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Lässt sich Bildung standardisieren? Rudolf Messner „Lässt sich Bildung standardisieren?“ Die Titelfrage ist als Entscheidungsfrage formuliert. Entscheidungsfragen lassen sich, ja müssen mit Ja oder Nein beant- wortet werden. Die Antwort auf die Frage, ob sich Bildung standardisieren lässt, scheint, so zugespitzt, nur NEIN lauten zu können. Standardisierung zielt auf Normierung und Vereinheitlichung der Fähig- keiten von Lernenden. Ihre Befürworter verlangen z. B., dass alle deutschen Abiturientinnen und Abiturienten von Flensburg bis Konstanz dieselben Prüfungsaufgaben lösen und nach einheitlichen Kriterien benotet werden. Für alle deutschen Schulen sollen, wie auch in Österreich und in der Schweiz, Bildungsstandards gelten. Bildung hingegen hat mit der Unverwechselbarkeit von Menschen aufgrund ihrer lebenslangen individuellen Entwicklungs- und Lerngeschichte zu tun. In der Bildung von Schülerinnen und Schülern drückt sich immer auch ihre persönliche Besonderheit aus, die sich nicht über einen Leisten schlagen lässt. Ist mit dieser Antwort auf die Titelfrage schon alles gesagt? Abermals NEIN! Denn die Spannung, ja der Widerspruch der im Wort Bildungsstandards vereinigten Begriffe Bildung und Standardisierung lässt sich auch so verstehen, dass das scheinbar Unvereinbare miteinander verknüpft, ja versöhnt werden soll: Die subjektive Formung, die sich jeder Mensch bei seiner Auseinandersetzung mit Welt, insbesondere in Schule und Unterricht, durch selbstbestimmtes Lernen gibt sowie die Formulierung der für alle gemeinsamen Ansprüche, denen er genügen muss, um das individuelle Bildungsziel zu er- reichen. Es ist eine Erörterung wert, ob und unter welchen Bedingungen Bildung und Standardisierung in eine produktive Beziehung treten können. Bislang ist aus meiner Sicht eine solche noch nicht erreicht.

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Lässt sich Bildung standardisieren? Rudolf Messner „Lässt sich Bildung standardisieren?“ Die Titelfrage ist als Entscheidungsfrage formuliert. Entscheidungsfragen lassen sich, ja müssen mit Ja oder Nein beant-wortet werden. Die Antwort auf die Frage, ob sich Bildung standardisieren lässt, scheint, so zugespitzt, nur NEIN lauten zu können.

Standardisierung zielt auf Normierung und Vereinheitlichung der Fähig-keiten von Lernenden. Ihre Befürworter verlangen z. B., dass alle deutschen Abiturientinnen und Abiturienten von Flensburg bis Konstanz dieselben Prüfungsaufgaben lösen und nach einheitlichen Kriterien benotet werden. Für alle deutschen Schulen sollen, wie auch in Österreich und in der Schweiz, Bildungsstandards gelten.

Bildung hingegen hat mit der Unverwechselbarkeit von Menschen aufgrund ihrer lebenslangen individuellen Entwicklungs- und Lerngeschichte zu tun. In der Bildung von Schülerinnen und Schülern drückt sich immer auch ihre persönliche Besonderheit aus, die sich nicht über einen Leisten schlagen lässt.

Ist mit dieser Antwort auf die Titelfrage schon alles gesagt? Abermals NEIN! Denn die Spannung, ja der Widerspruch der im Wort

Bildungsstandards vereinigten Begriffe Bildung und Standardisierung lässt sich auch so verstehen, dass das scheinbar Unvereinbare miteinander verknüpft, ja versöhnt werden soll: Die subjektive Formung, die sich jeder Mensch bei seiner Auseinandersetzung mit Welt, insbesondere in Schule und Unterricht, durch selbstbestimmtes Lernen gibt sowie die Formulierung der für alle gemeinsamen Ansprüche, denen er genügen muss, um das individuelle Bildungsziel zu er-reichen. Es ist eine Erörterung wert, ob und unter welchen Bedingungen Bildung und Standardisierung in eine produktive Beziehung treten können. Bislang ist aus meiner Sicht eine solche noch nicht erreicht.

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1 Bildung, eine offenbar unaufgebbare IDEE vom individuell-selbstbestimmten, gesellschaftlich wachen Menschsein

1.1 Der Ursprung der Bildungsidee im Neuhumanismus Woher stammt und was bedeutet „Bildung“? Der Bildungsbegriff ist ein spezi-fisch deutsches Geisteskind. Mir selbst ist unvergesslich, wie mich bei der ersten Diskussion eines Forschungsantrags der Kasseler Forschergruppe Bildungsfor-schung vor einem international zusammengesetzten DFG-Gremium ein nieder-ländisches Kommissionsmitglied verwundert fragte, wieso im Kasseler Antrag der merkwürdige Begriff Bildung verwendet würde, den es in educational re-search doch überhaupt nicht gäbe. Auch mein etwas irritiert vorgetragener Hin-weis, dass Bildung im deutschsprachigen Raum eine große Tradition habe und dass ja schließlich auch das in Frage stehende DFG-Programm unter dem Titel „Bildungsforschung“ ausgeschrieben sei, konnte ihm die Begriffswahl nicht plausibler machen. Er empfand sie offenkundig als unwissenschaftlichen Ro-mantizismus.

So gesehen ist keineswegs selbstverständlich, dass in den Bildungsstandards mit dem Verweis auf Bildung eine hoch anspruchsvolle Idee über den Zweck menschlicher Entwicklung zum Leitbegriff gewählt worden ist. Eine Idee, und das heißt ein real nie ganz zu erreichendes Ziel. Nicht, dass man als Pädagoge etwas dagegen haben könnte, aber es fragt sich, ob den Initiatoren dieser Wortschöpfung bewusst war, auf was sie sich da eingelassen haben.

Bildung repräsentiert eine große Idee, die sich seit 1800 im allgemeinen Sprachgebrauch niedergeschlagen hat. Deutschland war damals ein politisch zersplittertes, um seine Selbstständigkeit und Nationwerdung ringendes Land. Nicht zuletzt auf diesem Hintergrund sind die geistig führenden Eliten aus Philosophie, Literatur und Kunst initiativ geworden. Im Rückgriff auf die griechische Antike haben sie Bildung zum Leitbegriff für ein von allen Menschen anzustrebendes höheres Lebensideal gemacht.

Es war Wilhelm von Humboldt, der die Bildungsidee im Zeichen des Neuhumanismus, inspiriert von der deutschen Klassik, erstmals theoretisch ausformulierte. Sie hat sich daher, obwohl ein Gemeinschaftswerk, vor allem mit seinem Namen verknüpft (Tenorth 1988, Benner & Kemper 2003, 296 ff.; vgl. auch Arnold u. a. 2011, 138 ff.).1 Getragen vom Impetus der Aufklärung, dass jeder Mensch es sich schuldet, ein freies Wesen zu werden, das seine Vernunft gebrauchen und sich selbst zu bestimmen weiß, war für Humboldt entscheidend,

1 Humboldt selbst konnte ein vermutlich geplantes größeres Werk zur Theorie der Bildung nicht

fertigstellen, seine Ausführungen zu diesem Thema (vgl. 1793) blieben fragmentarisch (vgl. Humboldt 1964 (1793), siehe dazu auch Meyer 1979, 200 f.).

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dass sich Bildung immer als Prozess des „Sich-Bildens“ im einzelnen Menschen ereignet.2

Dies ist ein zentraler Punkt, der uns durch alle Überlegungen hindurch begleiten wird – Bildung kann vom Bildungssystem, von Schule und Unterricht zwar initiiert, modellhaft und verbindlich vorgelebt, begleitet und überprüft werden. Solche äußeren Anstöße sind eine notwendige Bedingung des Gelingens von Bildung. Aber Bildung kann, streng genommen, nicht „vermittelt“ werden. Vermittelt werden können nur Impulse, die den individuellen Prozess des Sich-Bildens in der Person der Lernenden motivieren, inhaltlich anregen, begleitend unterstützen. Dafür sind Lehrpersonen unentbehrlich. Mit der Idee von Bildung ist im professionellen Verständnis von Lehrern und Erziehern untrennbar die Wende vom vermittelnden Former zum entwicklungsfördernden Vorbild und unterstützenden Begleiter verbunden. Man muss hinzufügen: Auch wenn sich ein solches Berufsverständnis bis heute in der Praxis nicht völlig durchgesetzt hat.

Was Humboldt materiell zum Bildungsprozess ausgeführt hat, muss hier nicht im Einzelnen wiederholt werden (vgl. Benner 1990, Boenicke 2005, Lenhart 2006 u. a.). Es genügt, an einige Hauptpunkte zu erinnern. Humboldt geht in seiner Bildungskonzeption von einem spezifischen Menschenbild aus. Nach ihm ist die Ausstattung mit „Geist“ und „Sprache“ konstitutiv; wir würden heute sagen: Jeder Mensch besitzt inhaltsbezogene und reflexive sprachlich-kognitive Fähigkeiten, Handlungsbereitschaften und Wertebewusst-sein. Aber das Individuum kann sich nicht aus sich heraus bilden, sondern nur im durch Familie, Schule und Lehrpersonen geführten Dialog mit der vorfindbaren Kultur. Humboldt spricht von der notwendigen Verknüpfung von „Ich“ und „Welt“ . Nur in der Wechselwirkung mit der außer ihm liegenden Welt mit ihren Gegenständen vermag der Mensch seine Fähigkeiten allseitig zu entfalten und seine unverwechselbare Identität zu gewinnen. „Im Andern zu sich selbst kommen“, hat Hegel in diesem Sinn als das Wesen von Bildung bestimmt. Die Bildungsidee enthält den hohen Anspruch einer umfassenden Selbstentfaltung aller intellektuellen, ästhetischen praktischen und sittlichen Fähigkeiten, je nach den persönlichen Voraussetzungen und Begabungen. Dadurch soll der gebildete Mensch, nicht nur einen spezifischen Platz in der Gesellschaft finden, sondern ihre Praxis verantwortlich mitgestalten können. Wenn alle Kräfte daran „proportionierlich“ beteiligt sind, so Humboldt – das heißt harmonisch zusammenstimmen –, dann kommt darin das allgemein menschliche Interesse,

2 Im Gegensatz zu diesem Verständnis von Bildung als notwendig subjektivem Prozess hat es

sich im heute üblichen Sprachgebrauch eingebürgert, Bildung als kennzeichnendes Bestim-mungswort für alle Institutionen und Maßnahmen zu verwenden, welche der Förderung von Bildung dienen sollen (vgl. dazu Sesink 2006, 17 ff.). Zur Geschichte und Bedeutungsvielfalt des Bildungsbegriffs siehe Lederer 2001.

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Humanität, zum Ausdruck: Der Gebildete wirkt positiv auf die Gesellschaft ein. Pestalozzi hat das auf die vielgebrauchte Formel gebracht, dass an Bildung Kopf, Herz und Hand beteiligt sein sollen, also Vernunft, Sittlichkeit und selbsttätiges Handeln.

