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BEITRAG : 100. GEBURTSTAG VON HANNAH ARENDT 38 PÄDAGOGIK 10/06 REINHARD KAHL »Wenn Hannah Arendt nicht existiert hätte, man hätte sie erfinden müssen. Ihr Leben ist nicht nur eine Parabel unseres Zeitalters, sondern mehrerer Jahrhun- derte europäischen Denkens und Han- delns.« Ernest Gellner Als Günter Gaus in seinem berühmten Fernsehgespräch »Zur Person« im Ok- tober 1964 Hannah Arendt Philoso- phin nannte, widersprach sie. Von der Philosophie habe sie sich 1933 verab- schiedet. »Mein Beruf«, sagte sie in diesem Interview, »ist politische Theo- rie.« Zwar zehrte sie ihr Leben lang von der philosophischen Tradition, doch der Anspruch der Philosophen auf die Wahrheit – und zwar auf die eine Wahrheit, deren Substanz sie glauben ergründet zu haben und gewisserma- ßen zu besitzen – wurde ihr früh sus- pekt. 1933 kam ein Riss in ihr Weltbild, der ihr zeitlebens zu denken gab. Die bis dahin völlig unpolitische, siebenund- zwanzigjährige Frau hatte Philosophie, Theologie und Griechisch bei Heideg- ger, Husserl und Jaspers studiert und über den Liebesbegriff bei Augustinus promoviert. Das Manuskript über Ra- hel Varnhagen, eine bewundernswerte Jüdin im Berlin der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, war fertig. Si- cher wäre sie bald Hochschullehrerin geworden oder vielleicht doch lieber freie Schriftstellerin? Aber mit der Ver- folgung der Juden wurde »das allge- mein Politische ein persönliches Schicksal«, sagte sie zu Günter Gaus. Das Schockierende allerdings war für sie 1933 gar nicht die Verfolgung der Juden durch die Nazis. Diese Katastro- phe war bereits seit Jahren absehbar. Was Hannah Arendt viel mehr er- schütterte, war, »dass die Freunde sich gleichschalteten!« Schon damals hatte sie den Verdacht, »das hängt mit die- sem Beruf, mit der Intellektualität zu- sammen.« Sie war davon überzeugt, dass sich auch deutschjüdische Intel- lektuelle unter anderen Vorzeichen nicht anders verhalten hätten. Auf der anderen Seite beobachtete sie, dass die freiwillige Gleichschaltung bei Nicht- intellektuellen keineswegs die Regel war. Die Falle der Intellektuellen Führte also eine Art Berufskrankheit die Intellektuellen dazu, dass sie sich selbst auf den Leim gingen? Worin könnte sie bestehen? »Das Schlimme war doch, dass die dann wirklich dar- an glaubten! Für kurze Zeit, manche für sehr kurze Zeit. Zu Hitler fiel ihnen was ein; und zum Teil ungeheuer inter- essante Dinge! Ganz phantastische und interessante und komplizierte Dinge!« Hannah Arendt entschloss sich 1933 zum Handeln. Für die Zionistische Ver- einigung dokumentierte sie antisemiti- sche Äußerungen. Diese sollten im Ausland veröffentlicht werden. Dabei wurde sie erwischt und inhaftiert. Von dem Kriminalbeamten, der sie verhör- te, sagte sie später, dass er ein so offe- nes, anständiges Gesicht hatte. »Mit dem freundete ich mich an. Ich verließ mich auf ihn und dachte, das ist eine viel bessere Chance, als irgendeinen Anwalt zu nehmen, der ja doch bloß Angst hat.« Sie kam frei und verließ Deutschland Richtung Paris mit der Vorstellung: »Nie wieder rühre ich irgendeine intellektuelle Geschichte an. Ich will mit dieser Gesellschaft nichts zu tun haben.« Aus dem Ab- scheu gegenüber den Intellektuellen wurden dann Fragen nach der Her- kunft des abendländischen Denkens, nach der Bedeutung des Handelns und der Politik und nach der Bedrohung, die aus dem absoluten Anspruch auf Wahrheit kommt. Aus diesem Wider- spruch gegen die Intellektuellen ent- faltet sich ein authentisches Leben – als eine Intellektuelle, denn die war sie nun mal. Ich will verstehen Günter Gaus fragte Hannah Arendt auch nach Zielen und Absichten ihrer Arbeit. Diese Frage machte sie hilflos. Ein Ziel? Nein, aber ein Antrieb. »Ich muss verstehen. – Jetzt fragen sie nach der Wirkung. Wenn ich ironisch reden darf, das ist eine männliche Frage. Männer wollen immer furchtbar gern 38 PÄDAGOGIK 10/06 Liebe zur Welt Hannah Arendt wäre am 14. Oktober 100 Jahre alt geworden – ihre Inspiration für die Pädagogik ist erst noch zu entdecken Selten wird eine Theorie mit der Zeit nicht grau und grauer, son- dern gewinnt an Strahlkraft. Selten tritt die Person, die hinter den Gedanken steht, nach und nach gleichsam erst hervor. Und noch seltener wird eine Frau Philosophin genannt. Das Prädikat Philo- sophin allerdings lehnte Hannah Arendt entschieden für sich ab. In dieser Ablehnung, bei ihrer gleichzeitigen tiefen Liebe zur Philosophie, liegt vielleicht ein Schlüssel zum Werk und zur Per- son.

