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Kümpers / Heusinger (Hrsg.)€¦ · Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an ... Armut ebenso erhöht haben

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Kümpers / Heusinger (Hrsg.)Autonomie trotz Armut und Pfl egebedarf?

Verlag Hans HuberProgrammbereich Gesundheit

Wissenschaftlicher Beirat:Felix Gutzwiller, ZürichManfred Haubrock, OsnabrückKlaus Hurrelmann, BerlinPetra Kolip, BielefeldDoris Schaeffer, Bielefeld

© 2012 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Kümpers / Heusinger, Autonomie trotz Armut und Pflegebedarf?, 1. Auflage.

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Susanne KümpersJosefi ne HeusingerHerausgeberinnen

Autonomie trotz Armut und Pfl egebedarf?Altern unter Bedingungen von Marginalisierung

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Lektorat: Dr. Klaus Reinhardt Bearbeitung und Druckvorstufe: Anja Feldhorst, BerlinHerstellung: Shatuna SellaiahUmschlaggestaltung: Claude Borer, BaselDruck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany

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1. Aufl age 2012© 2012 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern(E-Book-ISBN 978-3-456-95116-4)ISBN 978-3-456-85116-7

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Inhalt

Einleitung: Autonomie trotz Armut und Pflegebedarf? ..................................... 7 Susanne Kümpers und Josefine Heusinger

Das „Neighbourhood“-Projekt: Analysen und Ergebnisse

Der Autonomiebegriff im Kontext von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit und sozialer Benachteiligung ........................................................................... 21 Susanne Kümpers und Michael Zander

Selbstbestimmung bei Pflegebedarf im Alter – wie geht das? Kommunale Handlungsspielräume zur Versorgungsgestaltung ....................... 39 Katrin Falk

„Wenn ick wat nich will, will ick nich!“ Milieuspezifische Ressourcen und Restriktionen für einen selbstbestimmten Alltag trotz Pflegebedarf ......... 77 Josefine Heusinger

Frau und Mann bewältigen anders: Geschlechterunterschiede im Coping bei Pflegebedürftigkeit ................................................................. 107 Clara Wenger-Haargassner

Sozialraum und Nachbarschaft: Barrieren, Potenziale, Perspektiven

Rahmenbedingungen quartiersbezogener Strategien für ein Leben im „pflegebedürftigen Alter“ ......................................................................... 123 Thomas Klie

Alt, arm, krank und allein? – Wie unterstützende Strukturen in Nachbarschaften entstehen ............................................................................. 135 Antje Richter-Kornweitz

Ein großartiger Ort zum Altwerden: Manchester auf dem Weg zur altersfreundlichen Stadt .................................................................................. 149 Paul McGarry und Jane Morris

Lebenswerte Lebenswelten in einer Geografie des Alterns. Partizipation, Mobilität und Autonomie in ländlichen Räumen der Steiermark ................... 165

Karin Reis-Klingspiegl

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Alter, Pflegebedarf und Migration

Partizipationschancen in städtischen Lebenswelten im Kontext von Altern und Migration ............................................................ 185 Christoph Reinprecht

Angebote für pflegebedürftige alte MigrantInnen zwischen Gleichmacherei, Professionalität und Nischendasein..................................... 203 Ein Werkstatt-Interview mit Meggi Khan-Zvorni anin

Perspektiven für Politik, Wissenschaft und Praxis

Behinderung und Hilfebedarf im erwachsenen und hohen Alter: ähnliche Problemlagen – andere Lösungen? .................................................. 221 Michael Zander

Regionale Disparitäten in der gesundheitlichen Versorgung: Handlungsfelder und Reformbedarf ............................................................... 233 Bettina Baumgardt und Hartmut Reiners

Autonomie und Teilhabe: Eckpunkte emanzipatorischer Altersforschung .............................................................................................. 249 Stefanie Graefe

Die Autorinnen und Autoren .................................................................................. 261

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Einleitung: Autonomie trotz Armut und Pflegebedarf?