Es soll hier nicht abgebrochen werden, ohne die beiden vielleicht wichtigsten praktischen Punkte der Bildungskonzeption Humboldts zu er-wähnen. Nach Humboldt muss die allgemeine Menschenbildung an den höheren Kulturleistungen in der Schule der speziellen beruflichen Ausbildung vorangehen. Humboldt hat zudem die Bildungsidee mit dem Konzept des Gymnasiums verschmolzen. 1.2 Kritik und Weiterentwicklung des Bildungskonzepts Das neuhumanistische Bildungsverständnis hat schon früh wegen seiner früh-bürgerlichen, gegen die sich anbahnende Industrialisierung gerichteten Ausprä-gung Kritik erfahren (vgl. resümierend Berglar 1970, 90 ff.). Noch heute wirkt im gymnasialen Unterricht nach, dass Arbeit, Wirtschaft und Technik, also die entscheidenden Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, aus dem ursprünglichen Konzept von Allgemeinbildung ausge-schlossen waren. Der Soziologe Norbert Elias hat darauf hingewiesen, dass sich das zu eigenem Selbstbewusstsein erwachende deutsche Bürgertum mit dem Bildungskonzept und seiner Bindung an die „höhere Kultur“ von den bislang dominierenden westeuropäischen Nationen abgegrenzt hat (vgl. Elias 1977, 36 ff.; siehe zur Erläuterung Messner 1990, 46 ff.). Die Deutschen wollten nun, pointiert gesagt, im Sinne „höherer“ Kultur und Sittlichkeit als „gebildet“ gelten, während ihre Nachbarn sich in ihren Augen damit begnügen mussten – so das vermeintlich überlegenheitsspendende bildungselitäre Vorurteil –, für die Bewäl-tigung des praktischen Lebens bloß „zivilisiert“ zu sein. Im Konkurrenzkampf der Nationen ließ sich damit eine „geistige“ Vorrangstellung erringen, mit der die politische Unterlegenheit, so Elias, wenigstens ideell kompensiert werden konnte.

Heine, der große Spötter, hat dies in seiner Dichtung „Deutschland, ein Wintermärchen“ angesprochen. Es heißt dort (Kapitel 7):

O deutsche Seele, wie stolz ist dein Flug In deinen nächtlichen Träumen! … Franzosen und Russen gehört das Land, Das Meer gehört den Briten, Wir aber besitzen im Luftreich des Traums

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Die Herrschaft unbestritten. Hier üben wir die Hegemonie, Hier sind wir unzerstückelt; Die andern Völker haben sich Auf platter Erde entwickelt.

Solche weltträumerischen Untertöne der deutschen Bildungsphilosophie hatte wohl auch der niederländische Kollege im Sinn, von dem ich berichtet habe.

Das Konzept der Bildung hat bis zur Gegenwart eine wechselvolle Geschichte erfahren. Einerseits gab es immer wieder Neuansätze zu seiner Belebung oder kritischen Neufassung. Die bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts im deutschen Sprachraum dominierende Richtung, die geistes-wissenschaftliche Pädagogik, versuchte es als Schlüsselkonzept für Schule und Unterricht zu aktualisieren. Eine fast unübersehbare Reihe von Bemühungen wäre hier zu nennen. Sie verbinden sich mit Namen, von denen die meisten wohl nur noch schemenhaft in Erinnerung sind. Jeder einzelne bedürfte einer genaueren Erläuterung: Kerschensteiner, Spranger, Weniger, Litt, Wilhelm Flitner, der frühe Klafki und andere. Ihr Ziel bestand darin – wie auch im Konzept der tendenziell fruchtbaren, aber leider ideologisch überfrachteten polytechnischen Bildung –, das Bildungskonzept für die Lehrpläne wirksam werden zu lassen, den Bildungswert der Arbeit in die allgemeinbildende Praxis zu integrieren oder auf die inhaltliche Ausrichtung der gymnasialen Oberstufe Einfluss zu nehmen. 1.3 Verfall, vermeintliches Ende und Wiederbelebung von Bildung als

regulative Idee Zugleich ist das Bildungskonzept entschieden in Frage gestellt, vielfach auch totgesagt worden. Und beides mit guten Gründen. Es wurde als historisch über-holt erklärt, als idealistisch überhöht, als bildungsbürgerlich korrumpiert sowie als hilflos gegenüber der nationalsozialistischen Barbarei, als ideologisch abge-wirtschaftet, als begrifflich mehrdeutig und diffus, als metaphysisch durch seine pseudoreligiösen Züge überfrachtet oder als empirisch nicht einholbar und daher in seinen Wirkungen nicht zu überprüfen.3

In den 1960er Jahren wurde das inzwischen in vielerlei Bildungslehren aufgesplitterte Konzept von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, insbesondere in den Arbeiten Adornos – abermals ein großer Name, bei dem zu 3 Vgl. die teilweise identischen Ausführungen in Messner 2003, 400; zur Kritik und

„Verfallsgeschichte“ des Bildungsbegriffs siehe Gudjons 1993, 185 ff.

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fragen wäre, wieweit ihn die heutige Erziehungswissenschaft noch rezipiert –, einer radikalen Ideologiekritik unterzogen. Sie galt den harmonisierenden Tendenzen des Bildungskonzepts sowie dessen Blindheit gegenüber den politischen und ökonomischen Zwängen, die in der realen Gesellschaft Selbstbestimmung behindern oder unmöglich machen. Die Erziehungswissen-schaft eignete sich diese Kritik durch prominente Vertreter an, zeitweise bildete die sich daraus entwickelte emanzipatorische Pädagogik den Mainstream der Disziplin. Namen wie Blankertz und Mollenhauer stehen für diese Ausrichtung, in Hessen insbesondere auch die stark von Heydorn angeregte „Darmstädter Schule“ mit Gamm, Koneffke und Pongratz. Auch der Erstentwurf des Kasseler Kernstudiums war durch die bildungskritischen Ideen dieser Richtung geprägt. Der emanzipatorischen Pädagogik ging es um eine radikale Erneuerung des Bildungsverständnisses. Oberstes Bildungsziel sollte die Befähigung der Subjekte zur Befreiung von gesellschaftlichen und ökonomischen Zwängen sein.

Der Bildungsbegriff schien sich angesichts dieser Entwicklung in den 70er Jahren zu verflüchtigen, und dies obwohl sich die gesellschaftskritischen Bemühungen ausdrücklich als kritische Erneuerung der Bildungstheorie verstanden haben. An Stelle von Bildung wurde als Zielsetzung „Emanzipation“ propagiert.4

Aber etwas Merkwürdiges ist geschehen. Dieser Begriff konnte sich ebenso wenig durchsetzen, wie die aus anderen Positionen initiierten Versuche, Bildung durch Konzepte wie Qualifikation, Lernen oder Identität zu ersetzen. Bildung erwies sich als widerständiges Konzept, offenbar unersetzbar – wie im Titel dieses Abschnitts angedeutet – als unaufgebbare regulative IDEE vom indivi-duell-selbstbestimmten, gesellschaftlich wachen, lebenspraktisch handlungs-fähigen Menschsein. Meiner Einschätzung nach ist auch deutlich, warum dies eine primär gesellschaftskritische Zielsetzung wie Emanzipation nicht leisten kann. Heranwachsende brauchen die Identifikation mit einer positiv erfahrbaren Lebenspraxis – und entsprechende Werterfahrungen und Sachkenntnisse –, ehe sie auf dieser Basis das Negative in Gesellschaft und Leben sowohl erkennen als auch dagegen kritisch angehen können. Auf einer allein gesellschaftskritischen Bildungstheorie lässt sich keine praktische Pädagogik aufbauen.

Diese Argumentation wird von der Wiederbelebung einer praktisch gewendeten Bildungstheorie unterstützt, wie sie sich in jüngster Zeit u. a. in den sechs Maßstäben für Bildung in Hentigs Bildungsbuch (Hentig 1996, 71 ff.) gezeigt hat oder im Entwurf eines neuen Allgemeinbildungsansatzes in Klafkis „epochaltypischen Schlüsselproblemen“ (Klafki 1995, 43 ff.; vgl. Klafki 1986).

4 Leitend war dabei insbesondere die Studie von Habermas „Technik und Wissenschaft als

‚Ideologie‘“ (1968); vgl. auch Mollenhauer 1968.

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Beide Autoren beziehen bei ihrer Neubestimmung von Bildung Argumente der gesellschaftskritischen Pädagogik ein.

Auch die Verwendung des Bildungskonzepts in den Bildungsstandards kann – wenn Bildung nicht nur als schmückendes Beiwort verstanden werden soll – als Indiz für das Fortwirken der Bildungsidee verstanden werden (siehe zu Bildungsstandards allgemein Klieme u. a. 2003 sowie Oelkers & Reusser 2008). Dafür kann m. E. die Grundfigur des aufklärerisch-neuhumanistischen Bildungs-verständnisses nach wie vor Gültigkeit beanspruchen. Sie muss jedoch auf dem erreichten Stand der Bildungswissenschaften für das Leben in der modernen globalisierten Welt ausgelegt werden. Dies bedeutet insbesondere, dass die Prozesse der pädagogischen Herausforderung, Initiation und Begleitung des Sich-Bildens von Heranwachsenden in Schule, Unterricht und im erzieherisch gemeinten Umgang in ihrem Verlauf und ihren Bedingungen aus dem aktuellen Stand der dafür relevanten empirischen Wissenschaften begründet werden müssen. 2 Hauptpunkte eines zeitgemäßen Bildungsverständnisses Welches sind wesentliche Punkte, denen aus gegenwärtiger empirischer Sicht – ob auf Lehrplan-, Schul- oder Unterrichtsebene – bei der praxisbezogenen Be-mühung um Bildung Raum gegeben werden muss? Dazu seien sechs Hauptpunk-te genannt:5

Exkurs: Gegenwärtig wird in diesem Zusammenhang vielfach die Studie des australischen Schulforschers John Hattie „Visible Learning for Teachers“ diskutiert (Hattie 2012). Hattie hat in einer Synthese von 800 Metananalysen von insgesamt über 50.000 empirischen Studien eine Bilanz zur Frage der Gelingens-bedingungen des Lehrens und Lernens vorgelegt. Zum Inhalt lässt sich sagen – da eine methodenkritische Auswertung des aus sehr unterschiedlichen Kontexten stammenden Materials, auf dem die Studie beruht, noch aussteht –, dass bei Hattie insbesondere auf die herausragende Bedeutung der Lehrperson für den Unterrichtserfolg verwiesen wird. Dies sowohl im Hinblick auf Einstellungen und Haltungen als auch das lernwirksame Vorgehen im Unterricht. In dieser Hinsicht besteht große Übereinstimmung mit den hier genannten Hauptpunkten

5 Die im Folgenden genannten Punkte stellen den Versuch dar, die für ein zeitgemäßes

Bildungsverständnis wichtigen empirischen Grundlagen konzeptuell in exemplarischer Form zu benennen. Der Ansatz bedarf weiterer Ausarbeitung. Eine umfassende Synopse der bildungs-relevanten Empirie ist noch nicht geleistet worden. Sie ist auch nur als bildungswissen-schaftliche Gemeinschaftsleistung möglich.

