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Marco Dräger: Sterben oder desertieren für den Frieden? Zwei Generationen, zwei Denkmäler, ein Ziel
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Marco Dräger
Sterben oder desertieren für den Frieden? Zwei Generationen, zwei Denkmäler, ein Ziel
Vorbemerkung:
Das vorliegende Manuskript stellt die Basis für einen Vortrag dar, der am 4. August 2012 auf
der interdisziplinären Graduiertentagung „Ein bisschen Frieden? Der Wunsch nach Frieden
und seine Manifestationsformen in den 1980er Jahren“ in der Sektion „Die symbolische
Repräsentation der Friedensbewegung“ an der Universität Augsburg gehalten wurde.
Gerne kommt der Referent dem Wunsch der „Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz
e. V.“ nach und stellt sein Manuskript für eine Online-Veröffentlichung auf deren Homepage
zur Verfügung; es hat allerdings seinen Charakter als Hilfsmittel für einen mündlich
gehaltenen Vortrag von ca. 25 Minuten Dauer beibehalten, nur einige Anmerkungen und
Literaturhinweise sind ergänzt und aktualisiert worden.
Guten Tag meine Damen und Herren,
ich danke den Veranstaltern für die Einladung und die damit verbundene Gelegenheit, heute
hier einen Ausschnitt aus meiner im Entstehen befindlichen Dissertation präsentieren zu
dürfen. Darin beschäftige ich mich mit Denkmälern für die Deserteure des Zweiten
Weltkrieges, die seit den 1980er Jahren entstanden. Heute möchte ich über diese Denkmäler1
als Manifestationsform bzw. symbolische Repräsentation der Friedensbewegung sprechen.
Wenn ich von Deserteuren rede, dann sind damit diejenigen deutschen Soldaten des Zweiten
Weltkrieges gemeint, die aus der Wehrmacht desertierten. Der Begriff „Deserteur“ leitet sich
vom lateinischen deserere ab, was so viel heißt wie „verlassen, im Stich lassen, abtrünnig
werden oder eine Plicht nicht erfüllen“. Deserteure gelten somit seither als ruchlose
Drückeberger, Feiglinge und Vaterlandsverräter. Der Terminus ist sehr stark negativ
konnotiert; auch die Erforschung von Desertion und Deserteur-Denkmälern sorgt doch noch
immer für Verwunderung und mindestens erstaunte Blicke, wie ich selbst bereits mehrfach
erfahren habe. Nach wie vor ist der Deserteur auf den ersten Blick ein scheinbar
unsympathisches Subjekt bzw. Forschungssujet. 1 Unter Denkmälern soll „jedes in der Öffentlichkeit errichtete, meist für die Dauer bestimmte Werk, das bereits seine Entstehung, zumindest aber seine Erhaltung dem Zwecke des Erinnerns an Personen, Handlungen oder ,merk-würdige‘ Ereignisse verdankt“ (Peter Springer: Denkmalsrhetorik, in: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Darmstadt 1994, Sp. 527–536, hier Sp. 257–258) verstanden werden, so dass der „klassische“ Denkmalsbegriff, der zumeist auf rundplastische Darstellungen von Personen begrenzt ist, eine Erweiterung erfährt und nun auch Gedenktafeln, Gedenksteine, Straßennamen, Stolpersteine, Skulpturen und andere modern-abstrakte Darstellungsformen darunter subsumiert werden können.
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In meinem Vortag möchte ich die historischen Fragen beleuchten,
• wie es zur Denkmalswürdigkeit der Deserteure in den 1980er Jahren kam,
• welcher Mentalitätswechsel in welchen Teilen der Gesellschaft wann und warum stattfand
• und gegen welche Widerstände sich die Befürworter von Deserteur-Denkmälern
durchsetzten.
Der Ausgangspunkt war der NATO-Doppelbeschluss. Gruppen aus dem „antimilitaristischen,
pazifistischen Spektrum der Friedensbewegung“2 suchten abseits des antizipierten
soldatischen Heldentodes im Atomkrieg nach neuen, erinnernswerten Idealen, die eher zu
ihrer pazifistischen Orientierung passten. Diese entdeckten sie in den Deserteuren des
Zweiten Weltkrieges. Deren historische Verweigerung erschien ihnen beispielhaft für die
Gegenwart. Unter den zeitgenössischen sozialen Rahmenbedingungen (z. B. einer Kultur der
Angst vor dem Atomkrieg3) deuteten sie daher die Deserteure des Zweiten Weltkrieges
positiv um und sahen in ihnen historische Vorbilder.
Sie forderten Denkmäler für Deserteure und provozierten damit ganz bewusst gegenüber
„traditionellen Formen des Gedenkens“4 wie Kriegerdenkmälern.