Susanne Kümpers und Josefine Heusinger

Hilfe- und Pflegebedürftigkeit einerseits, soziale Benachteiligung und Armut ande-rerseits gehören zu den negativen und angstbesetzten Bildern des Alters; mit ihnen werden unmittelbar Einschränkungen für die Selbstbestimmung assoziiert. Aktuelle demografische, sozioökonomische und sozialpolitische Entwicklungen haben dazu geführt, dass sich die Zahl der Pflegebedürftigen und die Zahl älterer Menschen in Armut ebenso erhöht haben wie die Zahl derjenigen, die mit beiden Herausforde-rungen konfrontiert sind. Ein Ende dieser Entwicklung ist derzeit nicht abzusehen. Vor diesem Hintergrund gewinnen bedrohliche Szenarien von kommenden, unbe-zahlbaren Pflegelasten und sinkenden Renten in der politischen Debatte an Gewicht. Diese werden durch politische Entscheidungsträger instrumentalisiert, um Leis-tungskürzungen durchzusetzen und fortgesetzt gesellschaftlich verursachte soziale Risiken auf die Einzelnen abzuwälzen. Im Alter arm zu sein bedeutet, nur wenige Ressourcen zur Kompensation möglicher Gebrechlichkeit und damit weniger Spiel-räume für selbstbestimmte Entscheidungen zu haben. Gleichzeitig ist das Recht auf Selbstbestimmung bzw. Autonomie in Deutschland allgemein akzeptiert und schließt die Forderung nach Würde und Entscheidungsmächtigkeit im Alter und auch bei Pflegebedürftigkeit ein. Damit stellt sich die Frage, was in der Politik, der Versorgungsinfrastruktur und bei den alten pflegebedürftigen Menschen und ihren Familien geschieht, um diesen Forderungen Rechnung zu tragen.

Auf Bundesebene wurden im SGB XI (Soziale Pflegeversicherung) individuelle Rechtsansprüche verankert, die – ggf. in Verbindung mit Grundsicherung und Hilfe zur Pflege (SGB XII) – das Armutsrisiko im Alter eindämmen und die Versorgung bei Pflegebedürftigkeit sichern sollen. Die Pflegeversicherung soll älteren Menschen ermöglichen „(…) trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbstständiges und selbst-bestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht“ (SGB XI, § 2). Inwieweit mit diesem Gesetz die dafür nötigen Voraussetzungen geschaffen sind, ist gesellschaftlich und in der Fachwelt umstritten. Zuständig für die Umset-zung sind die AkteurInnen der kommunalen und freigemeinnützigen Altenhilfe und der Pflegedienste in den Kommunen und Wohnquartieren, in denen die alten Men-schen leben. Sie alle sind gesetzlich, fachlich und oft auch ihren Selbstverpflichtun-gen in Leitbildern zufolge gehalten, alten, pflegebedürftigen Menschen ein selbstbe-stimmtes Leben in Würde zu ermöglichen, unabhängig davon, über wie viele und welche Ressourcen die Betroffenen selbst verfügen. Sie tragen deshalb nicht nur aus der Perspektive ihrer jeweiligen Zuständigkeiten und unter lokal unterschiedlichen Bedingungen zur Versorgung bei, sondern ermöglichen zugleich mehr oder weniger

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Selbstbestimmung. Die lokalen Bedingungen, also die physische und soziale Umge-bung sowie die alltagsrelevante Infrastruktur, werden im Alter und noch einmal verstärkt bei Gebrechlichkeit besonders wichtig, weil sich der Alltag zunehmend auf die Wohnung und ihre unmittelbare Umgebung konzentriert. Politisch gilt es des-halb, auf lokaler Ebene Chancen für ein selbstbestimmtes Altern so zu gestalten, dass diese auch für Alte mit geringen individuellen Ressourcen zugänglich und nutzbar sind, während auf Länder- bzw. Bundesebene Bedingungen dafür zu schaf-fen sind, die das überhaupt ermöglichen.

Bisher gibt es wenig Forschung und kaum Erkenntnisse darüber, wie sich Situati-onen von Armut und Hilfe- und Pflegebedürftigkeit auf die selbstbestimmte Lebens-gestaltung derjenigen auswirkt, die von beidem betroffen sind, und wodurch im Detail Selbstbestimmung für diese Gruppen in ihren Lebenswelten, besonders den Wohnquartieren, ermöglicht bzw. behindert wird. Deshalb haben wir1 uns im For-schungsprojekt „Neighbourhood“2 in den Jahren 2008 bis 2011 mit der Frage be-schäftigt, wie sozialräumliche Ressourcen und milieu- und genderspezifische indivi-duelle Ressourcen in Wechselwirkung miteinander zur Autonomie sozial benachtei-ligter und pflegebedürftiger Älterer beitragen – bzw. wie und wodurch diese bedroht ist3.