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REINHARD KAHL

»Wenn Hannah Arendt nicht existierthätte, man hätte sie erfinden müssen. IhrLeben ist nicht nur eine Parabel unseresZeitalters, sondern mehrerer Jahrhun-derte europäischen Denkens und Han-delns.«

Ernest Gellner

Als Günter Gaus in seinem berühmtenFernsehgespräch »Zur Person« im Ok-tober 1964 Hannah Arendt Philoso-phin nannte, widersprach sie. Von derPhilosophie habe sie sich 1933 verab-schiedet. »Mein Beruf«, sagte sie indiesem Interview, »ist politische Theo-rie.« Zwar zehrte sie ihr Leben lang vonder philosophischen Tradition, dochder Anspruch der Philosophen auf dieWahrheit – und zwar auf die eineWahrheit, deren Substanz sie glaubenergründet zu haben und gewisserma-ßen zu besitzen – wurde ihr früh sus-pekt. 1933 kam ein Riss in ihr Weltbild, derihr zeitlebens zu denken gab. Die bisdahin völlig unpolitische, siebenund-zwanzigjährige Frau hatte Philosophie,Theologie und Griechisch bei Heideg-ger, Husserl und Jaspers studiert undüber den Liebesbegriff bei Augustinuspromoviert. Das Manuskript über Ra-hel Varnhagen, eine bewundernswerteJüdin im Berlin der Wende vom 18.zum 19. Jahrhundert, war fertig. Si-cher wäre sie bald Hochschullehrerin

geworden oder vielleicht doch lieberfreie Schriftstellerin? Aber mit der Ver-folgung der Juden wurde »das allge-mein Politische ein persönlichesSchicksal«, sagte sie zu Günter Gaus.Das Schockierende allerdings war fürsie 1933 gar nicht die Verfolgung derJuden durch die Nazis. Diese Katastro-phe war bereits seit Jahren absehbar.Was Hannah Arendt viel mehr er-schütterte, war, »dass die Freunde sichgleichschalteten!« Schon damals hattesie den Verdacht, »das hängt mit die-sem Beruf, mit der Intellektualität zu-sammen.« Sie war davon überzeugt,dass sich auch deutschjüdische Intel-lektuelle unter anderen Vorzeichennicht anders verhalten hätten. Auf deranderen Seite beobachtete sie, dass diefreiwillige Gleichschaltung bei Nicht-intellektuellen keineswegs die Regelwar.

Die Falle der Intellektuellen

Führte also eine Art Berufskrankheitdie Intellektuellen dazu, dass sie sichselbst auf den Leim gingen? Worinkönnte sie bestehen? »Das Schlimmewar doch, dass die dann wirklich dar-an glaubten! Für kurze Zeit, manchefür sehr kurze Zeit. Zu Hitler fiel ihnenwas ein; und zum Teil ungeheuer inter-essante Dinge! Ganz phantastische undinteressante und komplizierte Dinge!« Hannah Arendt entschloss sich 1933zum Handeln. Für die Zionistische Ver-einigung dokumentierte sie antisemiti-

sche Äußerungen. Diese sollten imAusland veröffentlicht werden. Dabeiwurde sie erwischt und inhaftiert. Vondem Kriminalbeamten, der sie verhör-te, sagte sie später, dass er ein so offe-nes, anständiges Gesicht hatte. »Mitdem freundete ich mich an. Ich verließmich auf ihn und dachte, das ist eineviel bessere Chance, als irgendeinenAnwalt zu nehmen, der ja doch bloßAngst hat.« Sie kam frei und verließDeutschland Richtung Paris mit derVorstellung: »Nie wieder rühre ichirgendeine intellektuelle Geschichtean. Ich will mit dieser Gesellschaftnichts zu tun haben.« Aus dem Ab-scheu gegenüber den Intellektuellenwurden dann Fragen nach der Her-kunft des abendländischen Denkens,nach der Bedeutung des Handelns undder Politik und nach der Bedrohung,die aus dem absoluten Anspruch aufWahrheit kommt. Aus diesem Wider-spruch gegen die Intellektuellen ent-faltet sich ein authentisches Leben – alseine Intellektuelle, denn die war sienun mal.

Ich will verstehen

Günter Gaus fragte Hannah Arendtauch nach Zielen und Absichten ihrerArbeit. Diese Frage machte sie hilflos.Ein Ziel? Nein, aber ein Antrieb. »Ichmuss verstehen. – Jetzt fragen sie nachder Wirkung. Wenn ich ironisch redendarf, das ist eine männliche Frage.Männer wollen immer furchtbar gern

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Liebe zur Welt Hannah Arendt wäre am 14. Oktober 100 Jahre alt geworden – ihre Inspiration für die Pädagogik ist erst noch zu entdecken

Selten wird eine Theorie mit der Zeit nicht grau und grauer, son-

dern gewinnt an Strahlkraft. Selten tritt die Person, die hinter den

Gedanken steht, nach und nach gleichsam erst hervor. Und noch

seltener wird eine Frau Philosophin genannt. Das Prädikat Philo-

sophin allerdings lehnte Hannah Arendt entschieden für sich ab.

In dieser Ablehnung, bei ihrer gleichzeitigen tiefen Liebe zur

Philosophie, liegt vielleicht ein Schlüssel zum Werk und zur Per-

son.