Aus geschichtsdidaktischer Perspektive ist daran zweierlei interessant:
1. Das Medium: Die Träger solcher Gedanken wollten die Gegner mit „den eigenen Waffen
schlagen“, d. h. mit demselben Medium. Sie glaubten also an die prinzipielle Wirksamkeit
von Denkmälern auch in den 1980er Jahren, obwohl die Gattung „Denkmal“ zuvor bereits
mehrfach totgesagt worden war, aber Totgesagte leben ja bekanntlich länger.5 Sie bestritten
damit ebenfalls Robert Musils bekanntes Dictum von der Unsichtbarkeit, sprich Wirkungs-
und damit auch Nutzlosigkeit, von Denkmälern.6
2 Norbert Haase: Die Zeit der Kirschblüten ... . Zur aktuellen Denkmalsdebatte und zur Geschichte der Desertion im Zweiten Weltkrieg, in: Fietje Ausländer (Hg.): Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus, Bremen 1990, S. 130−156, hier S. 130. 3 Susanne Schregel: Konjunktur der Angst. „Politik der Subjektivität“ und „neue Friedensbewegung“, 1979−1983, in: Bernd Greiner, Christian Th. Müller, Dierk Walter (Hg.): Angst im Kalten Krieg, Hamburg 2009, S. 495−520; Susanne Schregel: Der Atomkrieg vor der Wohnungstür. Eine Politikgeschichte der neuen Friedensbewegung in der Bundesrepublik 1970−1985, Frankfurt am Main und New York 2011. 4 Norbert Haase: Die Zeit der Kirschblüten ... . Zur aktuellen Denkmalsdebatte und zur Geschichte der Desertion im Zweiten Weltkrieg, in: Fietje Ausländer (Hg.): Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus, Bremen 1990, S. 130−156, hier S. 130. 5 Zum seit den 1970er Jahren postulierten „Ende“ der Gattung Denkmal siehe Peter Bloch: Vom Ende des Denkmals, in: Friedrich Piel, Jörg Traeger (Hg.): Festschrift Wolfgang Braunfels. Tübingen 1977, S. 25–30 und Eduard Trier: Das Denkmal ist tot, es lebe das Denkmal! Vorstellung einiger Denkmale der 80er Jahre, in: Jutta Schuchard (Hg.): Vergänglichkeit und Denkmal. Beiträge zur Sepulkralkultur, Bonn 1985, S. 165–168. 6 Robert Musil: Denkmale, in: Adolf Frisé (Hg.): Robert Musil. Gesammelte Werke, Bd. 2: Prosa und Stücke, Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographische, Essays und Reden, Kritik, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 506−509, hier S. 506−507: „Denkmale haben außer der Eigenschaft, daß man nicht weiß, ob man Denkmale oder Denkmäler sagen soll, noch allerhand Eigenheiten. Die wichtigste davon ist ein wenig widerspruchsvoll; das Auffallendste an Denkmälern ist nämlich, daß man sie nicht bemerkt. Es gibt nichts auf der Welt, was so
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2. Denkmäler sagen mehr über ihre Stifter und deren Zeit aus als über die dargestellten
Personen oder Ereignisse. Sie sind Bestandteile der Geschichtskultur und Knotenpunkte im
öffentlichen Geschichtsbewusstsein, das sich in ihnen gleichsam manifestiert. Die Debatten
um ihre Errichtung erlauben uns einen intimen Blick auf die 1980er Jahre sowie die
Geschichtsbilder und Zukunftsvorstellungen sowohl von Befürworten als auch Gegnern, die
beide ihre Argumente in der Auseinandersetzung artikulierten.
Die Debatte wurde zunächst sehr aufgeregt – bisweilen geradezu hysterisch – geführt.
Deserteure wurden von ihren Befürwortern quasi mythisch verehrt und verherrlicht, ja zu
neuen (Anti-)Helden stilisiert.7 Es herrschte eine Homogenisierung der Deserteure vor.
Desertion galt als die − selbstverständlich politisch motivierte − Widerstandsform des kleinen
Mannes. Jörg Kammler legte 1985 als erster eine wissenschaftliche Studie über Deserteure am
Beispiel von Soldaten aus der Stadt Kassel vor. Darin fragte er:
„Hat sich nicht jeder, der versuchte, sich durch Fluchtdiesem Krieg zu entziehen, richtig und
anständig verhalten? Wie kann man die Widerstandskämpfer - z. B. die Männer des 20. Juli
1944 - ehren und gleichzeitig die vereinzelten kleinen Leute, die keine andere Möglichkeit als
eine Art von passivem Widerstand - das Weglaufen, Sich-Entziehen - hatten, weiterhin als
ehrlose Verbrecher verachten?“8
Andere Argumentationslinien gingen noch weiter. Sie lauteten in etwa, dass die Soldaten
durch ihre Desertion das Regime geschwächt, der Fortführung des Krieges geschadet und
damit auch den Holocaust verkürzt hätten. Obwohl bereits zeitgenössisch vor einer
Mythologisierung und Glorifizierung der Deserteure gewarnt worden war,9 war es angesichts
solcher Tendenzen doch nur ein kleiner Schritt von der (irrationalen, weil emotionalen)
historischen Verherrlichung zum antizipierten „nuklearen Holocaust“ der 1980er Jahre.
unsichtbar wäre wie Denkmäler. Sie werden doch zweifellos aufgestellt, um gesehen zu werden, ja geradezu, um die Aufmerksamkeit zu erregen; aber gleichzeitig sind sie durch irgend etwas gegen Aufmerksamkeit imprägniert […]. Man sieht sie nie an und besitzt gewöhnlich nicht die leiseste Ahnung davon, wen sie darstellen, außer daß man vielleicht weiß, ob es ein Mann oder eine Frau ist.“ 7 Alfred Anderschs bereits 1952 erschienene Erzählung „Die Kirschen der Freiheit“ erlebte einen wahren Boom, sie wurde zur „Bibel“ der Deserteur-Initiativen, die in ihren Positionspapieren und Forderungskatalogen immer wieder auf Anderschs autobiographischen Bericht rekurrierten und ihn zitierten. In den ersten 30 Jahren seiner Existenz war das Buch − trotz sehr vieler überaus positiver Rezensionen − eher ein „Ladenhüter“, nun erlebte es eine Renaissance; es wurde intensiv rezipiert und mehrfach neu aufgelegt, die Verkaufszahlen schossen in die Höhe. 8 Jörg Kammler: „Ich habe die Metzelei satt und laufe über ...“. Kasseler Soldaten zwischen Verweigerung und Widerstand (1939–1945). Eine Dokumentation, Kassel 1985, S. 9−10. 9 Norbert Haase: Die Zeit der Kirschblüten ... . Zur aktuellen Denkmalsdebatte und zur Geschichte der Desertion im Zweiten Weltkrieg, in: Fietje Ausländer (Hg.): Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus, Bremen 1990, S. 130−156, hier S. 133−135 und Günter Fahle: Verweigern – Weglaufen – Zersetzen. Deutsche Militärjustiz und ungehorsame Soldaten 1939−1945. Das Beispiel Ems-Jade, Bremen 1990, S. 8.