Mit dem Projekt „Neighbourhood“ knüpfen wir an empirische Befunde zu Fragen der Armut im Alter, der sozial bedingten gesundheitlichen Ungleichheit im Alter, der Rahmenbedingungen der Pflegeversicherung, der Bedeutung von Nachbarschaft und Wohnquartier sowie zur Vernetzung der Akteure und Akteurinnen kommunaler Alterspolitik, der Altenhilfe und der Pflege an.

Armut im Alter

Altersarmut erreicht als aktuelles sozialpolitisches Problem erst langsam wieder öffentliche Aufmerksamkeit. Sie wurde bisher, wenn überhaupt, wesentlich im Zu-sammenhang mit der umstrittenen Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre und den damit verbundenen sozialpolitischen Effekten (kritisch hierzu Ebert, Kistler, 2007) diskutiert. Dabei zeichnet sich schon heute für viele künftige RuheständlerIn-nen eine Rente auf oder unter dem Grundsicherungsniveau ab: Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) wird weniger als die Hälfte

1 Unser Team bestand aus WissenschaftlerInnen der Forschungsgruppe Public Health des Wissen-

schaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) und des Instituts für Gerontologische For-schung (IGF). Im Projektteam arbeiteten WissenschaftlerInnen aus den Gesundheits- und Poli-tikwissenschaften, der Soziologie, Psychologie und der Pflegepädagogik zusammen.

2 „Neighbourhood“ wurde als Teil des Forschungsverbunds „Autonomie trotz Multimorbidität im Alter“ (AMA) (http://www.ama-consortium.de) vom Bundesministerium für Bildung und For-schung (BMBF) im Rahmen der Gesundheitsforschung 2008-2011 unter den Förderkennzeichen 01ET0705 und 01ET0706 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den AutorInnen.

3 An dieser Stelle sei all den Menschen herzlich gedankt, die uns auf unsere Fragen geduldig Rede und Antwort gestanden und mit ihrer Interviewbereitschaft das Projekt und diese Publikation erst möglich gemacht haben.

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der westdeutschen Frauen der Geburtskohorten ab ca. 1965 eine Rente über der Grundsicherung beziehen. Insbesondere in Ostdeutschland, wo die Altersrente ganz wesentlich die Alterseinkünfte bestimmt, wird für viele Menschen in den genannten Kohorten eine Durchschnittsrente unter dem Niveau der Grundsicherung erwartet (Geyer, Steiner, 2010). Laut dem Statistischen Bundesamt (2011) erhöhte sich die Zahl der GrundsicherungsempfängerInnen in den letzten Jahren bereits deutlich. Prognosen auf Basis des Sozioökonomischen Panels (SOEP) gehen bei Berücksich-tigung aller Einkommensarten davon aus, dass im Jahr 2023 16,3 % der dann 65- bis 70-Jährigen in Armut leben werden (vgl. Kumpmann et al., 2010). Dabei sind ver-schiedene gesellschaftliche Gruppen unterschiedlich von Altersarmut betroffen: Frauen stärker als Männer, Ältere mit Migrationshintergrund stärker als ältere Deut-sche (Razum et al., 2008).

Die Folgen von Armut im Alter lassen sich schon heute analysieren, denn es gibt sie – in wachsendem Ausmaß und regional unterschiedlich konzentriert – bereits jetzt. Menschen, die im Alter arm sind, blicken meist auf ein Leben mit geringen finanziellen Spielräumen zurück – einhergehend mit einem höheren Risiko für Krankheiten, Behinderungen, mit geringerer Lebenserwartung sowie mit (drohen-der) sozialer Exklusion. Bei Pflegebedürftigkeit stellt sich die Frage nach Inklusion, verstanden als Zugang zu gesellschaftlichen Aktivitäten und Ressourcen (vgl. Kronauer, 2002; Läpple, Walter, 2007), noch einmal verschärft, denn pflegebedürf-tige Menschen können per definitionem ihren Alltag nicht mehr selbstständig bewäl-tigen. Zur Verwirklichung ihres Anspruchs auf eine selbstbestimmte Alltagsgestal-tung und soziale Teilhabe sind sie auf eine ihren Wünschen und Bedarfen angepass-te Unterstützung angewiesen.

