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MATT WEILAND, SEAN WILSEY (HG.) Der Ball ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann

MATT WEILAND,SEAN WILSEY (HG.) Der Ball ist rund,damit …MATT WEILAND,SEAN WILSEY (HG.) Der Ball ist rund,damit das Denken die Richtung wechseln kann. Buch Zweiunddreißig Nationen

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MATT WEILAND, SEAN WILSEY (HG.)

Der Ball ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann

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Buch

Zweiunddreißig Nationen nehmen an der Fußballweltmeisterschaft2006 in Deutschland teil. Zweiunddreißig namhafte Autoren porträtie-ren in dieser Anthologie die Teilnehmerländer. In ihren sehr persön-lichen, oft anekdotischen Texten schreiben sie über eigene, nicht seltenkomische Erlebnisse genauso wie über die Geschichte des Fußballs inden jeweiligen Ländern. Sie schildern die speziellen Eigenarten der Fansund die Rolle, die der Fußball im jeweiligen Land heute spielt. So ent-

steht ein buntes literarisches Kaleidoskop des Weltfußballs.

Herausgeber

Matt Weiland ist Deputy Editor des Magazins Granta und Programm-leiter von Granta Books. Zuvor war er Lektor bei The New Press in NewYork und Chefredakteur von The Baffler Magazine in Chicago. Er arbei-tete für das National Public Radio (Dokumentarsendungen) und fürAmerican RadioWorks, gab zusammen mit Thomas Frank CommodifyYour Dissent: The Business of Culture in the New Gilded Age heraus (1997)und schreibt für die Washington Post, Village Voice, Newsday und andere

Zeitungen. Weiland lebt in London.

Sean Wilsey ist Autor des Bestsellers Oh The Glory of It All (2005). Erveröffentlichte in der London Review of Books, in der Los Angeles Timesund in McSweeney´s Qarterly, wo er Editor-at-Large ist. Bevor er zuMcSweeney´s kam, arbeitete er als Redaktionsassistent bei The NewYorker, als Rechercheur beim Ladies Home Journal, als Briefbeantworterbei Newsweek und als Lehrling eines Gondoliere in Venedig. Wilsey lebt

in New York.

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Matt Weiland,Sean Wilsey (Hg.)

Der Ball ist rund,damit das Denken

die Richtung wechseln kann

Mit Texten von Nick Hornby, Tim Parks,

Dave Eggers, Henning Mankell u.v.a

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Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel»The Thinking Fan’s Guide to the World Cup«

bei Abacus, London und Harper, New York.

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100

Das FSC-zertifizierte Papier München Super für Taschenbücher

aus dem Goldmann Verlag liefert Mochenwangen Papier.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Mai 2006

Copyright © der Originalausgabe 2006 by Trim Tables

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Design Team München

BH · Herstellung: Str.

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN-10: 3-442-46253-3

ISBN-13: 978-3-442-46253-7

www.goldmann-verlag.de

SGS-COC-1940

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Inhalt

Vorwort Matt Weiland 7

Einführung Sean Wilsey 17

Die deutsche Abwehr Alexander Osang 33

Die 32 Teilnehmerstaaten 47

Angola Henning Mankell 49

Argentinien Thomas Jones 58

Australien Ben Rice 67

Brasilien John Lanchester 82

Costa Rica Matthew Yeomans 92

Deutschland Michael Hofmann 101

Ecuador Jacob Silverstein 111

Elfenbeinküste Paul Laity 121

England Nick Hornby 133

Frankreich Aleksandar Hemon 143

Ghana Caryl Phillips 152

Iran Saïd Sayrafiezadeh 159

Italien Tim Parks 175

Japan Jim Frederick 193

Kroatien Courtney Angela Brkic 206

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Mexiko Jorge Castañeda 214

Niederlande Tom Vanderbilt 223

Paraguay Isabel Hilton 233

Polen James Surowiecki 245

Portugal William Finnegan 254

Republik Korea Peter Ho Davies 278

Saudi-Arabien Sukhdev Sandhu 287

Schweden Eric Schlosser 297

Schweiz Peter Stamm 311

Serbien & Montenegro Geoff Dyer 321

Spanien Robert Coover 335

Togo Binyavanga Wainaina 359

Trinidad & Tobago Cressida Leyshon 374

Tschechische Republik Tim Adams 388

Tunesien Wendell Steavenson 400

Ukraine Benjamin Pauker 418

USA Dave Eggers 429

Über die Autoren 437

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Vorwort

Matt Weiland

Martin Amis beschrieb den Begriff »das Ausland« ein-mal als »den Ort, an dem der Fußballfan sich all sei-

ner Hemmungen entledigt und erst richtig lebendig wird. Dasteht er nun … die Union-Jack-Unterhose auf dem Kopf …mit nacktem Oberkörper. Fett und bleich watet er knöcheltiefin Erbrochenem, pöbelt einheimische Frauen und Kinder an,pisst in den Brunnen und grölt sinnlos betrunken ›Fuck thePope‹ oder ›God save the Queen‹.«