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Die angebliche historische Sensibilisierung war nur eine scheinbare; denn vielmehr bestand
sie in der Projektion der gegenwärtigen Verhältnisse auf die Vergangenheit. Nicht die
Vergangenheit ermöglichte eine Positionierung in der Gegenwart, sondern die Gegenwart
bestimmte, lenkte und legitimierte den Blick auf die Vergangenheit. Die Verknüpfung dieser
aktuellen existentiellen Bedrohung mit einem historischen Beispiel erklärt die stetige
Zunahme der Deserteur-Initiativen.10 Stand doch hinter einer solchen Sichtweise die
Erkenntnis, dass es im nächsten Krieg keine Desertion mehr geben werde, weil man ja gar
nicht wisse, wohin man im Atomkrieg fliehen solle.11
Die Schlagwörter „nuklearer Holocaust“ und „atomares Auschwitz“ machten die Runde;12 sie
waren erheblich moralisch aufgeladen.13 Die Gegenseite (in Form von Heiner Geißler)
konterte damit, dass gerade der Pazifismus der 1930er Jahre den Holocaust ermöglicht hätte.14
Vom heutigen Standpunkt aus betrachtet blieben geschichtspolitische Aufladung und
Moralisierung der Debatte aber unfruchtbar − vor allem deshalb, weil die Vergleichsaspekte
nie wirklich klar wurden:
• Verglich man die BRD (oder wahlweise auch USA oder NATO, und warum dann nicht
auch die UdSSR) insgesamt mit dem „Dritten Reich“?
• Ging es „nur“ um die Massenvernichtung (die dann übrigens Auschwitz relativieren
würde)?
• Ging es um einen Vergleich zwischen historischer Verweigerung und aktueller
Verweigerung?
• Oder sollte der Vergleich und das damit verbundene moralische Skandalon nur für
Aufmerksamkeit sorgen?
Erst nach dem Stationierungsbeschluss versachlichte sich die Debatte und konzentrierte sich
auf den „historischen Kern“15. Seitdem hat eine sehr differenzierte Forschung die „kardinalen
Unterschiede“16 der Wehrmacht im Vergleich zur Bundeswehr herausgearbeitet. 10 Frank Dingel: „Dem unbekannten Deserteur“. Auseinandersetzungen um eine neue Form von Gedenkstätten, in: Hanne-Margret Birckenbach, Uli Jäger, Christian Wellmann (Hg.): Jahrbuch Frieden 1990. Ereignisse – Entwicklungen – Analysen, München 1989, S. 227−234, hier S. 234. 11 Vgl. Frank Dingel: „Dem unbekannten Deserteur“. Auseinandersetzungen um eine neue Form von Gedenkstätten, in: Hanne-Margret Birckenbach, Uli Jäger, Christian Wellmann (Hg.): Jahrbuch Frieden 1990. Ereignisse – Entwicklungen – Analysen, München 1989, S. 227−234, hier S. 234. 12 Otto Schily und Joschka Fischer prägten den Begriff „atomares Auschwitz“ in einem Interview mit dem Spiegel im Juni 1983 (vgl. Spiegel Nr. 24 vom 13.06.1983, S. 23−27, hier S. 25−26). 13 Vgl. Eckart Conze: Modernitätsskepsis und die Utopie der Sicherheit. NATO-Nachrüstung und Friedensbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 7 (2010), Heft 2, S. 220−239, hier S. 233−234 und Andrea Humphreys: „Ein atomares Auschwitz“: Die Lehren der Geschichte und der Streit um die Nachrüstung, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Grünes Gedächtnis 2008, Berlin 2007, S. 39−62. 14 Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages, 10. Wahlperiode, 13. Sitzung, 15. Juni 1983, S. 755, Abschnitt D.
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Doch nicht nur die historischen Argumente und ihre kontroverse Interpretation boten reichlich
Material für eine spanungsvolle Auseinandersetzung. Auch der in der Forderung nach
Denkmälern enthaltene Gegenwartsbezug barg reichlich sozialen Sprengstoff.
Denn derartige Denkmäler enthielten – mehr oder weniger explizit – auch einen Appell zur
Desertion, jedenfalls aus Sicht der Denkmalsgegner. Sie sahen in ihnen eine Gefahr für die
Bundeswehr und befürchteten eine „Unterminierung der bundesrepublikanischen
Wehrbereitschaft“17.
