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Nietzsches Philosophie des Tieres

Lemm - Nietzsches Philosophie Des Tieres

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  • Nietzsches Philosophie des Tieres

  • Vanessa Lemm

    Nietzsches Philosophie des Tieres Kultur, Politik und die Animalitt des Menschen

    Aus dem Englischen von Nora Sieverding

    diaphanes

  • OriginalNietzsches Animal Philosophy: Culture, Politics, and the Animality of the Human Being, Fordham University Press, 2009.

    1. AuflageISBN 978-3-03734-197-1 diaphanes, Zrich 2012

    www.diaphanes.netAlle Rechte vorbehalten

    Satz und Layout: 2edit, ZrichDruck: Pustet, Regensburg

  • Inhalt

    Einleitung: Das Tier in der Philosophie Nietzsches 9

    I. Kultur und Zivilisation 23 Der Antagonismus von Kultur und Zivilisation 26 Die Vergesslichkeit der Zivilisation 34 Moralitt als unechte berwindung 37 Das Gedchtnis der Kultur 43 Die Umstrze der Kultur 50

    II. Politik und Versprechen 53 Das Versprechen der Zivilisation 55 Das Versprechen der Kultur 64 Souvernitt jenseits von Herrschaft 69 Eine agonistische Politik der Verantwortlichkeit 72 Das Postume bei Sartre und Nietzsche 75

    III. Kultur und konomie 83 Sklaverei in dem einen oder anderen Sinne 85 Die konomie des Lebens 92 Die Herrschaft hherer Kultur 97

    IV. Geben und Vergeben 103 Nietzsches Kritik der Vergebung 106 Die erlsende Macht der animalischen Vergesslichkeit 112 Vergebung und politische Freundschaft 117 Die schenkende Tugend und Einzigartigkeit 123 Die schenkende Tugend und die Hinwendung zum Anderen 127 Die schenkende Tugend und Distanz 132

    V. Animalitt, Kreativitt und Geschichtlichkeit 139 Die Begegnung mit der Vergesslichkeit des Tieres 142 Geschichtlichkeit, Leiden und Kampf 144 Warum Menschen die Vergesslichkeit brauchen 147 Gegen-Geschichte 152 Knstlerische Geschichtsschreibung 159 Nietzsches Vorworte als Beispiele knstlerischer Geschichtsschreibung 166

  • VI. Animalitt, Sprache und Wahrheit 177 Die Begegnung mit der stummen Wahrheit des Tieres 182 Anschauungsmetaphern und einzigartige Wahrheiten 184 Das Problem der metaphysischen Wahrheit 190 Das Problem der richtigen Sinneswahrnehmung 195 Philosophie und Tragdie 199 Die Verstellungen des Intellekts 207 Begriffliche Sprache und abstraktes Denken 212 Wahrheit und Zivilisationskritik 216 Das philosophische Leben 223

    Schluss: Biopolitik und die Frage des Tieres 235

    Abkrzungen 243Literatur 245Namen- und Sachregister 253

  • Fr Lou, Esteban, Aliz und Miguel

  • 9Einleitung

    Das Tier in der Philosophie Nietzsches

    In der Nietzsche-Forschung des 20. Jahrhunderts ist das Thema des Tie-res weitgehend unbercksichtigt geblieben, und erst in der jngeren Zeit haben Philosophie und Geisteswissenschaften begonnen, ihm ihre Auf-merksamkeit zuzuwenden.1 Dieses Buch beabsichtigt, eine erste syste-matische Behandlung des Tieres in der gesamten Philosophie Nietzsches bereitzustellen. Ich hoffe, zeigen zu knnen, dass das Tier weder ein untergeordnetes Thema noch einen rein metaphorischen Kunstgriff dar-stellt, sondern dass es vielmehr im Zentrum von Nietzsches Erneuerung der Praxis und der Bedeutung der Philosophie selbst steht.2 Nietzsches Philosophie des Tieres untersucht noch einmal kritisch Nietzsches Sicht-weise auf Kultur und Zivilisation, Politik und Moralitt sowie Geschichte und Wahrheit, indem es sich auf die unterschiedlichen Perspektiven sttzt, die in einer Betrachtung des menschlichen Wesens als Teil eines Kontinuums des tierischen Lebens zum Ausdruck kommen.

