
Lyrik, doch wird letztere meist in Sammelrezensionen verbannt und nur
kurz abgehandelt;
drittens das Erscheinungsdatum: was vor 2004 erschien, spielte auch für
Überblicksdarstellungen nur noch selten eine Rolle;
viertens das Alter der Autoren. Für die deutsche Literaturkritik schlagen
die Jungen die Alten, und von den Jungen erwartet man sich eine
weniger belehrende und auch formal avanciertere Literatur;
fünftens das Geschlecht. Autorinnen stoßen insgesamt auf größeres Interesse,
was sich am medialen Erfolg von Jo Kyung Ran und Eun Heekyung
ablesen läßt.
Das sind fünf Regeln; eine sechste, für die Älteren, könnte lauten, daß
eine klare politische Positionierung hilft. Hwang Sok-yong ist links, Yi
Munyol rechts das hilft den Deutschen bei der Gliederung von historischen
Überblicken, die auf einer halben Zeitungsseite wenig Raum für Differenzierung
lassen. Sechs Regeln, die sich auf ganz unterschiedliche Dimensionen
beziehen (nämlich Markt, Literatur, Autorposition), erleichtern die Planung
von Erfolgen nicht gerade.
Dazu kommt: Hilfreich ist ein Alleinstellungsmerkmal. Es sei dahingestellt,
wie viele Leser Park Kyongnis Romanzyklus „Toji“ in Deutschland finden
wird. Weil er aber auf Deutsch der einzige seiner Art ist, zieht er Aufmerksamkeit
auf sich. Yisang ist der älteste der übersetzten Autoren, Lyriker, Mann, politisch
nicht eindeutig zuzuordnen und bei einem nicht auf Korea spezialisierten
Kleinverlag erschienen. Dennoch fand er Beachtung, als der einzige aktuell
publizierte Autor der Kolonialzeit und als Dichter einer Lyrik, die sich von
aller späteren deutlich unterscheidet.
Aus all dem ergeben sich zwar klare Wünsche an die deutsche Seite:
wenige Bücher eingehend zu besprechen statt viele kurz zu erwähnen und
diese wenigen einer begründeten ästhetischen Kritik zu unterwerfen. Weniger
eindeutig sind die Schlußfolgerungen, die die koreanische Literaturpolitik
ziehen kann: Zu vielfältig sind die Gründe für einen möglichen Erfolg oder
Mißerfolg im deutschsprachigen Raum, als daß man anhand der Ergebnisse
das ideale Buch, das unbedingt übersetzt werden muß, finden könnte. So
kann es von dieser Seite nur darum gehen, einen literarisch wertvollen Text
vorzustellen, der dann hoffentlich auf einen aufmerksamen Leser trifft.
Koreanische Literatur und deutsche Literaturkritik 153
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154 Kai Köhler
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Hoo '1mn Seelrrumn: Einiilnmg ins Geschehen Die Dinge sind in um, und
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Rlliner Traub: Träume VOTl besseren Leben. In: S]Jiegel Special 612005, S. 26-J2.
Yi vJunyol: Xeii der TTeümw:!lll11.gen Die koreanische riteratur des 20
jahrhunderts hat viele HeimsuchW'lgen erlebt. h,: Neue Zürcher
Zeiumg, 15./lG.O.2COJ.
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Schlüsselbegriffe: Koreanische Literatur, Frankfurter Buchmesse,
Kulturelle Differenzen, Deutsche Literaturkritik
E-Mail: [email protected]
: 2009. 9. 15, : 2009. 10. 15, : 2009. 10. 30.