Weder konnten die Initiatoren ein solches Unterfangen von der Hand weisen, noch wollten sie
dies, denn der eigentliche Zweck war ja, über die aktuelle Verteidigungsstrategie
nachzudenken - und dazu mussten sie provozieren.18 Im November 1980 war im „Krefelder
Appell“ ein solcher Aspekt, nämlich auf die Entwicklung der Bundeswehr Einfluss zu
nehmen, bereits ausdrücklich formuliert worden:
„Alle Mitbürgerinnen und Mitbürger werden deshalb aufgerufen, diesen Appell zu unterstützen, um durch unablässigen und wachsenden Druck der öffentlichen Meinung eine Sicherheitspolitik zu erzwingen, • die eine Aufrüstung Mitteleuropas zur nuklearen Waffenplattform der USA nicht zulässt • Abrüstung für wichtiger hält als Abschreckung • die Entwicklung der Bundeswehr an dieser Zielsetzung orientiert.“19
Interpretiert man den Appell sehr weit und unterstellt Forderungen von maximaler
Reichweite, so lassen sich auf systemischer Ebene ein Aufruf zum Austritt aus der Nato
erkennen, auf individueller Ebene ein Aufruf an die Soldaten (also die „Mitbürger in
Uniform“) zur Desertion. Ganz im Sinne eines damals verbreiteten Mottos: „Raus aus der
Nato, rein ins Vergnügen.“
Die Diskussion um Abschreckung oder Abrüstung angesichts eines als „selbstmörderisch“20
empfundenen Rüstungswettlaufs findet sich direkt an den zwei entgegengesetzten
Denkmalstypen Kriegerdenkmal und Deserteur-Denkmal wieder und an den sich an ihnen
versammelnden Generationen. Exemplarisch möchte ich dies nun für Göttingen vorführen.
15 Wolfram Wette: Deserteure der Wehrmacht rehabilitiert. Ein exemplarischer Meinungswandel in Deutschland (1980–2002), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004), Heft 6, S. 505–527, hier S. 517. 16 Wolfram Wette: Deserteure der Wehrmacht rehabilitiert. Ein exemplarischer Meinungswandel in Deutschland (1980–2002), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004), Heft 6, S. 505–527, hier S. 517. 17 S. Klar: Friedensforum will Fahnenflüchtige der Weltkriege vom Makel des Vaterlandsverrats befreien, in: Das Ostpreußenblatt Nr. 37 vom 16.09.1989, S. 4. 18 Vgl. Wolfram Wette: Deserteure der Wehrmacht rehabilitiert. Ein exemplarischer Meinungswandel in Deutschland (1980–2002), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004), Heft 6, S. 505–527, hier S. 516. 19 http://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0023_kre&object=facsimile&st=&l= de. 20 So der Wortlaut im Krefelder Appell (vgl. http://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de& dokument= 0023kre&object=facsimile&st=&l=de).
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Die ältere Generation der Teilnehmer und Zeitzeugen traf sich am Ehrenmal im Göttinger
Rosengarten. Sie gedachte der Toten des Zweiten Weltkrieges ganz traditionell und betonte
mit dieser Art von Gedenken zugleich die Aufrechterhaltung des Friedens durch
Verteidigungsbereitschaft.
Dagegen grenzte sich die junge Generation der nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen ab;
sie protestierte gegen solche Rituale und entwickelte eigene Vorstellungen, wie der Frieden zu
bewahren bzw. zu retten sei. Die „Entdeckung“ der Deserteure entsprach ihren Forderungen
nach Abrüstung und Verzicht auf militärische Gewalt.
Man diskutierte nun nicht mehr nur über Treue, Gehorsam und Opferbereitschaft auf der
einen Seite, sondern auch über „neue Werte“ wie Individualität sowie Willens- und
Entscheidungsfreiheit auf der anderen Seite, die als Friedensgaranten betrachtet wurden. Die
Hoffnung der Initiatoren, dass durch die Reflexion über Desertion in der Geschichte unter der
Leitfrage, in welcher Tradition man stehe und welches Gewicht man dem Militär beimesse,
die Beschäftigung mit der aktuellen Frage nach der Legitimität von staatlichen Zielen und
Handlungen ebenso angeregt werde sowie die Lösung der Frage nach dem Verhältnis der
eben genannten Werte zueinander, erfüllte sich jedoch nicht.
Genauso ungeklärt blieben die damit verbundenen emanzipatorischen Wünsche, das
Verhältnis zwischen Individuum und Staat zu bestimmen, eine Standortbestimmung in der
Gegenwart vorzunehmen oder eine eigene moralische Urteilsbildung zu ermöglichen.
Stattdessen verdeutlichte die Diskussion über Deserteure als neue Elemente für die kollektive
Erinnerung einen Generationenkonflikt.
Im Spannungsfeld von Erinnerung, Geschichtskultur und Geschichtspolitik kämpften
generationell heterogene Geschichtsbilder und Friedenskonzeptionen sowie vielfältige
Strömungen von Geschichtsbewusstsein um Anerkennung und Deutungshoheit sowie – im
wahrsten Sinne des Wortes – um ihren Platz in der Öffentlichkeit in Form von Denkmälern.
Sowohl alte als auch junge Menschen verspürten in den 1980er Jahren einen „Wunsch nach
Frieden“, beide Generationen hatten zwar mit der Bewahrung des Friedens ein gemeinsames
Ziel und äußerten ihre Geschichtsbilder und Zukunftsvorstellungen sogar mit dem gleichen
Medium, dennoch argumentierten sie höchst verschieden. Aus der Geschichte wurden ganz
unterschiedliche Lehren gezogen. Die beiden Pole der Skala bildeten − plakativ ausgedrückt −
die Optionen „sterben“ und „desertieren“.
Man bevorzugte nämlich ‒ generationell bedingt ‒ jeweils andere Aspekte der Vergangenheit,
akzentuierte diese unterschiedlich und maß ihnen verschiedene Potentiale für die Lösung von
Gegenwartsproblemen bei. Durch diese gegenseitigen Fehleinschätzungen, Missverständnisse
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und Kommunikationsschwierigkeiten kam kein gemeinsames Vorgehen zu Stande; jede
Generation agierte für sich und produzierte auf ihre eigene Weise Lösungsvorschläge zur
Bewahrung des Friedens; jede beanspruchte für sich selbst Hegemonie und Exklusivität.