    berall in seinen Schriften spricht Nietzsche vom Menschen als einem Tier. Was den Menschen von anderen Tieren unterscheidet, ist seine Kultur. Nietzsches Philosophie des Tieres verfolgt daher die doppelte Fra-gestellung, was es fr ein Tier bedeutet, ber eine Kultur zu verfgen,

    1 Zu einer Behandlung des Themas des Tieres bei Nietzsche siehe Acampora, Christa D. und Acampora, Ralph: A Nietzschean Bestiary: Becoming Animal Beyond Docile and Brutal, New York 2004; Del Caro, Adrian: Grounding the Nietzsche Rheto-ric of Earth, Berlin 2004, S. 401416; Atterton, Peter und Calarco, Matthew: Animal Philosophy, London, New York 2004, S. 114; Wolfe, Cary (Hg.): Zoontologies: The Question of the Animal, Minneapolis 2003, S. 9396; Lippit, Akira Mizuta: Electric Animal, Minneapolis 2000, S. 5573; Ham, Jennifer: Taming the Beast: Animality in Wedekind and Nietzsche, in: dies. und Senior, Matthew (Hg.): Animal Acts, New York 1997, S. 145163; Haar, Michel: Du symbolisme animal en gnral, et notament du serpent, in: Alter: Revue de Phnomnologie 3 (1995), S. 319345; Norris, Margot: Beasts of Modern Imagination: Darwin, Nietzsche, Kafka, Ernst, and Lawrence, Baltimore 1985, S. 125, 53100; Reed, T. J.: Nietzsches Animals: Idea, Image and Influence, in: Pasley, Malcolm (Hg.): Nietzsche: Imaginary and Thought, Berkeley, Los Angeles 1978, S. 159219.2 Zu der Sichtweise, dass das Tier ein untergeordnetes Thema in Nietzsches Philo-sophie darstellen wrde, siehe Heidegger, Martin: Nietzsche I und Nietzsche II, in: ders.: Gesamtausgabe. I. Abteilung. Band 6.1 und 6.2, Frankfurt/M. 1997. Fr die Sichtweise, dass das Tier ein metaphorisches Stilmittel in Nietzsches Philosophie dar-stellt, siehe Langer, Monika: The Role and the Status of the Animals in Nietzsches Philosophy, in: Steeves, Peter (Hg.): Animal Others: On Ethics, Ontology and Animal Life, New York 1999, S. 7591.

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    und auf welche Weise Animalitt Kultur hervorbringt. Im Gegensatz zu den westlichen Traditionen des Humanismus und der Aufklrung schlgt Nietzsche vor, Kultur nicht als ein rationales und moralisches Phnomen zu untersuchen, sondern als ein Phnomen des Lebens. Was Kultur, auf diese Weise betrachtet, interessant erscheinen lsst, ist, dass die Animalitt an sie anknpft, und nicht, wie jene Traditionen anneh-men, dass Kultur etwa das Mittel wre, anhand dessen die Menschheit sich von der Tierheit abtrennt und emanzipiert. In ihrem bahnbrechen-den Buch Beasts of Modern Imagination nennt Margot Norris diesen neuen Zugang zur Kultur aus der Perspektive des Lebens biozentrisch. Sie macht eine biozentrische Tradition von Denkern, Schriftstellern und Knstlern (Nietzsche eingeschlossen) aus, die nicht wie das Tier oder in Nachahmung des Tieres schaffen, sondern als das Tier, indem sie ihre Animalitt sprechen lassen.3