Alter, Ungleichheit und Krankheit – Morbidität, Mortalität, Funktionsverluste

Armut vermindert die Chancen auf eine gute Gesundheit. Signifikante Zusammen-hänge zwischen ungünstigem sozioökonomischem Status (SES) und schlechterer Gesundheit bis ins hohe Alter sind sowohl im Zusammenhang mit je aktuellen Le-bensbedingungen im Alter als auch mit den akkumulierten, sozioökonomisch be-dingten Belastungen im Verlauf eines Lebens (life course approach, vgl. Ben-Shlomo, 2007) belegt (vgl. etwa Breeze, 2007; Nicholson et al., 2005). International wurden Assoziationen zwischen Morbiditätsaspekten (z. B. Häufigkeit von Hüft-frakturen, subjektive Gesundheit, Anzahl chronischer Krankheiten, Funktionsver-lust) und sozioökonomischen Indikatoren (wie durchschnittlichem Einkommen im Wohnbezirk, Einkommen, Bildungsstatus, besonders aber auch Vermögen und Hausbesitz als Indikatoren für kumulierte sozioökonomische Lebenslaufeffekte) gezeigt (z. B. Avlund et al., 2004; Bacon, Wilbur, 2000; Berkman, Gurland, 1998). Für Deutschland haben Lampert et al. (2007) Zusammenhänge zwischen Einkom-mensverhältnissen und Gesundheitsergebnissen aus Daten des Sozioökonomischen Panels belegt: Männer mit 0–60 % des durchschnittlichen Einkommens haben ge-genüber der höchsten Einkommensgruppe, mit über 150 % des durchschnittlichen

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Einkommens, eine um 10,8 Jahre reduzierte Lebenserwartung; hinsichtlich der ge-sunden Lebenserwartung, also der Jahre, die ohne größere Einschränkungen erlebt werden, ist der Unterschied noch größer (14,3 Jahre). Auch bei Frauen bestehen signifikante Unterschiede zwischen den Einkommensgruppen, allerdings geringer als bei den Männern (eine um 9,2 Jahre reduzierte gesunde Lebenserwartung der niedrigsten Einkommensgruppe im Vergleich zur höchsten).

Zusätzlich zu den vertikalen Unterschieden (SES) tragen also horizontale Dimen-sionen wie Gender (Babitsch, 2005) und Ethnizität (Razum et al., 2008) zu günsti-gen oder ungünstigen Lebenslagen und damit zu Gesundheitseffekten bei: Gesund-heitliche Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zeigt sich in einer geringeren Lebenserwartung der Männer, wohingegen Frauen im Alter kränker sind. Sie leiden häufiger an multiplen chronischen Krankheiten, Funktionseinschränkungen und Hilfebedürftigkeit; auch psychische Störungen werden bei ihnen häufiger festgestellt (Saß et al., 2009). Schließlich verfügen Frauen und Männer über unterschiedliche geschlechtsspezifische Kompetenzen, mit denen sie jeweils Hilfe und Pflege bei chronischer Krankheit und Pflegebedürftigkeit organisieren (Heinemann-Knoch et al., 2006). Die soziale und gesundheitliche Situation älterer MigrantInnen unter-scheidet sich erheblich von der Situation älterer Deutscher. Razum et al. (2008) fanden neben einem deutlich erhöhten Armutsrisiko im Vergleich zur deutschen älteren Bevölkerung etwa negativere Befunde für Lebenszufriedenheit, subjektive Gesundheit und das Vorkommen altersbedingter Krankheiten.

Die Lebenslage beeinflusst nicht nur die Morbidität, sondern auch deren Auswir-kungen: In der finnischen Evergreen-Studie wurden bei sozioökonomisch (Einkom-men, Ausbildung) benachteiligten 75-Jährigen selbst bei gleicher Anzahl chroni-scher Krankheiten und gleichem gesundheitsrelevantem Verhalten (Rauchen, Bewe-gung) stärkere Einschränkungen der funktionellen Kapazität gefunden als bei den sozioökonomisch Bessergestellten (Rautio et al., 2005; Rautio et al., 2001); Borchert und Rothgang (2008) belegen für deutsche ältere Männer einen deutlichen Einfluss der beruflichen Position auf den Zeitpunkt des Eintritts von Pflegebedürftigkeit.