Ich wuchs im amerikanischen Mittelwesten der siebzigerJahre auf, und für mich war »das Ausland« sicherlich nichtder Ort, den Martin Amis beschrieben hat. Aber von der Weltwusste ich auch nicht viel mehr als der durchschnittlicheHooligan. Mit Geografie konnte ich nicht viel anfangen undfremde Länder kannte ich nur als Karikaturen: Der Iran, daswaren kratzige Bärte und Stirnbänder, eine Nation dämoni-scher Björn Borgs. Die Sowjetunion war der wütende Bär ausunzähligen Filmen, der sich mit Zähnen und Klauen blutgie-rig auf schwächere Nationen stürzt. Was ich schließlich überdie Welt erfuhr, lernte ich von Autoren wie Amis – und vomFußball. Während meiner Highschoolzeit spielte ich jedesFrühjahr und jeden Herbst für meine Schulmannschaft, undnach einiger Zeit konnte ich die Stärken und Schwächen der

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gegnerischen Schulmannschaften den Einwandererländernzuordnen, aus denen die meisten Spieler stammten. Polenwaren starke Abwehrspieler, Vietnamesen konnten zwar drib-beln, aber nicht passen. Am Wochenende sah ich mir die zeit-verzögert ausgestrahlten europäischen Spiele an, die ich amäußersten Rand des UHF-Bandes empfangen konnte. DerEmpfang war schlecht, das Bild unscharf und grobkörnig,aber ich konnte zusehen, wie Deutsche und Italiener mit un-möglichen Frisuren und knappen Shorts einen beinahe un-sichtbaren Ball über Spielfelder kickten, die von Werbetafelnfür geheimnisvolle Produkte gesäumt waren (»Pirelli«? »DieZeit«?). Ich sah Kette rauchende Trainer und Fans mit Schie-bermützen und abgetragenen Tweedjacken, die im Regen aufden Tribünen kauerten. Ich liebte diese Übertragungen, siewaren mein Kurzwellenfunk, mein Tor ins Unbekannte: Hal-lo, Welt! Und ich musste dafür nicht einmal den Mund auf-machen.

In dem Fußballcamp, in dem ich jeden Sommer einen Teilmeiner Ferien verbrachte, wollten uns die Trainer ein Be-wusstsein von der Welt außerhalb Amerikas vermitteln undteilten uns in Mannschaften auf, die nach den damaligenSpitzenteams des europäischen Vereinsfußballs benannt wa-ren: Ipswich Town, 1. FC Köln, Grasshoppers Zürich. Amletzten Abend im Camp versammelten wir uns jedes Jahr imAuditorium und begingen das traditionelle Abschlussritual:Wir schauten uns Flucht oder Sieg an. Alle bekamen frisch ge-machtes Popcorn, und wenn der Film begann, sprachen alleverschwitzten Jungen im Raum jede Dialogzeile auswendigmit – als wäre es ihr Katechismus. Es waren gute Jahre für dieinternationalen Nachrichtenseiten der Tageszeitungen: dieÖlkrise, der Einmarsch der Sowjets in Afghanistan, die Falk-

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Matt Weiland

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land-Inseln, Grenada ... aber von all dem wusste ich nichts.Ich spielte auf einem makellosen Fußballfeld im südlichenMinnesota für Ipswich Town und jubelte, wenn MichaelCaine, Sylvester Stallone, Bobby Moore und Pelé die Deut-schen schlugen.