    Dieser biozentrische Begriff der Kultur bei Nietzsche, wie er in Nietz-sches Philosophie des Tieres rekonstruiert wird, unterscheidet sich von frheren materialistischen und spiritualistischen Interpretationen seiner Kulturphilosophie, da er den Biologismus ersterer sowie den Anthropo-morphismus letzterer vermeidet. Ein anthropozentrischer Standpunkt betrachtet Kultur als etwas mit dem tierischen Leben Unverbundenes: Leben wird auf die menschliche Selbstinterpretation reduziert, und Kul-tur bildet das Projekt der menschlichen Selbstkreation.4 Ein biologisti-scher Standpunkt reduziert Kultur auf ein Mittel zum Erhalt des biolo-gischen Lebens der menschlichen Spezies.5 Obwohl ein biologistischer Ansatz die enge Verbindung zwischen menschlichem und tierischem Leben bercksichtigt, gelingt es ihm nicht, eine Analyse der ber den berlebenskampf hinausgehenden Bedeutung und Wichtigkeit von Kul-

    3 Norris zufolge hat [d]iese Bewegung [] zwei hauptschliche, miteinander ver-bundene Konsequenzen: eine subversive Befragung der anthropozentrischen Pr-missen der westlichen Philosophie und Kunst sowie die Erfindung knstlerischer und philosophischer Strategien, die es dem Tier, dem Unbewussten, den Instinkten, dem Krper erlauben sollen, in ihrem Werk noch einmal zu sprechen (Norris: Beasts of Modern Imagination, a.a.O., S. 5) (eig. bers. [A.d..]).4 Als ein Beispiel dieser Sichtweise siehe Nehamas, Alexander: Nietzsche: Life as Literature, Cambridge 1985.5 Als ein Beispiel dieser Sichtweise siehe Moore, Gregory: Nietzsche, Biology and Metaphor, Cambridge/Mass. 2002. Stiegler argumentiert, dass Nietzsches Begriff des Lebens nicht auf eine reine Metapher reduziert werden sollte, sondern als ein Ver-such ernstgenommen werden muss, eine angemessene biologische Konzeption des Lebens zu liefern. Nichtsdestotrotz unterstreicht sie, dass Nietzsches Konzeption des Lebens als Wille zur Macht insofern ber einen biologischen, darwinistischen Lebensbegriff hinausgeht, als sie nicht auf einen berlebenskampf reduziert werden kann (Stiegler, Barbara: Nietzsche et la biologie, Paris 2001, S. 78).

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    tur zu liefern. Indem ich eine biologistische Interpretation des Lebens zurckweise, verstehe ich Nietzsches These so, dass jede organische Zelle Geist besitzt.6 In hnlicher Weise lehne ich eine anthropozentri-sche Interpretation des Lebens ab und verstehe Nietzsches These so, dass der Geist physiologisch ist.7 Allerdings stammen die Prinzipien der Physiologie Nietzsches nicht aus der Anwendung von mechanischer oder chemischer Kausalitt auf trge Materie; vielmehr knnen diese Prinzipien nur anhand von Genealogien formuliert werden, die allein dazu in der Lage sind, die in der Physiologie zum Ausdruck kommende geistige Historizitt zu erfassen.8 Leben ist geschichtlich, weil Materie immer schon im Verhltnis zum Gedchtnis und zur Vergesslichkeit aufgehoben ist.

    Fr Nietzsche sind Gedchtnis und Vergesslichkeit weder kantische Fhigkeiten des Geistes noch aristotelische Potenziale von Substanzen; vielmehr bilden sie gleichursprngliche Lebenskrfte. Daher untersucht Nietzsches Philosophie des Tieres die Beziehung zwischen Leben und Kultur anhand einer Analyse seiner Konzeption von Gedchtnis und Vergesslichkeit. Die meisten Kommentatoren identifizieren Nietzsches Begriff des Lebens mit dem Willen zur Macht und den Willen zur Macht wiederum mit dem Gedchtnis.9 Ich dagegen argumentiere, dass der Begriff des Willens zur Macht einen Antagonismus zwischen Gedcht-nis und Vergesslichkeit widerspiegelt und anhand dieses Antagonismus neu formuliert werden kann. Ich behaupte, dass eine Analyse dieses Antagonismus den direktesten Weg fr einen Zugang zur Beziehung zwischen Leben und Kultur und, genauer gesagt, zur Beziehung zwi-schen Animalitt und Kultur darstellt. Man kann, schematisch gespro-chen, behaupten, dass im Diskurs Nietzsches die Vergesslichkeit dem