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eines empirisch begründeten Bildungskonzepts für Schule und Unterricht (zu den Einzelheiten der Hattie-Studien vgl. die fundierte Übersicht von Steffens 2011). Die sechs Hauptpunkte: � Bildung ereignet sich in den Lernenden. Schulisches Lernen muss daher

eingebettet sein in die Vorerfahrungen und Kompetenzen, in die Motivatio-nen und Interessen, die Lernstile und Interaktionsbedürfnisse, noch grund-sätzlicher formuliert, in die Lerngeschichte und die Lebenspläne von Kin-dern und Jugendlichen. Von der „Einwurzelung“ gelungenen Lernens hat Wagenschein gesprochen (vgl. Wagenschein 1968, 44 ff.). Kognitionspsy-chologie (Aebli 1983; Reusser 2001 und 2006) und aktuelle Hirnforschung (Roth 2011) wissen gleichermaßen, dass Lernen immer nur auf vorhande-nen Kompetenzen aufgebaut werden kann.6 In innovativen Schulmodellen, wie der schwedischen Futurum-Schule, werden die Arbeitspläne und Lern-erfordernisse regelmäßig mit jedem einzelnen Schüler besprochen (vgl. Kahl 2002).

� Wer bildend auf andere einwirken will, muss für die Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler sensibel sein, sie zu verstehen versuchen, auch in ihren Regungen, die nicht in der Hauptbahn des Unterrichts liegen und sich bemühen, von da aus Wissen, Fähigkeiten und Haltungen aufzubauen (vgl. Messner 2009). Kompetenzen entwickeln sich nur im Kontext des gelebten Lebens. Dabei gilt es, sub- und interkulturelle Barrieren zu überwinden und sich auf die von Kindern und Jugendlichen erfahrene Welt einzustellen. Lehrerinnen und Lehrer sollten an den Lebenswelten und Gewohnheiten, den Idolen und dem bei ihren Schülern und Schülerinnen vorhandenen, auch außerschulischen Können teilhaben. Dies ist ein nach PISA keines-wegs „überbelichteter“ Gesichtspunkt.

� Die authentische Darstellung des gewünschten Wissens, Könnens und Handelns durch die Lehrpersonen ist wichtiger, als dessen belehrende De-monstration. Lernende brauchen Vorbilder, mit denen sie sich identifizieren können, die ihnen aber zugleich Freiheit und Raum zur eigenen Aneignung und Erprobung einräumen. Wesentlich erscheint in diesem Zusammenhang die Aktualisierung des Bildungskonzepts aus der sozialwissenschaftlich in-spirierten „Empowerment-Theorie“ (vgl. Arnold u. a. 2011, 123 ff., 138 ff.). Empowerment heißt, Lehrpersonen sollen durch Impulse und Initiativen,

6 Zur Diskussion zwischen kognitionsorientierter Psychologie und Hirnforschung über den

jeweiligen Beitrag zum schulischen Lernen vgl. das Streitgespräch zwischen E. Stern und M. Spitzer in: DIE ZEIT 2004 (www.zeit.de > DIE ZEIT Archiv > Jahrgang 2004 > Ausgabe 28).

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z. B. durch attraktive Lernaufgaben, bei den Lernenden deren eigene Fä-higkeiten, Ressourcen und Potentiale zielbezogen aktivieren. Sie sollen da-bei selbst ein anziehendes, mitreißendes Vorbild sein für die Mobilisierung und Praktizierung der entsprechenden Kompetenzen. Damit ist erneut be-legt, was Lehrpersonen immer schon wissen: Wer die persönlichen Poten-tiale von Lernenden aktivieren will, muss selbst inhaltliches und methodi-sches Können ausstrahlen (vgl. Bandura 1977).

� Guter bildender Unterricht muss entschieden über Instruktion hinausgehen. Es braucht eine vielfältige Lehr-Lernkultur (vgl. BLK 1997). Vor allem gilt es, Lernumgebungen zu schaffen, durch die Lernende angeregt werden, in eigener Initiative ihre themenrelevanten Fähigkeiten zu entwickeln. Das Lernen der Einzelnen soll sozial vernetzt und intensiviert werden durch Lernpartnerschaften innerhalb und außerhalb der Schule.

� Bildung kann auch durch Unterforderung verhindert werden. Nach der modernen Lehr-Lernforschung ist empirisch evident, dass Lernende dann besonders zu eigener Aktivität motiviert werden können, wenn Angebot und Impulse an vorhandene Kompetenzen anknüpfen, die Anforderungen aber allmählich reduziert werden (Scaffolding-Prinzip; vgl. Turnbull et al. 1999). Sich-Bilden auszulösen, bedeutet auch Fordern. Besonders lernwirksam er-scheint, mit den Anforderungen die vorhandenen Kompetenzen leicht zu überbieten (vgl. zum gesamten Problemkomplex Hasselhorn & Gold 2006). Nur durch eine weitgespannte Lernplanung kann bei Schülern kumulativ-fortschreitendes Lernen ausgelöst werden, wie es nötig ist, wenn Schülerin-nen und Schüler, wie vorhin formuliert, im „Anderen“ der großen Wissen-schafts- und Kulturbereiche zu sich selbst kommen sollen. Gerade hat eine OECD-Studie ermittelt, dass Deutschland einen immer noch zu geringen Anteil von Hochqualifizierten ausbildet. Dabei ist wichtig: Wissen und Können wird erst zur Bildung, wenn es in der Person der Lernenden mit verantwortlichem Handeln verknüpft wird (vgl. Neubauer & Stern 2007, siehe auch Lederer 2011).

� Da sich Bildung in den einzelnen Lernenden auf der Basis ihrer vorhande-nen, oft sehr heterogenen Potentiale und Kompetenzen vollzieht, bedarf sie einer durchgängigen Differenzierung. Wegen der damit verbundenen prakti-schen Anforderungen, die Lehrpersonen im Unterrichtsalltag überfordern, wage ich nicht zu sagen, durchgängigen Individualisierung. Der Hauptgrund sind die unterschiedlichen Fähigkeiten von Schülern. Heterogenität ist der Normalfall von Unterricht. Nicht weniger wichtig ist, dass Lernen immer ein subjektiv-kreatives Moment besitzt. Jeder Schüler und jede Schülerin schreiben einen besonderen Text und lösen ihre Aufgaben auf ihre eigene Weise. Auch Lernschwächere haben ein Anrecht auf Individualität und

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Kreativität, auch wenn sie dabei mehr Unterstützung brauchen. Entschei-dend für die Wirksamkeit des Lernens ist, dass jede einzelne Schülerin und jeder Schüler Erfolge beim Lernen erfährt und sich selbst als Urheber dieser Erfolge erleben kann (Prinzip der Selbstwirksamkeit; vgl. Fuchs 2005).

Nach den sechs ausführlicher angesprochenen Punkten einige weitere nur kurz: � Von entscheidendem Wert für Bildung sind alle aktivierenden Methoden,

besonders wenn sie den Schülern Gelegenheit zur Entfaltung der Eigenpo-tentiale, zu eigenem Tun und Erproben geben (vgl. Reusser 2001 und 2005; siehe auch Messner (Hrsg.) 2009).

� Bildung und Übung schließen sich keineswegs aus. Im Gegenteil, damit Schülerinnen und Schüler eigenständig lernen können, müssen sie die Me-thoden des eigenen Lernens übend aneignen können (vgl. Aebli 1983, 326 ff.). Schon Humboldt hat betont, wie wichtig das „Lernen des Lernens“ ist.

� Dazu gehört auch, dass Schüler im Laufe der Zeit eine größere Bewusstheit über ihr eigenes Lernen entwickeln.

� Bildung heißt, lange Wege gehen, die Besonderheiten der einzelnen Schüle-rinnen und Schüler entwickeln. Es gilt, die Fähigkeiten zu schätzen, die sie neben dem Mainstream des Fachunterrichts entwickeln.

� So wichtig und verständlich die gegenwärtige Konzentration der Bildungs-bemühungen auf wenige Hauptfächer ist, die Schülerinnen und Schüler brauchen die ästhetische Einbettung aller fachlichen Aktivitäten. Für sie können Kunst, Musik und Bewegung zu Hauptthemen werden (vgl. Mess-ner 2003).

� Bildungsziele werden nicht nur im Fachunterricht erreicht. In der schuli-schen Gemeinschaft können die Schülerinnen und Schüler Geborgenheit und Freundschaft erfahren, aber auch Rücksichtnahme erlernen, Einfüh-lungsvermögen und die Fähigkeit zur Überwindung von Konflikten (grund-legend dazu Hentig 1993, 212 ff.).

� Gelungenes Sich-Bilden schließt ein, dass Schule auch das Anderssein und den Eigensinn der Lernenden nicht nur aushält, sondern als Teil ihres Le-bens und Lernens respektiert. Auch dies sind wertvolle Basisqualifikatio-nen.

� Wenn im Bildungsprozess Schwierigkeiten auftreten, gilt es, die Hilfen zu konzentrieren, die Probleme Einzelner zum Hauptthema von Schule zu ma-chen. In diesem Prinzip steckt etwas vom Geheimnis der PISA-Erfolge Finnlands und anderer Länder.

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Lässt sich eine so verstandene Bildung standardisieren bzw. – so lautet die revi-dierte Frage – kann Bildung – und unter welchen Bedingungen – zur Standardi-sierung in eine produktive Beziehung gesetzt werden? Dazu sollen nun im dritten Teil die Genese und der Hintergrund der Bildungsstandard-Reform näher be-schrieben werden, welche die Leitkonzepte der Bildungsstandards und im Gefol-ge davon den kompetenzorientierten Unterricht hervorgebracht haben. 3 Bildungsstandards und kompetenzorientierter Unterricht als

Schlüsselkonzepte einer epochalen Reform des schulischen Lernens 3.1 Der Kontext: outputorientierte Unterrichtsreform Im letzten Jahrzehnt sind in Deutschland, vermutlich auch in Österreich und der Schweiz, vor unser aller Augen eine Lehrplan- und anschließend eine Unter-richtsreform in Gang gesetzt worden, die bildungsgeschichtlich fast ohne Bei-spiel sind. Allenfalls lassen sich Parallelen zur Lernziel-Operationalisierungs-Bewegung der 1970er Jahre herstellen. Wenn sie voll zur Wirkung kommen sollten, bedeuten sie eine radikale Neufassung der Kategorien, in denen über unterrichtliche Praxis nachgedacht und in ihr gehandelt wird. Ihr Kern besteht in einem epochalen Schub an Objektivierung des schulischen Lehrens und Lernens durch seine zweckrationale Rekonstruktion. Hintergrund ist der Versuch, die Qualität des Unterrichts zu sichern und zu steigern, indem der Erfolg aller Maß-nahmen am Output der erwarteten Schülerleistungen gemessen wird. Dahinter steht die Idee, dass Bildungsreformen nicht länger wie bisher am Input, also dem schieren Einsatz von Personal, Initiativen und Ressourcen ausgerichtet werden dürfen. Dies führe nur zum Wunsch, die Qualität von Schule und Unterricht durch eine immer weiter gehende Steigerung der eingesetzten Mittel – immer mehr Lehrpersonen, kleinere Klassen, anspruchsvollere Medien – zu verbessern. Bildung werde dadurch zu einem „Fass ohne Boden“. Kein Staat könne sich auf Dauer die daraus folgende permanente Steigerung der Bildungsausgaben leisten. Input soll es selbstverständlich auch in Zukunft geben. Er ist jedoch nicht mehr die primäre Steuerungsgröße. Ohne strenge empirische Überprüfung wird nicht mehr auf die Wirkung schulischen Inputs, seien es Bildungsziele, -programme und eingesetzte Lehrerarbeit, vertraut. Ihr Erfolg wird – Kritiker sagen, wie in einem Wirtschaftsbetrieb – am tatsächlich bei den Schülerinnen und Schülern erreichten Lernertrag, dem OUTPUT, gemessen. Die beiden Schlüsselkonzepte, mit denen die gegenwärtige outputorientierte Bildungsreform zum Ziel kommen will, wurden schon genannt: Bildungsstandards und kompetenzorientierter Un-terricht.