Beim Weltcup von 1982 war ich bereits ein begeisterter Fandes internationalen Fußballs. Es stellte sich heraus, dass alleKlischees stimmten: die Südamerikaner waren impulsiv, dieDeutschen langweilig, die Engländer verbissen. Die Spielerselbst faszinierten mich mindestens genauso sehr wie die Sci-ence-Fiction-Romane, die ich damals verschlang. Und hiertrugen die Akteure Namen, die so perfekt dem Ohr schmei-chelten, dass sie sich niemand hätte ausdenken können: Karl-Heinz Rummenigge, Kevin Keegan, Dino Zoff. Und Socrates– der einen Bart trug und rauchte! Meine Lieblingsmann-schaft war England: Ihre schwarzen Shorts und weißen Hem-den waren enorm schick, sie gewannen ihre drei ersten Spieleüberlegen, und in ihrer Abwehr spielte mein Mannschaftskol-lege Terry Butcher von Ipswich Town. Aber in jenem Sommererfuhr ich auch, wie schmerzhaft Enttäuschung sein kann:Die Engländer hätten den Gastgeber Spanien 2:0 besiegenmüssen, um ins Halbfinale vorzustoßen, aber sie schafftennur ein 0:0. Unter anderem verpatzte Kevin Keegan einenKopfschuss direkt vor dem Tor, England war draußen.

Mein Großvater war kein großer Fußballfan und pflegte zusagen, das sei »das Spiel, bei dem alle wie angestochen herum-rennen«. Aber als ich ihn im Sommer nach der Weltmeister-schaft in Brooklyn besuchte, fuhr er mich bereitwillig nachManhattan, die langen, grauen Avenuen der New Yorker EastSide hinauf zu dem wahrscheinlich einzigen Fußballgeschäft,das es damals in ganz New York gab. Es lag in Yorkville, dem

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Vorwort

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alten deutschen Viertel der Stadt, und bestand nur aus einemeinzigen, kleinen Verkaufsraum. Der größte Teil der Waren la-gerte in Kartons hinter dem Verkaufstresen. Meinem Großva-ter gefiel der knallige, blau-weiß gestreifte Jersey von Argenti-nien. Aber den wollte ich nicht. Die Ladenbesitzer wollten mirdas westdeutsche Trikot andrehen, aber auch das lehnte ichab. Ich wollte nur die schwarzen Umbro-Shorts und das wei-ße Hemd der englischen Nationalmannschaft. Mein Großva-ter kaufte mir beides, und dazu noch die passenden Stutzen.Tagelang fuhr ich ehrfürchtig mit dem Finger über das ge-stickte Mannschaftslogo und bewunderte die drei Löwen,und als im Herbst die Schule wieder begann, trug ich dasHemd am ersten Schultag. Es wirkte so … international.

Seitdem kaufe ich mir jedes Mal, wenn eine neue Welt-meisterschaft vor der Tür steht, einen Stapel Almanache, Rei-seführer, Reiseberichte und Geschichtsbücher und beschäfti-ge mich monatelang glücklich damit. Im Monat vor der WM,während der WM und im Monat danach versorge ich meineFamilie und meine Freunde mit endlosen Fakten über Torsta-tistiken und Qualifikationsspiele, über Alphabetisierungsra-ten, Durchschnittsalter und Bruttoinlandsprodukte. Ich ma-che mir Listen, in die ich Gegentore, rote Karten und GoldenGoals eintrage. Ich entdecke Diktatoren, Todesschwadronen,Wirtschaftswunder, Booms und Rezessionen.

Irgendwann habe ich aufgehört, im Verein zu spielen, aberich zog nach London und wurde dadurch ein noch viel fanati-scherer Fan des internationalen Fußballs. Letztes Jahr ent-deckte ich an einem Sommernachmittag in einem alten Puban der Themse, dass mein Freund Sean Wilson – der aus NewYork zu Besuch gekommen war – genauso fußballbegeistertwar wie ich. Wir sprachen über Eduardo Galeanos Der Ball ist

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Matt Weiland

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rund, und Tore lauern überall, Bill Bufords Unter Hooligans.Geil auf Gewalt und Ryszard Kapuscinskis Der Fußballkrieg –alles Bücher von fußballbegeisterten Autoren, die auch allenanderen Aspekten des Weltgeschehens mit offenem Auge undwachem Verstand begegneten. Wir gestanden uns gegenseitig,dass wir den sonnigen Internationalismus der Fußballwelt-meisterschaft liebten, das Gefühl, dass die ganze Welt hierfreundschaftlich darum kämpfte, sich selbst zu verbessernund alles zum Guten zu wenden. Und dann kamen wir aufeine Idee: Es müsste doch möglich sein, harte Fakten undgroßartige Autoren in einem Buch zu kombinieren, das so-wohl informativ als auch anspruchsvoll sein würde. Ein Buch,nach dessen Lektüre man sowohl über die WM als auch überdie teilnehmenden Länder besser Bescheid wüsste. Wir könn-ten doch Trainer spielen und einen Kader aus 32 Autorenzusammenstellen, die Geschichten beisteuern würden. Siekönnten über persönliche Erfahrungen schreiben, eine Re-portage oder sogar einen Essay über die Geschichte der betref-fenden Nation oder ihr Verhältnis zum Fußball beisteuern. Inwelcher Form auch immer, ihr Beitrag würde etwas Bleiben-des über jede Nation, ihre Vergangenheit und ihre Gegenwartausdrücken. Bei jeder WM erscheinen massenweise Berichteüber die Mannschaften und Einzelspieler in Zeitungen undZeitschriften. Diesen Aspekt würden wir auch berücksichti-gen, aber wir wollten mehr: Wir wollten die große, weite Weltdurch die Fußballbrille betrachten und dadurch gleichzeitigunser Verständnis für jedes einzelne Land erweitern.