    6 Ich setze Gedchtni und eine Art Geist bei allem Organischen voraus: der Apparat ist so fein, da er fr uns nicht zu existiren scheint. Die Thorheit Hckels, zwei Embryons als gleich anzusetzen! Man mu sich nicht tuschen lassen durch die Kleinheit (KSA 11: 25[403], S. 117). Ich verwende die folgende Nietzsche-Ausgabe: Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe in 15 Bnden, hg. von Gior-gio Colli und Mazzino Montinari, Berlin 1988, siehe auch das Abkrzungsverzeichnis auf S. 2434.7 Zum Begriff der Physiologie bei Nietzsche siehe Gerhardt, Volker: Von der sthe-tischen Metaphysik zur Physiologie der Kunst, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 374393; sowie Pfotenhauer, Helmut: Physiologie der Kunst als Kunst der Phy-siologie?, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 399411.8 Alles organische Leben ist als sichtbare Bewegung coordinirt einem geisti-gen Geschehen. Ein organisches Wesen ist der sichtbare Ausdruck eines Geistes (KSA 11: 26[35], S. 157).9 Fr ein jngeres Beispiel der Identifikation des Willens zur Macht mit dem Gedchtnis siehe Stiegler: Nietzsche et la biologie, a.a.O., S. 5066.

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    Tier angehrt, das Gedchtnis dem Menschen und das Versprechen dem bermenschen. Da bei Nietzsche diese Beziehungen antagonistisch und nicht statisch sind, sind das Tier, der Mensch und der bermensch mit-einander verknpft und knnen nicht in verschiedene Stadien der Evolu-tion unterteilt werden: Der Mensch ist ein Seil geknpft zwischen Thier und bermensch (Z I: Zarathustras Vorrede 4, S. 16).

    Nietzsche betont die Kontinuitt zwischen Tier, Mensch und ber-mensch. Er glaubt, dass das menschliche Leben nicht vom Leben des Tieres und vom Ganzen der organischen und unorganischen Welt abtrennbar ist. Er behauptet sogar, ber sich selbst herausgefunden zu haben, dass er ein Wesen sei, das kontinuierlich eine Wiederholung und Variation des unendlichen poetischen, logischen, sthetischen und affektiven Werdens in der gesamten Geschichte des Lebens reflektiert (FW 54, S. 416f.).10 Daher weist Nietzsche die Sichtweise zurck, dass menschliche Leben konstituiere eine eigengesetzliche Insel inmitten des Lebens. Er meint im Gegenteil, dass jede Lebensform, die sich selbst von anderen Lebensformen abschneidet, verfallen muss, da sie sich von dem abtrennt, was ihr Leben hervorbringt. Aus dieser Perspektive betrach-tet kann sich das menschliche Leben nicht allein durch seine eigene Strke hervorbringen, sondern lebt vollstndig aus seiner und gegen seine Beziehung zu anderen Lebensformen.11 Nietzsches Konzeption des Lebens als einem Kontinuum bricht damit mit frheren Konzeptio-nen, die in der westlichen Tradition aufgefunden werden knnen und denen zufolge das menschliche Wesen die Krone der Schpfung darstellt (AC 14, S. 180f.). Sein Lebensbegriff ist in diesem Sinne mit demjeni-gen Darwins vergleichbar.12 Die Perspektive der Kontinuitt postuliert, dass das menschliche Leben keine zentrale Rolle in der Totalitt des Lebens spielt, sondern nur einen kleinen und unbedeutenden Teil von ihr darstellt. Nietzsche spekuliert sogar, dass die Natur das menschliche Leben als ein Mittel fr ihre eigene Vervollkommnung nutzen knnte statt andersherum (VMS 185, S. 460f.).