Ein Dialog der Generationen fand nicht statt.
In Göttingen verhärteten sich die Fronten daher zusehends und zwar so sehr, dass Autonome
schließlich das Ehrenmal stürzten. Die Lage eskalierte daraufhin völlig, zumindest verbal
wurde eine „heiße Phase“ des Kalten Krieges eingeleitet.
Erst nach dem Ende des Kalten Krieges entkrampften sich die hitzig geführten Diskussionen
um Deserteur-Denkmäler und die Lage entspannte sich – sowohl in Göttingen als auch in der
Bundesrepublik allgemein.
Allmählich setzte ein Umdenken ein, es wurden vermehrt Denkmäler für Deserteure errichtet
(in Göttingen 1990), die als Ausdruck eines Mentalitätswandels begriffen werden können.
Bedingt durch geschichtswissenschaftliche Forschungen − hier sind besonders die Werke von
Manfred Messerschmidt und Wolfram Wette zu nennen − begann sich auch die Einstellung in
Politik und Justiz allmählich zu wandeln. Dies führte insgesamt zu einer Neubewertung der
Deserteure des Zweiten Weltkrieges:
Das Bundessozialgericht sprach 1991 erstmals der Witwe eines hingerichteten Deserteurs eine
Entschädigung zu; 1995 distanzierte sich der Bundesgerichtshof in einem Grundsatzurteil von
der Praxis der NS-Militärjustiz und regte eine Aufhebung der Urteile gegen Deserteure an,
indem er sich den Ergebnissen der jüngeren militärgeschichtlichen Forschung anschloss.
1997 formulierte der Deutsche Bundestag eine Entschließung, 1998 verabschiedete er ein
Gesetz zur Rehabilitierung von Deserteuren, das eine Einzelfallprüfung vorsah. Durch zwei
Änderungen dieses Gesetzes in den Jahren 2002 und 2009 wurde die bisherige Praxis der
Einzelfallprüfung abgeschafft, die letzten Deserteure und „Kriegsverräter“ wurden pauschal
rehabilitiert. Sie sind als Opfergruppe anerkannt und gelten nicht mehr als vorbestraft.
Der Mentalitätswandel war neben dem Ende des Kalten Krieges vor allem mit einem
Generationswechsel verbunden und diesem geschuldet. Seit Mitte der 1990er Jahre war die
ältere Generation nicht mehr meinungsprägend,21 nicht mehr federführend an den
„Schalthebeln der Macht“ in Politik, Justiz und Gesellschaft − sie saß sozusagen auf dem
„Altenteil“, war in Pension bzw. Rente − und sie bildete (schon etwas länger) nicht mehr die
Mehrheit der Gesellschaft in Form von Wählerstimmen. Es lebten mittlerweile mehr
Menschen in Deutschland, die den Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt hatten und in deren
„sozialem Bezugsrahmen“ (Maurice Halbwachs) dieser folglich fehlte.
21 Wolfram Wette: Deserteure der Wehrmacht rehabilitiert. Ein exemplarischer Meinungswandel in Deutschland (1980–2002), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004), Heft 6, S. 505–527, hier S. 507.
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Deren „sekundäre Sozialisationserfahrungen“22 entstammten der Zeit der
Entspannungspolitik, sie waren liberaler und aufgeschlossener eingestellt gegenüber einer
Rehabilitation der Deserteure als die Generation ihrer Eltern oder gar Großeltern.
Die von den Akteuren bereits in den 1980er Jahren vorgenommene Deutung als
intergenerationelle Auseinandersetzung23 verschüttete meines Erachtens jedoch vorschnell
eine ganz andere Konfliktlinie, nämlich einen intragenerationellen Konflikt der Senioren
untereinander im Hinblick auf ihre Beteiligung am durch die Nationalsozialisten verursachten
Zweiten Weltkrieg.
Die voreilige Einigung auf einen intergenerationellen Konflikt verschleierte die
intragenerationelle Dimension der Desertion; sie lenkte das Augenmerk ab von denjenigen,
die sich nicht verweigerten. Das beredte (Ver-)Schweigen oder gar Leugnen von (Mit-)
Täterschaft, Mitwisserschaft oder Mitläufertum sowie der Verzicht auf eine Diskussion
innerhalb der Geronten-Generation sprechen für sich.24 Die Rolle dieser Treuen und
Gehorsamen während des Nationalsozialismus, gar ihre mögliche „Verstrickung“ wurde nicht
weiter thematisiert, da man sozialen Unfrieden und neue Konflikte befürchtete.
Besonders sinnfällig bringt diese größtenteils be- und verschwiegene Inkonsequenz ein
Beschluss der Evangelischen Kirche Deutschlands zum Ausdruck. Er lautet folgendermaßen:
„Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland erklärt:
1. Der Zweite Weltkrieg war ein Angriffs- und Vernichtungskrieg, ein vom nationalsozialistischen Deutschland verschuldetes Verbrechen. [...]
2. Wer sich weigert, sich an einem Verbrechen zu beteiligen, verdient Respekt. Schuldsprüche aufrecht zu erhalten, die wegen solcher Verweigerungen gefällt wurden, ist, seit der verbrecherische Charakter der nationalsozialistischen Diktatur und ihrer Kriegsführung feststeht, absurd. Sich der Beteiligung an einem Verbrechen zu entziehen, kann nicht strafwürdig sein.