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Die Standardisierung besteht aus der Normierung (= dem Für-verbindlich-Erklären) und Operationalisieren (= dem Messbarmachen) der Unterrichtsziele in den Lehrplänen. Dabei ist nicht unwichtig, sich an die Herkunft des Begriffs „Standard“ zu erinnern. Wörtlich leitet sich „Standard“ von der „Fahne des Königs“ her und ging dann über auf die Bedeutung „Norm“ oder „Maßstab“. Im Bildungsbereich ist seine Anwendung Mitte des 19. Jahrhunderts aus England belegt (vgl. Aldrich 2000, siehe auch Klieme u. a. 2003, 23 f.). Damals erfolgte die gesetzlich geregelte Budgetierung von Elementarschulen erstmals nach sechs Leistungsstufen im Lesen, Schreiben und Rechnen (Standard I – VI). Die Einschätzung der Schulleistungen durch Inspektoren (assessments) wurde zum Kriterium für die Mittelzuweisung gemacht. Standards sind von ihrem Ursprung her also mit dem tatsächlich von Schülern erreichten Leistungsniveau verknüpft. Die im deutschen Sprachraum konzipierten Bildungsstandards wollen demge-genüber orientierende Normen für die im Unterricht anzustrebenden fachlichen Ziele oder, wie Klieme formuliert, „normative Vorgaben für die Steuerung von Bildungssystemen“ (2003, 24) beschreiben. Der vielfach zu beobachtende rasche Umschlag der Bildungsstandards in Lernstandserhebungen und andere Test-instrumente zur Messung der Lernergebnisse der Schüler zeigt allerdings, dass ihre ursprüngliche bildungsökonomische Kontrollfunktion jederzeit wieder aktiviert werden kann.

Mit dem Wechsel von der Input- zur Outputsteuerung sind mit den Bil-dungsstandards die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt der Unterrichtsplanung gerückt. Ebenso wie man sich angewöhnt hat, die wünschenswerte Professionalität von Lehrpersonen in Handlungs-kompetenzen zu beschreiben und z. B. von Professionswissen, motivationalen Orientierungen und selbstregulativen Fähigkeiten zu sprechen, werden die erwünschten Lernergebnisse von Schülern – die Outputorientierung lässt grüßen! – in der Sprache der im Lernprozess anzueignenden Fähigkeiten, Motivationen und Haltungen formuliert. Gegenüber der Betonung der zu erreichenden Könnensleistungen als Schülerkompetenzen treten die Inhalte, obwohl jede Kompetenz erst durch ihre Wissenselemente definiert wird, in ihrer Gewichtung stark zurück. Verständlich wird dies wohl nur auf dem Hintergrund der mit dem PISA-Projekt vermittelten Fortschritte in der testpsychologischen Erfassung der Fachleistungen der Schüler. Mit einem Mal schienen sich die Vorbehalte gegenüber der Messung von Schülerleistungen zu verflüchtigen. Die schul-vergleichenden Untersuchungen machten deutlich, wie präzise – und mit welch weitgehender Akzeptanz auch bei früheren Skeptikern – sich die Leistungen in Mathematik, den Naturwissenschaften oder im Leseverständnis präzise und praktisch folgenreich ermitteln ließen. Mit der Idee, dass Unterrichten auf die Kompetenzgenese bei den Lernenden konzentriert werden müsse, war auch das

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vermeintliche Wundermittel des kompetenzorientierten Unterrichts geboren. Tatsächlich bedeutet es jedoch nur, Unterricht konsequent mit Blick auf die angestrebten Outputs durchzuarbeiten. Alle unterrichtlichen Maßnahmen sollten bei den schon vorhandenen Kompetenzen ansetzen sowie zweckrational auf deren Ausbau und Erweiterung, damit auch auf Diagnose und Evaluation, ausgerichtet werden.

Zwei Rahmenkonzepte der Schulentwicklung stehen im Hintergrund der ouputorientierten Unterrichtsreform. Zum einen ist dies die Vorstellung eines notwendigen Kreislaufes schulischer Qualitätsvorsorge und -überwachung. Er sollte sich in den Arbeitsschritten der Zielfestlegung, der Ausarbeitung zielbezogener Unterrichtsprogramme sowie der Selbst- und Fremdevaluation (auch: interne/externe) der erreichten Schülerleistungen vollziehen. In Hessen wurde dieses Programm, das inzwischen unter dem Namen „Schulische Quali-tätsentwicklung“ Allgemeingut geworden ist, erstmals in den frühen 90er Jahren durch den Bildungsforscher Theo M. E. Liket mit Bezug auf das niederländische Modell des Bildungswesens vorgestellt (Liket 1993). Liket war Präsident des europäischen Forums für Bildungsmanagement. Durch ihn wurden die damals noch als höchst befremdlich empfundenen Managementvorstellungen in das deutsche Schulwesen getragen, verbunden mit der Idee, gerade durch sie ein höheres Maß an autonomer, verantwortlicher Schulgestaltung zu gewährleisten, als dies in der bis dahin vorherrschenden obrigkeitsstaatlich inspirierten bürokratischen Schulsteuerung möglich gewesen war. Als zweites Rahmen-konzept war die Idee von Schule als lernender Organisation wirksam, eine mit der zur selben Zeit einsetzenden Schulentwicklungsbewegung populär gewordene Vorstellung, welche die neuen Ideen des Qualitätsmanagements aspektreich mit traditionellen pädagogischen Gestaltungsideen verbunden hat (vgl. Altrichter, Schley & Schratz 1998). 3.2 Anlass, Genese und Problematik der Bildungsstandards Wenn im Folgenden die Entwicklung der Bildungsstandards am Beispiel Deutschland7 dargestellt und kritisch kommentiert wird, geht es nicht darum, Kritik um der Kritik willen zu üben oder überholten Bildungsideen nachzutrau-ern. Viele kluge Köpfe waren an der Entwicklung der Bildungsstandards betei-ligt und haben eine außerordentliche Reformarbeit geleistet. Ziel ist vielmehr, die entwickelten Ansätze und ihre Probleme unter der Fragestellung zu überprüfen,

7 Neben der gesamtstaatlichen Genese der Bildungsstandards in Deutschland wird als Beispiel

für die betroffenen Bundesländer auch auf ihre spezifische Entwicklung in Hessen ein-gegangen.

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ob und inwieweit die dringend notwendig gewordene wissenschaftliche Rekon-struktion von Schule und Unterricht mit den pädagogisch unaufgebbaren Quali-täten verbunden werden können, wie sie in dem mit Bezug zur Empirie erneuer-ten Bildungskonzept artikuliert werden (vgl. dazu insbesondere Klieme u. a. 2003 sowie dazu und zu Bildungsstandards und Kompetenzentwicklung allge-mein die sehr grundlegende pointierte Kritik von Gruschka 2006).

Begonnen hat die Entwicklung der Bildungsstandards vor kaum mehr als zehn Jahren. Ihr Auslöser war der Schock, der durch die Ergebnisse des ersten PISA- Untersuchungszyklus im Jahre 2000 ausgelöst wurde. Während frühere Ländervergleiche der Schülerleistungen nur wenig Echo gefunden hatten, wurde nun der Sachverhalt, dass sich die deutschen Schülerinnen und Schüler mit ihren Leistungen im Leseverständnis, in Mathematik und in den Naturwissenschaften überall im unteren Mittelfeld der OECD-Länder befanden, beinahe als nationale Katastrophe betrachtet (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001 und 2002). Man mag rätseln, was die Ursachen einer solchen veränderten Interpretation waren. Eine plausible Vermutung besagt, dass mit der TIMS- und PISA-Studie der Globalisierungsprozess das deutsche Schulwesen erreicht und eine geschärfte Wahrnehmung für letztlich auch ökonomisch relevante Leistungsdefizite der deutschen Schüler hervorgerufen hat (vgl. Messner 2002). Als besonders dramatisch wurde die durch PISA offenkundig gewordene Tatsache gesehen, dass etwa ein Viertel aller 15jährigen Schüler im Verstehen von Texten so große Schwächen zeigten, dass der Erfolg ihrer weiteren Schul- und Berufskarriere gefährdet erschien. Für diese Schüler ist bekanntlich der wegen seiner stigmatisierenden Wirkung pädagogisch nicht unproblematische Begriff „Risiko-gruppe“ in Gebrauch gekommen. Auch bei den anspruchsvollen kognitiven Leistungen zeigten sich Defizite, z. B. eine deutliche „Delle“ beim Modellieren. Dies musste besonders schmerzhaft empfunden werden in einem Land, das nach dem ungetrübten Selbstverständnis Vieler sich für das „Land der Dichter und Denker“ gehalten hatte.

Die Ergebnisse des ersten PISA-Zyklus wurden im Dezember 2001 veröffentlicht, aber schon im Sommer hatte sich m. W. die PISA-Gruppe mit KMK-Experten getroffen und in Abstimmung mit Lehrerverbänden und GEW Handlungsfelder definiert, in denen durch ein Bündel von Maßnahmen den in der PISA-Studie aufgetretenen Defiziten entgegengearbeitet werden konnte. Die geplanten Maßnahmen wurden zugleich mit der Präsentation der PISA-Ergebnisse von der KMK verkündet. Sie sollten den erwarteten Schock abfedern und Handlungsfähigkeit demonstrieren. Insgesamt wurden Initiativen in sieben Schwerpunkten projektiert:8

8 Vgl. Pressemitteilung der KMK vom 05.12.2001.

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Handlungsfelder der KMK vom 05.12.2001 1. Lernschwache Schülerinnen und Schüler fördern 2. Mindeststandards 3. Diagnose verbessern („Schwache Leser“) 4. Schullaufbahnregelungen 5. Lernzeit optimal nutzen 6. Lehrer-Professionalität verbessern 7. Lehr-Lernforschung fördern Ein besonderer Fokus lag von Anfang an auf Handlungsfeld 2. Dazu wurde er-läutert:

„Die Verbesserung der unterrichtsbezogenen Qualitätsentwicklung wird auf allen Ebenen des Schulsystems als fortlaufender Prozess gesehen. Dazu ist eine Formulie-rung anspruchsvoller, aber realistischer und verbindlicher Lernziele vor allem in den zentralen Kompetenzbereichen und die Sicherung von Mindeststandards vonnö-ten.“

Auf das Handlungsfeld 2 haben sich im Folgenden (fast) alle Maßnahmen zur Aufarbeitung der PISA-Ergebnisse konzentriert: � Im Mai 2002 wurden von der KMK Bildungsstandards in Auftrag gegeben.