    10 Siehe auch KSA 11: 34[167], S. 476f., wo Nietzsche behauptet, dass die gesamte Geschichte des organischen Lebens in jedem Sinnesurteil ttig ist.11 Meiner Meinung nach argumentiert Stiegler richtig, dass das Leben auf Offenheit, auf das Kommende ausgerichtet ist, da die Steigerung seiner eigenen inneren Macht grundstzlich von dem Zusammentreffen mit einer anderen Macht abhngt, selbst wenn dieses Zusammentreffen das Risiko von Tod und Leiden birgt. Siehe Stiegler: Nietzsche et la biologie, a.a.O., S. 73.12 Zu einer Diskussion der hnlichkeiten und Unhnlichkeiten zwischen Nietzsche und Darwin, siehe Stegmaier, Werner: Darwin, Darwinismus, Nietzsche. Zum Pro-blem der Evolution, in: Nietzsche-Studien 16 (1987), S. 264287; Norris: Beasts of Modern Imagination, a.a.O., S. 153; Ansell-Pearson, Keith: Viroid Live, London 1997, S. 85122; und unlngst Stiegler, Nietzsche et la biologie, a.a.O., S. 45ff.

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    Die Totalitt des Lebens ist ein grundstzlich geschichtlicher Prozess, der im Gedchtnis jeder einzelnen organischen Zelle aufgesprt werden kann, bis hinunter zur kleinsten Entitt (KSA 10: 12[31], S. 406). Aus der Perspektive des organischen Gedchtnisses ist das Werden einer Lebens-form unentwirrbar mit dem aller anderen Lebensformen verknpft.13 Jede Lebensform zehrt von der Totalitt, ebenso wie die Totalitt von jeder einzelnen Lebensform zehrt. Das Werden jeder organischen Zelle ist in einem absoluten Sinne einzigartig und einmalig, doch diese Ein-malig- und Einzigartigkeit entwickelt sich aus und gegen die Totalitt des Lebens. Keine organische Zelle ist wie die andere. Kein tierisches oder menschliches Wesen ist wie das andere tierische oder menschliche Wesen. Dennoch spiegelt jede Zelle in ihrer Einzigartigkeit die Totalitt des Lebens wieder, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihres Werdens.

    Was das organische Gedchtnis jeder Zelle auszeichnet, ist, dass es die Geschichte der Totalitt des Lebens nicht in einer idealen Kontinuitt in Erinnerung ruft. Das Gedchtnis des organischen Lebens wird viel-mehr durch kontinuierliche Gegenbewegungen des Werdens konstitu-iert, einem Antagonismus gegen die Vergesslichkeit, der das auflst, was sich in einer festen Identitt stabilisiert hat.14 Das Gedchtnis des orga-nischen Lebens zeigt, dass die Totalitt des Lebens kein statisches und kontinuierliches Streben des Ganzen in Richtung eines harmonischen Gleichgewichts seiner Teile darstellt;15 stattdessen wird die Totalitt des Lebens durch einen agonistischen Kampf konstituiert, der alle Lebens-formen fr- und gegeneinander in eine kontinuierliche Pluralisierung inhrent einzigartiger Lebensformen verwickelt.16 Nietzsche behauptet,

    13 Die fortwhrenden bergnge erlauben nicht, von Individuum usw. zu reden; die Zahl der Wesen ist selber im Flu (KSA 11: 36[23], S. 561); siehe auch den Begriff des Seelen-continuums in KSA 11: 40[34], S. 645. Im Ausgang von der Wechselbeziehung zwischen allen Lebensformen weist Nietzsche auch die Unter-teilung in unorganische und organische Welten als ein Vorurteil zurck. So schreibt er, da der Wille zur Macht es ist, der auch die unorganische Welt fhrt, oder vielmehr, da es keine unorganische Welt giebt. Die Wirkung in die Ferne ist nicht zu beseitigen: etwas zieht etwas anderes heran, etwas fhlt sich gezogen (KSA 11: 34[247], S. 50B). Siehe auch im Vergleich hierzu KSA 11: 36[21], S. 560; FW 109, S. 647469; sowie KSA 12: 9[144].97, S. 417418.14 Was das Organische vom Unorganischen unterscheidet, ist, da es Erfahrun-gen aufsammelt und dass es niemals sich selber gleich ist, in seinem Prozesse (KSA 10: 12[31], S. 406).15 [D]a die Welt nicht auf einen Dauerzustand hinauswill, ist das Einzige, was bewiesen ist. Folglich mu man ihren Hhezustand so ausdenken, da er kein Gleichgewichtszustand ist (KSA 12: 10[138], S. 535).16 Fr eine ausfhrliche Diskussion von Nietzsches Begriff des Lebens als eines Kampfes fr Pluralisierung und Singularisierung siehe Mller-Lauter, Wolfgang: Der