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wirken. Ich selber sehe das von außen.Nein, ich will verstehen. Und wenn an-dere Menschen verstehen, im selbenSinne, wie ich verstanden habe, danngibt mir das eine Befriedigung, wie einHeimatsgefühl.« Der Wunsch nach ei-ner Welt, die eine Heimat sein kann,war der Hoffnungssog ihres Denkens.Die Erschütterung darüber, dass dieWelt unbewohnbar werden könnte,wenn die Menschen mit ihrer Mög-lichkeit, frei handeln zu können, aufMittel für Zwecke reduziert werden,war ein Schmerz, der sie antrieb. 1933erlebte sie diesen unvergleichlichenKältestrom der Geschichte, »als ob sichein leerer Raum um einen bildete.« Was hat es mit der Verlassenheit aufsich, die mehr und mehr Menschen inder Moderne erleiden? Aus welcherTradition heraus neigen sie zur Fluchtaus der Politik in totalitäre Bewegun-gen? Diesen Fragen ging sie in ihrenStudien über »Elemente und Ursprün-ge totaler Herrschaft« nach. In ihremanderen Hauptwerk »Vita activa – vomtätigen Leben« ergründete sie das be-drohte »Heimatsgefühl« und fragtenach den Konditionen gelingenden Le-bens. »The Human Condition« heißt

das Buch im amerikanischen Original.Eine Gewebeprobe: »Handeln, imUnterschied zum Denken und Herstel-len, kann man nur mit Hilfe der ande-ren. In dem Zusammenhandeln reali-siert sich die Freiheit des Anfangen-könnens. Ohne diese Fähigkeit des Neubegin-nens, des Anhaltens und des Eingrei-fens wäre ein Leben, das wie dasmenschliche Leben, von Geburt andem Tode zueilt, dazu verurteilt, allesspezifisch Menschliche immer wiederin seinen Untergang zu reißen und zuverderben … Das Wunder, das denLauf der Welt und den Gang mensch-licher Dinge immer wieder unterbrichtund von dem Verderben rettet, das alsKeim in ihm sitzt, ist schließlich dieTatsache der Natalität, das Geboren-sein, welches die ontologische Voraus-setzung dafür ist, dass es so etwas wieHandeln überhaupt geben kann. Dassman in der Welt Vertrauen haben unddass man für die Welt hoffen darf, istvielleicht nirgends knapper und schö-ner ausgedrückt als in den Worten, mitdenen die Weihnachtsoratorien diefrohe Botschaft verkünden: Uns ist einKind geboren.«

Macht kommt von Mögen

Jeder kommt als ein anderer zur Welt.Diese ursprüngliche Differenz verlangtnach einer gemeinsamen Welt. Die istaber erst herzustellen. Darin liegt fürArendt der Ursprung von Politik. Mit-einander sprechend wird die gemein-same Welt erschaffen. Macht, schriebsie in »Vita activa«, komme von Mö-gen. »Macht entsteht nur, wo Men-schen zusammen handeln.« DieseEnergie von Macht ist im englischenWort power noch präsenter als imDeutschen, das Macht häufig synonymmit Herrschaft, der erkalteten Macht,gebraucht. Am schönsten und ein-dringlichsten hat sie diesen fragilen,gemeinsamen Raum beschrieben, alssie sich im September 1959 in Ham-burg für den Lessing-Preis bedankte:»Die Welt liegt zwischen den Men-schen, und dies Zwischen – viel mehrals, wie man häufig meint, die Men-schen oder gar der Mensch – ist heuteGegenstand der größten Sorge und deroffenbarsten Erschütterungen in nahe-zu allen Ländern der Erde. Mehr undmehr Menschen in den Ländern derwestlichen Welt, die seit der Antike die

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Freiheit von Politik als eine der Grund-freiheiten begreift, machen von dieserFreiheit Gebrauch und haben sich vonder Welt und ihren Verpflichtungen inihr zurückgezogen.« Als sie mit dem Lessing-Preis ausge-zeichnet wurde lehrte Hannah Arendtbereits an amerikanischen Universitä-ten. 1941 war sie von Frankreich überSpanien nach New York geflohen. Siehatte sich zunächst als Verlagslekto-rin und mit Zeitungsartikeln durchge-schlagen. Bald erregten ihre Artikelund Essays Aufsehen, denn hier mel-dete sich eine unverstellte Stimme zuWort. Man konnte jemanden beimDenken beobachten. Hier gab es keineKlischees. 1963 berichtete sie für dieZeitschrift The New Yorker über denProzess gegen Adolf Eichmann in Je-rusalem. Ihr Bild von Eichmann als ei-nem feigen, bürokratischen Hans-wurst, der überhaupt nicht dem er-warteten Bild des Massenmörders ent-sprach, irritiert auch die jüdische Öf-fentlichkeit.

Pluralität

Mir ihren Theorien über das Wollen,das Denken und über das Böse arbei-tete sie weiter an der Auflösung derZwangsvorstellung von der einenWahrheit, die keine andere neben sichduldet. Gegen diese Zentralperspekti-ve setzte sie die endlosen Transforma-tionen in viele, niemals zu Ende ge-hende Gespräche und Handlungen, dievon anderen Gesprächen und Hand-lungen unterbrochen werden, welcheihrerseits neue Ereignisse schaffen undan die sich wiederum noch nie da ge-