Wir fühlten uns, als wären wir in den Anfangsszenen einesHeldenfilms gelandet, in denen die Gruppe zusammenge-führt wird: die Schwertkämpfer in Die sieben Samurai, die Re-volverhelden in Die glorreichen Sieben. Oder die Fußballhel-

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Vorwort

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den in Flucht oder Sieg. Damals im Fußballcamp jubelten wirzwar alle beim Happyend, aber mir gefiel der Anfang desFilms am besten, die Szenen, in denen die britischen Offizieredie Kriegsgefangenen der Alliierten zusammentrommeln, umaus ihnen eine Fußballmannschaft zu bilden. Sean und ichwaren die Trainer, und irgendwo da draußen warteten unsere32 Autoren auf uns. Es gab einige, ohne die wir uns das Buchnicht vorstellen konnten, zum Beispiel Nick Hornby, der qua-si definiert hat, was ein intelligenter Fußballfan empfindet.Bei anderen waren wir uns nicht sicher: Würden sie unsereLeidenschaft teilen? Würde ihnen das Thema gefallen? Würdesich überhaupt irgendjemand für unser Projekt interessieren?Wir mussten nicht lange auf Reaktionen warten. Sie erreich-ten uns aus Nordlondon und Nordkalifornien, Montevideound Tokio, Mexiko-City und Mosambik, Verona und Chica-go, Cardiff und Beirut – und beinahe alle Autoren, die wir ge-fragt hatten, sagten begeistert zu. Eduardo Galeano entpupp-te sich sogar als wahrer Fußballpatriot: »Ich mache mit, wennUruguay sich qualifiziert. Sonst nicht.«

Einige Autoren, zum Beispiel Galeano, baten wir, über ihrHeimatland zu schreiben. Manche ordneten wir Ländern zu,in denen sie bereits persönliche Erfahrungen gesammelt hat-ten, und den Rest schickten wir in ein Land ihrer Wahl. EinenMonat lang erstellten wir Listen und kontaktierten Autoren,und im letzten Stadium der Qualifikationsphase hatten wirfür jedes Land, das sich aller Voraussicht nach für die Teil-nahme qualifizieren würde, den passenden Autor gefunden.Dann schalteten wir den Fernseher an und warteten.

Und dann begannen wir, den Bildschirm anzubrüllen undüber internationale Telefonleitungen unser Mitgefühl auszu-drücken.

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Vor dem Fernseher in New York und in Pubs im LondonerEast End mussten Sean und ich mit ansehen, wie sich unseresorgfältige Planung in Luft auflöste. Ich weiß, wie grausamenttäuschend es ist, wenn die eigene Lieblingsmannschaftverliert: Ich kann mich noch gut an Englands Niederlage 1982erinnern. Aber nichts hätte uns darauf vorbereiten können,wie es sich anfühlte, einen Lieblingsautor aus unserem eige-nen Buch zu verlieren!

Ian Jack, der Herausgeber von Granta, schied zusammenmit Schottland bereits sehr früh aus. Die Mannschaft hattezwar in letzter Zeit enorm an Form gewonnen, schaffte imSeptember aber trotzdem nur ein Unentschieden gegen Itali-en. Jack nahm es gelassen: »Man sollte nie zu viel Vertrauen inSchottland setzen.«