3. Eine Rehabilitierung von Deserteuren bedeutet keine Abwertung der deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs. Die meisten Soldaten glaubten, die Pflicht zu erfüllen, die sie ihrem Vaterland schuldeten, oder sie sahen keine Möglichkeit, sich dem Kriegsdienst zu entziehen. Dies sehen Sprecher überlebender Deserteure ebenso.
4. Mitunter erfolgte eine Desertion aus Motiven und unter Umständen, die sie nicht als gerechtfertigt erscheinen lassen. Mehr als fünfzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch Untersuchungen über jede einzelne Desertion anzustellen, ist heute praktisch unmöglich.
22 Josef Janning: Die neue Friedensbewegung 1980−1986, in: Josef Janning, Hans-Josef Legrand, Helmut Zander (Hg.): Friedensbewegungen. Entwicklung und Folgen in der Bundesrepublik Deutschland, Europa und den USA, Köln 1987, S. 36−53, hier S. 37. 23 Erkennbar an den „einschlägigen“ Buchtiteln, z. B. Hans Filbinger: Die geschmähte Generation, München 1987 oder Erich Schwinge: Bilanz der Kriegsgeneration. Ein Beitrag zur Geschichte unserer Zeit, Marburg 121986. 24 Heinrich Böll stellt seinem ersten Roman „Wo warst du, Adam?“ (1951) ein Zitat aus Theodor Haeckers „Tag- und Nachtbüchern“ voran, mit dem er diesen Mangel an Thematisierung bzw. die ausweichende Antwort bei solchen Fragen auf den Punkt bringt: „Eine Weltkatastrophe kann zu manchem dienen. Auch dazu, ein Alibi zu finden vor Gott. Wo warst du, Adam? ,Ich war im Weltkrieg.‘“
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5. Es geht nicht an, die deutsche Wehrmacht pauschal zu verurteilen. Einzelne Verbände
haben jedoch auch, teils im Vollzug von Weisungen höchster Wehrmachtsstellen, mit der Erschießung von Gefangenen, bei Massakern in besetzten Gebieten und durch Beteiligung am Judenmord schwerstes Unrecht begangen.
6. Die erschreckend hohe Zahl von Todesurteilen wegen Desertion, Wehrkraftzersetzung und Gehorsamsverweigerung (bis zu 30.000) und die gnadenlose Vollstreckung der meisten dieser Urteile ist Ausdruck der beschämenden Dienstbarmachung weiter Teile der Wehrmachtsjustiz für das Terror-Regime des Nationalsozialismus.
7. Was ein Soldat tut, ist nicht zu lösen von Zielsetzung und Moral seiner Führung. Vaterlandsliebe und Tapferkeit können mißbraucht werden; sie sind Tugenden, wenn sie darauf gerichtet sind, Frieden in Freiheit und Gerechtigkeit zu bewahren oder zu schaffen.
8. Eine Rehabilitierung der Opfer der Wehrmachtsjustiz kann keine negativen Auswirkungen auf die Bundeswehr haben. Sie ist die Armee eines demokratischen Rechtsstaates. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verbietet jede auf einen Angriffskrieg angelegte Handlung. Den Soldaten der Bundeswehr ist darüber hinaus durch das Soldatengesetz verboten, verbrecherische Befehle zu befolgen. Zu den wesentlichen Leitbildern der Bundeswehr gehören die Männer und Frauen des Widerstandes gegen die nationalsozialistische Diktatur.
9. Die Synode der EKD bittet den Deutschen Bundestag zu beschließen, daß die von der Wehrmachtsjustiz während des Zweiten Weltkrieges verhängten Urteile wegen Desertion, Gehorsamsverweigerung oder Wehrkraftzersetzung Unrecht waren. Als wichtigen Schritt in diese Richtung begrüßen wir die Entschließung des Bundesrates vom 1. September 1996.
Borkum, 6. November 1996 Der Präses der Synode“25
In typisch theologischer Manier − sozusagen eine Versöhnung aller mit allen und allem −
verdeutlicht die Stellungnahme die gesellschaftliche Gratwanderung, einen Konsens
herzustellen. Dabei kann der Beschluss den logischen Widerspruch nicht auflösen bzw. nimmt
in Kauf, dass zwei entgegengesetzte Verhaltensweisen, nämlich sowohl die Teilnahme an
einem „verbrecherischen Angriffs- und Vernichtungskrieg“ als auch die Nicht-Teilnahme
daran, im Ergebnis gleichermaßen gut geheißen werden.
Der Satz „Dies sehen Sprecher überlebender Deserteure ebenso.“ im dritten Absatz
veranschaulicht die Taktik der Rehabilitationsbefürworter. Um für ihre Position zu werben
und größere öffentliche Akzeptanz zu erhalten, stimmten sie der Formel von den zwei
richtigen Verhaltensweisen zu. Erst zu Beginn der 2000er Jahre bekannten sie sich zu dieser
rein taktischen Maßnahme, die nicht ihren inhaltlichen Überzeugungen entsprach, sondern nur
ein Mittel zum Zweck war.26
25 http://www.ekd.de/synode96/beschluesse_beschluss2.html; Kursivierung in Absatz 3 durch den Referenten. 26 Vgl. Wolfram Wette: Deserteure der Wehrmacht rehabilitiert. Ein exemplarischer Meinungswandel in Deutschland (1980–2002), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004), Heft 6, S. 505–527, hier S. 517 und Angela Borgstedt: Desertion, Kriegsverrat, Militärjustiz. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft und der Widerstand des „kleinen Mannes“, in: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums 46 (2007), Heft 183, S. 130−136, hier S. 131−132.