In den letzten Jahren ist zunehmend und in sehr unterschiedlichen Bereichen zu Einflüssen geforscht worden, die die Effekte des SES auf die Gesundheit älterer Menschen moderieren. Die Vorstellung, gesundheitliche Ungleichheit lasse sich im Wesentlichen auf Unterschiede im Gesundheitsverhalten zurückführen, ist häufig diskutiert und zurückgewiesen worden (z. B. Berkman, Gurland, 1998). Selbstre-dend hat das Gesundheitsverhalten einen relevanten Einfluss auf Gesundheit. Aller-dings besteht auch unabhängig vom Gesundheitsverhalten ein hoher statistischer Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Bedingungen und gesundheitlichen Ergebnissen (Richter, Mielck, 2000). Und: gesundheitliches Verhalten ist auch als Ausdruck der sozioökonomischen Lage zu verstehen (Abel et al., 2009). Weiterhin konnten etwa individuelles Soziales Kapital (Kroll, Lampert, 2007), ziviles Enga-gement (unter der Voraussetzung der zielgruppenspezifischen Unterstützung) (Fried et al., 2004) sowie soziale und physikalische Eigenschaften von Wohnquartieren (Day, 2008), z. B. die Existenz von attraktiven Grünflächen im Nahraum (Maas et al., 2006) oder die Qualität sozialer Netzwerke, als wirksame moderierende Faktoren identifiziert werden (Walker, Hiller, 2007).

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Ebenso hat sich erwiesen, dass die These der umgekehrten Kausalität (Gesundheit bzw. Krankheit beeinflusst die sozioökonomische Lage) nur einen geringen Teil gesundheitlicher Ungleichheit erklärt (z. B. Mackenbach et al., 2002). Dies gilt al-lerdings nur so lange, wie wohlfahrtsstaatliche Leistungen die Auswirkungen von Krankheit umfassend kompensieren. Mit erhöhten Eigenbeteiligungen an Krank-heitskosten steigt das krankheitsbedingte Armutsrisiko (Bartmann, 2008). Dies gilt natürlich umso mehr für Pflegebedürftigkeit – sowohl wegen der Chronizität der Unterstützungsbedarfe als auch wegen dem Teilkaskocharakter der Pflegeversiche-rung.

Pflegeversicherung und Ungleichheit

Die Leistungen der Pflegeversicherung gemäß dem Elften Buch des Sozialgesetz-buchs (SGB XI) stehen Menschen mit einem erheblichen Pflegebedarf unabhängig von Einkommen und Vermögen zu. Die Leistungsbemessung in den drei Pflegestu-fen ist allerdings nicht auf Bedarfsdeckung ausgelegt. Seit ihrer Einführung im Jahr 1996 war die Pflegeversicherung als Unterstützung für familiäre Pflege konzipiert („Teilkasko“) und sollte diese nicht durch wohlfahrtsstaatliche Leistungen ersetzen. Pflegebedürftigkeit in Deutschland schließt deshalb prinzipiell den Rückgriff auf das eigene bzw. das Familieneinkommen und –vermögen ein. Erst wenn dieses aufge-zehrt ist oder Selbstbehalte unterschritten werden, tritt die Sozialhilfe mit Hilfe zur Pflege nach dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB XII; ehemals Bundes-sozialhilfegesetz) ein, um Lücken zwischen dem Pflegebedarf und den Leistungen der Pflegeversicherung zu schließen – dies aber in Abhängigkeit von der finanziellen Situation der Antragstellenden und deren Verwandten in gerader Linie. Diese Um-stände führen dazu, dass es Ältere mit einem Einkommen unter oder geringfügig über der Armutsgrenze schwer haben, die erforderliche Versorgung zu bekommen. Pflegebedürftigkeit bringt ein eigenständiges Armutsrisiko mit sich; finanzschwä-chere Ältere werden bei Pflegebedürftigkeit abhängig von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen bzw. abhängig von der finanziellen Unterstützung durch ihre Angehöri-gen.