Sie sollten für Mittlere Schulabschlüsse (10. Schuljahr) für die Fächer Deutsch, Mathematik und Englisch als erste Fremdsprache entwickelt wer-den.9

� Die geplanten nationalen Bildungsstandards für die Fächer Deutsch, Ma-thematik und Englisch für die Jahrgangsstufe 10 wurden im Dezember 2003 vorgelegt (siehe für das Fach Mathematik dazu Blum, Drüke-Noe, Hartung & Köller 2006).10

� Im Oktober und Dezember 2004 folgten nationale Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss (Jahrgangsstufe 9) in den Fächern Deutsch, Ma-thematik und Englisch, für den Mittleren Schulabschluss (Jahrgangsstufe 10) in den Fächern Biologie, Chemie und Physik sowie für die Fächer Deutsch und Mathematik (4. Jahrgangsstufe) im Primarbereich.11

9 Vgl. Beschluss der KMK vom 24. Mai 2002. 10 Vgl. Beschlüsse der KMK vom 04.12.2003. 11 Vgl. Beschlüsse der KMK vom 15.10. und 16.12.2004.

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� Ab 2004/05 haben sich die Länder zur Übernahme, Implementation und Anwendung der Bildungsstandards verpflichtet.12

� In Hessen wurde vom Hessischen Kultusministerium (HKM) die flächende-ckende Weiterentwicklung der Bildungsstandards für alle Fächer und Stufen beschlossen. Dabei sollten für alle Inhaltsbereiche komprimierte Kerncurri-cula entwickelt und ein hoher Grad an Ausdifferenzierung der Kompeten-zen erreicht werden. Die Dominanz breit ausgeführter fachlicher und über-fachlicher Kompetenzen gegenüber den vorwiegend nur in Form von kom-primierten Kerncurricula repräsentierten Unterrichtsinhalten wurde zum programmatischen Markenzeichen der hessischen Weiterentwicklung der Bildungsstandards. Mit 01.08.2011 ersetzte in Hessen das „neue Kerncurri-culum“ die alten Lehrpläne.13 Zunächst war vorgesehen, dass jede Schule in einem „Schulcurriculum“ die in den Bildungsstandards nicht im Detail aus-geführten Inhalte in schulspezifischer Weise ergänzend ausarbeiten sollte. Da viele Schulen damit überfordert waren, wurde 2011 vom HKM gestattet, dass anstelle des Schulcurriculums auch die bisherigen Lehrpläne weiter verwendet werden können.14

Zu der durch die KMK angeregten Entwicklung der Bildungsstandards kann, unabhängig von der konkreten Entwicklung in Hessen und anderen Bundeslän-dern, festgestellt werden, dass damit Lehrpläne von bisher kaum erreichter Qua-lität mit einer vorher nicht gekannten reichhaltigen Ausgestaltung des Ziel- und Inhaltsbereichs fachlicher Bildung geschaffen worden sind, bis hin zu didakti-schen Konkretisierungen, wie den Aufgabenbeispielen. Dies zeigt schon ein Blick auf die Gliederung der besonders wertgeschätzten Bildungsstandards Ma-thematik. 12 Vgl. Argumentationspapier der KMK vom 16.12.2004; vgl. auch die Broschüre der KMK zur

„Gesamtstrategie der KMK zum Bildungsmonitoring“ (München 2006): Pressemitteilung der KMK vom 02.11.2006.

13 Dazu führt das HKM aus: „Der Unterricht an hessischen Schulen soll stärker kompetenzorientiert werden, damit die Schülerinnen und Schüler besser befähigt werden, ihr Wissen anwendungsorientiert einzusetzen. Außerdem werden die Schülerinnen und Schüler unter anderem dadurch qualifiziert, mit der durch unsere heutige Gesellschaft bedingten Wissensfülle in Beruf und Freizeit umzugehen“ (vgl. www.kultusministerium.hessen.de). Die wissenschaftlichen Grundlagen für die Schwerpunktverlagerung in den Bildungsstandards auf Kompetenzen anstelle von Inhalten hat der Marburger Erziehungswissenschaftler Rainer Lersch geliefert (vgl. z. B. Lersch 2010). Auf die mit einer solchen Abstinenz bei der Nennung verbindlicher fachlicher Inhalte in einem Lehrplan sowie den damit verbundenen kognitionspsychologischen und unterrichtspraktischen Problemen kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Im Folgenden werden lediglich die Einseitigkeiten im Zusammenhang mit dem Konzept eines kompetenzorientierten Unterrichts erörtert (vgl. 3.3 und 4).

14 Vgl. www.kultusministerium.hessen.de.

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KMK-Bildungsstandards 2003: Mathematik (mittlerer Abschluss) 1 Der Beitrag des Faches Mathematik zur Bildung 2 Allgemeine mathematische Kompetenzen (K1-K6) im Fach Mathematik,

z. B. Mathematisch argumentieren, Mathematisch modellieren u. a. 3 Standards für inhaltsbezogene mathematische Kompetenzen im Fach Ma-

thematik 3.1 Mathematische Leitideen (L1-L5): Zahl, Messen, Raum und Form,

Funktionaler Zusammenhang, Daten und Zufall 3.2 Inhaltsbezogene mathematische Kompetenzen geordnet nach Leitideen 4 Aufgabenbeispiele 4.1 Anforderungsbereiche der allgemeinen mathematischen Kompentenzen

I-III: Reproduzieren, Zusammenhänge herstellen, Verallgemeinern und Reflektieren

4.2 Kommentierte Aufgabenbeispiele (1-14) z. B. (4) Würfel Mit den Bildungsstandards sind also im nationalen Maßstab anspruchsvolle Operationalisierungen der Unterrichtsziele in den einzelnen Schulfächern entwi-ckelt worden. Zwar besteht ein Problem darin, dass fachliche Ziele in ihnen Prio-rität haben, während Schule für die Schülerinnen und Schüler auch die Erfahrung einer Gemeinschaft bedeutet, in der über Unterricht hinaus soziales Zusammen-leben in all seinen Facetten geübt werden muss und gelernt werden kann. Eine gewisse Kompensation dieses in der Grundkonstruktion der Bildungsstandards nicht vorgesehenen Bereichs liefert die starke Betonung überfachlicher Ziele in den Bildungsstandards. Gewichtiger ist der Einwand, dass entgegen der ur-sprünglichen Planung für Handlungsfeld 2 vom Dezember 2001 und entgegen der expliziten Stellungnahme im Klieme-Gutachten (vgl. Klieme u. a. 2003) die Bildungsstandards Regel- und nicht Mindeststandards beschreiben. Dieser Punkt mag zunächst nebensächlich erscheinen. Regelstandards zu entwickeln bedeutet aber, die Gesamtheit des im Unterricht Anzuzielenden festlegen zu müssen. Würde man lediglich Mindest- oder Basisqualifikationen bestimmen, so bliebe den Lehrern und Schülern hingegen ein beträchtlicher Spielraum für Eigengestal-tungen. Die Bildungsstandards verlören auch ihren oft störenden administrativ-vorschreibenden Charakter, ein produktives Verhältnis von Festlegung und Ei-gengestaltung wäre gegeben. Man wird einwenden, dass es im Bereich der Kom-petenzen eine sinnvolle Abstufung in Mindest- und Maximalziele nicht geben kann. Verstehen etwa ist immer eine anspruchsvolle Sache, von der es keine Abstriche geben kann. Dies bedeutet jedoch nur, dass die Frage gestufter Anfor-derungen über den Inhaltsaspekt gelöst werden muss. Hier gibt es die für Eigen-gestaltungen wünschenswerten Spielräume an Umfang und Komplexität.

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Noch wesentlich gravierender als die genannten Punkte scheint jedoch ein anderes Problem, das vor allem mit der Rolle, welche die Bildungsstandards im staatlichen Reformprozess erhalten haben, untrennbar verbunden ist. Das Ziel der Bildungsstandards besteht darin, die im Zuge der schulvergleichenden Untersuchungen zu Tage getretenen Defizite im Unterricht zu beheben und die Qualität des Unterrichts zu verbessern. Dafür sind sie mit großem Aufwand entwickelt worden. Während in den ursprünglich formulierten sieben Handlungs-feldern von 2001 jedoch noch ein ganzes Bündel von unterschiedlich gerichteten ausgleichenden Maßnahmen vorgesehen war, hat sich mit der den Bildungs-standards zugesprochenen Funktion als exklusives Reforminstrumentarium die gesamte staatliche Energie auf einen Punkt, nämlich den der Zielentwicklung konzentriert. Pointiert ließe sich sagen: Der komplexe Prozess der positiven Veränderung von Schule und Unterricht – mit der Millionenzahl der beteiligten Lehrpersonen und Schüler – wird mit Hilfe der Bildungsstandards durch das einzige Mittel der Verbesserung der fachlichen Unterrichtsziele zu steuern versucht. Genau besehen, hat dies etwas von einer archaischen Abwehrreaktion an sich. Bei der Schülerinnen und Schülern sind – im Durchschnitt der Leistungen von Neuntklässlern im internationalen Vergleich – Defizite aufgetreten. Diese Defizite werden nun zu überwinden versucht, indem man die erhofften Schülerleistungen, zumindest sprachlich-konzeptuell, in Form der Bildungsstandards antizipiert. Mit der Formulierung des Wünschenswerten, so erwartet man offenbar, lässt sich auch dessen Realisierung herbeizwingen. Dies geschieht nach dem Motto, das auch zum Leitprinzip für guten Unterricht geworden ist (vgl. Helmke 2004; siehe dazu Messner 2009): Durch Klarheit über die verbindlichen Ziele, ergänzt durch die Kernanforderungen der einzelnen Fächer, kann auch die Qualität des Unterrichts am besten gesichert werden. Indem ganz auf die Steigerung des Outputs der gewünschten Schülerleistungen gesetzt wird, ist fast völlig in Vergessenheit geraten, dass sich diese nur durch eine verbesserte Input-Kultur erreichen wird lassen. Damit kein Missverständnis entsteht: Es gäbe nichts gegen die in großem Maßstab erfolgte Verbesserung in der Beschreibung des erwartbaren Outputs von Schulunterricht zu sagen, sofern Anstrengungen ähnlichen Ausmaßes unternommen worden wären, um auch Unterricht selbst in seiner Methodik sowie den Handlungskonzepten und Ar-beitsformen von Schülern und Lehrpersonen weiterzuentwickeln. Ansätze dazu, die es verdient hätten, auf alle Fächer ausgedehnt zu werden, sind mit dem SINUS-Programm geleistet worden (vgl. BLK 1997). Dabei hätte es gegolten, auf die tausendfach vorliegenden Erfahrungen der beteiligten Lehrerinnen und Lehrer zurückzugreifen. Guter Unterricht muss ja nicht neu erfunden werden, sondern es gilt, das vorhandene Praxiswissen über ihn aufzusuchen, in seiner Wirksamkeit zu klären und einer solcherart geläuterten Unterrichtskultur, für die