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Nun heißt es, Bilanz zu ziehen: Was blieb von der Friedensbewegung? Welche
Nachwirkungen und Spätfolgen zeitigte sie in einer Rückschau aus dreißigjähriger Distanz?
Ich sehe vor allem zwei wichtige Punkte, die ich festhalten möchte:
1. Die Friedensbewegung sorgte für eine Enttabuisierung und Entstigmatisierung der
Deserteure des Zweiten Weltkrieges. Ihre Unterstützung führte zur Emanzipation der
Deserteure. Indizien dafür sind zum einen die Gründung der Bundesvereinigung „Opfer der
NS-Militärjustiz e. V.“ im Oktober 1990, zum anderen eine ganze Reihe autobiographischer
Erinnerungen von Deserteuren, die seitdem auf dem Buchmarkt erschienen. Die Deserteure
waren für die Friedensbewegung nicht bloß ein provokatives „Mittel zum Zweck“, um
Aufmerksamkeit für ihre Forderungen zu erzeugen, sondern das Interesse an ihnen war
aufrichtig. Wer sich in den frühen 1980er Jahren für die Belange der Deserteure einsetzte, der
kümmerte sich auch später noch um sie − z. B. Denkmalsinitiativen, lokale Studien zur
Erforschung von Deserteurs-Schicksalen, etc.
Nachdem die „Hysterie der ersten Phase“ (ca. bis zum Stationierungsbeschluss) abgeklungen
war, erfolgte ab ca. Mitte der 1980er Jahre eine „echte“ Historisierung des Themas und, damit
verbunden, eine historische Aufarbeitung der Thematik. Diese Forschung dauert bis heute an
und hat mittlerweile sehr deutlich den „Terrorcharakter“27 der NS-Militärjustiz
herausgearbeitet.
Die Debatten der 1980er Jahre waren also Auslöser für die historische Forschung, diese
wiederum war der Ausgangspunkt für die politische und juristische Rehabilitation sowie die
vermehrte Denkmalsetzung seit den 1990er Jahren.
2. Der zweite merk-würdige Aspekt ist die dauerhafte Manifestation des Konflikts um
Abrüstung oder Abschreckung in Form eines neuen Denkmals-Typus, nämlich des Deserteur-
Denkmals. Mittlerweile existieren davon mehr als 30 in Deutschland. Die Friedensbewegung
lebt in der Geschichtskultur also weiter, die jüngste Denkmalseinweihung erfolgte 2009 in
Köln. Um ein nationales Deserteur-Denkmal wird noch gerungen; ich nenne als Stichworte in
dieser Auseinandersetzung nur Finanzierung, Standort und Opfer-Hierarchisierung.
27 Gerhard Paul: „Deserteure – Wehrkraftzersetzer – Kapitulanten“. Die Opfer der NS-Wehrmachtjustiz, in: Sibylle Quack (Hg.): Dimensionen der Verfolgung. Opfer und Opfergruppen im Nationalsozialismus, München, 2003, S. 167–202, hier S. 173.
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Marco Dräger: Sterben oder desertieren für den Frieden? Zwei Generationen, zwei Denkmäler, ein Ziel
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In der „verspäteten Nation“ Österreich entspann sich ab dem Jahr 2000 eine Debatte über die
Deserteure des Zweiten Weltkrieges, auch dort wird noch heftig über ein zentrales Denkmal
für Deserteure diskutiert.28
Die Etablierung von Deserteur-Denkmälern gerät also zu einer „unendlichen Geschichte“,
deren Ende noch nicht absehbar ist und die immer wieder von aktuellen militärischen
Konflikten „befeuert“ und überlagert wird, momentan z. B. in Syrien.
Solche Gegenwartsbezüge bieten immer wieder spannende Herausforderungen sowohl in
Bezug auf (korrekte) historische Urteilsbildung als auch im Hinblick auf die Verbindung
(bzw. Synchronisation) der Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, welche der
Gattung Denkmal innewohnen.
Mag auch das Ende dieser Entwicklung noch offen sein, so lässt sich doch wenigstens der
Anfang lokalisieren, nämlich in der Friedensbewegung der 1980er Jahre. Es war ihr
Verdienst, die Deserteure auf die Agenda gesetzt zu haben − mit den bis heute sichtbaren
Folgen in Form von Deserteur-Denkmälern.
Marco Dräger, M.A. M.Ed. Wissenschaftlicher Mitarbeiter Georg-August-Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Abteilung Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel.: 0551/39-13387 Fax: 0551/39-13385 E-Mail: [email protected] http://www.uni-goettingen.de/de/223498.html
28 In Österreich wurde die Diskussion um die Deserteure des Zweiten Weltkriegs im Vergleich zu Deutschland zwar mit ca. 20-jähriger Verspätung nachgeholt, dafür geschieht sie dort aber im Zeitraffer. Sie erweist sie sich als „Brennglas“ und konzentriert sich von Beginn an auf der nationalen Ebene. Im Jahr 2005 wurde das so genannte „Anerkennungsgesetz“ verabschiedet, 2009 das „Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetz“. Zur Kritik am „Anerkennungsgesetz“, das die Deserteure nicht einmal namentlich erwähnt, siehe Hannes Metzler: Ehrlos für immer? Die Rehabilitierung der Deserteure der Wehrmacht. Ein Vergleich von Deutschland und Österreich unter Berücksichtigung von Luxemburg, Wien 2007, S. 47−62. Im Oktober 2012 wurde eine Standortentscheidung zugunsten eines Deserteur-Denkmals in Wien getroffen, das bereits im Jahr 2013 am Wiener Ballhausplatz entstehen soll.