Die mit der Pflegeversicherung eingeführte „Taylorisierung“ der Pflegetätigkeit durch Zerlegung in minutenweise abzurechnende Verrichtungen und ein fragmen-tiertes Leistungssystem erschweren für die beteiligten Akteure und Akteurinnen die Perspektive auf umfassende Versorgungsverläufe und solche Bedarfe, die in den Leistungskatalogen nicht repräsentiert sind. Die Diskussion über einen veränderten Pflegebedürftigkeitsbegriff hat zu neuen Konzepten geführt (vgl. BMG, 2009), de-ren politische Umsetzung jedoch seit Jahren auf sich warten lässt. Für die Pflegebe-dürftigen bedeutet diese Struktur der Leistungskataloge, dass sie auf die Gestaltung der tatsächlichen Pflege wenig Einfluss nehmen können.

Darüber hinaus gibt es Anhaltspunkte für einen ungleichen Zugang zur pflegeri-schen Versorgung. Angesichts der mangelnden Koordination der Angebote zur Al-tenhilfe und -pflege bei ungenügend ausgebauten Strukturen der Beratung und des Case-Managements liegt es nahe, dass Ältere, wenn sie oder ihre Angehörigen über bessere Informationen bzw. effektivere Durchsetzungsstrategien verfügen, leichter

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zu ihrem Recht kommen als solche, die mit behördlichen und anderen institutionel-len Strukturen weniger gut umgehen können (Behrens, 2008). Zudem wurde be-obachtet, dass je nach Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe die Chancen auf An-erkennung einer Pflegebedürftigkeit in Begutachtungsverfahren ungleich sind; so werden etwa türkischen MigrantInnen im Durchschnitt seltener Pflegestufen zuer-kannt und wenn, dann tendenziell niedrigere (Okken et al., 2008).

Stadtteil, die Bedeutung von Nachbarschaft und Community, Versorgungsnetzwerke

Die zunehmende Differenzierung und Spezialisierung in Gesundheits- und Sozial-systemen hat zu einem gewachsenen Koordinierungsbedarf geführt. Besonders wichtig sind aufeinander abgestimmte Angebote für alte Menschen sowie für Perso-nen mit Behinderungen und chronischen Krankheiten (z. B. Demenz). Diese Grup-pen haben unterschiedlich lang andauernde und veränderliche Versorgungsbedarfe und benötigen deshalb flexible und koordinierte Dienstleistungen. Allerdings sind die professionellen AkteurInnen aus Medizin und Pflege auf der einen und die aus der weiteren Altenhilfe (Freizeit, Zivilengagement, soziale Stadtentwicklung, Unter-stützung von Mobilität und Teilhabe) auf der anderen Seite in unterschiedliche Steuerungsstrukturen und Finanzierungssysteme eingebunden; auch dadurch unter-liegen sie verschiedenen Logiken und haben unterschiedliche Interessen. Beides behindert eine von verschiedenen AkteurInnen gemeinsam getragene ganzheitliche Versorgungsgestaltung. Angebote der Altenhilfe sowie der offenen Altenarbeit ste-hen häufig unverbunden neben der medizinischen und pflegerischen Versorgung, u. a. weil soziale Teilhabe für ältere Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf kaum mitgedacht wird.

Gleichzeitig verändern sich die Bedingungen der wohlfahrtsstaatlichen Steue-rung, unter denen Pflege und kommunale Alter(n)spolitik gestaltet und koordiniert werden. Versorgungs- und andere soziale Dienstleistungen im Gesundheitsbereich werden zunehmend kommerzialisiert. Ihre Finanzierungslogik beschreibt Mosebach als „wettbewerbsbasierte Kostendämpfung“ für das Gesundheitswesen (Mosebach, 2010). Diese Rahmenbedingungen erschweren die Entwicklung wohnortnaher inte-grierter Versorgungs- und Altenhilfenetzwerke weiter, was alte Menschen mit ge-ringem Einkommen besonders trifft. Zudem werden im Gesundheitswesen und in der Pflege Risiken in steigendem Maße individualisiert (Bode, 2005; Mosebach, 2010), wodurch sich die Folgen sozialer Ungleichheit im Alter weiter verschärfen.

Gesundheits- und Altersgeografie: Bedeutung un-gleicher Orte

Die Lebenswelt der älteren Menschen, die aus dem Berufsleben ausgeschieden sind, aber noch selbstständig leben, ist im Wesentlichen ihre Wohnumgebung. Das gilt umso mehr für schlechter gestellte ältere Menschen, deren Mobilität (Reisen, über-

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