Der junge nigerianische Autor und Jesuitenpriester UwemAkpan schied als Nächster aus. Wir waren fest davon ausge-gangen, dass sich Nigeria qualifizieren würde, aber die SuperEagles unterlagen Angola 1:0 im Hinspiel und erreichten imRückspiel nur ein 1:1 Unentschieden. Wenn Nigeria Angolaüberholen und an der WM teilnehmen wollte, durfte Angolasein letztes Qualifikationsspiel am 8. Oktober auf keinen Fallgewinnen. Aber Angola schlug Ruanda mit 1:0, und Nigeriawar draußen. Uns tat es Leid um die Super Eagles, die uns beiden letzten Weltmeisterschaften so viel Freude bereitet hat-ten. Akpan hatte dazu seine eigene Theorie: »Das entschei-dende Spiel gegen Angola fand in der Halbwüste statt, an ei-nem Ort namens Kano. Damit wollten wir die Angolanermüde machen, weil sie ein solches Terrain nicht gewohntsind. Aber der Schuss ging leider nach hinten los. UnsereSpieler wurden nämlich zuerst müde, weil sie sonst immer inden gemäßigten Zonen Europas spielen!«

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Roddy Doyle verloren wir nach dem kläglichen 0:0, mitdem Irland seine Eintrittskarte zur WM an die Schweiz abtre-ten musste. Ich hatte mir das Spiel in einem lauten Pub inShoreditch angesehen, zusammen mit dem kenianischen Au-tor Binyavanaga Wainaina. Für ihn war die Sachlage klar: »Ichsage dir, mit diesen Trikots können sie gar nicht gewinnen.Nur afrikanische Mannschaften sehen in Grün gut aus.« Seanund ich berieten uns hektisch: Vielleicht könnten wir Doyle jain die Schweiz schicken, dann könnte er darüber schreiben,wie man sich dort als besiegter Irland-Fan fühlte? »Das könntihr vergessen«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob ihr gesehen habt,wie Irland gespielt hat …Wenn ihr das Spiel gesehen hättet,dann würdet ihr mich verstehen. Fußball ist im Moment dasLetzte, über das ich schreiben will. Falls ihr mal ein Buch überdie Pest plant …«

Der thailändisch-amerikanische Autor Rattawut Lapcha-roensap schied am 16. November aus. Thailand hatte von An-fang an keine Chance gehabt, an der WM teilzunehmen, aberLapcharoensap ist begeisterter Fußballfan und hatte uns er-zählt, dass in Bahrain, dessen Teilnahme als sicher galt, sehrviele Thais in der Hotelindustrie arbeiten. Wir trafen geradeVorbereitungen, um Lapcharoensap nach Manama zu schi-cken, als Bahrain in der Relegation das Heimspiel gegen Tri-nidad-Tobago verlor. Ich sah mir das frenetische Match mut-terseelenallein in einem schäbigen, menschenleeren Pub inClerkenwell an und fluchte jedes Mal ausgiebig, wenn Bah-rain wieder einmal eine Torchance verpatzte. Der Barkeepersah mich seltsam an und gab mir ein Bier aus, aber Lapcharo-ensap war draußen.

An einem traurigen Novembervormittag in London verlo-ren wir schließlich auch Eduardo Galeano. Um an der WM

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teilzunehmen, musste Uruguay nur in der Relegation gegenAustralien gewinnen, so hatte es auch bei der WM 2002 dieEndrunde erreicht. Das spannende Hinspiel gewann Uruguaymit 1:0, aber beim Rückspiel siegten die Australier in Sydneyvor 82000 Zuschauern ebenfalls mit 1:0. Die Entscheidungfiel durch Elfmeterschießen, Australien gewann, und Galea-no, der uns überhaupt erst zu diesem Buch inspiriert hatte,war draußen.

Für das Leben eines Trainers gilt das Gleiche, was der engli-sche Nationaltrainer Ron Greenwood einst über den Fußballselbst gesagt hat: Es geht darum, Enttäuschungen wegzuste-cken. Wir haben uns inzwischen erholt. Die verlorenen Auto-ren konnten wir durch andere ersetzen, die wir genausoschätzen. Wie die besten Fußballteams zeichnen sich unse-re 32 Spieler dadurch aus, dass sie als Mannschaft die un-terschiedlichsten Formen, Geschwindigkeiten, Sensibilitätenund Stile zu einem harmonischen Ganzen vereinigen.