wesene Gespräche und Handlungenanschließen. Dieses prinzipiell un-übersichtliche Gewebe versprach Be-freiung vom abendländischen Mono-theismus. »Pluralität« wurde dabei ihrLeitbegriff. In ihrem Denktagebuchnotierte sie 1951: »Sofern Handeln aufdie Pluralität der Menschen angewie-sen ist, ist die erste Katastrophe derabendländischen Philosophie, dass Ei-nigung prinzipiell unmöglich und Ty-rannei prinzipiell notwendig wird.«Wenn es um die eine richtige Lösunggeht, dann ist dem, der diese hat, Dik-tatur und jede andere Form von Tyra-nis gerade recht. Platon ging diesenschrecklichen Weg als einer der erstenund scheiterte dabei, mit dem Tyran-nen in Syrakus einen Idealstaat zu ver-wirklichen. Mit den modernen politi-schen Bewegungen schloss sich fürHannah Arendt ein vor zweieinhalbJahrtausenden angelegter Kreis. Jetztwurden angeblich endgültige Wahr-heiten exekutiert. Das Ende der Ge-schichte wurde angestrebt. Für die kei-neswegs großen, nur enorm aufgebla-senen Ziele war jedes Mittel recht. Ge-wiss waren die totalitären Ideologienmit den antiken Wahrheitslehren nichtzu vergleichen, aber Hannah Arendtsah da einen roten Faden. Dem war sieauf der Spur. Gegen den Absolutismus der Wahrheitsetzte sie das Wagnis, ein Jemand zusein. Nicht nur eine Rolle zu spielenoder zu funktionieren, sondern selbstzu denken, eigenständig und mit an-

deren zu handeln. Denn »jederMensch steht an einer Stelle in derWelt, an der noch nie ein anderer vorihm stand«, schrieb sie in ihrem Buch»Vita activa«, das sie ursprünglich»Amor Mundi«, Liebe zur Welt, nen-nen wollte. Erst aus dieser nicht wei-ter reduzierbaren Verschiedenheit undEigenheit eines jeden, also der Plura-lität der Menschen, ergibt sich für siedie Möglichkeit zur Verständigung.Wenn alle identisch wären oder seinsollten, wäre Verständigung weder nö-tig noch denkbar. Belehrung und Drillwären angemessen. Schon immer neig-te der Wahrheitsabsolutismus dazu,dass ihm jedes Mittel recht wäre, seineEndziele zu erreichen. Die Relation vonZweck und Mittel, in der naturgemäßder Zweck triumphiert, schien ihr fürdie Sphären der Arbeit und des Her-stellens angemessen, nicht aber für diedes Handelns. Wenn dort diese Rela-tion herrscht, wird alles zum Mittel. Inder Sphäre des Handelns verfügen wirüber keine Zwecke, die ihre Mittel hei-ligen. »Eine gute Tat für einen bösenZweck«, notiert sie in ihrem Denktage-buch, »fügt der Welt Güte zu; eineböse Tat für einen guten Zweck fügtder Welt Bosheit zu.« Im Handelnprägt das Wie jedes Was. Denn »wirfangen etwas an; wir schlagen unserenFaden in ein Netz von Beziehungen.Was daraus wird, wissen wir nie.« Soargumentierte sie gegen Ende desdenkwürdigen Gesprächs mit GünterGaus und fuhr fort: »Wir sind alle dar-

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Achtzehn Jahre staatenlos

Hannah Arendt wurde am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren. In Kö-nigsberg wuchs sie auf. In der großbürgerlichen Familie spielte die jüdischeHerkunft keine Rolle. Hannah war eine überragende Schülerin. Bald wurdees ihr in der Schule langweilig. Die zeitweilige Schulschwänzerin flog in der12. Klasse von der Schule, machte aber in einer Externenprüfung ihr Abiturund hatte so ein Jahr gewonnen.Noch keine 18 Jahre alt, begann sie ihr Studium und legte mit 22 ihre Dok-torarbeit vor. 1933 holt die Politik ihr Leben ein. Sie schloss sich einer zio-nistischen Organisation an und musste noch im selben Jahr über Prag nachParis flüchten. Dort wurde sie Generalsekretärin einer jüdischen Hilfsorga-nisation. Als auch Frankreich für Emigranten unsicher wurde, flüchtete sie1941 nach New York.Dort schrieb sie für die deutsch-jüdische Wochenzeitung »Aufbau« und wur-de Cheflektorin eines Verlages, in dem sie die Herausgabe des Werkes vonFranz Kafka betreute. Nebenher arbeitete sie an ihrem Buch über die Ur-sprünge totalitärer Herrschaft, das 1951 erschien. Im selben Jahr nahm sienach achtzehnjähriger Staatenlosigkeit die amerikanische Staatsbürgerschaftan. Ab 1955 lehre sie an amerikanischen Universitäten. 1963 berichtete sieüber den Eichmann Prozess in Jerusalem. Es folgten weitere Bücher. HannahArendt galt nun als eine der bedeutendsten politischen Theoretikerinnen. Am4. Dezember 1975 starb sie in New York an einem Herzinfarkt.