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es an reformorientierten Schulen viele Beispiele gibt (vgl. z. B. Fauser, Prenzel & Schratz 2007), in der Regelpraxis deutscher Schulen weiter auszubreiten. Anstelle einer solchen ergänzenden Reform der Unterrichtskultur ließ man auf die Bildungsstandards einen Reformversuch des Schulunterrichts mit Hilfe eines zur Zukunftspraxis erklärten kompentenzorientierten Unterrichtsmodells folgen. Es wird im Folgenden zu fragen sein, ob damit neben der notwendigen Ausarbeitung der Zielkultur – etwas trocken wird heute von ihrer Implemen-tierung gesprochen – eine ebenso notwendige gleichrangige Entwicklung der „Kultur der Unterrichtsmittel“ gelingen kann – oder ob sich der obrigkeits-staatliche „Touch“ der Bildungsstandards – die Dekretierung desjenigen, was für Schule gut ist, von oben und in Form von Zielangaben, fortsetzt, d. h. auf das Modell des kompetenzorientierten Unterrichts überträgt. 3.3 Kompetenzorientierter Unterricht: Kann er die Erwartungen erfüllen? Den Initiatoren der Bildungsstandards war durchaus bewusst, dass mit ihnen allein noch keine neue Unterrichtskultur geschaffen werden kann. Als Folgekon-zept wurde daher ein neues Muster von Schulunterricht kreiert. Es knüpft an den zentralen Begriff an, mit dem in den Bildungsstandards die Erwartungen an Ler-nende beschrieben werden, das Konzept der Kompetenz. Mit diesem theoreti-schen Konstrukt – und darum handelt es sich, Kompetenzen können nicht direkt beobachtet, sondern nur aus dem Verhalten indirekt erschlossen werden – soll die psychische Realität des zu Lernenden in der Person der Schülerinnen und Schüler beschrieben werden. Orientiert hat man sich bei der Festlegung dieses für die gesamte Bildungsstandard-Reform zentralen Leitbegriffs an einer Defini-tion des Doyens der Pädagogischen Psychologie Franz E. Weinert, der die Nach-PISA-Wende der deutschen Bildungsforschung wissenschaftlich wesentlich vorbereitet hat.

Nach Weinert werden Kompetenzen verstanden als „die bei Individuen verfügbaren und durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Weinert 2001, 27 f.).

Die Weinertsche Bestimmung steht einerseits fest in der Tradition des in der Lehr-Lernforschung verfügbaren Wissensbestandes über die Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten, deren Genese fundiert beschrieben werden kann. Daraus erklärt sich der spezifisch kognitive und damit wissensnah-pragmatische Schwerpunkt der Weinertschen Definition. Darüber hinaus bringt jedoch Weinert

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zum Ausdruck, dass das Erreichen kognitiver Kompetenzen bei Schülern und Lehrkräften auch von „motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten“ abhängt. Der Autor ist vorsichtig, er nennt z. B. nicht so schwer beobachtbare und messbare Dispositionen, wie Einstellungen oder Haltungen. Die Weinertsche Definition kann daher auch als Empfehlung gelesen werden, den Kompetenzbegriff nicht, wie dies in der gegenwärtigen Diskussion, etwa bei der Formulierung fachübergreifender Kompetenzen, geschieht, auf beliebig anspruchsvolle Dispositionsbereiche auszudehnen.

Im Zuge der Weiterentwicklung der Bildungsstandards wird gegenwärtig fast allgemein das Modell des „Kompetenzorientierten Unterrichts“ als Königsweg angesehen, um dem oben beklagten Mangel einer den anspruchs-vollen Zielerwartungen entsprechenden Kultur der Unterrichtsmittel abzuhelfen. Dies geschieht nach dem Motto „Kompetenzorientiert unterrichten heißt, die Bildungsstandards nutzen“. Lersch charakterisiert den Zusammenhang zwischen Bildungsstandards und kompetenzorientiertem Unterricht als irreversibel:

„Die aktuellen Entwicklungen im allgemeinbildenden Schulwesen sind nicht mehr umkehrbar. Die Beschlüsse der KMK zur Output-Steuerung des Bildungswesens über Bildungsstandards, die die Erwartungen über die Ergebnisse schulischen Ler-nens in Form von Kompetenzen beschreiben, haben zur Konsequenz, dass der Un-terricht zumindest im überwiegenden Maße kompetenzorientierter Unterricht zu sein hat“ (Lersch 2010, 31).

Dies wirft Fragen auf: Was bedeutet, kompetenzorientiert unterrichten?

Welche Möglichkeiten bietet dieses Konzept? Sind mit ihm Gefahren verbunden (oder werden solche Gefahren lediglich von pädagogischen Traditionalisten unbegründet phantasiert)?

Das Konzept, wie nach Lersch Unterricht in Zukunft „überwiegend zu sein hat“, ist inzwischen vielfach beschrieben worden. Als authentisch kann die Beschreibung von Werner Blum als federführendem Autor der Bildungs-standards für Mathematik gelten. Blum, der das gewünschte Unterrichtsmodell „standardorientiertes Unterrichten“ nennt, führt dazu aus:

„Jede einzelne Unterrichtsstunde und jede Unterrichtseinheit muss sich daran mes-sen lassen, inwieweit sie zur Förderung und Weiterentwicklung inhaltsbezogener und allgemeiner Schüler-Kompetenzen beiträgt, und der Unterricht über längere Zeiträume hinweg muss so konzipiert sein, dass der Aufbau von Kompetenzen im Zentrum steht. Die wichtigste Frage ist nicht ‚Was haben wir durchgenommen?‘, sondern ‚Welche Vorstellungen, Fähigkeiten und Einstellungen sind entwickelt worden?‘“ (Blum 2006, 17).

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Blum weist im Folgenden mit Recht darauf hin, dass dies im Grunde nichts Neu-es ist, sondern nur dem Prinzip „vernünftiger Unterrichtsarbeit“ entspricht, das der blinden Abarbeitung von Unterrichtsstoffen das viel erfolgversprechendere Verfahren zielbewussten Handelns entgegensetzt. Dem ist zunächst zuzustim-men; allenfalls ließe sich fragen, von wem und in welcher Weise die permanente Zielreflexion praktisch durchgeführt werden soll. Andererseits will scheinen, dass mit dem Verweis auf die für jeden Unterricht geltende vernünftige Ziel- und Erfolgsorientierung das Kernproblem, das insbesondere bei einem radikalen Verständnis kompetenzorientierten Unterrichts auftritt, nicht berührt wird. Die Kernidee des neuen Unterrichtskonzepts besteht nämlich darin, den gesamten Unterricht bis ins Detail an den aus den Bildungsstandards für jedes Fach abzu-leitenden Kompetenzstufen bzw. Kompetenzentwicklungsmodellen auszurich-ten. Dies gerade soll den entscheidenden Unterschied zur Lernzielorientierung der 1970er Jahre ausmachen, dass nun genaue Vorstellungen entwickelt werden können, wie sich der Output der erwünschten Lernergebnisse im Lernprozess, d. h. in der individuellen Kompetenzentwicklung jeder einzelnen Schülerin und jedes einzelnen Schülers niederschlägt. Auch hier ist zuzustimmen: Dies kann eine vernünftige, für die Individualisierung des Unterrichts hilfreiche Reflexion von fachbezogenen Lernprozessen bedeuten. Kritisch anzugehen ist jedoch m. E. gegen einen doppelten Triumphalismus, der sich mit dem Modell des kompe-tenzorientierten Unterrichtens vielfach verknüpft. Zum einen geht es darum, dass unterrichtliches Lernen für Lehrer und Schüler vollständig unter das Primat der Zielerreichung gestellt zu werden droht. Ist denn bildender Unterricht, so ist jedoch zu fragen, in seinem Wesen wirklich nichts anderes als ein permanenter Prozess der Kompetenzerreichung, sodass Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler ihre Tätigkeit primär als Arbeit im Weinberg einer unentwegten Kompe-tenzentwicklung zu begreifen haben? Oder besteht sein Wesen nicht vielmehr darin, sich nach bewährten Mustern sinnvoll mit der Welt auseinanderzusetzen, einer Welt, die in der Schule hilfreich nach Gegenständen und ihnen zugeordne-ten Aufgaben und Problemen geordnet ist, die mit Unterstützung von Lehrperso-nen durch Schüler bearbeitet werden können. Haben nicht Generationen von Schülern auf diese Weise erfolgreich bei und durch Lehrpersonen gelernt, wel-che nie etwas von Kompetenzen gehört haben? Müssen sie alle nun Lernen unter ständiger Bewusstheit der Kompetenz- und Outputentwicklung vollziehen? Zum zweiten ist zu befürchten, dass die als triumphalistisch bezeichneten Konzepte kompetenzorientierten Unterricht genau dies bis ins Detail des Unterrichts zu verwirklichen hoffen: Dass nämlich jede einzelne Unterrichtsmaßnahme konse-quent daraufhin überprüft und danach gestaltet wird, was sie für den Entwick-

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lungsgang der sich im Lernprozess der Schülerinnen und Schüler zu realisieren-den Lernergebnisse leistet.15

Es dürfte deutlich sein, dass die Hoffnung auf die allgemeine Umsetzung einer solchen Perspektive ein illusionäres Moment enthält. Sie erscheint beim derzeitigen Wissensstand weder möglich noch pädagogisch begründbar und der Mehrzahl der Lehrpersonen, die teilweise schon ein halbes Leben lang unterrichten – bei allem Verständnis für die stetige Aufgabe der Integration wissenschaftlicher Erkenntnisse in ihren Unterricht, welche auch einen sinn-vollen Gebrauch von Kompetenzorientierung einschließt –, nicht überzeugend vermittelbar. Damit dürften sich jedoch, so die naheliegende Prognose, auch der triumphalistische Ton und die geäußerten Befürchtungen wenigstens teilweise als hinfällig erweisen, mit denen kompetenzorientierter Unterricht gegenwärtig als neues Wundermittel propagiert und kommentierend begleitet wird (vgl. auch die kritische Analyse von Schratz 2012). Denn, so die These, die Substanz zielführenden Unterrichts kann nicht allein aus der minutiösen Beschreibung innerlich bei den Lernenden aufzubauender Kompetenzstrukturen gewonnen werden, sie liegt notwendig in den Wegen der Erschließung von Inhalten, die jeweils ein Stück Welt repräsentieren, das Lernenden zur problem- und aufgabenbezogenen Bearbeitung im Unterricht überantwortet wird.