Ich habe es ihren Anstrengungen zu verdanken, dass ichheute viel mehr über »das Ausland« weiß als früher. Ich weiß,wo ich in Paraguay Krokoleder finden kann und wo es sich inPortugal am besten surfen lässt. Ich habe etwas über polni-sche Zweifel, schwedische Ängste, tunesischen Aberglaubenund serbisches Essen gelernt. Ich weiß jetzt, dass Ecuadoria-ner fantastische Speed-Walker sind und japanische Toiletteneinen echten Fortschritt darstellen. Ich weiß jetzt, dass mehrals zwei Millionen Sklaven von Angola auf den amerika-nischen Kontinent und die Westindischen Inseln verschifftwurden und dass Mexiko entweder als reichstes Entwick-lungsland oder als ärmstes Industrieland der Welt gilt. Ichhabe gelernt, wie »Penis« auf Persisch heißt (glaube ich zu-mindest). Und vor allem habe ich eines gelernt: Wenn es da-

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Vorwort

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rum geht, eine Weltmeisterschaft zu gewinnen, ist eine De-mokratie immer besser als eine Militärjunta oder eine Dikta-tur.

Hier stehen wir also und sehen dem Ball zu, der rundist, damit das Denken die Richtung wechseln kann. Mehroder weniger betrunken, bekleidet oder halbnackt, dick oderdünn, bleich oder braun gebrannt. Auch wenn die meistenvon uns wahrscheinlich nicht in öffentliche Brunnen pissen,sind wir doch alle völlig verrückt nach Fußball. Und wir allewerden beim Gedanken an »das Ausland«, unsere Welt, erstrichtig lebendig.

Übersetzt von Violeta Topalova

Matt Weiland

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Einführung

Sean Wilsey

Die Welt der Fußballweltmeisterschaft ist genau die Welt,in der ich am liebsten immer leben würde. Ich kann

dem Prunk und der zur Schau getragenen edlen Gesinnungeinfach nicht widerstehen. Nationale Charakteristika werdenvöllig apolitisch zur Schau getragen, menschliche Schwächenoffen gelegt und unerwartete Großtaten gefeiert. Ich liebe dieTatsache, dass ganze Nationen Urlaub nehmen oder nachtsum drei aufstehen, um zuzusehen, wie Männer einen Ballherumkicken. Es gibt Länder mit wahrhaft internationalenKadern – Frankreich, England, die USA – und andere Mann-schaften, die nur aus Blondschöpfen bestehen oder reinasiatisch oder lateinamerikanisch sind. Es gibt nervige Fans:»USA! USA! USA!« (Gott sei Dank nur wenige.) Kleine Kin-der spazieren Hand in Hand mit den Spielern aufs Spielfeld,wo Nationalhymnen erklingen. Gestandene Männer bema-len sich in ihren Nationalfarben und weinen hemmungslos,wenn ihre Mannschaft verliert. Auf dem spanischsprachigenFernsehsender (die einzige Möglichkeit, in den VereinigtenStaaten ein ganzes Spiel live zu sehen), schreit der Kommen-tator »GOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOLLLLLL-LLLLLLLLLLLLLLL! GOL GOL GOL!« Ein slowakischer Rei-fenhändler, ein italienischer Polizist und ein deutscher Kon-

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zertpianist dürfen – wenn sie die körperliche und psychologi-sche Eignungsprüfung bestanden haben – als Schiedsrichterjobben. »Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmelreichlich belohnt werden«, steht in dem Buch, das jeder rei-sende Sportler in seinem Hotelzimmer findet. Und in meinerBroschüre Soccer and Its Rules steht: »Bist du bereit? Bereit,die Spieler zum Sieg anzufeuern? Ihre Fitness, ihr Tempo, ihreFähigkeiten zu bestaunen? Sie bei jedem Zweikampf zu un-terstützen? Bist du bereit für den plötzlichen, kraftvollenSchuss? Bereit für aufregende Flügelstürmer, Offensivvertei-diger, angeschnittene Eckbälle, clevere Doppelpässe und un-haltbare Tore? Bist du bereit für eine Welt, in der deine kühn-sten Träume wahr werden können?«

Ich bin bereit.Meine persönliche Zeitrechnung wird durch Weltmeister-

schaften definiert. Bei der ersten WM, die ich mir ansah, warich so alt wie die jüngsten Spieler, und mittlerweile bin ich aneinem Punkt angekommen, an dem ich mir vorstellen kann,ich sei der – im Grunde genommen schon abgeschriebene –sechsunddreißigjährige Ersatzspieler, der eingewechselt wirdund dann das Siegestor schießt.