Abb. 1: Vita

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auf angewiesen zu sagen, Herr vergibihnen, denn sie wissen nicht, was sietun. Das gilt für alles Handeln. Einfach,weil man es nicht wissen kann. Das istein Wagnis. Und nun würde ich sagen,dass dieses Wagnis nur möglich ist imVertrauen auf die Menschen. Anderskönnte man es nicht.«

Ein Jemand sein

Der Preis dafür, ein Jemand zu sein, istallerdings eine ursprüngliche undnicht schmerzlos zu überwindendeFremdheit: »Das Risiko, als ein Jemandim Miteinander in Erscheinung zu tre-ten, kann nur auf sich nehmen, wer be-reit ist, im Miteinander unter seines-gleichen sich zu bewegen, Aufschlusszu geben, wer er ist und auf die ur-sprüngliche Fremdheit dessen, derdurch Geburt als Neuankömmling indie Welt gekommen ist, zu verzich-ten.« Auf seine ursprüngliche Fremdheitverzichten! Ein gewöhnungsbedürfti-ger Gedanke. Im Gegensatz zu unsererTradition sagt er, am Anfang war keinParadies, auf das der Sündenfall folg-te! Im Zentrum steht eben nicht diegroße Wahrheit, die tatsächlich dochnur Abweichung, Beschämung undEntwertung hervorbringt. HannahArendt dreht die Konstruktion von ur-sprünglicher Harmonie und Wahrheitund dann späterer erst selbst verschul-deter Entfremdung um. Wenn also dieEntfremdung ein Ausgangspunkt istist, weil jeder Neuankömmling als einanderer, also als Fremder zur Weltkommt, dann lässt sich diese ur-sprüngliche Fremdheit zwar durch denAufbau einer gemeinsamen Welt ab-bauen und in Verständigung und Ge-meinsinn überführen, immer wieder inNeues verwandeln, aber nie überwin-den! Einen Menschen, die diese gemeinsa-me Welt gar nicht für möglich hält, derihr prinzipiell misstraut, nannte manin der griechischen Antike »Mis-anthrop.« Der war definiert ihn als einMensch, der, so Arendt, »niemandenfindet, mit dem er die Welt teilenmöchte, dass er niemanden gleichsamfür würdig erachtet, sich mit ihm ander Welt und der Natur und dem Kos-mos zu erfreuen.« Er flüchtet aus deroffenen Welt und sucht seinen Unter-schlupf in der vermeintlichen Wahr-heit und im Rechthaben. Er besteht aufFehlerlosigkeit und Eindeutigkeit. Lei-der fühlen sich nicht wenige Mis-anthropen ausgerechnet von Erzie-hungsinstitutionen angezogen, als wä-

ren es beschützende Werkstätten, dievor der Pluralität und Unübersicht-lichkeit der Welt abschirmen sollen. Menschen, die es wagen, ein Jemandzu sein, akzeptieren die Sphäre der Dif-ferenz. Sie haben Freude an Unter-schieden. Sie treffen allerdings nichtunvermittelt aufeinander. Sie spielenihre Bälle über Bande. Mit HannahArendt möchte man sagen: überFreundschaftsbande. Denn – manmuss diesen großen Satz aus ihrer Les-sing-Rede wiederholen – »die Weltliegt zwischen den Menschen.« Im»Zwischen« bildet sich die gemeinsameWelt. Sie braucht Spielräume. UnterDogmen verklumpt die Welt. In ihrerLessing-Rede argumentiert HannahArendt: »Jede Wahrheit, ob sie nunden Menschen ein Heil oder ein Un-heil bringen mag, ist unmenschlich imwörtlichsten Sinne, weil sie zur Folgehaben könnte, dass alle Menschen sichplötzlich auf eine einzige Meinung ei-nigten, so dass aus vielen einer würde,womit die Welt, die sich immer nurzwischen den Menschen in ihrer Viel-falt bilden kann, von der Erde ver-schwände.« Sie lobte – ganz in der Tra-dition Lessings – die Freundschaft derVerschiedenen und misstraute der Brü-derlichkeit der Gleichen. Freundschaftpries sie als die dem »Geschlecht der

eingeschränkten Götter« (Lessing) an-gemessenste Lebensform und erinnertan Lessings großen Satz, dass die Göt-ter die Sterblichen um deren Fähigkeitzur Freundschaft beneideten, die sieeinzig ihrer Unvollkommenheit undSterblichkeit verdankten.

Gebürtlichkeit

Die alte philosophische Kategorie»Sterblichkeit« ergänzte HannahArendt mit einem komplementären Be-griff: »Gebürtlichkeit« oder auch »Na-talität«. Damit ist nicht nur die einma-lige und je einzigartige Geburt ge-meint, sondern auch die Fähigkeit, im-mer wieder neu anfangen zu können,also eben nicht ein für alle mal definiertzu sein, weder durch eigene nochdurch fremde Handlungen. »Der An-fang ist auch ein Gott; solange er unterden Menschen waltet, rettet er alles.«Dieser Satz von Platon ist einer der vonihr am häufigsten zitierten. Viele an-dere Gedanken aus der Philosophie,auf die Hannah Arendt baute, lassenihr Verhältnis zu dieser Tradition alsviel ambivalenter erscheinen, als esihre Kritik am tyrannischen Wahr-heitsanspruch und an einer dieser Tra-dition innewohnenden Ablehnungvon Pluralität und Eigensinn vermuten