Welches ist der Ertrag, den dafür kompetenzorientierte Unterrichtsmodelle dafür leisten?16 � Eine wirkliche Erweiterung des für die Gestaltung von Unterricht relevan-

ten Wissens wurde m. E. im Bereich der Diagnose erreicht. Damit sind nicht nur die differenzierten Instrumente gemeint, die zur Erhebung des Lernstands der Schülerinnen und Schüler entwickelt worden sind (sich al-lerdings bisher auf fachliche Ziele beschränken und beispielsweise soziale Aspekte ausklammern). Als besonders wertvoll können die vielfach entwi-

15 Der Kasseler Politikwissenschaftler, Fachleiter, Lehrer und Mitautor der hessischen

Bildungsstandards für Politik und Wirtschaft Klaus Moegling hat in einer Analyse zur Kompetenzdebatte das vielfach strittige Verhältnis von Bildung und Kompetenzentwicklung unter Einbezug wesentlicher Einwände gegen eine forcierte Kompetenzorientierung sehr sachkundig dargestellt und zwischen den Positionen zu vermitteln versucht (vgl. Moegling 2010). Bei aller Zustimmung zu seiner Intention bleibt das Problem, dass er die aufgetretenen Gegensätze insbesondere mit dem Mittel einer noch weiteren Ausdifferenzierung von Kompetenzen lösen will. Dadurch wird der Zielbereich zwar im Hinblick auf die durch Bildung implizierten Ansprüche nachvollziehbar ausgebaut; aber es bleibt das Problem ungelöst, dass durch eine solche weitere Zieloffensive und -ausdifferenzierung nicht zugleich auch die Mittel zur Verwirklichung dieser Ansprüche im Unterricht gefunden sind (siehe dazu Abschnitt 4).

16 Die für eine gründliche Beantwortung dieser Frage notwendigen Detailstudien können in diesem Rahmen nicht geleistet werden; insofern ist nur ein erster Überblick möglich.

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ckelten lernprozessbezogenen unterrichtsbegleitenden Tools betrachtet wer-den.

� Als ebenso weiterführend dürfte sich die neue Aufgabenkultur erweisen. Für alle Fächer sind im Zuge der Kompetenzorientierung neue Lernanlässe ent-wickelt worden, welche die Schülerinnen und Schüler in herausfordernder, zugleich motivierender Weise zu eigenen Aktivitäten anregen und ihnen diese auch abverlangen.

� Teilweise sind für kompetenzorientierten Unterricht auch neue Lernumge-bungen geschaffen worden, welche die Gesamtstruktur des Unterrichts neu ordnen und den Lehrpersonen die Beherrschung einer professionellen Lern-begleitung und Feedback-Kultur abfordern.

� Schließlich ist auf die Entwicklung von Unterrichtselementen zu verweisen, die unmittelbar dem Komplex der Kompetenzorientierung entstammen: fachübergreifende Ziele und Qualifikationen sowie Modelle der Kompe-tenzstufung und -entwicklung.

Dies sind respektable Ansätze und Strukturierungshilfen, wenn auch das Ver-sprechen der Konzipierung von Kompetenzentwicklungsmodellen für kumulati-ven Unterricht bisher nicht eingelöst werden konnte (hier bleibt man, wie schon 2003 von der KMK erläutert, auf die „Erfahrung der Schulpraxis“ verwiesen).17 Was den didaktischen bzw. lehr-lerntheoretischen Gehalt betrifft, wie er sich in den zahllosen Handreichungen und Unterrichtshilfen der Verlage darstellt, die dazu inzwischen erschienen sind, so schöpft m. E. kompetenzorientierter Unter-richt eklektizistisch aus dem vorhandenen Wissen, ordnet es aber neu unter dem Postulat einer konsequenten Zielerreichung (vgl. als Beispiel Ziener 2008).

Sehen Sie mir bitte nach, wenn mir gegenüber dem erwähnten Triumpha-lismus, mit dem kompetenzorientierter Unterricht nicht selten propagiert wird, angesichts seines realen didaktischen Gehalts, Andersons Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ in den Sinn kommt. Ähnliche Assoziationen löst es aus, wenn zu erfahren ist, dass die Kultusministerin eines deutschen Bundeslandes – sie hat selbst nie unterrichtet – bei einem Schulbesuch erfahrene Lehrkräfte – sicherlich in bester Absicht – ausdrücklich dafür gelobt hat, dass sie nun gelernt hätten, kompetenzorientiert zu unterrichten.

17 Vgl. Beschluss der KMK vom 04.12.2003.

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4 Probleme aus der Sicht von Bildung und Ansätze für ihre Lösung 4.1 Thesen: Folgeprobleme der Standardisierung von Unterricht Welche Probleme werden sichtbar, wenn die mit den Bildungsstandards und dem kompetenzorientierten Unterricht eingeschlagene Entwicklungslinie mit dem vorhin skizzierten zeitgemäßen Bildungsverständnis konfrontiert wird? Dazu vier Thesen: These 1: Zur Ableitung von Unterricht aus seinen antizipierten Zielen Das gravierendste Problem ist darin zu sehen, dass über Bildungsstandards und kompetenzorientierten Unterricht zwar ein qualitätvolleres Lehr-Lerngeschehen angestrebt wird, dass aber das dominierende Steuerungsmittel, das für seine Gestaltung zur Verfügung steht, in Kompetenzanforderungen konkretisierte Ziele und ein daraus determinierter Unterricht sind. So jedenfalls die Intention. Damit wird der Raum für bildenden Unterricht in mehrfacher Weise beschnitten. Lehrpersonen und Schüler werden, zumal von Regelstandards ausgegangen wird, zu Ausführungsorganen administrativer Vorgaben. Weiterhin wird die notwen-dige Eigendynamik des realen Unterrichts ganz auf erwartete Lernergebnisse hin kanalisiert. Das zu entwickelnde methodisch vielfältige Unterrichtsgeschehen verliert seinen Eigenwert und droht zur bloßen Funktion der Zielerreichung zu werden. Unterricht, so würde wohl Horst Rumpf formulieren, wird zur Lern-schnellstraße der Zielerreichung (vgl. Rumpf 2004). Wie sähe die Alternative aus? Aufgrund der Orientierung an dem, was erreicht werden soll, schöpft bil-dender Unterricht aus den vielen Quellen, die Lernprozesse anregen können, z. B. � aus der Faszination der Lösung eines Problems, � der Vergegenwärtigung einer Geschichte, die Lehrer oder Schüler attraktiv

gefunden haben, � aus den Erfahrungen im Gebrauch von Sprache, � aus dem schon vorhandenen Können von Schülern, � aus der Anwendung einer Methode, � aus dem Aushandeln von Regeln … Dann erst reflektiert die Lehrperson spezifischer über Ziele: Was wurde erreicht? Wo sind Defizite? Welche Zieldimensionen haben sich unerwartet eröffnet? Unterricht nur aus vorgegebenen Zielen entwickeln zu wollen, ist eine kopflasti-ge Einseitigkeit.

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2. These: Zum Problem eines universell gebrauchten Kompetenzbegriffs Weil mit der fachlichen Autorität Weinerts ausgestattet, ist Kompetenz zum unbefragten Schlagwort für eine zielorientierte Unterrichtserneuerung im Rah-men der Bildungsstandards geworden. Aber Weinert hat den Begriff Kompetenz eindeutig bereichsspezifischen kognitiven Fähigkeiten des Problemlösens und den sie stützenden Motivationen, sozialen Fähigkeiten und Metastrategien zuge-ordnet. Damit bleibt zwar eine ganze Welt von für Bildung wichtigen sozialen und Persönlichkeitszielen ausgeschlossen. Aber der Weinertsche Kompetenzbe-griff hat für das in ihm bevorzugte kognitive Lernen einen expliziten Theoriebe-zug. Der Kompetenzbeschreibung entspricht eine innere Realität bei Lernenden. Daraus können Unterrichtsideen abgeleitet werden. In den Bildungsstandards wird nach meinen Beobachtungen hingegen der Kompetenzbegriff inzwischen als inhaltlich beliebige Generalkategorie für alles und jedes verwendet, was man sich bei Schülern wünscht. Damit droht sich zu wiederholen, was dem Lernziel-begriff mit seinen immer differenzierter werdenden Verästelungen widerfahren ist: Als bloße Wunschkataloge haben die Beschreibungen nur wenig unterrichts-gestaltende Wirkung. These 3: Zu möglichen Verengungen durch die Zielfixierung

kompetenzorientierten Unterrichts Die Ausrichtung des gesamten Unterrichts auf Kompetenzen führt zu einer Reihe von Engführungen: Es wird die Tendenz gefördert, Leistungssteigerung aus-schließlich von der Messung von Schülerleistungen durch Lernstandserhe-bungen, Tests und andere Kontrollverfahren zu erwarten, und nicht etwa über die intrinsische Motivation gelungenen Handelns oder Lehrerfeedback zum Lern-prozess der Schüler. – Was nicht als Kompetenz in den Bildungsstandards ge-nannt ist, kann – streng genommen – nicht zum Ziel des Unterrichts werden. Es dominieren fachliche Ziele in den Hauptfächern. – Die Schüler kommen in den Bildungsstandards nur als Träger zielführender Lernprozesse und erwarteter Lernergebnisse vor, aber nicht als eigenverantwortliche Subjekte ihres Lernens oder, wie Fend sagt, als Mitproduzenten des schulischen Wissens (vgl. Fend 2001, 46). – Die Tendenz des „Teaching-to-the-Test“ liegt nahe, d. h. dass im Unterricht nur mehr die Kompetenzen gefördert werden, die in Tests Thema sind. These 4: Die Zurichtung der Unterrichtspraxis für Forschungszwecke okkupiert

die Konzepte für praktisches pädagogisches Handeln Mit dem kompetenzorientierten Unterricht und seinen Handlungskonzepten entsteht das Problem, dass notwendig zweckrational angelegte Wissenschafts-konzepte zur Richtschnur auch für das praktische pädagogische Handeln ge-

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nommen werden. Derartige technokratische Modelle, wie sie für die Modellie-rung quantitativer Forschung notwendig sind, werden jedoch dem realen Unter-richt als komplexem Beziehungsgeschehen zwischen Personen nicht gerecht. Weinert hat in einer späten Schrift (1996) dieses Problem mit großer Eindeutig-keit benannt:

„Pädagogische Psychologie“, so schreibt er, „ist in meinen Augen als Wissenschaft notwendigerweise eine reduktive, die Phänomene vereinfachende, nach Gesetzmä-ßigkeiten suchende, auf Wahrscheinlichkeiten gerichtete, also im besten Sinne des Wortes theoretische Disziplin – für welche das eigentliche, zwischenmenschliche, lebendige pädagogische Handeln immer eine ‚andere‘, nie als solche erfassbare, in Grenzen aber wissenschaftlich beschreibbare und erklärbare Realität bildet“ (Wei-nert 1996, 99).

4.2 Über Bedingungen bildenden Unterrichts Eine wesentliche, nicht sehr leicht zu realisierende Bedingung zuerst: Zu einer zeitgemäßen Professionalität von Lehrpersonen gehört es m. E., in den zwei von Weinert so eindrucksvoll beschriebenen Welten agieren zu können. Zum einen in der Welt der wissenschaftlichen Rekonstruktion von Unterricht mit ihren Ein-sichten in Gesetzmäßigkeiten des Unterrichtsgeschehens, die aber durch dessen strukturelle Reduktion erkauft werden, und zum anderen in der Welt des prakti-schen Umgangs und lebendigen pädagogischen Handelns mit ihren wissen-schaftlich nie völlig einholbaren personalen und sozialen Dimensionen, ihren situativ aktivierten Könnensformen und ihrer spontanen Unverfügbarkeit.