Es ist in vielerlei Hinsicht wunderbar, bei Fußballweltmeis-terschaften ein amerikanischer Fan zu sein – zuallererst we-gen der vorherrschenden Ignoranz. In der Gemeinde, in derdu aufgewachsen bist, haben sich die Bürger nicht alle vierJahre vor dem Fernseher versammelt und einen vollen Monatmit atemloser Spannung auf den Bildschirm gestarrt. DieUSA waren noch nie Weltmeister. Du entkamst der Indoktri-nierung durch fußballfanatische Landsleute, die einen quasizwingen, sich widerwillig unvermeidlichen Stammesloyalitä-ten anzuschließen und für die eigene Nationalmannschaft zu

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jubeln. Du bist Amateur, im besten Sinne des Wortes. Wennalso die WM vor der Tür steht, kannst du dir einfach eineLieblingsmannschaft aussuchen und ohne Angst vor Schamoder Vorwürfen zu ihr halten. Für mich ist dieser Monat eineparadiesische Zeit.

Bei meiner ersten WM im Jahr 1990 war ich für Kamerun.Bei Kamerun spielte Roger Milla, ein alter Mann, der nurrannte, wenn es unbedingt nötig war. Er musste auch nichtrennen. Er war so gerissen und stilvoll, dass er auch in ge-mächlichem Tempo noch Abwehrspieler austrickste, die sei-ne Kinder hätten sein können. Als Kamerun im Viertelfinaleausschied, lief ich zu Italien über. Ich war damals gerade inVenedig, und Italien war schließlich Gastgeberland. Der En-thusiasmus der Italiener riss mich einfach mit. Als die azzurridas Halbfinale erreichten, sprangen junge Männer in die Ka-näle – und riskierten dabei lebensgefährliche Infektionen –,um ihren Triumph zu feiern. Im Halbfinale unterlag Italienden Argentiniern, obwohl man munkelte, da sei Betrug imSpiel gewesen. (Argentiniens legendärer Kapitän Diego Ma-radona hatte 1986 gegen England den Ball mit der Hand insTor befördert und danach behauptet: »Es war ein bisschendie Hand Gottes und ein bisschen Maradonas Kopf.« Seitdemist Argentinien die Lieblingsmannschaft aller Schummler.)Schließlich ließ die Bundesrepublik – mit erfahrenen Mittel-feldspielern wie Lothar Matthäus (der insgesamt fünf Welt-meisterschaften bestritten hat) und cleveren Abwehrspielernwie Olaf Thon (Spitzname: »der Professor«) – alle argentini-schen Vorstöße ins Leere laufen und gewann den Weltmeis-tertitel. Tragisch, aber was soll man machen?

Die nächste Fußball-WM fand in den USA statt. Die ganzeWelt blickte auf Amerika, und Amerika merkte es gar nicht.

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Einführung

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Das Einzige, was von dem Turnier in den Staaten Beachtungfand, war das Eigentor eines Kolumbianers, der mit Schimpfund Schande nach Hause geschickt und dort auf offener Stra-ße von einem Fan erschossen wurde. Der Mörder kreischte:»Gol! Gol! Gol!«, während er den armen Kerl mit Kugeln vollpumpte. Meines Wissens ist so was noch nie passiert, weil einDiskuswerfer bei der Olympiade sein Frisbee in die falscheRichtung geschleudert hat.

Mein Favorit war immer noch Italien, obwohl die Italienerwirklich langweiligen Fußball spielten. Ich musste mir einge-stehen, dass die italienischen Zuschauer viel interessanter wa-ren als das italienische Spiel, das darauf beruhte, ein Tor zuschießen und dann für den Rest des Spiels die Abwehr dicht-zumachen. In Italien gibt es dafür sogar ein Wort: Catenaccio,was ursprünglich »Riegel« bedeutet und wörtlich übersetzt»hässliche Kette« heißt. 1994 riegelte Italien sich bis ins Finaleund verlor dann durch Elfmeterschießen gegen Brasilien. Mirreichte es. Es ist immer tragisch, wenn deine Mannschaft imElfmeterschießen ausscheidet, aber nach einer WM-Teilnah-me ohne aufregende Flügelstürmer, angeschnittene Ecken,clevere Doppelpässe und unhaltbare Tore ist es besondersqualvoll. Die azzurri hatten sich meiner Meinung nach insFinale gemogelt. Ich hatte sie bei all ihren Unentschiedenund Ein-Tor-Siegen unterstützt und zugesehen, wie sie Brasi-lien zwei Stunden lang völlig blockierten. Und dann verlorensie auch noch. Sogar die Enttäuschung schmeckte irgendwiefade.