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Hannah Arendt lesen

Wer Hannah Arendt kennenlernen möchte, sollte mit ihrer Lessing-Rede be-ginnen. Sie enthält ihre Grundideen und ist sprachlich brillant. Abgedrucktist die Rede in »Menschen in finsteren Zeiten«. Dieser Band versammelt Por-träts unter anderem über Brecht, Benjamin, Heidegger und Jaspers. Einen Zugang ermöglicht auch das Gespräch mit Günter Gaus. Erschienen istes in »Ich will verstehen – Selbstauskünfte zu Leben und Werk«. Das Gesprächwurde auch in diversen Hörbüchern mit Interviews und Reden von HannahArendt veröffentlicht. Die Rede »Krise der Erziehung« findet man in dem Band »Zwischen Vergan-genheit und Zukunft«. In »Vita activa oder vom tätigen Leben« entwickelt Hannah Arendt ihre Unter-scheidung von Arbeit, Herstellen und Handeln. Danach erreichen Menschenerst im Handeln Freiheit. In der Arbeit und im Herstellen unterliegen sieZweck-Mittel-Relationen. Ihr Befürchtung war, dass in der Arbeits- und Kon-sumgesellschaft der Schritt zur Freiheit in geschichtlich neuer Weise ver-baut wird.Eine gute Einführung zu Hannah Arendt bietet Annette Vowinkels Buch»Arendt« (Reclam Leipzig). Die beste Biografie ist die von Elisabeth Young-Bruehl, »Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit« (Fischer Verlag). Aber alleÜberblicke und Einführungen sind im Falle von Hannah Arendt auf beson-dere Weise unangemessen. Sie hat kein System entwickelt, das sich auf Bau-pläne reduzieren ließe, sie hat auf ihre ganz eigene Weise gedacht. Deshalbsollte man sie durch ihre Texte selbst kennenlernen. Einen besonderen Zugang bieten ihre Denktagebücher aus den Jahren 1951/52.Aber damit sollte man nicht anfangen.Das Werk von Hannah Arendt ist im Piper Verlag erschienen. Fast alle Bü-cher sind als Taschenbücher erhältlich.

Abb. 2: Literatur

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lässt. Schließlich führt sie ihre Kritikan dieser Tradition ja weitgehend mitArgumenten aus dieser Tradition.Stärker als Begriffe waren für HannahArendt allerdings Personen. Sieschrieb über Brecht und Benjamin,über Heidegger und Jaspers und amausführlichsten über die Berliner Jü-din Rahel Varnhagen. Schon 100 Jahrewar sie tot, als das Manuskript als Ha-bilschrift, entstand: »Ungebunden,vorurteilslos, gleichsam in der Situa-tion des ersten Menschen, ist sie ge-zwungen, sich alles so anzueignen, alsob es ihr zum ersten Male begegnete.Worauf es ihr ankam, war, sich demLeben so zu exponieren, dass es sietreffen konnte wie Wetter ohneSchirm.«Der Klappentext des Buches »RahelVarnhagen – Lebensgeschichte einerdeutschen Jüdin aus der Romantik«,

erschienen im Piper Verlag, zeigt, wieweit man von diesem Mut, dem natür-lich kein Mensch offen widerspricht,tatsächlich entfernt ist. Dort zitiert derVerlag diese Passage folgendermaßen:»Worauf es ihr ankam, war, sich demLeben so zu exponieren, dass es nietreffen konnte wie Wetter ohneSchirm.« Aus »sie« wurde »nie«. DieVeränderung nur eines Buchstabensreicht für die völlige Verdrehung desSinns. Über mehrere Auflagen hatte of-fenbar niemand diese kleine Fälschungbemerkt. Ein Beispiel wie radikalesDenken eingemeindet und im allge-meinen Gemurmel stimmlos gemachtwird.

Lob des Anfängers

Für Hannah Arendt war, wie für Im-manuel Kant, das Erwecken der Ver-nunft eine zweite Geburt, ein selbstge-machter Anfang gegen das Gelebt-wer-den. Denn unsere erste Geburt habenwir uns nicht ausgesucht. Die erste Ge-burt war für Kant ein »Skandal des An-

fangs«, den Menschen nur kompensie-ren können, indem sie sich die Freiheitzu weiterem Anfangenkönnen neh-men. Die Urszene des Anfangens ist dasStaunen. Auf sie folgt die Kraft des An-fängers, der selbst anfangen kann. Undweil jeder einen anderen Anfang hat,ja, weil jeder ein anderer Anfang ist –und im Grunde ein Dissident – nur des-halb kann er Individuum sein. Einzig-artigkeit ist ohne Unvollkommenheitnicht zu haben. Absolutheit und Per-fektion stehen den Sterblichen einfachnicht zur Verfügung.»Die Art und Weise wie der Anfan-gende das Neue in die Wege leitet, wirdfür ihn selbst, wie für alle, die sich ihmanschließen, um das Unternommenezu Ende zu führen, zu einem Gesetz,das die Handelnden wohl modifizie-ren, aber nicht mehr schlechterdingsbrechen können, ohne das Begonnenezu ruinieren. Diesen Sachverhalt kannman auch so formulieren, dass mansagt: Der Anfang ist das Prinzip jedesHandelns, als Prinzip hält er sichdurch, auch wenn er selbst längst ver-gangen ist, beseelt von nun an alles,was auf ihn folgt, bleibt sichtbar in derWelt.« Wenn Erziehung den besonderen An-fang, der ein jeder Mensch ist, stär-ken und zugleich in Gespräche undzum Zusammenhandeln führen soll,dann kann sich Erziehung nicht inBelehrung oder Vermittlung von Wis-sen erschöpfen. Damit würde sie indie enge Welt der Zweck-Mittel-Re-lationen gesperrt. Erziehung bestehtnicht in der Vermittlung von Sachenund Stoffen, sie besteht vielmehr inder Art des Handelns, Denkens undSprechens, in der Erwachsene agierenund dabei auf Kinder wirken. Mankönnte altmodisch sagen, Erziehungwirkt durch Vorbilder. Sie wirkt we-niger über das Was als vielmehrdurch das Wie des Handelns. DieForm konstituiert den Inhalt. DieserVorrang wäre das Grundgesetz allesHandelns. Ein Gedanke, der Erzie-hung, die ja immer noch im Geruchprinzipieller Repression steht, reha-bilitieren könnte und dazu heraus-fordert, sie neu zu denken. Hinter