Es wurde schon angedeutet, dass das Unterrichtsgeschehen nicht für Lernzielerreichung funktionalisiert werden darf. In Fortführung der Gedanken Weinerts kann man sagen: Raum für Bildung kann im Unterricht nur geschaffen werden, wenn er seinen Eigenwert und seine Handlungsfreiheit behält und von Lehrenden und Lernenden in gemeinsamer Verantwortung gestaltet wird. Unterrichtet und gelernt wird nicht in erster Linie, um Ziele zu erreichen, sondern um in der Auseinandersetzung mit Wissenskulturen und Praxisbereichen etwas Sinnvolles zu tun, was für die Gegenwart und Zukunft des eigenen Lebens Bedeutung besitzt. Das Sich-Bilden der Schülerinnen und Schüler wird primär nicht durch ausformulierte Lernziele und Kompetenzen angeregt, sondern indem jemand etwas zeigt, vormacht oder erkennen lässt, das durch die in ihm repräsentierten Handlungsperspektiven anziehend und aneignungswert erscheint und an dem Lernende ihre Eigentätigkeit erproben können. Inhalte, hinter denen das Wissen, Können und die Haltung von Personen stehen, bilden den Mittelpunkt des Unterrichts.

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Lernziele – und damit auch standardisierte Kompetenzen – sind demgegen-über eine vorwiegend von Lehrpersonen zu verwendende Reflexionshilfe, ein didaktisches Metasystem, um sich über das Erreichte – auch im Lernprozess einzelner Schüler – Rechenschaft zu geben und über die Gestaltung des weiteren Unterrichts nachzudenken. Unterricht muss in Alternativen, vielfältigen metho-dischen Formen und situativen Varianten möglich sein. Die Objektivierung und technokratische Vergegenständlichung des Lerngeschehens, wie sie für Forschungszwecke erforderlich ist, zerstört, wenn sie zum dominierenden Maßstab der Praxis von Lernsteuerung gemacht wird, die humane Substanz des Unterrichtens, ohne die Bildung nicht möglich ist. Sie macht Unterricht zum Produktionsprozess der Ware Wissen (vgl. Messner 2004).

Um diesen Abschnitt nicht zu einer Eloge über bildenden Unterricht werden zu lassen, noch einmal nüchterner: Der richtige Gebrauch der Bildungs-standards scheint mir nicht in ihrer normierenden, sondern in ihrer orientierenden Funktion über die Möglichkeiten eines zeitgemäßen profes-sionellen Fachunterrichts zu bestehen. Dafür sind sie ein großartiges Instrument. Wünschenswert wäre allerdings, dass sie für alle Lernbereiche und auch für die Schule als Lebens- und Erfahrungsraum entwickelt werden und dass sie – unter Rückbezug auf die an Schulen gemachten Unterrichtserfahrungen – fortlaufend weiter entwickelt werden. Stärker normierend verwenden ließen sich allenfalls die ursprünglich geplanten Mindeststandards (statt den problematischen Weg zu gehen, das gesamte Potential der Fächer in verbindlichen Regelstandards erfassen zu wollen). 5 Soll das Abitur bundesweit vereinheitlicht werden? Am Schluss soll kurz auf die Frage eingegangen werden, was die Ausführungen für die aktuelle Diskussion um die Standardisierung des Abiturs (der Matura) bedeuten (vgl. dazu Eberle u. a. 2008). Dazu wurden, weil ihre Stimme in der wissenschaftlichen Erörterung unterrepräsentiert erscheint, Schülerinnen und Schüler (SuS) eines 12. Jahrgangs der Jacob-Grimm-Schule, eines Kasseler Oberstufengymnasiums, befragt. Insgesamt haben 24 SuS eines Kurses „Politik und Wirtschaft“ daran teilgenommen.18 Wenigstens also eine Momentaufnahme zur Befindlichkeit hessischer SuS.

Die Frage lautete: „Soll das Abitur bundesweit vereinheitlicht werden, ja oder nein? Was spricht dafür? Was dagegen?“ Den SuS war klar, dass es um die

18 In Hessen gibt es derzeit in den Oberstufengymnasien noch Kurse. Für die Ermöglichung der

Befragung danke ich Herrn Prof. Dr. Klaus Moegling, dem Lehrer des Kurses, für die Teilnahme der Schülerinnen und Schüler.

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Vereinheitlichung der Abitur- Abschlussprüfungen geht, die in Hessen mit 40 % auf die Gesamtnote angerechnet werden. Sie mussten sich zwischen ja und nein entscheiden; niemand hat sich dem entzogen. Ergebnisse: 10 SuS haben mit JA geantwortet. 14 SuS haben mit NEIN gegen eine bundesweite Vereinheitlichung votiert. Kein Schüler hat NUR Pro- oder Kontraargumente genannt. Alle haben abgewo-gen, also zu beiden Alternativen Argumente angeführt. Punkt (1): Alle SuS haben (fast übereinstimmende) Argumente FÜR die Verein-heitlichung genannt: Die SuS sehen fast ohne Ausnahme große praktische Vor-teile einer Vereinheitlichung. Äußerungen: „gleicher Bildungsstand“ – dadurch „gleiche Chancen für alle“ („dadurch Abi gleich schwer für alle SuS“).

Dass dadurch auch Curriculum und Vorbereitung des Abiturs vereinheitlicht werden, finden die SuS nur gut. Schüler 9: „Finde ich gut, dass alle auf den gleichen Stand gebracht und Lehrer dafür in die Pflicht genommen werden.“

Die von den SuS genannten Motive reichen von Gleichheitsforderungen, dem Verweis auf bessere Job- und Berufschancen bis zur Erleichterung der Übersiedlung in andere Bundesländer. Auch Gerechtigkeitsfragen werden angesprochen und 2 bis 3mal bildungspolitische Aspekte:

Schülerin 5: „Die Vergleichbarkeit innerhalb Deutschlands steigt und somit auch der internationale Vergleich. Ich bin überzeugt, dass der Bildungsstandard angehoben werden würde und auch die Einstellung zum Bildungssystem vielleicht einen Schritt nach vorne machen könnte.“

Von allen 24 Befragten nennt nur eine Schülerin die bessere Vorbereitung auf die Universität als mögliches Motiv (sie hat mich als Universitätsangehörigen identifiziert und unter meinen Namen ein Herzchen gemalt). Falls die große Zustimmung der SuS zur Vereinheitlichung des Abiturs enttäuschend empfunden werden sollte, ist darauf hinzuweisen, dass sich darin offenbar nur die Identifika-tion mit einem Schulsystem widerspiegelt, in dem durch Zurückdrehen der 76er Reform Vereinheitlichung schon längst Realität geworden ist. Punkt (2): Aus welchen Gründen haben sich 14 von 24 SuS letztlich dennoch gegen die Vereinheitlichung ausgesprochen? Genannt werden vorwiegend prak-tische Gründe aufgrund eigener Befindlichkeiten: � Zweifel, ob die Vereinheitlichung technisch bzw. organisatorisch durch-

führbar wäre;

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� Schlechte Erfahrungen mit der G8-Reform; � Befürchtungen, dass durch eine Vereinheitlichung das Abi zu schwer wird; � Hinweise, dass die länderspezifischen Unterschiede zu groß werden (dahin-

ter stehen Abwehrängste, die sich auf Bayern konzentrieren; dort ist nach Ansicht vieler SuS das Abitur anspruchsvoller.)

Schülerin 21: „Im Vergleich der Bundesländer gibt es stets solche, die übermäßig gut bzw. übermäßig schlecht abschneiden. Bayern erzielt z. B. jedes Mal sehr gute Leistungen. Andere Bundesländer werden so in den Schatten gestellt, was aber durch eine Vereinheitlichung noch verstärkt würde. Die Bundesländer würden in ei-nen Konkurrenzkampf geraten, der dem Prinzip des Abiturs nicht mehr gerecht wür-de.“

Im anschließenden Gespräch wird deutlich, dass den SuS bewusst ist, dass die vermeintliche bayerische Überlegenheit mit der dort viel geringeren Abiturquote zusammenhängt. Trotz dieser Einsicht fühlen sie sich jedoch dem Vorurteil, dass Bayern begünstigt und Hessen (als weniger anspruchsvoll) abwertet, machtlos ausgeliefert.

Finden sich in den Äußerungen der SuS keine Argumente für die oben so stark betonte Individualität von Bildung? Einige Stimmen weisen in die Richtung dieses Problems.

Schülerin 11: „Dagegen spricht, dass einzelne Bundesländer nicht mehr so viel Frei-heit in der Auswahl der Inhalte haben, die Themen also auch weniger variieren kön-nen.“

Schüler 23: „Vereinheitlichung wäre unfair, zumal ich es sowieso schon heftig fin-de, wie Menschen in unserer kultivierten Leistungsgesellschaft auf Zahlen von 1 – 6 bzw. 15 – 0 reduziert werden.“

Interpretation der Ergebnisse Wie stellt sich die Frage der Vereinheitlichung des Abiturs auf Grund der im Text entwickelten Konzeption – und mit Bezug auf die kleine Schülerbefragung und die entsprechende Gewichtung der von den SuS vorgetragenen Argumente – dar?

Vielleicht wird die Einschätzung überraschen: M. E. spricht nichts dagegen, die Aufgaben des schriftlichen Abiturs, etwa in den Fächern Mathematik, Deutsch und Englisch, bundesweit zu vereinheitlichen, wenn sie im Sinne von Mindestanforderungen verstanden werden. Testartig vorbereitete, bundesweit einheitliche Abiturprüfungen können durchaus schlüssige Hinweise geben,

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inwieweit die Grundqualifikationen überall erreicht werden. Dies aber nur unter zwei Bedingungen: � Die Testaufgaben dürfen nicht Stoffhuberei betreiben, sondern sollen auf

Verstehen und Denken zielen. � Der im Abitur erreichte Bildungsstand muss als individuell-unverwechsel-

bare kreative Leistung • in den mündlichen Prüfungen sowie in der • Präsentation der Ergebnisse einer Arbeit zu einem selbstgewählten

und selbstständig bearbeiteten Thema zum Ausdruck kommen. Darin kann und soll auch über die Mindestanfor-derungen hinausgegangen werden.19

Fazit: Das Prinzip, auf Grund dessen die Frage, ob das Abitur bundesweit ver-einheitlicht werden soll, entschieden werden muss, lautet: Es gilt, einen Aus-gleich zwischen Bildung und Standardisierung zu finden. Die vorgeschlagene Abitur-Regelung impliziert m. E., dass in diesem Sinn die Balance zwischen dem Allgemein-Verbindlichen und dem Individuell-Besonderen, letztlich zwischen Regelung und Freiheit, gewährleistet ist. Literatur Aebli, H. (1983): Zwölf Grundformen des Lehrens. Stuttgart: Klett. Aldrich, R. (2000): Educational Standards in Historical Perspective. In: Goldstein, H. &

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19 Dies geschieht in Hessen, sodass das vereinheitlichte schriftliche Abitur nur zu 40 % auf die

Abiturnote angerechnet wird.

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