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    dass die Natur eine steigende Pluralisierung des Lebens anstrebt, und er ist der berzeugung, dass diese Pluralisierung durch eine Kultur erreicht werden kann, die aus einer Affirmation der Kontinuitt hervorgeht, die innerhalb der Totalitt tierischer, menschlicher und anderer Lebensfor-men besteht.17

    In Kapitel I, Kultur und Zivilisation, untersuche ich die Offenheit des menschlichen Lebens mit Blick auf den Horizont des Werdens durch eine Analyse des Wettstreits zwischen Kultur und Zivilisation (KSA 13: 16[73], S. 509; 16[10], S. 485f.). Anhand dieses Antagonismus entwickelt Nietzsche eine Kritik der Zivilisation, die keine Rckkehr zur Natur impliziert, sondern sich an einer Kultivierung der Animalitt ausrichtet. Ich definiere Kultur als Kultivierung und Bildung und unterscheide sie von Zivilisation, die ich als Zhmung und Zchtung definiere. Der Pro-zess der Zivilisation, wie Nietzsche ihn versteht, spiegelt einen Prozess der moralischen und rationalen Verbesserung des Menschen wider, der das tierische Leben nicht kultiviert, sondern es ausrottet und unter-drckt (GD Verbesserer, S. 98102; sowie Moral, S. 8287; GM II: 13, S. 291297). Im Gegensatz zur Zivilisation besteht die Aufgabe der Kultur darin, Lebens- und Denkformen hervorzubringen, die keine For-men der Macht ber das tierische Leben darstellen, sondern stattdessen voll des Lebens sind, von Leben berstrmen.18 Ich argumentiere, dass Kultur diese Flle des Lebens in den Trumen, Illusionen und Leiden-schaften des Tieres zurckgewinnt.

    Organismus als innerer Kampf, in: ders.: ber Werden und Wille zur Macht: Nietz-sche-Interpretationen I, Berlin 1999, S. 91140.17 Nietzsche bestreitet, dass so etwas wie die Entwicklung der Menschheit exis-tiert, stattdessen liegt sein Interesse in einer Kultivierung der Pluralitt innerhalb des menschlichen Wesens (KSA 11: 34[179], S. 481).18 Norris beschreibt diese Herausforderung wie folgt: Allerdings bringt die Biozen-trizitt dieser Tradition ihre Wertschtzung des Krpers, ihre Zelebration unver-mittelter Erfahrung sie mit sich selbst in Konflikt, macht sie feindselig gegenber der Kunst, gleichgltig gegenber der Darstellung, unnachahmbar (Norris: Beasts of Modern Imagination, a.a.O., S. 3). Und weiter unten: Natrlich ist das dieser Warnung innewohnende Paradox, Kunst innerhalb der Kultur zu produzieren, das heit nicht aus der Kultur, in der Praxis nur unvollkommen aufzulsen (ebd., S. 15) (eig. bers. [A.d..]). Siehe auch Shapiro, der die Frage, wie man Formen der Kultur hervorbringen kann, die voll des Lebens sind, als eine in Nietzsches Unzeitgemen Betrachtungen explizit gestellte Frage identifiziert: Wie knnen bedeutungsvolle Geschichten erzhlt werden, die den bergriffen der Bildungsmaschinerie der Uni-versitt entgehen und eine bedeutsame Alternative zu den hemmenden Formen des historischen Bewusstseins anbieten, die dieselbe Bildungsmaschinerie als die hchsten Manifestationen der westlichen Tradition gefeiert hat? (Shapiro, Gary: Nietzschean Narratives, Bloomington 1989, S. 21) (eig. bers. [A.d..]).