dem Was, den Sachen, vor allem hin-ter den vermeintlichen Ur-Sachen,hinter dem ganzen Stoff der auskris-tallisierten Welt kann man sich ver-stecken. Hinter seine Art zu handeln,sein Wie, kann keiner zurücktreten.Darin offenbart sich die Person, ja, esist die Person. Menschen brauchen also nicht Erzie-hung, um den Anfängerstatus baldhinter sich zu bringen, sondern um ihnüberhaupt erst zu gewinnen. Mankönnte sagen, das Ziel wäre, Anfängerauf immer höherem Niveau zu werden.Anfänger ist ein Synonym dafür, einePerson, also ein Jemand zu sein. Ganzanders der Funktionär, der alles tut,dieses existentielle Risiko zu vermei-den, und es vorzieht, als Untermieterin der Welt darauf zu verzichten, je-mand zu sein. Nur wer anderen ver-traut, weil er selbst Vertrauen erfahrenhat, kann die vielen Risiken des Han-delns übernehmen. Deshalb muss Er-ziehung ein freundliches Willkommenin der Welt bereiten. Erziehung ist dasGegenteil jener verächtlichen und ab-weisenden Begrüßung, die dem Neu-ankömmling mitteilt, ein Falscher zusein, einer, der erst ein ganz Andererwerden muss, um sich die Gunst vonAnerkennung zu ertrotzen. Die häufigverbreitete Botschaft: »Ihr seid eigent-lich überflüssig, gebraucht werdet ihrnicht« ist ein Gift. Sie entzieht den Kin-dern die Welt und hindert sie daran,sich mit ihr anzufreunden.

Erziehung? Erziehung!

Viele, auch manche, die heute HannahArendt entdecken, wollten lange vonErziehung nichts mehr wissen. Sie hat-ten den unfreundlichen Empfang, densie in der Welt erfahren hatten, mit Er-ziehung überhaupt gleichgesetzt. Viel-leicht sollte man diese Erfahrungen mitder Misanthropie und mit dem Zy-nismus lieber Entziehung nennen, umden notwendigen – und vielleicht baldauch wieder in einer gewissen Schön-heit erstrahlenden Begriff Erziehungzu befreien. Er bedeutet dann, dieNeuankömmlinge in unsere Welt hin-einzuziehen.

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»Sie war eine schöne Frau. Bezaubernd. Verführerisch feminin. Das Auffälligs-te an ihr waren die Augen: leuchtend und funkelnd, verträumt, wenn sie glück-lich oder erregt war, aber zugleich tief, dunkel entrückt. Teiche der Innerlichkeit.Es war etwas Unergründliches an Hannah, das in den Tiefen dieser Augen zuliegen schien.«

Mary McCarthy

Abb. 3: Über Hannah Arendt

Page 6: Liebe zur Welt - reinhardkahl.de Arendt.pdf · »Wenn Hannah Arendt nicht existiert hätte, man hätte sie erfinden müssen. Ihr Leben ist nicht nur eine Parabel unseres Zeitalters,

Die angemessene Begrüßung für dieNeuankömmlinge, wie Hannah Arendtdie Menschenkinder häufig nannte, isteine Frage, die uns gar nicht mehr ge-läufig ist. »Wer bist Du?« Wie würdeeine Schule aussehen, in der diese Fra-ge vielfach variiert würde? Und dannerst die zweite Frage: »Was kannstDu.« Erziehung wäre von der Vorstellungzu befreien, dass die nächste Genera-tion der fertigen Welt anzupassen sei.Die Idee einer durch und durch fragi-len Welt sollte an diese Stelle treten.Das wäre eine Welt, die starke Er-wachsene braucht. Aber: »Die Auto-rität ist von den Erwachsenen abge-schafft worden, und dies kann nur ei-nes besagen, nämlich dass die Er-wachsenen sich weigern, die Verant-wortung für die Welt zu übernehmen,in welche sie die Kinder hineingebo-ren haben.« Das sagte Hannah Arendtam 10. Mai 1958 in der Bremer Bött-chergasse in ihrem visionären Vortragüber »Die Krise der Erziehung«. Siekritisierte Erwachsene, weil sie denKindern Probleme aufladen, die zu lö-sen sie sich selbst scheuen. HannahArendt dachte noch nicht an ökologi-sche Hypotheken. Damals war auchnoch nicht jedes Neugeborene inDeutschland mit 20 000 Euro Staats-schulden belastet. Sie verlangte ganzeinfach, dass Erwachsene für dieWelt, wie sie ist, den Kindern gegen-über einstehen. Darauf bestand sieauch und gerade dann, wenn die Er-wachsenen mit dem Zustand der Weltnicht einverstanden sind. Sie kriti-sierte feige Erwachsene, die das alteGenerationenspiel einfach umdrehtenund behaupten, das Neue gehe alleinvon den Kindern aus, weil diese in ih-rer Spontaneität überlegen seien undbesser wüssten, wo es langgeht. Nein,sagte Hannah Arendt: »Sofern dasKind die Welt noch nicht kennt, musses mit der Welt graduell bekannt ge-macht werden; sofern es neu ist, mussdarauf geachtet werden, dass diesNeue nach Maßgabe der Welt, so wiesie ist, zur Geltung kommt und nichtvon dem Alter der Welt erdrücktwird.« Es ist, als hätte der Vortrag »Die Kriseder Erziehung« seit 1958 noch an Ak-tualität gewonnen. Zehn Jahre vor1968 nahm Hannah Arendt die ameri-kanische »Progressive Education«aufs Korn. Sie kritisierte etwas, dasnun Jahrzehnte nach dem antiautori-tären Schub, vielen erst langsam däm-mert: Dass sich die Erwachsenen viel-leicht gar nicht so sehr aufgemacht ha-