Bei der Fußballweltmeisterschaft 1998 wechselte ich zuEngland. Ich sah, wie ein junger David Beckham einen wun-derbaren Freistoß direkt verwandelte und danach einenPlatzverweis kassierte, weil er nach einem Argentinier trat, als

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der Schiedsrichter schon gepfiffen hatte. Ich war bekehrt. Eshatte etwas Unwiderstehliches an sich, dass ein Athlet sodämlich sein konnte, sich direkt unter den Augen des Schieds-richters derart gehen zu lassen. Und das bei einem Spiel gegeneine so überragende Mannschaft. England hatte mein Herzerobert: Beckham war ein brillanter Idiot und England vonnun an meine Lieblingsmannschaft. Natürlich schafften esdie Argentinier in die nächste Runde.

Also wechselte ich zum Gastgeberland Frankreich über.Die Mannschaft war ein wahrer Schmelztiegel der Kulturen,deshalb machte es besonders großen Spaß, mit ihnen mitzu-fiebern. Les bleues trafen im Viertelfinale auf gli azzurri, ge-wannen heldenhaft durch Elfmeterschießen, nutzten im Fi-nale ihren Heimvorteil, schlugen den verunsicherten amtie-renden Weltmeister Brasilien und holten sich den Titel. Selig-keit!

Aber erst bei der Weltmeisterschaft 2002, die von Japanund Südkorea gemeinsam ausgerichtet wurde, fügte sich allesfür mich zu einem großen Bild zusammen. Ich teilte meineLoyalität zwischen Japan, Südkorea, England und der Türkeiauf und sah mir die Spiele auf dem spanischsprachigen Sen-der Telemundo an (»GOOOOOOLLLLLLL!«). Die japani-schen Spieler hatten die coolsten Frisuren, einer trug beimSpielen eine Sonnenbrille, und ein anderer verspottete diegegnerischen Mannschaften auf Italienisch. England – mitdem inzwischen erwachsen gewordenen David Beckham alsKapitän und meinem neuen Lieblingsstürmer Michael Owen– war gefährlich und diszipliniert und hatte unglaublichesPech. Südkorea demütigte Italien mit ungeheurer Entschlos-senheit und wohlverdientem Glück. Die Türken waren Ra-bauken und foulten unverschämt, was ihre Spiele zu echten

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Einführung

Page 22: MATT WEILAND,SEAN WILSEY (HG.) Der Ball ist rund,damit …MATT WEILAND,SEAN WILSEY (HG.) Der Ball ist rund,damit das Denken die Richtung wechseln kann. Buch Zweiunddreißig Nationen

Erlebnissen machte. Natürlich gewannen die Brasilianer. ImFinale trafen sie auf Deutschland, aber das beste Spiel desganzen Turniers war ihr Sieg über England durch ein wun-derschönes Tor von Ronaldinho (»kleiner Ronaldo«) durcheinen direkten Freistoß – aus dem Mittelfeld. Deus ex machi-na. Schöner kann man gar nicht verlieren.

Für mich war die WM viel zu früh vorbei: Ich brauchtenoch mehr internationalen Fußball. Ich versuchte es mit denmexikanischen und europäischen Ligaspielen am Wochenen-de, aber das war einfach nicht dasselbe. Um was ging es daschon? Fußball bedeutet nur etwas, wenn eine ganze Nationstarr und nervös vor dem Fernseher klebt, wenn nationaleHoffnungen und Ängste brodelnd überkochen und das ganzeLand sich wie ein Mann nach dem erlösenden Sieg sehnt.Wenn Spieler nicht für Geld spielen, sondern um ihre Heimatzu vertreten. Bei Ligaspielen gewinnt immer die finanziellstärkste Mannschaft. Beim internationalen Fußball ist das an-ders: Die USA haben bis jetzt immer verloren.

Also nutzte ich meine amerikanische Ignoranz aus undkaufte bei eBay die gesamte WM von 1970 – die erste, die far-big ausgestrahlt worden war – auf Video, von einem besesse-nen deutschen Fußballfan mit dem Mitgliedsnamen »Olaf-thon1« (der Professor hatte sich wohl vor ihm angemeldet).Olaf1, der Fußball offenbar mit mönchischem Eifer studierte,schrieb mir E-Mails, die wie päpstliche Enzykliken klangen,und erläuterte mir, welche WM meinen Bedürfnissen amehesten gerecht werden könnte. Er riet mir zu der WM von1970, warnte mich aber, dass zwei Spiele fehlten, und zwarUruguay gegen Schweden und Westdeutschland gegen Ma-rokko. Das erstere sei kein großer Verlust, aber das letztere,sagte er sehnsüchtig, sei nicht nur fantastisch gewesen, son-

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Sean Wilsey