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Sterben oder desertieren für den Frieden?
Zwei Generationen,
zwei Denkmäler,
ein Ziel
Marco Dräger 4. August 2012
1
Deserteure
Feiglinge?
Drückeberger?
Vaterlandsverräter?
2
14.01.2013
2
Deserteure =
Widerstandskämpfer und Helden (?)
„Mein ganz kleiner privater 20. Juli
fand bereits am 6. Juni statt.“ (S. 56)
1952
→ Deser�on als Widerstandsform
des „kleinen Mannes“
3
„nuklearer Holocaust“ und
„atomares Auschwitz“
4
14.01.2013
3
Deserteure und die Bundeswehr5
Krefelder Appell (Auszug)
„Alle Mitbürgerinnen und Mitbürger werden deshalb
aufgerufen, diesen Appell zu unterstützen, um durch
unablässigen und wachsenden Druck der öffentlichen
Meinung eine Sicherheitspolitik zu erzwingen,
• die eine Aufrüstung Mitteleuropas zur nuklearen
Waffenplattform der USA nicht zulässt
• Abrüstung für wichtiger hält als Abschreckung
• die Entwicklung der Bundeswehr an dieser
Zielsetzung orientiert.“
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4
Beispiel Göttingen
Das Ehrenmal im Rosengarten
7
Beispiel Göttingen
Die Teilnehmer der traditionellen Ehrenmalfeiern I
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Beispiel Göttingen
Die Teilnehmer der traditionellen Ehrenmalfeiern II
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Beispiel Göttingen
Die Befürworter des Deserteur-Denkmals
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14.01.2013
6
Beispiel Göttingen
Das Göttinger Deserteur-Denkmal
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Beispiel Göttingen
(Göttinger Woche Nr. 16 vom 9.9.1988, Seite 3)
„,Wir haben alle geweint, und diese Linksextremisten oder wie sie sich nennen, schrecken nicht davor zurück, unsere Andacht zu stören.‘ Die ältere Frau ist sichtbar aufgebracht. Auf den Einwand eines jungen Mannes, daß in der Kirche aber auch keine bewaffneten Soldaten herumstünden, während drei der hier anwesenden Einheiten mit Gewehr beteten, wendet sie sich empört ab. [...],Die sind doch völlig verbohrt‘ sagen die ehemaligen Träger der HJ-Uniform und des Hakenkreuzes über die, die ihre Enkel sein könnten mit den Aufnähern der ,Antifaschistischen Aktion‘ am Ärmel.Die Standpunkte sind unverrückbar, beide Seiten sind nur wieder mal erstaunt, was es alles gibt in fremden Köpfen.“
Kein Dialog der Generationen
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7
Beispiel Göttingen
Plakat mit Aufruf zum Denkmalsturz
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Beispiel Göttingen
Das gestürzte Denkmal
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Generationswechsel in den 1990er Jahren
BSG-Urteil 1991
BGH-Urteil 1995
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Generationalität: intergenerationelle
und intragenerationelle Konflikte
12. Auflage 1986 1987
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Synodalbeschluss der EKD (1996)
„Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland erklärt:
1. Der Zweite Weltkrieg war ein Angriffs- und Vernichtungskrieg, ein vom nationalsozialistischen
Deutschland verschuldetes Verbrechen. [...]
2. Wer sich weigert, sich an einem Verbrechen zu
beteiligen, verdient Respekt. Schuldsprüche aufrecht zu
erhalten, die wegen solcher Verweigerungen gefällt
wurden, ist, seit der verbrecherische Charakter der
nationalsozialistischen Diktatur und ihrer Kriegsführung
feststeht, absurd. Sich der Beteiligung an einem
Verbrechen zu entziehen, kann nicht strafwürdig sein.
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Synodalbeschluss der EKD II
3. Eine Rehabilitierung von Deserteuren bedeutet keine Abwertung der
deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs. Die meisten Soldaten
glaubten, die Pflicht zu erfüllen, die sie ihrem Vaterland schuldeten,
oder sie sahen keine Möglichkeit, sich dem Kriegsdienst zu entziehen.
Dies sehen Sprecher überlebender Deserteure ebenso.
4. Mitunter erfolgte eine Desertion aus Motiven und unter Umständen,
die sie nicht als gerechtfertigt erscheinen lassen. Mehr als fünfzig
Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch Untersuchungen über jede
einzelne Desertion anzustellen, ist heute praktisch unmöglich.
5. Es geht nicht an, die deutsche Wehrmacht pauschal zu verurteilen.
Einzelne Verbände haben jedoch auch, teils im Vollzug von Weisungen
höchster Wehrmachtsstellen, mit der Erschießung von Gefangenen,
bei Massakern in besetzten Gebieten und durch Beteiligung am
Judenmord schwerstes Unrecht begangen.“
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Fazit I
Enttabuisierung
Entstigmatisierung
„echte“ historische Aufarbeitung
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Fazit II
Denkmalsaktivität in Deutschland
1981-1990 1991-2000 2001-2010
2x
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Fazit III
temporäres Denkmal
für Deserteure auf dem
Wiener Heldenplatz
Gegenwartsbezüge – Syrien und Österreich
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Fazit IV
Deserteur-Denkmäler in Deutschland 1980-2010
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Fragen und Diskussion
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Kontakt
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Marco Dräger, M.A. M.Ed.
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Georg-August-Universität Göttingen
Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte
Abteilung Didaktik der Geschichte
Waldweg 26
37073 Göttingen
Tel.: 0551/39-13387
Fax: 0551/39-13385
E-Mail: [email protected]
http://www.uni-goettingen.de/de/223498.html