ben, die Kinder zu befreien, dass sievielmehr versucht haben, sich einfachaus dem Staub zu machen und seit-dem ihren Kindern, die sie doch soidealisieren, etwas nicht Ersetzbaresvorenthalten: sich selbst. Ihr Verdikt:»Wer die Verantwortung für die Weltnicht übernehmen will, sollte keineKinder zeugen und darf nicht mithel-fen, Kinder zu erziehen.«

Erwachsen werden!

Sie bricht auch eine Lanze für dieAutorität: »In der Erziehung selbstäußert sich diese Verantwortung fürdie Welt in der Autorität … Gegen-über dem Kind nimmt der Lehrer esgleichsam auf sich, die Erwachsenenzu repräsentieren, die ihm alle sagenund im Einzelnen zeigen: Schau, diesist unsere Welt.« Kann es Erziehungohne Autorität und Stolz der Erwach-senen geben? Können Erwachsene dieNeuankömmlinge zum Mitmacheneinladen, wenn sie ihre Welt selbstnicht lebenswert finden? »Deutlicherkonnten moderne Menschen ihre Un-zufriedenheit mit der Welt, ihr Unbe-hagen mit dem Bestehenden gar nichtäußern, als durch die Weigerung, ih-ren Kindern gegenüber die Verant-wortung für all das zu übernehmen.Es ist, als ob sie ihnen täglich sagten:In dieser Welt sind auch wir nichtsehr verlässlich zu Hause, und wieman sich in ihr bewegen soll, was mandazu wissen und können muss, istauch uns nicht sehr gut bekannt. Ihrmüsst sehen, wie ihr durchkommt;uns jedenfalls sollt ihr nicht zur Ver-antwortung ziehen können, wir wa-schen unsere Hände in Unschuld.«Im Gegensatz zum verantwortungslo-sen Infantil-Erwachsenen überneh-men erwachsen gewordene Erwach-sene, denen es gelungen ist, ein Je-mand zu werden, Positionen. Diesekönnen nie absolut sein, wenn dochjeder an einer Stelle steht, an der keinanderer steht, jemals stand und niestehen wird. Diese Erwachsenen er-weitern ihren Raum dadurch, dass siesich in Frage stellen lassen. So ermög-lichen sie Kindern und Jugendlichen

ihren Widerspruch. Der ist eine Vor-aussetzung für ihre Eigenständigkeit.Diese unterstellen feige Erwachseneihren Kindern als eine schon von Na-tur aus vorhandene. Mit dieser ideali-sierenden Unterstellung ziehen siesich aus der Affäre. Wenn ihre Kin-der ihnen eigentlich überlegen sind,schulden sie ihnen ja nichts. Mit die-ser Überhöhung werden die Kindergeschwächt.Wenn auch Erziehung als Handlungder Erwachsenen für Hannah Arendtim Kern eine konservative Angelegen-heit ist, so ist das Generationenver-hältnis alles andere als konservativ.Die Schule als ein gemeinsamer Raumder Generationen wäre ein besondersgeeigneter Ort, um im Spiel mit Unter-schieden Neues zu erzeugen. Etwas,das noch nie war, könnte sich auf-bauen helfen, wenn der Enthusiasmusverschiedener Generationen aufeinan-der trifft: »Es geschieht nichts Neuesunter der Sonne, es sei denn, dassMenschen das Neue, das in die Weltkam, als sie geboren wurden, han-delnd als einen neuen Anfang in dasSpiel der Welt werfen.«

Kleiner Epilog

Rüdiger Safranski schreibt im An-schluss an Kafka, den Hannah Arendtübrigens sehr verehrte: »Der Landver-messer sucht nach einer Wahrheit, dieihn frei machen soll. Er findet sie nichtund er findet auch nicht heraus, dassschon diese Art des Suchens ein Fehlerist. Denn diese Wahrheit, auf die mansich stützen könnte wie auf etwas, dasnicht aus einem selbst hervorgegangenist, gibt es nicht. Was er in der Erfahrungder Freiheit lernen könnte, ist eine neueKonstellation von Freiheit und Wahr-heit. Nicht die Wahrheit wird uns freimachen gilt, sondern das Umgekehrte:Die Freiheit wird uns wahr machen.«

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PÄDAGOGIK 10/06 43

»Ich habe von Hause aus nicht gewusst, dass ich Jüdin bin. Meine Mutter wargänzlich areligiös, mein Vater ist früh gestorben. Mein Großvater war Präsi-dent der liberalen Gemeinde und Stadtverordneter von Königsberg. Ich kom-me aus einer alten Königsberger Familie. Das Wort Jude ist bei uns nie gefal-len. Es wurde mir zuerst entgegen gebracht durch antisemitische Bemerkun-gen von Kindern auf der Straße. Daraufhin wurde ich sozusagen aufgeklärt.«

Abb. 4: O-Ton zum Jüdischsein

Reinhard Kahl, Jg. 1948, ist Journa-list. Adresse: EppendorferLandstraße 46, 20249 Hamburg.Internet: www.reinhardkahl.deE-Mail: [email protected]